Knut Bergmann

Mit Wein Staat machen

Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Insel Verlag

Inhalt

Aperitif

Grundlegendes

Das historische Tafelzeremoniell

Genussorientierung als politisches Problem

Literatur

Nährwert

Repräsentation mittels Zeremoniell

Wirkung

Dechiffrierbarkeit

Statistisches

Queen Elizabeth II., fünfter Besuch

Ein Jahrzehnt Staatsbankette

Der deutsche Durchschnittstrinker

Bier

Tradiertes

Kaiserreich

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Die frühe Bonner Republik

Theodor Heuss

Aufzuckerung

Pathos der Nüchternheit

Die ersten Staatsbesuche

Persischer Schah, die Erste

Westbindung

Konrad Adenauer

Trockenbeerenauslesen

Maß halten

Weindiplomatie

Charles de Gaulle

Queen Elizabeth II., zweiter Besuch

Wirtschaftswunderland

Heinrich Lübke

Queen Elizabeth II., erster Besuch

Adenauers Nachfolger

Bei Tisch

Tischgespräche

Tischreden

Musik

Über den Tisch hinaus

Rarer Rotwein

Autos

John F. Kennedy

Persischer Schah, die Zweite

Organisatorisches

Zuständigkeiten

Veranstaltungsorte

Logistik

Geschirr und Gläser

Protokollarisches

Pannen

Gäste

Defilee

Placement

Protokollbeamte

Erica Pappritz

Mehr Demokratie wagen

Gustav Heinemann

Idiosynkrasie

Beliebigkeit

Geschenke

Willy Brandt

Mehr Protokoll wagen

Walter Scheel

Befremdliche Bilder

Ambivalenzen

Helmut Schmidt

Qualitätshindernis Weingesetz

Neue Ostpolitik

Brandt in Erfurt

Wein in der DDR

Drinnen dinieren, draußen demonstrieren

Schmidt am Werbellinsee

Honecker in Bonn

Trinken mit Russen

Leonid Breschnew

Gelockerte Kleiderordnung

Boris Jelzin

Trinken im politischen Alltag

Tabuthema Alkohol

Föderale Vielfalt

Wanderjahre

Karl Carstens

Valéry Giscard d’Estaing

Auslandsausschank I.

Botschaften und Auslandsvertretungen

Präsidenten und Kanzler

Gegeneinladungen

Queen Elizabeth II., dritter, vierter und fünfter Besuch

Papst Johannes Paul II.

Menükarten

Auslandsausschank II.

Republik Irland

Frankreich

Großbritannien

USA

Wendezeiten

Richard von Weizsäcker

Helmut Kohl

Hape Kerkeling alias Königin Beatrix

François Mitterrand

Speisegebote

Gäste jüdischen Glaubens

Muslime

Persischer Schah, die Dritte

Die späte Bonner Republik

Aufschwung

Roman Herzog

Nicht alles anders, aber vieles besser machen

Gerhard Schröder

Johannes Rau

Horst Köhler

Angela Merkel

Digestif

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

Weingüter, Gebiets- und Lagenbezeichnungen

Aperitif

Zwei Staatschefs an einem Tisch mit weißer Decke, darauf sieben Weinflaschen und diverse Gläser, ein Kellner, im Hintergrund ein seltsames Wellengemälde – das zeigte am 5. Oktober 2007 das erste farbige Titelbild der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Entstanden war das Foto tags zuvor in Pjöngjang bei einem Treffen des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il mit dem südkoreanischen Präsidenten Roh Moo Hyun. Dass es um die Welt ging, lag aber weniger an der seltenen innerkoreanischen Begegnung, es war erst der zweite Nord-Süd-Gipfel seit dem Ende des Korea-Krieges, vielmehr bildet es einen absurden Akt staatlicher Repräsentation ab. Der Herrscher eines abgeschotteten Landes, dessen Bevölkerung darbt, präsentiert sich mit teuer anmutenden Weinen aus dem verhassten Westen – es handelte sich bei den meisten davon um Côte de Nuits-Villages des burgundischen Weinhauses Michel Picard, das in der Folge mit Anfragen überschüttet wurde.

Was der mächtigste Weinliebhaber Nordkoreas mit dieser Inszenierung bezweckte, muss ungeklärt bleiben; sie lässt sich als Detail der bizarren Machtdemonstration des Regimes verbuchen. Werbung für sich und sein Land konnte der für seinen erlesenen Geschmack bekannte Kim damit jedenfalls nicht machen – zu groß war die Dissonanz zwischen den durch den Wein versinnbildlichten Privilegien einer winzigen Elite und der katastrophalen Versorgungslage der nordkoreanischen Bevölkerung.

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1 Roh Moo Hyun, Weinflaschen und -kellner, Kim Jong Il

Nur selten wird Wein im Zusammenhang mit staatlicher Repräsentation öffentlich so stark beachtet wie im genannten Fall. Manchmal lässt sich die Menüfolge eines Staatsbanketts samt den servierten Gewächsen nachlesen, Letztere taugen aber selten zum Politikum. Dabei kann Wein durchaus ein – obwohl bloß kleiner und mancherstaats unterschätzter – Teil der Identitätskonstruktion einer Nation sein. Dass er meist eine nachrangige Rolle spielt, liegt in vielen Ländern daran, dass sie kaum Wein produzieren oder lediglich Gewächse minderer Qualität.

Anderes gilt für die große Weinbaunation Frankreich, in der staatlicher Repräsentation generell ein sehr hoher Wert beigemessen wird und man stolz ist auf die Cuisine Française, die seit 2010 zum Weltkulturerbe zählt. Fünf Jahre später wurden zudem die Climats im Burgund, die dortigen Weinbergsparzellen, in diese Liste aufgenommen. Dass »die Gastronomie zur Identität Frankreichs gehört wie das Schloss von Versailles«, stand für den französischen Außenminister Laurent Fabius 2015 außer Frage. »Die französische Nation empfindet den Wein als ihr ureigenstes Gut«, eröffnet Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags den berühmten Essay über »Wein und Milch«. In dem 1957 veröffentlichten Text zählt der französische Philosoph den Wein gar zur Staatsräson. Ein ausländisches Gewächs auf einem Staatsbankett der Grande Nation wäre demnach unvorstellbar.1 Aber auch in Deutschland spiegeln die im repräsentativen Kontext ausgeschenkten Weine einen Teil unserer Kulturgeschichte. Zudem weist der Glasinhalt im Gegensatz zu den Tellergerichten den Vorteil auf, dass sich noch Jahrzehnte später Aussagen treffen lassen, wie repräsentativ, wie angemessen und welcher Qualität die jeweiligen Gewächse zu dem Zeitpunkt waren, als sie ausgeschenkt wurden. Bei Speisen kann im Nachhinein weder die Qualität der Ausgangsware und der Zubereitung noch der Zustand, in dem die Gerichte schließlich serviert wurden, wirklich valide beurteilt werden.

Über das bundespräsidiale Ausschankverhalten existieren diverse Anekdoten, manche Kritik und allerlei Vorurteile bis hin zur üblen Nachrede. Das ist – dies sei als These vorangestellt – allerdings weniger den tatsächlich ausgeschenkten Gewächsen geschuldet als dem Image des jeweiligen Bundespräsidenten wie dem des deutschen Weins in der jeweiligen Zeit. Für den Rotwein gilt das teilweise sogar noch heute.

Grundlegendes

Das historische Tafelzeremoniell

Seit Jahrtausenden sagt der zeremonielle Gebrauch des Weins etwas über die Selbstdarstellung der Herrschenden aus. Bereits in der Antike, aus der literarisch vielfältige Trinkgelage der Mächtigen überliefert sind, diente der Wein als Statussymbol. Sein Genuss blieb beispielsweise im alten Ägypten und im Nahen Osten dem Herrscher, dessen Hof und seinen Gästen vorbehalten. Öffentliche Bankette boten orientalischen und griechischen Regenten die Gelegenheit, Wohlstand zu demonstrieren und »waren ein wichtiges Mittel der Repräsentation«, wie es in einem Artikel über die antiken Quellen zum Alkoholgenuss der Herrscher heißt. Das biblische Gastmahl des Belsazar wird in der einschlägigen Literatur sogar als ein »typisches Staatsbankett« bezeichnet: »König Belsazar machte ein herrliches Mahl für seine tausend Mächtigen und soff sich voll mit ihnen«, lautet die entsprechende Textstelle im Buch Daniel. Was genau ausgeschenkt wurde, bleibt ebenso unbekannt wie der Wein beim letzten Abendmahl Jesu, dem seitdem wohl weltweit – zumindest symbolisch – meistpraktizierten Tafelzeremoniell. Wegen der Analogie zu Blut müsste er rot gewesen sein, was dem Symbolgehalt wegen für die meisten in der Bibel vorkommenden Gewächse gilt. In der inzwischen aufgehobenen, auf das Jahr 1976 datierenden Messweinverordnung der deutschen Bischöfe fand sich nichts zu dessen Farbe, wohl aber zur Qualität, natürlich musste er sein. Vom früher bevorzugten Rotwein rückte die Kirche schon vor einigen Jahrhunderten aus Praktikabilitätsgründen ab; die Kelche sind einfacher zu reinigen und die Altartücher bekommen keine Flecken.

Generell korrelieren Glaube und Alkohol konsumptiv in vielerlei Hinsicht, vom in einigen Religionen verlangten vollkommenen Abstinenzgebot bis zum angenommenen Vollrausch im Vatikan, der statistisch zu den Staaten mit dem höchsten Pro-Kopf-Weinverbrauch zählt. In manchen Jahren soll einer Erhebung des California Wine Institut zufolge jeder Einwohner um die 100 Flaschen geleert haben, ohne den nicht erfassten Messwein übrigens. Da die Population überwiegend aus Männern mit hohem Bildungsgrad besteht – eine Gruppe, die eine hohe Affinität zum Weinkonsum aufweist –, zudem unverheiratet und häufig in Gemeinschaft speisend, scheint der Spitzenplatz plausibel. Allerdings dürfte das Zahlenwerk verzerrt sein, denn nicht allein die weniger als 1000 Personen zählende Einwohnerschaft kauft hinter den Mauern der Vatikanstadt ein, sondern ebenfalls viele der 2800 Angestellten – und das günstiger als im umliegenden Rom, weil steuerprivilegiert. Genauso werden dort weit überdurchschnittlich viel Zigaretten, Medikamente und Benzin verkauft. Am anderen Ende der Statistik finden sich islamische Länder wie Pakistan, Afghanistan und Jemen mit Mengen geringer als ein Fingerhut voll.

Im Lauf der Geschichte dienten Speisungen als Mittel zur Machtdemonstration. Wein fungierte dabei als Statussymbol, beispielsweise als Julius Caesar der Naturalis historia von Plinius dem Älteren zufolge nach seinem Sieg über Spanien 45 vor Christus die Römer mit den teuersten Weinen bewirtete. Schon für diese Bankette galt die Grundthese der modernen politischen Kommunikation, die der amerikanische Politikwissenschaftler Murray Edelman Anfang der 1960er Jahre in seinem Klassiker Politik als Ritual postulierte: »Politik auf höchster Ebene ist nicht so sehr Entscheidungshandeln als vielmehr Dramaturgie und Inszenierungskunst.«2

Bei vielen antiken Banketten, soweit überliefert, treten die Merkmale hervor, die noch heute bei solchen Anlässen handlungsleitend sind: die Definition von Status, die beispielsweise in der räumlichen Nähe zum Herrscher zum Ausdruck kam, also das Placement, an dem der Status der Geladenen abzulesen war und ist. Historisch kamen andere Merkmale hinzu, etwa die Kleidung – je prunkvoller, desto höher der Rang – oder die Anzahl der Diener, aber auch die Quantität und Qualität der Speisen und Getränke. Den Herrscher würdig erscheinen zu lassen, Ehrfurcht hervorzurufen und seine Regentschaft symbolisch zu legitimieren, war der Sinn eines jeden Zeremoniells – gleich ob es sich um das byzantinische, das römische beziehungsweise das des päpstlichen Hofes, das spanische Hofzeremoniell oder die burgundische Hofordnung handelte, die stilbildend in ganz Europa wurde. Im Mittelpunkt stand jeweils das Tafelzeremoniell. Ein grundlegendes Werk zu diesem Thema ist Norbert Elias’ Die höfische Gesellschaft, demzufolge sich die Tafelgebräuche der Oberschicht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der gesamten zivilisierten Gesellschaft etablierten. In Zeiten, in denen die Bevölkerung gerade einmal über das Nötigste verfügte, konnte eine opulente Tafel als Zeichen von Macht überzeugen. Demgegenüber dient das Essen heutzutage angesichts der differenzierten Lebensstile eher als Ausdruck von Individualismus, wobei der Veganismus glücklicherweise in der Staatsküche noch nicht um sich gegriffen hat.

Ein zentraler Bestandteil des Tafelzeremoniells stellt seit jeher das Servieren des Weines dar – der bis heute geläufige Begriff »Mundschenk« kündet davon. Verlangte der Fürst nach Wein, geschah Folgendes: Der von ihm instruierte Oberhofmarschall beauftragte den Mundschenk, der sich seinerseits am Kredenztisch Wein und Wasser zur Verkostung reichen ließ. Befand er beides für gut, goss er eine Mischung in den fürstlichen Pokal, bedeckte ihn und trug ihn zur Tafel, wo er das Getränk nochmals vor den Augen des Fürsten probierte, um es ihm dann, garantiert nicht vergiftet, zu servieren. Dass der Fürst den ersten Schluck genommen hatte, erfuhren die Gäste außerhalb des Saales durch Salutschüsse. Im 18. Jahrhundert erfuhr dieses über Jahrhunderte unveränderte Zeremoniell einige protokollarische Verfeinerungen. Nunmehr wurde den ranghöchsten Gästen ihr Pokal auf einer Kredenz mit Fuß gereicht, während Rangniedere ihr Getränk auf einem Tablett erhielten. Das mit Wein gefüllte Trinkgefäß wurde jeweils auf Verlangen ausgehändigt und dann in einem Zug geleert, es blieb lange verpönt, mit Wein gefüllte Pokale und Gläser auf der Tafel stehen zu lassen.

Genussorientierung als politisches Problem

Zweifelsfrei lassen sich Getränke im Allgemeinen und Wein im Speziellen als repräsentatives Mittel nutzen. Trotzdem überrascht nicht, dass das Thema Essen und Trinken kaum eine Rolle in Biographien und Erinnerungen deutscher Staatsmänner spielt. Das Image, ein Feinschmecker zu sein und über gustatorische Expertise zu verfügen, ist hierzulande einer politischen Karriere eher abträglich, weil als Luxus verschrien. Masse à la Helmut Kohl und Franz Josef Strauß lässt die Öffentlichkeit noch durchgehen, bei der Klasse ist das viel schwieriger – Ausnahmen wie Wirtschaftsminister Peter Altmaier bestätigen die Regel, bei Saarländern gelten da andere Gesetze. Gustatorische Kennerschaft wird nur dann verziehen, wenn die regionale Herkunft des Politikers dabei im Mittelpunkt steht und nicht die Genussorientierung. Die bedarf einer heimatbezogenen Legitimierung. Insofern war es passend, dass Helmut Schmidt, der aus dem gastronomisch noch am ehesten für Labskaus bekannten Hamburg stammte, keinerlei kulinarische Ambitionen hatte, sein aus der Pfalz stammender Nachfolger hingegen schon.

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2 Helmut Kohl und Franz Josef Strauß bei einer Brotzeit im Juli 1984

Kostspielige Kennerschaft findet hierzulande öffentliche Anerkennung maximal bei Kunst und Architektur; lukullische Genussfreude wird gemeinhin nicht als kulturell wertvoll goutiert. Der banketterfahrene ehemalige Außenminister Joschka Fischer formulierte es mit Blick auf die seiner Meinung nach einzig in Frankreich exquisite Staatsküche folgendermaßen: »Wenn in Deutschland jemand solche Küchenbrigaden beschäftigen würde, wäre es ein Skandal. Die Bild-Zeitung würde auf der Zinne tanzen.« Der französische Präsident François Mitterrand musste nicht einmal aus seiner Vorliebe für den unter Artenschutz stehenden Ortolan, gemästet als Fettammer eine unvergleichliche und verbotene Delikatesse, einen Hehl machen – in Deutschland undenkbar. Wiederholt bekamen Politiker negative Presse, sobald ruchbar wurde, dass sie luxuriös tafelten, vor allem wenn es um Mitglieder links der Mitte stehender Parteien ging. Allem Wohlstand zum Trotz reagiert die Öffentlichkeit auf vermeintliche Unbescheidenheit pikiert. Der dem Wein durchaus zugeneigte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wurde harsch kritisiert, nachdem er im Dezember 2012 bemerkt hatte, dass er eine Flasche Pinot Grigio, die nur fünf Euro kostet, nicht kaufen würde. Die Missbilligung galt dabei der vermeintlichen Extravaganz, nicht dem Umstand, dass ein italienischer Wein in Rede stand.

Steinbrücks Nachfolger als Kanzlerkandidat, der nach Umwegen alkoholabstinente Martin Schulz, bekam wegen einer Foie gras, gemeinsam mit Journalisten genossen, Ärger mit der Parteibasis – entsprechendes Medienecho inklusive. Die eigentlich gebotene Debatte, was es für die deutsch-französische Erbfreundschaft bedeutet, wenn ein potentieller Bundeskanzler zur Gänsestopfleber keinen Sauternes trinkt, war lediglich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein paar glossierende Zeilen wert. Einige Jahre zuvor hatte Sahra Wagenknecht dafür gesorgt, dass, nachdem sie beim Hummeressen fotografiert worden war, diese Bilder verschwanden. Was von beidem stärker rechtfertigungsbedürftig erschien – der Verdacht sozial unausgewogener Schlemmerei oder der, Zensur zu üben –, ließ sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus der Serie »Reden wir über Geld« offen. François Mitterrand war übrigens Sozialist.3

Literatur

Dass der Wein in der spärlichen Literatur über Zeremoniell im engeren und Staatsbesuche im weiteren Sinne ein Desiderat bleibt, verwundert daher kaum. Aus dieser raren Gattung ragt heraus die Dissertation von Simone Derix (Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik 1949-1990). Daneben existieren einige nicht so umfangreiche Studien wie die von Frieder Günther über die Staatsbesuche des ersten Bundespräsidenten, wobei ihr Titel Heuss auf Reisen in die Irre führt, da zusätzlich die eingehenden Besuche abgehandelt werden, sowie die Werke von Michael Meyer und Frank Uwe Mäuer über die Staatsbesuche in der Weimarer Republik bzw. im Dritten Reich. Die beiden letzteren Werke sorgten für den Hintergrund und manche Details. Weiter zurück geht der Klassiker von Johannes Paulmann Pomp und Politik über die Monarchenbegegnungen vor dem Ersten Weltkrieg. Mehr noch lieferten die beiden lesenswerten Bücher von Simone Derix und Frieder Günther einiges an Kontext und teilweise originelle Einzelheiten. Das gilt ebenfalls für das anekdotische Buch des langjährigen FAZ-Korrespondenten Walter Henkels über Staatsempfänge. Überschaubar ist die Literatur zum Staatszeremoniell; das gleichnamige, mehrfach aufgelegte Standardwerk verfasste Jürgen Hartmann. Beachtenswert sind überdies zwei ältere Sammelbände.4

Dass in den genannten Werken Getränke ausgespart bleiben, überrascht nicht weiter, doch muss ebenfalls für die zeitgeschichtliche Literatur insgesamt weintechnisch weitgehend Fehlanzeige vermeldet werden. Selbst die in jüngerer Zeit erschienenen Bücher zu politischer Kulinarik lassen den Wein fast vollständig aus.5 Selbiges zu vermelden gilt es andersherum für den politisch-repräsentativen Wert des Beschreibungsgegenstandes in Weinbüchern wie die kulturhistorische Literatur zu Essen und Trinken. An einer Hand abzuzählen sind die substantielleren Artikel in Fachzeitschriften, wobei sich einige der Randnotizen zum Keller des Staatstheaters schlichtweg als falsch erweisen. Leider eher eine Rarität sind überdies zeitgenössische Verkostungsnotizen, die Aufschluss darüber geben, wie die Gewächse zum Zeitpunkt ihres Ausschanks auf den Staatsbanketten geschmeckt haben. Anhaltspunkte vermitteln insbesondere die Notizen von Michael Broadbent, dem Doyen der Weinkritik. Wenn Gewächse im Folgenden beschrieben werden, datieren diese Einschätzungen jeweils auf den Zeitraum ihres staatsrepräsentativen Einsatzes.6

Überaus selten sind Dokumente zum Thema Wein in den Akten des Bundespräsidialamtes und des Auswärtigen Amtes, was genauso für die internen Protokoll-Leitfäden des Außenamtes gilt. Allein dass die Menükarten überliefert sind, ist in den Beständen des Bundespräsidialamtes aus der Bonner Republik eher die Ausnahme als die Regel. Eine Erklärung dafür liefert der interne Leitfaden für das Protokollreferat im Auswärtigen Amt, der seinem Verfasser Manfred Günther und einem die Erstauflage ummantelnden blauen DIN A5-Ordner seinen Namen »Der Blaue Günther« verdankt: »Aus alter Erfahrung im Ref. 700 lässt sich sagen, dass die Tisch- und Menükarten begehrte Souvenirs […] sind.«7

Demgegenüber ergiebig erweisen sich nicht zuletzt in Sachen Kuriositäten die Protokoll-Akten des Auswärtigen Amtes, die in dessen Politischem Archiv in Berlin einzusehen sind.[1] Die besagten Fehlstellen erscheinen für die Amtszeit von Theodor Heuss hingegen nachgerade sachlogisch, denn der Bundespräsident höchstselbst beschwerte sich 1954 beim Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Herbert Blankenhorn, darüber, dass von der Botschaft in Schweden »Menükarten von Diners und Soupers mitgeteilt wurden, was ich eines Diplomaten unwürdig empfand«.8

Nährwert

Repräsentation mittels Zeremoniell

Unter dem Begriff Zeremoniell sind die geregelten Abläufe des öffentlichen Geschehens, das der staatlichen Repräsentation dient, zu verstehen; es »gleicht einem Spiegel, in den eine Gesellschaft gelegentlich blicken möchte, um ihre eigene Ordnung zu erfahren und um sich selbst bekräftigt zu finden«.9 Schon die Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg waren mit ihren Ritualen nicht allein auf äußere Repräsentanz, sondern ebenfalls nach innen ausgerichtet. Gemäß der fünfzig Jahre alten, oft zitierten Formel des amerikanischen Philosophen Michael Walzer ist der Staat unsichtbar und muss daher personifiziert werden, bevor er gesehen werden kann, muss symbolisiert werden, bevor er geliebt werden kann, und muss vorstellbar sein, bevor er begriffen werden kann. Auch die repräsentative Demokratie bedarf, um politisch oder sozial zu wirken, der Vermittlung durch Symbole oder Zeremoniell, wobei gilt: »Repräsentieren heißt Gegenständlichmachen.«10

Für die Bundesrepublik existieren historisch-staatsrechtliche Argumente, um ein besonderes Augenmerk auf den Wein im zeremoniellen Einsatz zu richten. Für die Einbeziehung aller repräsentativen Möglichkeiten – des Weins, und weiter gefasst: aller gastrosophischer Mittel – sprechen zuvorderst die spärlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten.11 Als personifiziertem Mittelpunkt staatlicher Selbstdarstellung wird seinem Amt allerdings fast das gesamte diesbezügliche offizielle Handeln zugeschrieben. Wegen der im Gegensatz etwa zur britischen Monarchie viel geringer ausgeprägten Objektivationselemente, die es dem Betrachter ermöglichen, seine Vorstellung vom Staat und dessen Oberhaupt zu verdinglichen, »hängt der Repräsentationserfolg am seidenen Faden subjektiver Momente, der rhetorischen Fähigkeit, der Amtscourage, des Feingefühls, der persönlichen Ausstrahlung«, fasste der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee zusammen.

Anders als die meisten anderen Medien staatlicher Repräsentation ist der Wein überdies historisch kaum vorbelastet. Hierbei stehen der Bundesrepublik verglichen mit den früheren Formen von der preußischen Schlichtheit über den wilhelminischen Prunk bis hin zum nationalsozialistischen Protz lediglich kärgliche Mittel zur Verfügung. »Ausschluss durch Äußeres – wozu auch […] das Protokoll [… und] das Ritual […] gehören – ist im Zeitalter des qualitätsvollen Konfektionsanzugs und popularisierter Statussymbole keine Möglichkeit mehr, Amtsexklusivität darzustellen; das Gegenteil ist der Fall«, wie Jörg-Dieter Gauger treffend in seinen Sammelband zur Staatsrepräsentation einführt.

So ist das eben in der »Nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, die der Soziologe Helmut Schelsky bereits 1953 der Bundesrepublik attestierte, selbst wenn diese damals noch nicht wirklich existent gewesen sein dürfte. Ein Jahrzehnt danach, als das Wirtschaftswunder seinem Höhepunkt zustrebte, ging der Staatsrechtler Herbert Krüger bei der Herleitung des Staatszeremoniells sogar so weit, dass der Staat nicht bloß sachlich und würdig sein solle, »sondern bei alledem auch schön erscheinen, und zwar nicht allein um der Schönheit willen, sondern auch der Lebenslust halber, deren der Staat als ein Gesamtleben von Menschen nicht minder bedarf als der einzelne Mensch zu einem echten seelischen Wohlbefinden«. Zweifelsohne siedelt das Kriterium der Lebenslust nah beim Wein, zumal die Schönheit staatlicher Symbole nicht nur unterschiedlichen und sich wandelnden Geschmäckern unterworfen sein kann, sondern sich generell schwierig darstellen lässt. Demgegenüber kann die Güte eines Weines sehr viel besser bestimmt werden.12

Weil generell die Ansprüche an Zeremonien steigen, da immer mehr Eindrücke auf die Menschen einprasseln, Ereignisse flüchtiger wirken und mehr Vergleichsmöglichkeiten bestehen, lohnt es, sich in allen Details anzustrengen – wobei wahre Qualität durchaus in der Tugend der Bescheidenheit bestehen kann. Zu guter Letzt legt die – vor allem in Bezug auf hochwertige Weißweine – lange Weinbautradition Deutschlands nahe, Wein repräsentativ zu verzwecken, zumal er ein Abbild regionaler und kultureller Vielfalt liefern kann.

Das Ereignis, das als Mittel der staatlichen Repräsentation schlechthin gilt, ist das Staatsbankett. Es stellt neben dem Empfangszeremoniell laut Hartmann den »Höhepunkt im Ablauf eines Staatsbesuchs« dar. Üblicherweise findet es am Abend des ersten Tages eines Staatsbesuchs statt. Es dient wie der gesamte Aufenthalt dazu, das gastgebende Land vorzustellen. Getreu dem Aphorismus »Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist« (Jean Anthelme Brillat-Savarin) soll die Menüfolge dazu beitragen, die Identität des Gastgebers auszudrücken – eine Frage, zu der international reichlich Literatur existiert, teilweise sogar unmittelbar bezogen auf den Wein. Das gilt leider jedoch nicht so sehr für Deutschland, wo sich die »culinary diplomacy« als ein weitgehendes Forschungsdesiderat erweist. Traditionell gilt das gemeinsame Essen als »Zeichen von Frieden und Versöhnung und es ist daher seit jeher mit einem besonders dichten Zeremoniell umgeben«.13 Das Zeremoniell regelt den staatlich-repräsentativen Anlass an sich, während im Unterschied dazu die Etikette ein Muster für die Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen liefert; sie bedeutet eher Benehmen, Zeremoniell mehr formales Protokoll.

Wirkung

Über die Erkenntnis, dass das Teilen von Mahlzeiten Frieden stiften kann, sind schon ganze empirische Studien verfasst worden. Hinzu kommen Experimente, denen zufolge Essen die Motivation und die Entscheidungen von Menschen beeinflusst.14 Das Gemeinschaftsschaffende erklärt Georg Simmel in seinem berühmten Aufsatz »Soziologie der Mahlzeit« 1910 wie folgt: »Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen.« Fast jeder wird die befriedende Wirkung des gemeinsamen Essens in schwierigen sozialen Situationen mit anstrengenden Menschen verschiedentlich erfahren haben. In den Worten Simmels heißt dies: »Personen, die keinerlei spezielles Interesse teilen, können sich bei dem gemeinsamen Mahle finden – in dieser Möglichkeit […] liegt die unermessliche soziologische Bedeutung der Mahlzeit.« Immanuel Kant erblickte gar in der freundschaftlichen Mahlzeit »wahre Humanität«, während der langjährige Hamburger Erste Bürgermeister Ole von Beust praxiserfahren von einem »krampflösenden Effekt« spricht.

In der frühen Menschheitsgeschichte konnte es überlebenswichtig sein, mit anderen zu teilen, denn nur so würden diese einem bei anderer Gelegenheit über einen ausbleibenden Jagderfolg hinweghelfen. Das gemeinsame Essen stand gewissermaßen am Beginn der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Menschen, denn anders als im Tierreich wurde die Beute nicht nur mit den an der Jagd Beteiligten, sondern über den eigenen Nachwuchs hinaus auch mit anderen geteilt. Etwas zeitgenössischer, nur wenige Jahrtausende später, benannte Friedrich Nietzsche als den »Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft: Das Feindliche im Fremden zu lähmen«.15

Dem Wein kommt für das Verbindungstiftende eine besondere Rolle zu; seine kultur- und epochenübergreifende Verwendung im religiösen Kontext ist ein Beleg dafür. Insgesamt gilt Wein, und insbesondere hochklassiger Schaumwein, als besonders festliches Getränk. Charles Baudelaire, einer der Wegbereiter der literarischen Moderne in Europa, beschäftigte sich in seinem 1851 publizierten Text »Wein und Haschisch verglichen als Mittel zur Vervielfältigung der Individualität« mit der Wirkung dieser beiden Genuss- oder Rauschmittel. Sein Urteil über den Wein fällt positiv aus, denn er »macht wohlwollend und gesellig. Das Haschisch vereinzelt. […] Der Wein ist nützlich, er bringt Erkenntnisse hervor, die ihre Früchte tragen. Das Haschisch ist unnütz und gefährlich.«16 Damit fasst der französische Schriftsteller zusammen, worauf es bei einem gelungenen Abend mit anderen Menschen oder eben bei einem Staatsbankett ankommt: Wohlwollen, Geselligkeit, Offenheit, Erkenntnisgewinn – in Summe eine Grundlage, auf der man aufbauen kann.

Weniger gemeinschaftsstiftend liest sich die folgende Szene, in der Franz Blankart, Chefunterhändler der Schweiz bei den Verhandlungen um den Europäischen Wirtschaftsraum, schildert, wie seine Vorgesetzten unter Einsatz bester Weine regelrecht über den Tisch gezogen wurden: »Zunächst langer Aperitif, während dem sich die EG-Kommission und Island in einer Ecke über das Fischproblem unvermerkt einigten, so dass nur noch der ›Problemfall Schweiz‹ übrigblieb. Dann zu Tisch, der erste Gang, ein Fisch mit bestem französischem Weisswein, dann ein Filet de bœuf, wie es nur belgische Köche zustandebringen, serviert mit einem exzellenten Bordeaux, dann Verteilung eines 17seitigen Dokuments in englischer Sprache […]. Dann 15 Fragen vom Typus: ›Mr. Federal Counsellor, why are you opposed that cosmetics be put from category 1 to category 2?‹ Perplexes Schweigen. ›Well, I see no objection, it is so decided. Next question: etc. etc.‹.«17

Dieser zwei Jahrzehnte alte Artikel ist in seiner Freimütigkeit eine absolute Rarität, normalerweise wird über derlei Geschehen der Mantel des Schweigens gebreitet oder der wahre Hergang verklärt. In diesem Fall waren die beiden Bundesräte mit den Einzelheiten nicht hinreichend vertraut und dank der Teilnehmerformel »Ministers only« ohne Begleiter, die mit Detailwissen hätten aushelfen können – und in Kombination mit ihren mangelnden Englischkenntnissen nicht mehr zum Widerstand gegen Änderungsvorschläge in der Lage. Ob für die protestdämpfende Wirkung eher die mittels dem hervorragenden Dinner ausgedrückte Wertschätzung ursächlich war oder die der Güte der Weine geschuldete Alkoholisierung, spielt für das Ergebnis keine Rolle. Für beide Varianten bedurfte es bester Gewächse, und das Ergebnis der Unterredung galt.

Die andere Seite des Suffs legt der Bericht des Schweizer Diplomaten Carl Burckhardt offen, nachdem er sich als Gesandter seines Landes in Frankreich im Juli 1946 mit Winston Churchill zum Essen getroffen hatte. In dem Gespräch in Paris sollte es um die Planung einer Reise des damaligen britischen Oppositionsführers, einem der größten bekennenden weltpolitischen Trinker aller Zeiten, in die Schweiz gehen. »Dabei griff er in ziemlich kühner Weise zum vorhandenen Alkohol, mit dem Ergebnis, dass ich die zweite Hälfte unseres Gesprächs als null und nichtig betrachten muss. Er sprach Worte, aber es war schwierig, deren präzise Bedeutung zu erkennen«, schrieb Burckhardt anschließend an den Außenminister in Bern. Im Vergleich der beiden eidgenössisch-englischsprachigen Episoden werden in Sachen Verbindlichkeit Unterschiede augenfällig. Letztlich entscheidet das Ziel des Gesprächs, ob die Trunkenheit des Gegenübers diesem zuträglich sein kann oder nicht. Als vollkommen klar erwiesen sich Churchills Worte jedenfalls gegen Ende des besagten Aufenthalts, als er am 19. September 1946 in seiner »Zürcher Rede« forderte, eine »Art Vereinigte Staaten von Europa« zu schaffen.18

Beide Szenen sind Extreme; den Normalfall markierte Hans-Dietrich Genscher in seiner Zeit als Bundesaußenminister mit der Aussage »Diplomatisch esse ich sehr gezielt. Zugeschlagen wird zu Hause.« Völlerei gibt nie ein gutes Bild ab. Mit der Sentenz »Bedenke stets: Was getrunken wird – bestimmt der Gastgeber, wieviel getrunken wird – der Gast!« meinte 1955 der damals im konsularischen Dienst stehende spätere Vizeadmiral Herbert Trebesch in einem eher privat anmutenden Niederschrieb Nachwuchsdiplomaten auf diesen Umstand hinweisen zu müssen.19 Manchmal braucht es noch höhere Grade der Beherrschung. Als sich 1994 ein Berater von François Mitterrand in seinem Büro erschoss, saß der französische Präsident mehr oder weniger nebenan bei einem offiziellen Essen. »Als er von dem Suizid erfuhr, ging er kurz nachgucken, danach aß er weiter. Da war ich doch überrascht von seinem Verhalten«, berichtete der Koch des Élysée-Palastes, Bernard Vaussion.20 Ob sich Mitterrand anschließend erst einmal einen Schnaps hat bringen lassen, ist nicht überliefert.

Zweifelsohne hilft der gemeinschaftliche Konsum von Genussmitteln, schwierige Situationen zu überbrücken. Das reicht vom Besuch der anstrengenden Verwandtschaft, bei der die Kaffeetafel einen Kommunikationsanlass schafft, bis zur hohen Politik. Mit dem Satz »Eine Tasse Kaffee half den beiden Deutschen aus einer peinlichen Protokoll-Verlegenheit«, beginnt Der Spiegel seinen Artikel über das heikle erste Zusammentreffen von Bundeskanzler Helmut Schmidt und SED-Generalsekretär Erich Honecker. Bis wenige Minuten vor ihrer Begegnung auf der KSZE-Abschlusskonferenz 1975 in Helsinki blieb nämlich offen, wer wen empfangen würde beziehungsweise wem eine Audienz gewährt werden würde.21

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3 Helmut Schmidt und Erich Honecker bei der KSZE-Konferenz in Helsinki am 307. ​1975

Eine damit nicht absolut vergleichbare Rangordnungsfrage hatte im Zeitalter vor der Aufklärung im Falle des »Londoner Kutschenstreits« 1661 noch zu Toten geführt. Dabei eskalierte anhand der – wie es heute heißen würde – Wagenfolge bei der Einführung des neuen schwedischen Botschafters in London der schwelende Konflikt zwischen Frankreich und Spanien um die Vormachtstellung in Europa.[2] Drei Jahrhunderte später sollte in Helsinki der Zufall aus der Patsche helfen, da Schmidt wie Honecker rasch noch einen Kaffee trinken wollten, sich deshalb in die Cafeteria begaben und schließlich an benachbarten Tischen zu sitzen kamen. So begannen die zwei Regierungschefs einer Nation unverfänglich ein Gespräch und betraten anschließend nebeneinander den Konferenzsaal. Beim zweiten Gespräch in Helsinki stellte sich laut dem Bundeskanzler dann gleich eine »unverkrampfte« Atmosphäre ein. Um die Protokolldividende einzufahren, bedarf es also nicht immer kostspieliger Getränke.

Roland Barthes verweist wie Baudelaire auf die geselligkeitserzeugende Wirkung des Weins, führt aber dazu noch die soziale Anerkennung auf, die er genießt. Wein begründe zudem »ein Dekor« und schmücke »die kleinsten Zeremonien […] bis zur Tischrede auf einem Bankett. Er verbessert das Klima, welcher Art es auch sei«.22 Der gemeinschaftsstiftende Ertrag scheint dabei umso stärker auszufallen, je weniger notwendig das Trinken – oder das Getränk – ist. Mit Wasser stößt kaum jemand an, es gilt nicht einmal als unhöflich, schon mal einen Schluck zu nehmen, bevor den anderen Gästen eingeschenkt wurde. Anders beim Wein, der des kollektiven Glaserhebens bedarf.

Eine gängige Theorie, wie der Brauch des gemeinsamen Anstoßens entstanden ist, besagt, dass es in mittelalterlichen Zeiten dafür sorgte, dass der Wein aus dem eigenen Glas in das des Gegenübers schwappte. Sollte derjenige einem mittels Gift nach dem Leben trachten, würde er sich zieren, den nun vermischten Wein zu trinken. Andere Erklärungen lauten, dass es sich beim Anstoßen um eine lautstarke Wohlstandsdemonstration handelte, nachdem es möglich geworden war, jedem Gast ein eigenes Glas anzubieten, oder dass mit dem Klirren der Gläser böse Geister oder Dämonen vertrieben werden sollten. So oder so sollte das Ritual einem friedlichen Gastmahl dienen.

Dechiffrierbarkeit

Um als Basis für ein Gespräch zu dienen, besitzt Wein den Vorteil, dass Expertise bei ihm eher geglaubt oder unterstellt wird als bei den Speisen. Der Kontext ist international derselbe, Wein ist universell verständlich und weit weniger voraussetzungsvoll als beispielsweise komplizierte regionaltypische Gerichte, die seltener – und damit dem Gegenüber eventuell unbekannter – Zutaten bedürfen.

Vorausgesetzt, dass jemand überhaupt Wein mag und über ein Minimum an Erfahrung verfügt, ist zudem einfach herauszufinden, ob der Wein sehr gut ist oder nur mittelmäßig. Das gilt, obwohl manches am gehobenen Weinkonsum soziales Konstrukt ist. Beispielsweise entsprechen manche Attribute seiner Beschreibung eher der Konvention innerhalb der ihn konsumierenden Gesellschaftsschicht, als dass sie tatsächlich im Wein angelegt sind.[3] Experimenten zufolge liegen nicht einmal professionelle Verkoster stets richtig bei der Frage, ob es sich um Weiß- oder Rotwein handelt, wird er im Dunkeln serviert. Ähnlich wurde Weißwein, mittels geschmacksneutraler Lebensmittelfarbe rot gefärbt, mit rotweintypischen Attributen beschrieben. Trotzdem gilt, zwischen wahrhaft schlecht und richtig gut kann eigentlich jeder Konsument unterscheiden. Eher nachdenklich stimmt diesbezüglich die Tatsache, dass bisweilen bei Blindverkostungen günstige Weine um ein Mehrfaches teurere Spitzengewächse aus dem Feld schlagen.

Dennoch spricht für einen Griff nach der kostspieligen Weltklasse die uneingeschränkte Dechiffrierbarkeit von international bekannten Spitzenweinen. Sogar Laien wissen einen Lafite oder Mouton Rothschild halbwegs zuzuordnen; sie bekommen zumindest eine Ahnung davon, dass der Gastgeber es gut mit ihnen meint, auch wenn sie beim Wasser bleiben sollten. Bei den besten deutschen Weinen fällt dies schwerer, da es zu ihrer Entschlüsselung einer gewissen Expertise bedarf. Egon Müller ist zwar ein herausragender und zudem weltweit einer der bekanntesten deutschen Winzer, sein Name aber gehört nicht wie Rothschild zum Allgemeinwissen. Genauso muss man den Unterschied zwischen einem Riesling Kabinett und einer Auslese kennen, um diese Qualitätsmerkmale, die sich mit einem Blick auf Etikett oder Menükarte erfassen lassen, zu decodieren.23

Allerdings wird fast jeder Konsument bemerken, dass er einen herausragenden Wein trinkt, sofern er ein Spitzengewächs tatsächlich trinkt – gleich, ob der Wein seinen persönlichen Vorlieben nahekommt. Sogar Liebhaber leichter Weißweine werden einen herausragenden roten Bordeaux oder Burgunder mittels Verkostung klassifizieren und die davon ausgehenden Signale wie Status und Wertschätzung verstehen. Das gilt in eingeschränktem Maß ähnlich, wenn der Gast nur am Glas riecht; das komplexe Bouquet eines Spitzengewächses ist nun mal ansprechender als der Geruch von mittelmäßigem Flascheninhalt, selbst wenn manches davon nur unterbewusst wahrgenommen wird. Etwa vier Fünftel des Geschmackseindrucks entstehen nun einmal über die Nase.

Außerdem wird neurologischen Experimenten zufolge teurer ausgezeichneter Wein als geschmacklich überlegen eingestuft gegenüber dem identischen Gewächs, das mit einem günstigeren Preisschild versehen ist. Die für Belohnung und Motivation zuständige Hirnregion wird von einem höheren Preis stärker angeregt. Dass dieselbe Reaktion beim Anblick eines prominenten Etiketts im Sinne eines imaginären Preisschildes eintritt, scheint naheliegend. Obendrein gilt ex negativo, ziemlich simpel ohne Hirnscanner zusammentheoretisiert, dass der Gast sich bei erkennbar minderwertigen Gewächsen weder gut behandelt fühlen noch bessere Laune bekommen wird. Schon von daher wird es sich auszahlen, dem Wein Aufmerksamkeit zu schenken.