Maya Angelou

Ich weiß, warum der
gefangene Vogel singt

Aus dem amerikanischen Englisch
von Harry Oberländer

Suhrkamp

Dieses Buch ist meinem Sohn Guy Johnson gewidmet
und allen starken schwarzen Vögeln der Hoffnung,
die den Götzen widerstehen und ihre Lieder singen

Was siehst du mich an?

Ich kam nicht, um zu bleiben ...«

Ich hatte nichts vergessen, ich konnte mich nur nicht erinnern. Andere Dinge waren wichtiger.

»Was siehst du mich an?

Ich kam nicht, um zu bleiben ...«

Ob ich mich an den Rest des Gedichts erinnern konnte oder nicht, war bedeutungslos. Der Sinn seiner Aussage wurde von dem triefend nassen, zerknüllten Taschentuch in meinen Fäusten kommentiert, und je eher man akzeptierte, dass ich nicht weiterkam, desto schneller konnte ich sie wieder öffnen und die Luft meine Handflächen kühlen.

»Was siehst du mich an ...«

Die Kindergruppe der Colored-Methodist-Episcopal-Kirche gickelte und gackelte über meine allseits bekannte Vergesslichkeit. Ich trug ein Kleid aus lavendelfarbenem Taft, das bei jedem Atemzug raschelte, und jetzt, als ich Luft holte, weil ich mich schämte, hörte es sich an wie Krepppapier hinten auf den Leichenwagen.

Als ich sah, wie Momma den Saum kräuselte und kleine niedliche Falten um die Taille legte, wusste ich, wenn ich es erst einmal angezogen hatte, würde ich aussehen wie ein Filmstar. (Es war aus Seide, und dies entschädigte für die schreckliche Farbe.) Ich würde aussehen wie eines der kleinen süßen weißen Mädchen, die jedermanns Traum von dem waren, was an dieser Welt in Ordnung ist. Hing es über der schwarzen Singer-Nähmaschine, sah es aus wie ein Zauber, und wenn die Leute mich darin sähen, eilten sie bestimmt auf mich zu und sagten: »Marguerite (manchmal sogar ›liebe Marguerite‹), bitte verzeih uns, wir wussten nicht, wer du bist.« Und ich entgegnete großzügig: »Nein, ihr konntet es nicht wissen. Ich verzeihe euch.«

Allein der Gedanke daran verzauberte mich für Tage. Aber an Ostern, im Licht der frühen Morgensonne war das Kleid nichts weiter als ein gewöhnlicher, hässlicher Verschnitt aus dem weggeworfenen Purpur einer weißen Frau. Zudem hatte es eine Altdamenlänge, versteckte aber nicht meine mageren Beine, die mit blauer Seehund-Vaseline eingeschmiert und mit rotem Arkansas-Lehm gepudert waren. Die alterslose Farbe meiner Haut erinnerte an Schmutz und Schlamm, und jeder in der Kirche blickte auf meine dürren Beine.

Wären sie nicht überrascht, wenn ich eines Tages aus meinem hässlichen schwarzen Traum erwachte und meine wirklichen Haare, die lang und blond waren, die Stelle der gekräuselten Masse einnehmen würden, die zu glätten Momma mir nicht erlaubte? Meine hellblauen Augen würden sie hypnotisieren, nach all dem, was sie gesagt hatten, etwa: »Dein Vater muss wohl aus China gewesen sein« (ich dachte, sie meinten aus Chinaporzellan, wie eine Tasse), weil meine Augen so schmal und schief waren. Dann würden sie verstehen, weshalb ich nie den Akzent des Südens angenommen hatte und nicht den üblichen Slang sprach und weshalb ich gezwungen werden musste, Schweineschwänze und -schnauzen zu essen. Weil ich in Wirklichkeit weiß war und eine böse Märchenstiefmutter, die verständlicherweise eifersüchtig auf meine Schönheit war, mich in ein zu großes schwarzes Mädchen verwandelt hatte, mit schwarzem Wuschelkopf, breiten Füßen und solchen Abständen zwischen den Zähnen, dass ein Bleistift bequem dazwischengepasst hätte.

»Was siehst du ...« Die Frau des Geistlichen beugte sich zu mir herab, ihr langes gelbes Gesicht voller Mitleid. Sie flüsterte: »Ich kam nur, um dir zu sagen, dass Ostern ist.« Ich wiederholte so langsam wie möglich und klebte die Wörter aneinander: »Ichkamnurumdirzusagendaßosternist.« Das Kichern hing in der Luft wie eine Wolke, die darauf wartete, sich über mir auszuregnen. Ich hob zwei Finger nah an meine Brust und signalisierte, dass ich zur Toilette musste, und trippelte auf Zehenspitzen zum Ausgang der Kirche. Schwach, irgendwo über meinem Kopf, hörte ich Damenstimmen: »Herr, segne das Kind« und »Lobet den Herrn.« Ich hielt meinen Kopf hoch und meine Augen offen, konnte aber überhaupt nichts sehen. Auf dem halben Weg durch das Kirchenschiff brach die Gemeinde in den Gesang aus: »Wart ihr da, als sie meinen Herrn kreuzigten?«, und ich stieß gegen einen aus der Kinderbank hervorgestreckten Fuß. Ich stolperte und wollte etwas sagen, vielleicht auch schreien, aber eine grüne Dattelpflaume, vielleicht war es auch eine Zitrone, verfing sich zwischen meinen Beinen und wurde zerquetscht. Ich fühlte den sauren Geschmack in Mund und Rachen, und kurz bevor ich die Tür erreichte, brannte die Pein meine Beine hinunter bis in die Sonntagssocken. Ich versuchte es zurückzupressen, es nicht rausschießen zu lassen, aber als ich das Portal erreichte, wusste ich, dass ich es laufen lassen musste, da es mir sonst vermutlich in den Kopf steigen würde, der dann wie eine heruntergefallene Wassermelone platzen würde, und Hirn und Zunge und Augen würden über den Boden kullern. Also rannte ich in den Hof und ließ es laufen. Pissend und weinend rannte ich, nicht nach hinten zur Toilette, sondern nach Hause. Ich würde dafür verdroschen werden, so viel war sicher, und die blöden Kinder hatten wieder einmal etwas Neues, um mich zu hänseln. Wie auch immer, ich lachte, einmal wegen der süßen Erlösung, aber auch weil es eine noch größere Freude war, von der verrückten Kirche befreit zu sein und nicht mit einem zerplatzten Kopf sterben zu müssen.

Ist das Heranwachsen für das schwarze Mädchen im Süden schmerzhaft, das Wissen um ihre Deplatziertheit ist der Rost an der Klinge, die die Gurgel bedroht.

Es ist eine unnötige Beleidigung.

1

Als ich drei war und Bailey vier, waren wir in der muffigen kleinen Stadt angekommen. An unseren Handgelenken hingen Zettel, die jeden, den es interessierte, davon in Kenntnis setzten, dass wir Marguerite und Bailey Johnson jun. aus Long Beach, Kalifornien, waren, unterwegs nach Stamps, Arkansas, c/o Mrs Annie Henderson.

Unsere Eltern hatten sich entschlossen, ihrer katastrophalen Ehe ein Ende zu setzen, und Vater schickte uns nach Hause zu seiner Mutter. Ein Gepäckträger sollte sich um uns kümmern – er verließ den Zug am nächsten Tag in Arizona –, und unsere Fahrkarten waren an der Innentasche im Mantel meines Bruders festgemacht.

Viel von dieser Reise habe ich nicht in Erinnerung behalten, aber als wir den rassengetrennten Süden erreichten, müssen sich die Verhältnisse für uns wohl gebessert haben. Mitreisende Schwarze, die stets mit vollgepackten Esspaketen fahren, hatten Mitleid mit »den armen kleinen mutterlosen Lieblingen« und versorgten uns mit kaltem Huhn und Kartoffelsalat.

Jahre später erfuhr ich, dass die Vereinigten Staaten tausendfach von verängstigten schwarzen Kindern durchquert worden waren, allein auf dem Weg zu ihren neuerdings wohlhabenden Eltern in den Metropolen des Nordens oder, wenn der Norden seine Versprechen nicht gehalten hatte, zurück zu den Großmüttern in den Kleinstädten des Südens.

Die Kleinstadt verhielt sich zu uns, wie sie sich schon vor unserer Ankunft zu allem verhalten hatte, was neu war. Sie begutachtete uns eine Zeit lang ohne Neugier, aber behutsam, und nachdem wir als harmlos (und Kinder) betrachtet wurden, umschloss sie uns, wie eine wirkliche Mutter ein fremdes Kind umarmt. Warm, aber nicht zu vertraulich.

Wir wohnten bei unserer Großmutter und einem Onkel in den hinteren Räumen des Ladens (einfach immer: der Laden), den sie seit etwa fünfundzwanzig Jahren besaß.

Zu Beginn des Jahrhunderts hatte Momma (wir hatten schnell aufgehört, sie Großmutter zu nennen) Essen an die Arbeiter im Sägewerk in Ost-Stamps und im Baumwoll-Egrenierwerk in West-Stamps verkauft. Ihre knusprigen Fleischpasteten und die kühle Limonade zusammen mit ihrer übernatürlichen Fähigkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, sicherten ihr geschäftlichen Erfolg. Sie begann mit einem mobilen Ladentisch, brachte es bald zu einem festen Stand zwischen den beiden lukrativen Orten und deckte so einige Jahre lang den Bedarf der Arbeiter. Dann richtete sie im Herzen des schwarzen Viertels einen richtigen Laden ein. Mit den Jahren wurde er zum Angelpunkt der städtischen Aktivitäten. Am Sonnabend setzten Barbiere ihre Kunden in den Schatten der Ladenveranda, und Sänger, auf ihren endlosen Wanderungen durch den Süden, lehnten sich ans Geländer, sangen ihre traurigen Lieder und spielten auf Kanister-Harfen und Zigarrenkisten-Gitarren.

Die offizielle Bezeichnung des Ladens lautete Wm. Johnson General Merchandise Store. Den Kunden wurden ganze Stapel von Nahrungsmitteln geboten, eine ordentliche Auswahl farbigen Garns, Mischfutter für die Mastschweine, Mais für die Hühner, Petroleum für die Lampen, Glühbirnen für die Wohlhabenden, Schnürbänder, Haarwaschmittel, Luftballons und Blumensamen. Was nicht zu sehen war, musste lediglich verlangt werden.

Ehe wir so heimisch waren, dass der Laden zu uns und wir zu ihm gehörten, waren wir eingeschlossen in einem Tollhaus der Waren, dessen Aufseher für immer verschwunden war.

Jahr für Jahr beobachtete ich, wie sich das Feld gegenüber vom Laden raupengrün färbte und nach und nach in ein frostiges Weiß überging. Ich wusste genau, wie lange es dauerte, bis die großen Wagen auf den Vorplatz rollten und die Baumwollpflücker abholten, um sie bei Tagesanbruch auf die Plantagen zu bringen.

Während der Erntezeit stand meine Großmutter um vier Uhr auf (sie benutzte nie einen Wecker), kniete als Erstes auf dem knarrenden Fußboden nieder und sang mit schlaftrunkener Stimme: »Oh Vater, ich danke dir, dass du das Bett, in dem ich diese Nacht schlief, nicht zum Sarg werden ließest, noch die Decke zum Leichentuch. Führe meine Füße an diesem Tag auf dem schmalen, geraden Pfad und hilf mir, meine Zunge im Zaum zu halten. Segne dies Haus und alle, die es beherbergt. Dank sei dir im Namen des Sohnes, Jesus Christus, Amen.«

Noch bevor sie sich ganz erhoben hatte, rief sie unsere Namen und erteilte Befehle. Dann steckte sie ihre großen Füße in die selbst gemachten Latschen und überquerte den nackten ausgelaugten Holzfußboden, um die Petroleumlampe anzuzünden.

Das Licht der Lampe im Laden gab unserer Welt eine sanfte Atmosphäre der Vertrautheit, in der ich nur flüstern und auf Zehenspitzen umherlaufen mochte. Die Gerüche von Zwiebeln und Kerosin und Orangen hatten sich über Nacht vermischt und wurden nicht gestört, bis der Holzbalken aus der Tür entfernt wurde und die frühe Morgenluft mit den Körpern der Menschen hereinströmte, die meilenweit gelaufen waren, um zur Sammelstelle zu kommen.

»Schwester, ich bekomm zwei Dosen Sardinen.«

»Heut arbeit ich so schnell, dass du meinst, du stehst still.«

»Pack mir doch ein bisschen Käse und ein paar Kekse ein.«

»Gib mir nur ein paar von diesen fetten Erdnussplätzchen.«

Ein Pflücker, der sich sein Mittagessen besorgte. Die ölige braune Papiertüte steckte hinter dem Latz seiner Überhose. Die Süßigkeiten waren für zwischendurch, bis die Mittagssonne die Arbeiter zur Rast rief.

In diesen zärtlichen Morgenstunden war der Laden voll von Gelächter und Späßen, Protzerei und Prahlerei. Der eine wollte zweihundert Pfund Baumwolle pflücken, ein anderer dreihundert. Selbst die Kinder versprachen, ihren Teil nach Hause zu bringen.

Der beste Pflücker des Vortags war der Held des anbrechenden Tages. Wenn er prophezeite, dass im heutigen Feld die Baumwolle spärlich sein und wie Leim an den Kapseln kleben werde, stimmte ihm jeder Zuhörer eifrig zu.

Das Geräusch der leeren Baumwollsäcke, die über den Boden geschleift wurden, und das Gemurmel der erwachenden Menschen wurde vom Klingeln der Kasse durchschnitten, wenn wir unsere Fünf-Cent-Umsätze tippten.

Sosehr die Geräusche und Gerüche des Morgens mit dem Geheimnisvollen verknüpft waren, sosehr trug der Nachmittag alle Züge des gewöhnlichen Lebens in Arkansas. Im Licht der untergehenden Sonne schleppten die Leute dann mehr sich selbst als ihre Baumwollsäcke.

Waren die Pflücker zum Laden zurückgebracht worden, stiegen sie hinten vom Lastwagen und sanken verdreckt und enttäuscht zu Boden. Wie viel sie auch gepflückt hatten, es war nie genug. Mit ihren Löhnen konnten sie nicht einmal ihre Schulden bei meiner Großmutter begleichen, geschweige denn die Schwindel erregende Rechnung, die unten in der Stadt beim weißen Händler auf sie wartete.

Die Geräusche des frühen Morgens waren dem Murren über Betrüger, gefälschte Gewichte, Schlangen, knappe Baumwolle und staubige Reihen gewichen. In späteren Jahren brachte mich das stereotype Bild fröhlich singender Baumwollpflücker derart in Wut, dass selbst meine schwarzen Freunde mir sagten, meine Paranoia sei peinlich. Aber ich hatte die von armseligen kleinen Baumwollkapseln zerschnittenen Finger gesehen, die Rücken und Schultern und Arme und Beine, die jeden weiteren Dienst versagten.

Die meisten Arbeiter ließen ihre Säcke im Laden; nur wenige nahmen sie mit nach Hause, um sie zu flicken. Ich scheute die Vorstellung, wie sie das spröde Material mit vom Tagwerk steifen Fingern unter Petroleumlampen zusammenflickten. Allzu bald, in nur wenigen Stunden, mussten sie sich wieder auf den Weg zu Schwester Hendersons Laden machen, das Nötigste besorgen und erneut auf die Lastwagen steigen. Wieder ein Tag, an dem sie versuchten, genug für das ganze Jahr zu verdienen, mit der erdrückenden Gewissheit, die Saison zu beenden, wie sie sie begannen. Ohne Geld und ohne Kredit, die notwendig gewesen wären, eine Familie drei Monate lang zu ernähren. In der Zeit der Baumwollernte enthüllten die frühen Abendstunden die Bitterkeit des schwarzen Lebens im Süden, die am Morgen von den Gaben der Natur, der Müdigkeit, dem Vergessen und dem sanften Lampenlicht gemildert schien.

2

Als Bailey sechs war und ich ein Jahr jünger, leierten wir das Einmaleins mit einer Geschwindigkeit herunter, wie ich später nur die Chinesenkinder in San Francisco mit ihrem Abakus umgehen sah. Unser dickbauchiger Ofen, grau im Sommer, glühte während des Winters rosig und rot und wurde so zu einem ernsten disziplinarischen Drohmittel, wenn wir dumm genug waren, aus Unaufmerksamkeit Fehler zu machen.

Onkel Willie pflegte wie ein riesiges schwarzes Z dazusitzen (er war als Kind zum Krüppel geworden) und ließ uns Zeugnis ablegen von den Fähigkeiten der Lafayette County Training School. Auf der linken Seite hing sein Gesicht herunter, als wäre es mit einem Flaschenzug am Unterkiefer befestigt. Seine linke Hand war kaum größer als die von Bailey, aber nach dem zweiten oder dritten Fehler oder dem dritten Zögern packte er mit seiner riesigen rechten Hand einen von uns am Kragen und schob den Übeltäter auf den teilnahmslosen roten Ofen zu, der wie ein Teufel mit Zahnschmerzen knirschte. Wir verbrannten uns nie, doch einmal hatte ich solche Angst, dass ich von selbst auf den Ofen springen wollte, um die Bedrohung abzuwenden. Denn wie die meisten Kinder glaubte ich, dass ich für immer Macht über die größte Gefahr erlangen würde, wenn ich mich ihr freiwillig stellte und sie meisterte. Aber in diesem Fall von Opfermut wurde mir ein Strich durch die Rechnung gemacht. Onkel Willie hielt mich an meinem Kleid fest, und ich kam nur nahe genug, um den sauberen und trockenen Geruch des heißen Eisens riechen zu können. Wir lernten das Einmaleins, ohne dessen Grundprinzipien zu begreifen, lediglich weil wir dazu fähig waren und keine Wahl hatten.

Die Tragik des Lahmen erscheint Kindern derart ungerecht, dass sie dessen Gegenwart verstört. Gerade sie, die eben erst ihrer natürlichen Unschuld entwachsen sind, fühlen, dass sie selbst nur knapp dem Schicksal entgangen sind, ein ähnlicher Scherz der Natur zu werden. Erleichtert durch das knappe Entkommen, lassen sie ihre Gefühle in Ungeduld und Krittelei an dem unglücklichen Krüppel aus.

Momma erzählte wieder und wieder und ohne irgendwelche Gefühle zu zeigen, wie Onkel Willie im Alter von drei Jahren von einer Frau, die sich um ihn kümmerte, fallen gelassen worden war. Sie schien weder über das Kindermädchen noch über ihren gerechten Gott, der den Unfall zugelassen hat, verbittert zu sein. Sie hielt es nur für nötig, allen, die die Geschichte längst auswendig kannten, immer wieder von neuem zu versichern, dass er nicht »so geboren« worden war.

In unserer Gesellschaft, in der zweibeinige, zweiarmige, starke, schwarze Männer sich im besten Fall gerade so durchschlagen konnten, war Onkel Willie mit seinen gestärkten Hemden, seinen blank polierten Schuhen und seinen Regalen voll von Lebensmitteln der Prügelknabe und die Zielscheibe der Späße der Unterbeschäftigten und Unterbezahlten. Das Schicksal hatte ihn nicht nur behindert, sondern ihm auch noch eine doppelt gesicherte Sperre in den Weg gelegt. Er war sowohl stolz als auch sensibel. Daher konnte er weder sein Krüppeldasein leugnen noch sich einreden, die Leute seien von seinem Gebrechen nicht abgestoßen.

In all den langen Jahren, in denen ich versuchte, seinen Zustand nicht zu beachten, erlebte ich ein einziges Mal, dass er vor sich und anderen so tat, als sei er nicht lahm.

Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, sah ich auf unserem Vorplatz ein dunkles Auto stehen. Ich eilte hinein und traf einen fremden Mann und eine fremde Frau (Onkel Willie sagte später, es seien Lehrer aus Little Rock gewesen), die in einer kühlen Ecke des Ladens Dr. Pepper tranken. Ich spürte, irgendetwas stimmte nicht; ein Alarmzustand, dessen Auslöser ich nicht kannte. Die Fremden konnten nicht die Ursache dafür sein. Reisende von der Hauptstraße kamen zwar nicht regelmäßig, aber doch hin und wieder in den einzigen schwarzen Laden in Stamps und kauften Tabak oder Erfrischungsgetränke. Als ich Onkel Willie ansah, wusste ich, was mich an meinen Hirnwindungen zupfte. Er stand aufrecht hinter der Theke, ohne sich aufzustützen oder auf das schmale Regal zu lehnen, das extra für ihn gebaut worden war. Aufrecht! Seine Augen fixierten mich drohend und bittend zugleich.

Ich grüßte die Fremden artig und suchte mit den Augen nach seinem Stock. Er war nirgends zu sehen. Onkel Willie sagte: »Oh ... das ist ... ist ... na, meine Nichte. Sie ist ... na ... kommt grad aus der Schule.« Dann, zu dem Paar gewandt: »Wissen Sie ... wie, na, Kinder sind ... heuheutzutage ... die spielen den g-ganzen Tag in der Schule und k-können nicht warten nach Hause zu kommen und n-noch mehr zu spielen.«

Die Leute lächelten freundlich.

Er fügte hinzu: »Geh schon raus u-und spiel, Schwester.«

Die Dame lachte und sagte mit einer sanften Arkansas-Stimme: »Sie wissen ja, Mr Johnson, man ist nur einmal Kind. Haben Sie selbst auch Kinder?«

Onkel Willie sah mich mit einer Ungeduld an, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte, nicht einmal, wenn er eine halbe Stunde brauchte, um seine hohen Schuhe zu schnüren. »Ich ... hab gedacht, ich hätt gesagt, du sollst gehen ... geh hinaus und spiel!«

Bevor ich ging, sah ich, wie er sich an das Regal mit Garret-Schnupftabak und Prince-Albert- und Spark-Plug-Kautabak zurücklehnte.

»Nein, Ma’am ... keine Kinder und keine Frau.« Er versuchte zu lachen. »Ich habe eine alte M-mutter und die zwei K-kinder meines Bruders zu v-versorgen.«

Es machte mir nichts aus, dass er uns verwendete, um gut dazustehen; ich hätte sogar behauptet, seine Tochter zu sein, wenn er das gewollt hätte. Ich hatte nicht nur keinerlei Beziehung zu meinem eigenen Vater, ich nahm auch an, dass ich als Kind Onkel Willies besser behandelt worden wäre.

Das Pärchen ging nach ein paar Minuten, und von der Hinterseite des Hauses aus sah ich, wie der rote Wagen die Hühner verscheuchte, Staub aufwirbelte und in Richtung Magnolia verschwand.

Onkel Willie hatte sich auf den Weg gemacht, den langen schattigen Gang zwischen den Regalen und der Theke entlang, Hand um Hand, wie ein Mann, der aus einem Traum herauskletterte. Stumm stand ich da und beobachtete, wie er von einer Seite zur anderen taumelte, bis er den Petroleumtank erreicht hatte. Er fasste in die dunkle Nische, zog mit seiner starken Hand den Stock hervor und verlagerte sein Gewicht wieder auf die hölzerne Stütze. Jetzt hatte er es geschafft.

Ich werde nie erfahren, warum es so wichtig für ihn war, dass dieses Pärchen (später sagte er, er habe die beiden nie zuvor gesehen) das Bild eines unversehrten Mr Johnson mit nach Little Rock nahm.

Er wird es leid gewesen sein, ein Krüppel zu sein, so wie Gefangene der Zuchthausstäbe und Schuldige des Tadels müde werden. Die hochgeschlossenen Schuhe und der Stock, seine unkontrollierbaren Muskeln und die schwere Zunge, die mitleidigen oder verachtenden Blicke, denen er ausgesetzt war; nur einen Nachmittag, nur den Bruchteil eines Nachmittags lang, wollte er von all dem nichts wissen.

Ich verstand ihn und fühlte mich ihm in diesem Augenblick näher als je zuvor und jemals danach.

Während dieser Jahre in Stamps begegnete mir William Shakespeare, und ich verliebte mich in ihn. Er war meine erste weiße Liebe. Obwohl ich Kipling, Poe, Butler, Thackeray und Henley schätzte und respektierte, hob ich meine junge und treue Leidenschaft für Paul Lawrence Dunbar, Langston Hughes, James Waldon Johnson und WEB. du Bois’ Litany at Atlanta auf. Doch es war Shakespeare, der gesagt hatte: »Wenn im Zwiespalt mit dem Glück und der Männer Augen.« Das war ein Zustand, der mir äußerst vertraut war. Dass er weiß war, beunruhigte mich zwar, aber ich redete mir ein, dass er schließlich schon so lange tot sei, dass es niemanden mehr stören konnte.

Bailey und ich wollten eine Szene aus Der Kaufmann von Venedig auswendig lernen, aber wir erkannten, dass Momma uns über den Autor ausfragen würde und wir ihr sagen mussten, dass Shakespeare weiß war. Ihr wäre es sicher egal gewesen, ob er nun tot war oder nicht. Also entschieden wir uns stattdessen für »Die Schöpfung« von James Weldon Johnson.

3

Das Mehl in Portionen von einem halben Pfund abzuwiegen, die Kelle wegzuziehen und es ohne zu stäuben in die dünnen Papiertüten zu füllen, war für mich eine gewisse Art Abenteuer. Ich entwickelte ein gutes Auge dafür, wie voll eine silberige Kelle mit Mehl, Maische, Schrot, Zucker oder Mais sein musste, um den Zeiger auf der Skala bei acht Unzen oder einem Pfund landen zu lassen. Wenn ich absolut exakt das Maß traf, bewunderten mich unsere stets aufmerksamen Kunden: »Schwester Henderson hat wahrhaftig ein paar aufgeweckte Enkel.« Verfehlte ich es aber ein bisschen zu Gunsten des Ladens, so sagte die adleräugige Frau: »Tu noch etwas mehr in die Tüte, Kind. Versuch nicht, auf meine Kosten zu profitieren.«

Dafür bestrafte ich mich still, aber beständig selbst. Für jedes schlechte Urteil war die Buße, keinen silberverpackten Kuss zu kriegen, die süßen Schokoladentaler, die ich liebte wie sonst nichts auf dieser Welt, Bailey ausgenommen. Und vielleicht Ananas aus der Dose. Meine Ananasbesessenheit brachte mich fast um den Verstand. Ich träumte von dem Tag, an dem ich groß genug war, einen ganzen Karton voll, nur für mich alleine, zu kaufen.

Obwohl die goldenen, sirupgetränkten Ringe das ganze Jahr über in ihren exotischen Dosen auf unseren Regalen standen, kosteten wir sie nur an Weihnachten. Momma verwendete den Saft, um beinahe schwarze Obstkuchen zu backen. Dann reihte sie die Ananasringe in die verrußten und verkrusteten Eisenpfannen zu einem reichen Sturzgebäck. Bailey und ich erhielten jeder eine Scheibe, und ich trug meine stundenlang mit mir herum und knabberte an der Frucht, bis nichts mehr da war außer ihrem Duft an meinen Fingern. Ich würde gerne glauben, mein Verlangen nach Ananas wäre mir so heilig gewesen, dass ich mir selbst nicht erlaubte, eine Dose zu stehlen (was möglich gewesen wäre), um sie allein im Garten aufzuessen; aber ich hatte wohl eher daran gedacht, dass mich ihr Geruch verraten könnte, und deshalb nicht die Nerven für den Versuch gehabt.

Bis ich dreizehn wurde und Arkansas für immer verließ, war der Laden mein liebster Spielplatz. Einsam und verlassen sah er am Morgen wie das ungeöffnete Geschenk eines Fremden aus. Die Eingangstür zu öffnen, war wie das Aufziehen der Schleife beim unerwarteten Geschenk. Das Licht strömte sanft herein (der Eingang lag nach Norden) und fiel auf die Regale, auf die Makrelen- und Lachsdosen, auf den Tabak und auf das Garn. Es fiel flach auf das große Schmalzfass, und im Sommer gegen Mittag schmolz das Fett zu einer dicken Suppe. Immer wenn ich den Laden betrat, spürte ich, dass er müde war. Ich allein konnte den langsamen Puls seiner halbgetanen Arbeit fühlen. Aber vor dem Schlafengehen, nachdem unzählige Menschen ein und aus gegangen waren, über ihre Schulden diskutiert hatten oder über ihre Nachbarn hergezogen waren oder einfach nur hereingeschaut hatten, um Schwester Henderson guten Abend zu sagen, kehrte das Versprechen eines verzauberten Morgens in den Laden zurück und deckte die Familie mit den verebbenden Wellen des Treibens zu.

Momma öffnete Schachteln mit knusprigen Keksen, und wir hockten im hinteren Teil des Ladens am Hackklotz. Ich schälte Zwiebeln, und Bailey öffnete zwei oder gar drei Sardinenbüchsen und ließ das Öl abfließen. Das war das Abendessen. Am Abend, wenn wir unter uns waren, musste Onkel Willie nicht stottern, nicht zittern noch sonst irgendwie darauf hinweisen, dass er ein »Gebrechen« hatte. Es schien, als ob der Friede des endenden Tages versicherte, dass der Bund, den Gott mit den Kindern, den Schwarzen und den Krüppeln geschlossen hatte, noch immer seine Gültigkeit besaß.

Unter anderem gehörte es zu unseren abendlichen Pflichten, die Hühner mit Mais zu füttern und trockene saure Maische mit Essensresten und dem öligen Abwaschwasser für die Schweine zu mischen. In der Dämmerung stapften Bailey und ich durch den Matsch zum Schweinepferch, stiegen auf die unterste Sprosse der Umzäunung und schütteten das Gebräu unseren dankbaren Schweinen hin. Sie steckten ihre zarten Schnauzen hinein und wühlten vor Zufriedenheit grunzend herum. Nur halb aus Spaß grunzten wir stets eine Antwort; denn wir waren froh, dass wir die schmutzige Aufgabe hinter uns und das stinkende Schweinefutter nur an Socken, Schuhen, Händen und Füßen hatten.

Eines Abends, als wir uns um die Schweine kümmerten, hörte ich ein Pferd auf dem Vorplatz und rannte hin, um zu sehen, wer da gekommen war, an einem Donnerstagabend, an dem selbst Mr Stewart, der ein Reitpferd besaß, sich bestimmt vor seinem warmen Feuer ausruhte, bis der Morgen ihn ins Freie rief, damit er sein Feld pflügte.

Der ehemalige Sheriff saß in verwegener Pose im Sattel. Die Lässigkeit sollte seiner Autorität und seiner Macht, selbst über das dümmste Vieh, Ausdruck geben. Wie viel fähiger musste er erst im Umgang mit Schwarzen sein. Das lief ohne ein Wort.

Seine näselnde Stimme fiel in die gespannte Stille. Von der Ecke des Ladens aus hörten Bailey und ich ihn zu Momma sprechen. »Annie, sag deinem Willie, er soll sich heute Nacht lieber verkriechen. Irgendein verrückter Nigger hat’s heut mit einer weißen Dame getrieben. Kann sein, dass ein paar von den Jungs später mal vorbeikommen.« Heute noch, nach all den langen Jahren, kann ich mich an die Angst erinnern, wie sie meinen Mund mit heißer, trockener Luft füllte und meinen Körper in Flammen setzte.

Die »Jungs«? Diese hasserfüllten Zementgesichter mit Augen, die einem die Kleider vom Leib brannten, wenn man das Pech hatte, ihnen am Sonnabend unten auf der Hauptstraße zu begegnen. Jungs? Es schien, als wären sie nie jung gewesen. Jungs? Nein, eher schon Männer, aus Särgen entstiegen, ohne Alter, ohne Schönheit, ohne Bildung. Hässliche verrottete alte Scheusale.

Würde ich von Petrus am Tage des Jüngsten Gerichts vorgeladen, um die gute Tat des ehemaligen Sheriffs zu bezeugen, ich wäre unfähig, irgendetwas zu seinen Gunsten zu sagen. Zu demütigend klang die Gewissheit aus seinen Worten, dass mein Onkel und jeder andere schwarze Mann, der vom Kommen des Klans hörte, sich eiligst im Hühnerdreck unter dem Haus verstecken würde. Ohne auf Mommas Dank zu warten, ritt er davon, überzeugt, dass die Welt in Ordnung und er ein edler Ritter war, der die braven Leibeigenen vor den ungeschriebenen Gesetzen des Landes schützte, die er guthieß.

Augenblicklich, noch bevor das dumpfe Schlagen der Pferdehufe verklungen war, blies Momma die Petroleumlampe aus. Sie hatte eine leise, ernste Unterredung mit Onkel Willie, dann rief sie Bailey und mich in den Laden.

Wir mussten die Kartoffeln und Zwiebeln aus ihren Kisten nehmen und die Trennwände herausschlagen. Dann reichte mir Onkel Willie enervierend langsam und angstvoll seinen gummibesohlten Stock und sank auf den Boden, um in das jetzt vergrößerte Innere des Kastens zu kriechen. Es dauerte ewig, bis er am Boden lag und wir ihn mit Kartoffeln und Zwiebeln zudecken konnten, Schicht auf Schicht, wie eine Kasserolle. Großmutter kniete betend im verdunkelten Laden.

Glücklicherweise kamen die »Jungs« an jenem Abend nicht in unseren Hof geritten, um zu verlangen, dass Momma den Laden öffnete. Sie hätten Onkel Willie sicher gefunden und ihn ebenso sicher gelyncht. Er wimmerte die ganze Nacht hindurch, als ob er tatsächlich irgendeines abscheulichen Verbrechens schuldig wäre. Die schweren Töne fanden ihren Weg durch die Decke aus Zwiebeln und Kartoffeln, und ich stellte mir vor, wie sein Mund auf der rechten Seite herunterhing und sein Speichel in die Augen der neuen Kartoffeln floss und dort, wie Tautropfen, auf die Wärme des Morgens wartete.

4

Was unterscheidet eine Stadt im Süden von einer anderen, von einer Stadt oder einem Dorf im Norden, oder von einer Großstadt?

Die Antwort muss die gemeinsame Erfahrung der unwissenden Mehrheit (sie) und der wissenden Minderheit (wir) sein. Alle unbeantworteten Fragen der Kindheit müssen schließlich in die Stadt zurückgetragen und dort beantwortet werden. Helden und Schurken, Werte und Abneigungen werden in dieser frühen Umgebung zum ersten Mal wahrgenommen und eingeordnet. In späteren Jahren wechseln sie ihr Gesicht, vielleicht die Rasse, die Taktik, die Intensität und die Ziele, aber hinter den durchschaubaren Masken tragen sie für immer die wollbemützten Gesichter der Kindheit.

Mr McElroy, der in dem großen, lang gestreckten Haus gleich neben dem Laden wohnte, war sehr groß und breit gebaut, und obwohl die Jahre das Fleisch von seinen Schultern genommen hatten, verschonten sie seinen gewölbten Bauch, seine Hände und seine Füße, zumindest solange ich ihn kannte.

Außer dem Schulvorsteher und den Gastlehrern war er der einzige Schwarze, den ich kannte, der Hose und Jacke passend zueinander trug. Als ich lernte, dass Männerkleidung gewöhnlich so verkauft wird und Anzug heißt, dachte ich, dass da jemand sehr schlau gewesen war, denn so sahen die Männer weniger männlich, weniger bedrohlich und etwas mehr wie Frauen aus.

Mr McElroy lachte nie und lächelte selten; zu seinem Vorteil sprach, dass er sich gerne mit Onkel Willie unterhielt. Dass er nie zur Kirche ging, war für Bailey und mich ein Beweis seines Mutes. Es muss großartig sein, so aufzuwachsen, fähig zu sein, die Religion zu ignorieren (besonders als Nachbar einer Frau wie Momma).

Gespannt beobachtete ich ihn, dem ich zutraute, jederzeit zu allem fähig zu sein. Ich wurde dessen nie müde, nie enttäuschte oder ernüchterte er mich, obwohl ich ihn heute, in fortgeschrittenem Alter, als einen sehr einfachen, uninteressanten Mann betrachte, der Patentmedizin und Stärkungsmittel an die einfältigen Leute in den Städtchen und Dörfern rund um Stamps verkaufte.

Mr McElroy und Großmutter schienen sich zu verstehen, denn er jagte uns nie von seinem Land. Im späten Sonnenschein des Sommers saß ich oft unter dem Chinaberry-Baum in seinem Hof, umgeben vom bitteren Aroma der Früchte und eingeschläfert vom Summen der Fliegen, die an den Beeren saugten. Er saß in einer zerschlissenen Hängematte auf seiner Veranda, schaukelte in seinem braunen Anzug hin und her und wedelte von Zeit zu Zeit mit seinem großen Panamahut nach den schwirrenden Insekten.

Mehr als ein Gruß am Tag war von Mr McElroy nicht zu erwarten. Nach seinem »Guten Morgen, Kind« oder »Guten Tag, Kind« sprach er kein Wort mehr, selbst wenn ich ihm auf der Straße vor seinem Haus begegnete, oder unten am Brunnen, oder wenn ich bei einem Versteckspiel hinter dem Haus mit ihm zusammenstieß.

In meiner Kindheit blieb er mir ein Rätsel. Ein Mann, der eigenes Land besaß und ein großes Haus mit vielen Fenstern und einer Veranda rundherum. Ein unabhängiger schwarzer Mann. Beinahe ein Anachronismus in Stamps.

Die wichtigste Person in meiner Welt war Bailey. Und die Tatsache, dass er mein Bruder war, mein einziger Bruder, dass ich keine Schwester hatte, mit der ich ihn hätte teilen müssen, war ein so großes Glück, dass ich bereit war, ein christliches Leben zu führen, nur um Gott meine Dankbarkeit zu beweisen. Ich war groß, kantig und schrill, er war klein, hübsch und sanft. Unsere Spielkameraden sagten über mich, meine Hautfarbe sei wie Scheiße, ihn lobten sie für seine samtschwarze Haut. Sein Haar fiel in schwarzen Locken herab, und mein Kopf war mit schwarzer Stahlwolle bedeckt. Und doch liebte er mich.

Wenn unsere Verwandten unfreundlich über meine Eigenschaften sprachen (meine Familie war so ansehnlich, dass es mir wehtat), gab Bailey mir aus der Entfernung ein Zeichen, und ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er Rache nehmen würde. Er gestattete den alten Damen, sich zu Ende zu wundern, wie um alles in der Welt ich wohl zustande gekommen war, und fragte dann mit einer Stimme, die vor Fett triefte wie gebratener Speck: »Oh, Mizeriz Coleman, wie geht es Ihrem Sohn? Ich habe ihn neulich gesehen, da sah er ja todkrank aus.«

Entgeistert fragten die Damen: »Todkrank? Wovon denn? Er ist nicht krank.«

Und mit einer Stimme noch öliger als vorher antwortete Bailey mit unbewegtem Gesicht: »Von seiner Hässlichkeit.«

Ich musste mein Lachen zurückhalten, biss mir auf die Zunge und ließ auch den Anflug eines Lächelns aus meinem Gesicht verschwinden. Später, hinter dem Haus unter dem großen Walnussbaum, lachten und lachten und johlten wir ohne Ende.

Bailey konnte damit rechnen, für sein ständiges freches Benehmen kaum bestraft zu werden, denn er war der Stolz der Familie Henderson/Johnson. Seine Bewegungen waren so, wie er später einmal die eines Bekannten beschrieb, sie waren von geschmierter Präzision. Er war auch fähig, mehr Stunden am Tag zu finden, als ich für möglich hielt. Er erledigte seine Pflichten und Hausaufgaben, las mehr Bücher als ich und spielte oben auf dem Hügel mit den Besten von allen. Er konnte in der Kirche laut drauflos beten und war geschickt genug, um unter Onkel Willies Nase aus dem Fass unter dem Obststand Eingepökeltes zu klauen.

Einmal um die Mittagszeit, der Laden war voll Kundschaft, langte er mit dem Sieb, das wir benutzten, um Kornkäfer aus Schrot und Mehl zu sieben, in das Fass und fischte nach zwei Gurken. Er erwischte sie, hakte das Sieb an den Rand des Fasses und ließ sie abtropfen, bis er bereit war.

Mit dem letzten Läuten der Schulglocke nahm er die nun fast trockenen Gurken aus dem Sieb, stopfte sie in seine Hosentaschen und schmiss das Sieb hinter die Orangen. Wir rannten aus dem Laden. Es war Sommer, und er hatte kurze Hosen an, und die Salzlake lief in deutlichen Streifen seine aschfarbenen Beine hinunter. Und er sprang in die Luft, die Beute in den Taschen, und seine Augen lachten: »Na, was sagst du dazu?« Er stank wie ein Essigfass, oder wie ein saurer Engel.

Wenn wir unsere Morgenpflichten erledigt hatten und Onkel Willie oder Momma sich um den Laden kümmerten, durften wir spielen; wir mussten nur in Rufweite bleiben. Beim Versteckspiel war seine singende Stimme leicht zu erkennen: »Letzte Nacht hab ich den Räubern die Tür aufgemacht. Wer ist wo? Vierundzwanzig Mann, was soll’s? Schlug ich auf den Kopf mit dem Nudelholz. Wer ist wo?«

Natürlich war er es, der die gewagtesten und interessantesten Spiele erfand. Und wenn wir Hand in Hand umherwirbelten und er am Ende der Kette war, konnte er sich fortschleudern lassen und zwirbeln und fallen und lachen, dass mir das Herz beinahe stillstand. Dann hängte er sich wieder an die Kette und lachte immer noch.

Von allen Bedürfnissen (und es gibt keine imaginären) eines einsamen Kindes gibt es eines, das unbedingt erfüllt werden muss, wenn die Hoffnung auf ein erfülltes Dasein erhalten werden soll: das unerschütterliche Verlangen nach einem unerschütterlichen Gott. Mein hübscher schwarzer Bruder war das Königreich, das mir verheißen war.

In Stamps war es üblich, alles einzumachen, was irgendwie konservierbar war. In der Schlachtzeit, nach dem ersten Frost, halfen sich alle Nachbarn beim Schlachten der Schweine und auch der ruhigen, großäugigen Kühe, wenn sie keine Milch mehr gaben.

Die Missionsschwestern der Christian-Methodist-Episcopal-Kirche halfen Momma beim Verwursten der Schweine. Sie tauchten ihre dicken Arme bis zu den Ellbogen in die Fleischmassen, mischten grauen Salbei, Pfeffer und Salz dazu und formten kleine leckere Proben für alle artigen Kinder, die Holz für den schwarzen Ofen herbeitrugen. Die Männer hackten die größeren Fleischstücke ab und brachten sie in die Räucherkammer. Sie öffneten den Schinkenknochen mit ihren schärfsten Messern, entfernten einen bestimmten harmlosen Knochen (»Er könnte das Fleisch verderben«) und rieben das Fleisch mit Salz ein, mit grobem, braunem Salz, das wie feiner Kies aussah, und das Blut kam an die Oberfläche.

Das ganze Jahr über, bis zum nächsten Frost, holten wir unsere Mahlzeiten aus der Räucherkammer, aus dem kleinen Garten, der nicht weit vom Laden entfernt lag, und aus den Regalen mit Eingemachtem. Die Auswahl in den Regalen konnte einem hungrigen Kind den Mund wässerig machen. Grüne Bohnen, Kohl, dickflüssiges rotes Tomatenmark, das auf dampfenden Butterbrötchen am besten schmeckte, Wurst, rote Rüben, Beeren und jede Frucht, die in Arkansas wuchs.

Aber wenigstens zweimal im Jahr bekam Momma das Gefühl, dass wir Kinder auch frisches Fleisch in unserer Kost haben sollten. Dann bekamen wir Geld – Pennys, Nickels und Dimes, die Bailey anvertraut wurden – und wurden in die Stadt geschickt, Leber zu kaufen. Seit die Weißen Kühltruhen hatten, kauften ihre Metzger das Fleisch von den Schlachthäusern in Texarkana und verkauften es sogar im Hochsommer an die Reichen.

Do Drop Inn

In Stamps war die Rassentrennung so total, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht wirklich wussten, wie Weiße aussahen. Sie wussten nur, dass sie anders waren, dass man sie fürchten musste, und diese Furcht schloss die Feindschaft der Machtlosen gegen die Mächtigen, der Armen gegen die Reichen, der Arbeiter gegen die Besitzenden und der Zerlumpten gegen die Wohlgekleideten mit ein.

Ich erinnere mich, nie geglaubt zu haben, dass die Weißen tatsächlich wirklich waren.

Viele Frauen, die bei Weißen in der Küche arbeiteten, kauften bei uns im Laden, und wenn sie die saubere Wäsche zurück in die Stadt trugen, stellten sie oft die großen Körbe auf unsere Veranda und zogen einzelne Stücke der auserlesenen Kollektionen hervor, um zu zeigen, wie geschickt ihre Hände beim Bügeln waren oder wie gewaltig der Wohlstand ihrer Herrschaften war.

Ich sah mir jeweils die Stücke an, die nicht vorgezeigt wurden. Ich wusste zum Beispiel, dass weiße Männer Kniehosen trugen, so wie Onkel Willie, und dass diese einen Schlitz hatten, durch den sie ihr Ding zum Pinkeln herausnehmen konnten. Ich wusste, dass die Brüste der weißen Frauen nicht, wie manche behaupteten, in die Kleider eingebaut waren, denn ich sah ihre Büstenhalter in den Körben. Ich war aber unfähig, sie mir als Menschen vorzustellen. Menschen, das waren Mrs LaGrone, Mrs Henricks, Momma, Reverend Sneed, Lilie B., Louise und Rex. Weiße konnten keine Menschen sein, denn ihre Füße waren zu klein und ihre Haut zu weiß und durchsichtig, und sie liefen nicht wie Menschen auf ihren Fußsohlen, sondern wie Pferde auf ihren Absätzen.

Menschen waren diejenigen, die auf meiner Seite der Stadt lebten. Ich konnte sie nicht alle leiden, oder besser gesagt, ich mochte niemand von ihnen besonders, aber sie waren Menschen.

Die andern, die seltsamen bleichen Kreaturen, die ihr fremdes Unleben lebten, waren keine Menschen. Sie waren Weiße.