3Wolfgang Bauer

Bruchzone

Krisenreportagen

Suhrkamp

7Vorwort

An der Front bin ich eine Witzfigur. Ich stolpere in Raqqa über die Trümmer auf der Straße. Ich knicke um, stoße gegen Mauern, komme in der Hitze schnell außer Atem. Wie ein fetter Pinguin versuche ich mich auf die Ladefläche des Kleinlasters zu wuchten, mit dem wir eine vierspurige Straße überqueren wollen. Mit Vollgas wollen wir über sie fahren, da sie im Schussfeld der Scharfschützen des Islamischen Staates (IS) liegt. Wir müssen uns beeilen, doch ich komme nicht auf den Laster, habe nicht genug Kraft, mich hinaufzuziehen. Meine Hände krallen sich fest, meine Füße zappeln. Die schwere Schutzweste zieht mich immer wieder hinunter. Die Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten stehen im Halbkreis um mich herum und lachen. Sie filmen mich mit ihren Handykameras und werden die Aufnahmen hinterher einander zeigen. Mit brüllendem Lachen. Der Pinguin an der Front. Der deutsche Reporter im Krieg.

Dieses Buch handelt nicht vom Mythos des Kriegsreporters, es doziert auch nicht politologisch über die wahren Gründe der Krisen im Nahen Osten oder im Pazifikraum, es will mehr.

Raqqa, Nordsyrien, die Stadt, die der Islamische Staat zu seiner Hauptstadt gemacht hat, September 2017. Seit drei Monaten bombardieren die Amerikaner den Ort, kurdisch-arabische Milizen dringen auf dem Boden vor. Der IS wehrt sich mit Autobomben und Scharfschützen. Die meisten Häuser sind zu Skeletten aus Beton und Metall zerschossen. Die ganze Stadt ein Gerippe. Darin Fliegen, Fliegen in allen Größen, je näher die Front, desto größer die Zahl der Fliegen, überall Müll, an manchen Stellen liegt er meterhoch. Dieser süßliche Geruch, Verwesungsgeruch, trockenes Blut auf Häuserwänden, Kleidungsfetzen mit bleichen Knochen darin, aufgeschüttete Wälle mit Blindgängern gespickt, Löcher, 8die in die Fußböden der Häuser gebrochen wurden, die Ausgänge von Tunneln, aus denen nachts der Feind kommt, weit hinter der Front, um seinen Gegner zu überraschen und zu töten, das Glas, das unter den Füßen knirscht, die Plastikflaschen, die den Boden bedecken, die hier absichtlich verstreut wurden, damit jeder Schritt nachts ein lautes Knacken erzeugt.

Ein Ort jenseits jeder Vorstellung. Die Gewalt des Krieges formt sich die Welt nach ihrem Ebenbild. Ich gehe durch Raqqa, der Schweiß rinnt in Schüben über mich. Mein Körper löst sich auf. Ich bin Wasser, Wasser und noch einmal Wasser. Und Wasser erinnert sich an nichts. Ich gehe durch die Straßen von Raqqa, die zu Gesteinshalden geworden sind, ein Gefühl, als liefe ich über die Oberfläche eines fremden Planeten. Aber es ist kein fremder Planet, es ist unserer.

Ich schreibe diese Zeilen, jetzt, einige Monate später in Rudolstadt, einer Kleinstadt in Thüringen, wohin ich mich für dieses Buch zurückgezogen habe, und ich merke, dass ich mich bereits seit zwei Tagen an diesem Vorwort abarbeite. Dabei hatte ich mir vorgenommen, es in zwei Stunden zu schaffen. Und jetzt zwei Tage. In einem leeren Hotelzimmer, umgeben nur von Notizen, Büchern, den Magazinen, ringe ich mit den Worten, die doch immer nur die falschen sind, zu vage, zu unehrlich, zu schwach.

Wie finde ich die Sprache, um das Grauen begreiflich zu machen, wenn mir schon die Sprache fehlt, selbst das Grauen zu verstehen. Wie fasse ich diese Angst in Sprache? Die Angst, die Millionen von Menschen prägt, ganze Generationen. Wie beschreibe ich den enormen Hass, den diese Angst gebärt? Wie die kleine schreckliche schwarze Verhärtung irgendwo in der Brust, die der Mensch im Extremen seiner Existenz fühlt, die immer größer wird, zur Panik wird oder zur entsetzlich vernichtenden Wut? Der Nährstoff ganzer Kriege.

9Nie in den letzten Jahrzehnten war es so wichtig, von den Kriegen zu erzählen. In den Tagen von AfD und FPÖ und Trump und dem Front National droht uns die Sensibilität dafür abhandenzukommen, was um uns herum in der Welt passiert. Viel zu früh geben wir uns wieder mit Gerüchten zufrieden, mit nicht überprüfbaren Agenturmeldungen, obskuren Internetquellen. Wir leben wieder in einer Zeit, in der uns nur die eigene Angst interessiert und wir uns von dieser Angst lähmen lassen. Wir nehmen die Welt so wahr, wie wir sie wahrnehmen wollen. Wir richten uns in festen Gedankengebäuden ein. Ich will diese niederreißen. Die Reportagen in diesem Buch sollen wenigstens kleine Risse in sie treiben. Das System der zu raschen Urteile sabotieren.

Dieses Buch versteht sich als eine Art Frühwarnsystem. Die hier versammelten Reportagen, die zwischen 2010 und 2017 entstanden sind, erkunden die Zone, in der unsere Welt zerbricht oder gar schon zerbrochen ist. Sie versuchen die Brüche auszuleuchten, wie Klüfte im Gestein, ihre Tiefe festzustellen, ihre Ausmaße, ihre Verzweigungen. Diese Bruchzone ist der Ort der Umwälzung und Veränderung, dort beginnt, dort platzt auf, was uns kurz darauf auch in Europa und Amerika erfasst.

Die Reisen, die ich für diese Reportagen unternehme, führen mich meistens an die Ränder unserer heutigen Machtzentren. Meine Ziele sind die Sümpfe des Südsudans, die Täler Afghanistans oder die Plattenbauwüste des russischen Ischewsk. Die Kartografen des Mittelalters haben früher diese Gegenden mit dem Schriftzug hic sunt dracones übermalt. »Hier sind Drachen«. Darüber schmunzeln wir heute. Aber sind wir ehrlich: Viel mehr als damals wissen wir auch heute nicht über die Ränder unserer Welt. Die Erkundung der Peripherie unseres Weltbildes überlassen wir größtenteils unseren Geheimdiensten. Ihre Fremdheit überwältigt uns noch immer, sie erschüttert uns in unseren Grundfesten. 10Die Angst vor »Monstern und Wundern« kann auch im 21. Jahrhundert Regierungen stürzen und Demokratien ins Wanken bringen. Immer noch wissen wir wenig von den Ländern, in denen die Drachen wohnen.

Dieses Buch erzählt von den gesellschaftlichen Umbrüchen in Afghanistan und wie brisant dort die Liebe sein kann, von der Hoffnung junger syrischer Demonstranten, die sich zu Beginn der Aufstände 2011 jeden Abend zusammenschießen lassen, ich habe in meinem Leben nie eine solche Zivilcourage erlebt. Es erzählt von der Magie der Nuba-Berge und dem Verdacht, dass dort seit Kurzem Giftgas eingesetzt wird, wie seit dem Syrien-Krieg in vielen Regionalkonflikten. Die Tragödie des Mohamed Aden, Präsident eines zentralsomalischen Bundesstaates, der das Gute wollte, aber das Schlechte erreichte, vom namenlosen Mörder in Russland, dem schlimmsten noch nicht gefassten Serienkiller auf der Welt, der alte Frauen mordet, aus der reinen Lust, zu töten. Ich habe drei Wochen lang nur aus einem einzigen Grund seine Geschichte recherchiert. Ich wollte wissen, wieso der Mensch beim Morden manchmal diese Lust empfindet. Eine Lust, die so stark ist, dass sie sogar abhängig machen kann.

Das Buch beschreibt den Alltag in Waziristan, wo US-Piloten mit ihren Drohnen töten, ohne jemals die oft viel zu jungen Gesichter ihrer Opfer zu sehen, es erzählt von den 13 Monaten, die der pakistanische Kapitän Ibrahim und seine Mannschaft in somalischer Geiselhaft leben mussten, und schließlich erzählt es von Fatmata in Sierra Leone, einer der tapfersten Frauen, die ich je kennenlernen durfte. Denke ich in meinem Leben an den Schmerz, denke ich an Fatmata.

Die Reihenfolge der Texte ist weder chronologisch noch geografisch geordnet. Die Logik der Abfolge ist eine emotionale. Sie mäandriert an der Schmerzgrenze entlang in der Hoffnung, dass sie nicht überschritten wird, wenigstens nicht zu oft.

11Am Ende der Gasse in Raqqa, aus der ich im September 2017 über den Krieg gegen den IS berichte, treffen wir in einem vierstöckigen Wohnblock, in einem höhlenartigen Raum, auf den Jungen, den das Cover dieses Buches zeigt. Ein arabischer Kämpfer, vielleicht 16 Jahre alt, von den Kurden für den Kampf gegen den IS zwangsrekrutiert. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Milizionären, die mit Mühe die letzte Nacht überlebt haben. Die Nacht gehört dem IS, der Tag seinen Gegnern. Wir können nur kurz bleiben, weil es schon dämmert. So weiß ich nur wenig über ihn. Ich weiß noch nicht mal, ob er noch lebt. Aber die Angst in seinen Augen werde ich nie vergessen. In diesem Moment war es auch die meine.

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Afghanistan, 2012. Foto: Antonia Zennaro/Zeitenspiegel.