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CHRISTOPH BIERMEIER

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Geschichten
für Leicht- und
Schwergläubige

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Für M.

Ein image-Buch aus der

www.caminobuch.de

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Geheime Besuche

Immobiliengeschäfte

Beichtgeheimnisse

Wir sind Papst

Glaubenskriege

Lustspiel im Frauenbund

Kaspars letzte Fahrt

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Pfarrer Rauschegger war schon seit vielen Jahren in der Gemeinde. Er war so lange hier, dass man meinen konnte, er sei schon immer da gewesen. Eine ganze Generation von Kindern hatte er getauft, sie zur Kommunion gebracht, ihnen die Firm-Ohrfeige verpasst, sie schließlich verheiratet und auch den einen oder die andere schon unter die Erde gebracht. Pfarrer Rauschegger gehörte zur Gemeinde wie das Läuten der Glocken und das Reifen der Äpfel im Herbst.

Er war ein freundlicher Mann und die Gemeinde mochte ihn. Ein wenig seltsam sah er zwar aus, spindeldürr wie er war, mit stets zerzaustem Haar, das im Laufe der Jahre immer noch ein wenig weißer geworden war. Eine riesige Hornbrille saß auf einer imposanten Hakennase und gab ihm ein gelehrtes Aussehen. Seine Gemeinde schätzte ihn, weil er immer ein offenes Ohr hatte. Wenn die Seele zwickte, dann hörte er zu. Theologischen Rat gab er nur selten, weil er ohnehin der Überzeugung war, dass jeder Mensch am besten sich selber hilft, und wenn das nicht mehr reichte, dann würde Gott es schon richten. Oder wenigstens ein Arzt.

»Die Axt im Haus erspart den Zimmermann«, war einer seiner seltenen Ratschläge. Meist schwieg er und hörte zu. Sein Schweigen aber brachte die Menschen zum Reden und schau an - es ging ihnen danach besser. Seine Predigten waren milde und das mochten die Gläubigen. Weil er außerdem mit eher gleichförmiger Stimme predigte, konnte man währenddessen ein erholsames Nickerchen halten. Auch das dankte man ihm.

Nach der Kirche ging er zum Frühschoppen, trank dort ein Radler, nie mehr, und ging Punkt zwölf Uhr nach Hause. So verging die Zeit im immer gleichen Wechsel von Ostern, Pfingsten und Weihnachten.

Als einmal ein Verwandter des Mesners zu Besuch kam, meinte er: »Euer Pfarrer, das muss ja ein lustiger Kerl sein, wenn er schon Rauschegger heißt.«

»Naja«, sagte darauf der Mesner, »so direkt kann man das jetzt auch nicht sagen. Es ist eher so, wenn die Kirche eine Straße ist, dann ist unser Pfarrer Rauschegger der Mittelstreifen.«

»Verstehe«, antwortete der Verwandte und fragte nach einem Schnaps.

Hätte der Pfarrer Rauschegger sich nicht das Bein gebrochen, dann wäre alles so weitergegangen. Aber dann rutschte er auf einer der ersten Eisplatten des Jahres aus: Der Mesner nahm es in letzter Zeit nicht mehr so genau mit seinen Aufgaben und so hatte er den ersten Frost verschlafen. Der Pfarrer aber war wie immer früh aufgestanden und sein Morgenspaziergang endete schon nach wenigen Metern mit einer unfreiwilligen Rutschpartie, die ihrerseits abrupt an einem Stufengeländer endete.

Jetzt lag der Herr Pfarrer also im Krankenhaus und der Mesner bekam von seiner Frau einiges zu hören, um nicht zu sagen auf die Ohren. Den Herrn Pfarrer so kurz vor Weihnachten außer Gefecht zu setzen, noch dazu aus Nachlässigkeit, weil wahrscheinlich wieder zu viel Schnaps am Abend davor und überhaupt, was sollen da die Leute denken, wenn man nicht einmal mehr gefahrlos in die Kirche gehen kann, weil er, der Mesner, nicht in der Lage ist, zu streuen und damit den Herrn Pfarrer ins Krankenhaus bringt, wo er ja nichts zu suchen hat, weil ein Pfarrer in die Kirche gehört und nicht in ein Krankenhaus, und wenn doch, dann höchstens als Besucher einer kranken Person, aber doch nicht als Kranker selber. Wo kommen wir denn da hin!

Freilich war der Mesner zerknirscht, aber andererseits war es jetzt schon passiert und ändern konnte er jetzt auch nichts mehr. Ärgerlich war nur, dass ihm seine Frau den abendlichen Schnaps verbot. Er versuchte sie noch auf ein winziges Glas pro Tag hoch zu handeln, weil der Frost ja sozusagen aus heiterem Himmel gekommen war, also gänzlich unvorhergesehen. Aber ein Blick, genauer gesagt dieser ganz bestimmte Blick seiner Frau, ließ ihn verstummen. Hier war erst einmal nichts mehr zu holen. Er würde sich ganz schön anstrengen müssen, um das wieder einzurenken. Aber Anstrengungen verabscheute der Mesner, weil sie eben anstrengend waren. Ein Schnaps wäre jetzt genau das Richtige. Aber das ging ja nicht mehr.

Die Lage, das erkannte der Mesner jetzt, war verzwickt.

Selbstverständlich war die Mesnerin sofort ins Krankenhaus gefahren, um nach ihrem Herrn Pfarrer zu sehen. Weil der Herr Pfarrer war schon ein wenig ihr Pfarrer, seit seine Schwester, die ihm den Haushalt gemacht hatte, vor einigen Jahren gestorben war. Er mochte es zwar nicht, wenn sie ihm anbot, seine Wohnung zu putzen oder zu waschen oder ihm auch einmal einen Braten zu kochen. Und immer, wenn sie es ihm anbot, antwortete er leise, aber bestimmt:

»Wenn die katholische Kirche ihren Pfarrern zutraut, ein gottgefälliges Leben ohne Ehefrau zu führen, dann traut sie ihnen auch zu, sich selber zu versorgen. Mehr noch, wenn die katholische Kirche ihre Pfarrer verpflichtet, ein Leben ohne selbige Frau zu führen, so ist es auch eine Verpflichtung für diese Pfarrer, für sich selber zu sorgen. Und wenn Sie mich ständig dazu nötigen, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, dann verstoßen Sie gegen diese Verpflichtung und gegen die Regeln der Kirche, so wie ich sie verstehe. Haben wir uns verstanden?«

Immer wenn der Herr Pfarrer sagte, »haben wir uns verstanden?«, dann war das Gespräch beendet, was natürlich ein wenig seltsam war, weil wer beendet schon ein Gespräch mit einer Frage an den anderen?

Sie nickte verständnisvoll und dachte, was für ein Unsinn. Als ob das Leben eines Pfarrers nicht schon schwer genug ist mit all den Verpflichtungen und jeder schaut auf ihn und an ihm hoch. Das ist doch nicht leicht, dachte sie, da kann man doch ein wenig Hilfe annehmen, katholische Kirche hin oder katholische Kirche her. Ich glaube, er wird ein wenig wunderlich in letzter Zeit. Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. Wie die Zeit verfliegt!

Im Übrigen hielt sie sich keineswegs an seine Anweisungen. Wenn er nicht wollte oder durfte, dann musste sie es eben heimlich tun. Also wartete sie, bis er wegen einer Messe, einer Hochzeit oder einer Beerdigung außer Haus war, und schlich sich in seine Wohnung. Nicht einmal ihr Mann wusste von ihren geheimen Besuchen, auch wenn er sich ein wenig wunderte, dass sie manchmal einfach verschwand. Frauen, dachte er dann und dass man diese Wesen nie so richtig verstehen wird.

Die Mesnerin aber schlüpfte schnell in die Rauschegger-Wohnung, staubte hier ein Bücherregal ab, wischte da ein wenig und räumte vorsichtig auf und, ja, inspizierte auch die eine oder andere Schublade. Ordnung musste schließlich sein. Die äußere Ordnung spiegelt die innere Ordnung, war ihr Leitspruch. In dieser Hinsicht war sie mit ihrem Pfarrer sehr zufrieden. Aus ihrer katholischen Sicht waren das Pfarrhaus und der Herr Pfarrer in einer guten Ordnung. Sie musste nur wenig nachbessern und gelegentlich regulierend eingreifen. Dann wusch sie und ließ die nasse Wäsche in der Maschine und beklagte sich bei ihm, dass Männer, insbesondere ihr eigener, immer die Wäsche in der Maschine vergessen würden, die daraufhin zu muffeln beginnt. Meist verstand der Herr Pfarrer den Wink und schon bald sah sie ihn die nasse Wäsche auf den Speicher zum Aufhängen bringen. Manchmal füllte sie vorsichtig seinen Kühlschrank. Dazu legte sie etwa zu der einzelnen Tomate noch zwei neue, ersetzte den Käsekrumen durch ein größeres Stück der gleichen Marke oder füllte das fast leere Marmeladenglas wieder auf. Sie musste dabei sehr behutsam vorgehen. »Ein falsches Stück Wurst kann alles verraten«, sagte sie sich immer wieder.

Gelegentlich beschlich sie der Verdacht, dass der Herr Pfarrer sehr wohl ahnte, dass er seine Wohnung mit einem Heinzelmännchen, also ihr, der Mesnerin, teilte.

Einmal predigte er vom Wunder der Brotvermehrung und gerade, als er erklärte, wie es dem Herrgott möglich gewesen war, 5000 Menschen mit fünf Semmeln und zwei Fischen satt zu machen, musterte er sie mit einem prüfenden Blick, dass sie ein Schauer durchlief und sie sich vornahm, ihre Ausflüge einzustellen. Doch dann siegte jedes Mal wieder ihre Fürsorgepflicht und wieder schlich sie in die Pfarrwohnung.

Nun aber war der Herr Pfarrer im Krankenhaus und da würde er wohl noch einige Zeit bleiben müssen. Der Krankenwagen hatte ihn weggebracht. Der arme Mann musste versorgt werden mit dem, was ein Pfarrer eben so braucht im Krankenhaus. Sie beschloss, ihm den violetten Schlafanzug zu bringen, der so schön seidig schimmerte und sich so gut anfühlte, wenn sie drüberstrich. Sie warf ihrem Mann noch einen strengen Blick zu, den der mit einem schuldbewussten Seufzer quittierte, und schon schlüpfte sie hinüber zum Pfarrer Rauschegger. Sie hatte kaum die Tür des Pfarrhauses geöffnet, da sah sie es!

Fast hätte sie der Schlag getroffen, so sehr erschrak sie. Sie musste sich erst einmal setzen und tief durchatmen. Sie schloss die Augen, zählte innerlich bis 20 und öffnete sie wieder. Nein, sie hatte nicht geträumt, es war auch keine Einbildung gewesen. Was sie erblickte, war wirklich. Und es war schrecklich!

Im Wohnzimmer war der alte Holztisch feierlich eingedeckt. Für zwei Personen! Eine schwere Brokattischdecke lag darauf. Tiefe Porzellanteller, ein Kerzenständer, Silberbesteck, eine Flasche Rotwein und ein Blumenstrauß mit verdächtig vielen roten Rosen! Die Mesnerin wusste es sofort: Das hier war ein Rendezvous. Ihr Pfarrer Rauschegger hatte ein Rendezvous oder vielleicht auch noch mehr. Viel mehr, um genau zu sein. Ihr wurde schwindlig. Und sie machte sich Vorwürfe. Warum hatte sie das nicht verhindert? Warum hatte sie nicht gründlicher die Wohnung kontrolliert? Dann wären ihr die Tischdecke, das Silber und all die anderen schändlichen Sachen aufgefallen. So aber war es zur Katastrophe gekommen und sie war schuld. Dieses Haus betrete ich in meinem Leben nicht mehr, schwor sie sich. Sie sprang auf und lief hastig hinaus auf die Straße. Nein, so nicht, schoss es ihr durch den Kopf. So kommst du mir nicht davon! Sie lief zurück und warf die Blumen in die Mülltonne, packte die restlichen Sachen fürs Krankenhaus in eine Tasche und verließ die Wohnung, ohne das Wohnzimmer der Sünde auch nur eines einzigen weiteren Blickes zu würdigen.

Es hätte nicht viel gefehlt und der Herr Pfarrer Rauschegger hätte ihr leidgetan, wie er da in seinem Krankenzimmer lag. Das kaputte Bein war hochgelegt und unter einem dicken Gipsverband verschwunden. Der Herr Pfarrer schien zu schlafen.

»Sie müssen gar nicht so tun, als ob Sie schlafen«, hörte die Mesnerin sich sagen und erschrak ein wenig über sich selber. Aber andererseits, die Sache musste jetzt geklärt werden. »Ich weiß schon, dass Sie nicht schlafen.«

»Sie haben recht, aber mein Bein tut mir weh und da will ich lieber keinen Besuch!«, sagte der Pfarrer und stöhnte gequält auf.

»Zumindest nicht mich, ich weiß! Sie empfangen ja lieber andere Gäste, geheime!«, entfuhr es ihr und sie staunte nicht schlecht über ihren Ton.

»Sie haben es gesehen«, sagte der Pfarrer Rauschegger nach einer langen Pause. Einer sehr, sehr langen Pause.

»Freilich hab ich es gesehen, das ganze Sodom und Gomorra!«, brach es aus ihr heraus. »Rotwein, Blumen und sogar eine Tischdecke. Sie Casanova, Sie! Wissen Sie, was mich am meisten ärgert? Dass ich es nicht gemerkt habe. Ja, nicht einmal geahnt. Sie haben mich hinters Licht geführt mit Ihren Affären.«

Pfarrer Rauschegger war mit einem Mal ganz bleich geworden.

»Was reden Sie denn da für einen Unsinn? Affären? Wie kommen Sie auf so einen Blödsinn?«

»Rotwein und Kerzenlicht! Was soll denn das sonst bedeuten?« Jetzt schluchzte sie.

Eine sehr lange Zeit antwortete der Pfarrer nichts. Er schien nachzudenken. Stille legte sich über das Krankenzimmer.

Gott sei Dank, dachte sie, ist das ein Einzelzimmer. Nicht auszudenken, wenn das jemand mitbekommen würde.

Endlich räusperte sich der Pfarrer. Leise und stockend begann er zu sprechen. So leise, dass sie sich vorbeugen musste. Es war ein wenig so, als würde sie ihm die Beichte abnehmen.

»Also … ja … wie gesagt … ich weiß auch nicht … das ist eben nicht leicht für einen Pfarrer … Sie wissen schon!«

»Nichts weiß ich! Überhaupt nichts. Herrgott, Hochwürden, jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen. Das Kind ist jetzt schon in den Brunnen gefallen und diese Schüssel müssen Sie jetzt selber auslöffeln.«

Die Wahrheit musste ans Licht, sie würde nicht eher Ruhe geben, bis alles aufgeklärt war. Aber was dann?

»Ich weiß schon, dass es ein Kreuz ist mit dem Zölibat!«

»Wieso Zölibat? Das hat doch mit dem Zölibat nichts zu tun. Also gut. Dann soll’s so sein. Schauen Sie, liebe gnädige Frau, der Zölibat ist eine Sache, die sich ein Pfarrer selbst auferlegt. Wenn er diese Berufung annimmt, dann akzeptiert er das freiwillig. Ob das immer leicht ist oder nicht, das ist nicht die Frage. Es ist, wie es ist. Da haben die Verheirateten es viel schwerer. Die wissen ja am Anfang nicht, dass es in einer Art Zwangszölibat enden wird, weil man als Ehepaar nicht raus kann aus der Ehe. Da gibt es ja klare Grenzen …«

»Ganz so ist es aber auch nicht«, unterbrach ihn die Mesnerin, klang aber nicht wirklich überzeugend.

»Ich meine ja nur. Der Zölibat ist nicht das Schlimme, das wirklich Schlimme ist etwas anderes.« Jetzt hielt die Mesnerin den Atem an. Vor ihr tat sich ein Abgrund auf. Was kann schlimmer sein als ein Pfarrer mit Frauengeschichten?

»Einsamkeit«, sagte der Pfarrer und versuchte zu lächeln. »Es ist die Einsamkeit am Abend. Oft, wenn ich von der Kirche heimgehe, dann sehe ich die erleuchteten Fenster in den Häusern und Wohnungen. Familien wohnen darin, von mir aus auch Paare. Dann sehe ich, wie die Menschen am Tisch sitzen, das Abendessen bereiten, reden, vielleicht auch streiten, wie Eltern ihre Kinder ins Bett bringen, wie ein Auto hält, einer aussteigt und ihm wird die Haustür aufgemacht. Dann lauf ich weiter und am Ende der Straße steht ein Haus und in diesem Haus brennt kein Licht. Das ist mein Haus. Auf mich wartet niemand.« Der Pfarrer stockte.

Die Mesnerin musste schlucken. Dann sah sie das Bild ihres Mannes vor sich und sagte: »Das ist auch nicht immer so ein Glück, das Daheimsein von den Leuten.«

»Aber es ist jemand da. Manchmal ist einem dieser Mensch vielleicht nicht nah … aber er ist da. Er atmet, er spricht …«

Naja, meistens nicht recht viel, dachte die Mesnerin und merkte, wie sich der Knoten, den sie den ganzen Tag über in sich gespürt hatte, ein wenig löste.

»Und das will man ja, oder?«, fragte Pfarrer Rauschegger zögernd.

»Schon«, sagte die Mesnerin, »aber dazu muss man sich doch keine Weiber ins Haus holen, schon gar nicht als Pfarrer.« Ihre Enttäuschung war mit einem Mal wieder da.

»Jetzt hören Sie aber auf mit den Weibergeschichten! Was soll ich mit einer Frau? Als Pfarrer! Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es um’s Alleinsein geht. Und da lade ich mir manchmal Leute ein. Nur zum Reden.«

»Wen denn? Und warum habe ich nie jemanden aus dem Haus kommen sehen oder hineingehen?«, fragte die Mesnerin verblüfft. »Mir entgeht nämlich so schnell nichts!«

»Weil diese Menschen nicht wirklich zu mir kommen, sondern bloß in meiner Einbildung! Jetzt wissen Sie’s!« Der Pfarrer wirkte auf einmal gequält.

»In der Einbildung? Also, Sie tun nur so, als wären die da bei Ihnen zum Essen?«

»Ja, so ungefähr. Können wir an der Stelle aufhören, wir sind ja nicht bei der Inquisition«, bat der arme Pfarrer.

»Nein, so schnell geht das nicht. Ich muss alles wissen.« Die Mesnerin konnte sehr hartnäckig sein. »Wer denn zum Beispiel?«

»Das ist mir ein wenig peinlich, ich möchte lieber nicht …«

Da unterbrach ihn die Mesnerin: »Das haben Sie sich selber eingebrockt, jetzt muss alles heraus.«

»Der Jogi Löw, zum Beispiel.«

»Der Fußballtrainer?«, fragte sie verblüfft.

»Ja, der. Ich hab ihn eingeladen, weil er so traurig war nach dem Aus in der Vorrunde von der Weltmeisterschaft. Da habe ich gedacht, der braucht Zuspruch der Mann, und das hat gestimmt. Oder der heilige Franz von Assisi, der war auch schon ein paar Mal da. Da wird es immer recht spät, weil wir viel zu diskutieren haben. Ein sehr interessanter Mensch übrigens. Und manchmal kommt auch der Franz-Josef Strauß zu Besuch, der bringt gerne den Stoiber mit. Wobei der Stoiber immer so umständliches Zeugs redet. Und Papst Johannes XXIII. Und der Mick Jagger. Wussten Sie, dass der nur noch grünen Tee trinkt? Wir sitzen dann da und hören uns die alten Platten von den Rolling Stones an und manchmal singen wir mit. Und natürlich Michael Schumacher, der Rennfahrer, der so schwer verunglückt ist. Der braucht im Moment viel geistlichen Zuspruch.«

Die Mesnerin hörte mit offenem Mund zu. Eines musste sie noch wissen: »Auch Frauen?«

Der Pfarrer wurde ein wenig rot, dann gab er sich einen Ruck: »Marilyn Monroe. Aber bloß einmal und bloß zum Mittagessen.« Er zögerte lange, bis er weiterfuhr: »Und Sie!«

»Ich?« Die Mesnerin erschauerte. »Ich? Ja, warum denn das?«

»Ich hab Ihnen die Leviten lesen müssen, weil Sie glauben, ich bin zu blöd zu merken, dass Sie mir den Kühlschrank vollstopfen und meine Wäsche waschen.«

»Und was hab ich dann gesagt?«, fragte sie kleinlaut.

»Sie haben sich entschuldigt und Besserung gelobt.«

»Hat das dann auch geholfen?«, wollte sie wissen.

»Nein, natürlich nicht, Sie waren ja nicht wirklich da, bloß in der Einbildung.«

»Das ist auch wieder wahr«, entgegnete sie. »Sie hätten’s mir ja direkt sagen können.«

»Das hab ich mich nicht getraut, Sie haben es ja gut gemeint.«

Lange schwiegen beide. Dann fragte Pfarrer Rauschegger vorsichtig: »Und jetzt? Werden Sie mein Geheimnis verraten?«

»Nein, natürlich nicht, was glauben Sie, was die Leut von mir denken, wenn Sie merken, bei was für einem Pfarrer ich angestellt bin.«

»Ich weiß nicht so genau, ob ich mich darüber freuen soll«, antwortete er.

»Wir machen das so«, fuhr sie fort. »Ich räume das ganze Zeug weg, weil das brauchen Sie ja nicht mehr. Wo haben Sie es denn versteckt gehabt, dass nicht einmal ich es gefunden habe?«

»Auf dem Speicher hinter den Regalen mit den alten Bistumsblättern!«, gab er zu.

»Da hätte ich aber drauf kommen können, Herrschaftszeiten. Passen Sie auf, wenn es Ihnen wieder einmal schlecht geht und Sie jemanden zum Reden brauchen, dann kommen Sie zu mir, einverstanden?«

»Nur wenn Sie aufhören, bei mir herumzustöbern. Ja?«

»Darauf kann ich mich nur einlassen, wenn Sie einmal die Woche zum Essen kommen«, forderte sie.

»Schweinsbraten!«, konterte er.

»Also gut, dann sind wir uns ja einig!«

Feierlich gaben sie sich die Hand. Sie stand auf, da fiel ihr noch etwas ein.

»Wenn Sie wieder einmal unbedingt jemanden einladen müssen, dann unseren Herrgott.«

Verblüfft fragte Pfarrer Rauschegger: »Meinen Sie, der Herrgott hat Zeit für einen einsamen Landpfarrer wie mich?«

»Ja, freilich«, antwortete sie, »was glauben denn Sie? Und Sie werden überrascht sein, wie gut der Herrgott zuhören kann und wie viel Zeit er sich für Sie nimmt.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«, entgegnete der Pfarrer.

»Weil er schon öfters bei mir zu Besuch war«, sagte die Mesnerin mit Nachdruck, stand auf und ging. Als sie die Tür schließen wollte, hörte sie den Pfarrer ihr leise hinterherrufen: »Danke und Vergelt’s Gott!«

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Treppauf, treppab. Treppab, treppauf. So ging das seit Tagen. Die Reitmayerin, wie sie in der Gemeinde genannt wurde, fand keine Ruhe mehr. Wenn sie morgens die Zeitung las, starrte sie nur auf die Buchstaben und legte das Blatt schnell wieder weg. Sie füllte die Waschmaschine und vergaß, sie einzuschalten, weil sie plötzlich in die Küche wollte, um zu kochen. Doch schon auf dem Weg dahin wusste sie nicht mehr, was sie gerade vorhatte. Tausend Dinge fing sie an, keines brachte sie zu Ende. Und so streifte ein unruhiger Geist durch das Haus auf der Suche nach etwas Verlorenem. Nicht mal nachts konnte sie schlafen, sie stand am Küchenfenster und starrte in die Dunkelheit.

Ihr Mann, der Reitmayer, machte sich Sorgen. Sagen tat er freilich nichts, weil dann hätten er und seine Frau ja miteinander reden müssen. Aber was willst du schon sagen nach 40 Jahren Ehe, dachte er. Man weiß ja ohnehin, was in dem anderen vorgeht nach so langer Zeit. Es war ihm, als wären er und seine Frau ein Organismus mit vier Armen und vier Beinen, gelegentlich auch mit zwei Köpfen, wenn auch nicht zwingend, weil der der Reitmayerin sich ja doch immer durchsetzte. Aber ganz sicher waren sie ein Herz und eine Seele. Deshalb wusste der Reitmayer ganz genau, was seine Frau umtrieb: der Michi.

Der Michi war ihr jüngstes Kind. Gerade war er 31 geworden und ausgezogen. Die Töchter waren längst schon verheiratet und jede führte ihr eigenes Leben, weit, weit weg. Der Michi aber war einfach dageblieben und würde immer dableiben. So hatten die Reitmayers jedenfalls gedacht. Jetzt war das Haus leer und das rastlose Hin-und-Her der Reitmayerin war nichts anderes, so schien es dem Reitmayer, als würde sie den Michi suchen. Gerade so, als hätte er sich irgendwo versteckt und die Reitmayerin müsste ihn bloß finden, irgendwo hinter der Couch oder in einem Schrank oder im Keller bei seinen Kindersachen. Aber der Michi war nicht mehr da, er hatte jetzt seine eigene Wohnung.

Auch dem Reitmayer fehlte der Michi, aber das sagte er lieber nicht.

Am Abend schaltete der Reitmayer den Fernseher zur Tagesschau ein, wie er das immer machte, und schenkte sich gerade sein Gute-Nacht-Bier ein, als seine Frau ihn plötzlich von der Couch aus lange und genau anschaute. Ihm wurde mulmig zumute. Weil, dass sie ihn während der Tagesschau anstarrte, das war nur ein einziges Mal vorgekommen. Damals, als ihre Mutter gestorben war.

Dann brach es aus ihr heraus: »Ich versteh das nicht. Warum ist der Michi ausgezogen? Ich mein mit 31? Wenn er mit 18 oder mit, sagen wir, 24 ausgezogen wäre, dann von mir aus. Aber mit fast 32? Da hätte er doch dableiben können. Ich hab noch zu ihm gesagt, Michi, ich renoviere dir dein Jugendzimmer. Du kannst es dir ganz neu einrichten, aber er hat bloß den Kopf geschüttelt und gesagt, Mama, ich zieh aus. Ich versteh es nicht. Er hat’s doch gut gehabt bei mir, der Michi. Ich hab ihm doch alles gemacht, hab gekocht für ihn und die Wäsche gemacht.«

Der Reitmayer überlegte lange, was er sagen sollte, dann sagte er erst einmal nichts. Stattdessen schaltete er den Fernseher aus und sagte erst dann und ganz vorsichtig, dass der Michi ja schon groß ist und 31 und dass es normal ist, wenn ein Kind von daheim auszieht.

»Normal ist das mit 25 oder mit 18 nach dem Abitur«, sagte die Reitmayerin gereizt, »aber doch nicht mehr mit über 30.«

Sie habe immer gedacht, sagte sie, weil er nie davon geredet hat, dass er eine eigene Wohnung haben will, dass er einfach da bleibt, dass er einer von denen ist, die immer daheim wohnen bleiben. Freilich, sagte die Reitmayerin, habe sie schon gewusst, dass das ein wenig seltsame Männer sind, die im Elternhaus bleiben, ledig und im Jugendzimmer. Dass die oft gehemmt sind und nicht so recht ins Leben finden. Aber das hatte sie in Kauf genommen, weil der Michi ihr Michi ist, und komisch ist der Michi ja nie gewesen. Immerhin hat er seinen Fußballverein und eine gute Stelle beim Landratsamt. Und jetzt ist er weg, von heut auf morgen, einfach weg.

»Naja, aber er ist ja nicht tot und ein Telefon hat er auch und am Sonntag kommt er zu Besuch. Er und die Tanja«, antwortete der Reitmayer.

Die Tanja. Das ist der wahre Grund, dachte die Reitmayerin. Als der Michi die Tanja kennengelernt hatte, war alles auf die schlechte Seite gerutscht. Er war an den Wochenenden weg, kaufte sich neue Hemden, so sportliche, und war überhaupt anders geworden, irgendwie so seltsam fröhlich. Oder wie die Reitmayerin sagte, überkandidelt, wie die Tanja, ganz genau wie die Tanja.

Am Anfang hatte sich die Reitmayerin darüber gefreut, dass er sich so positiv entwickelt hatte, ihr Michi, aber schnell hatte sie herausgefunden, dass da etwas anderes dahinterstecken musste. Also hatte sie beim Michi ein wenig gebohrt und schließlich hatte er es seiner Mutter gebeichtet. Er hatte eine Freundin, die Tanja, auch eine vom Landratsamt. Abteilung KFZ-Zulassungsstelle. Und er hatte nicht nur die Tanja, er hatte sich auch schon verlobt mit der Tanja und eine Wohnung hatten die beiden, er und die Tanja, auch schon gefunden. Keine zwei Monate später war er weg. Die Reitmayerin wusste, sie hatte ihn verloren. Für immer und ewig, dachte sie, für immer und ewig, und dass das eine lange Zeit ist.