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»Wenn du den Transistor einschaltest, wirst du staunen,

was du mit deinen Ohren alles sehen kannst.«

ASHLEIGH BRILLIANT

Vorbemerkung der Autorin

Während einer langen Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts war der Rundfunk aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken. Im trauten Heim, in den Schützengräben, Büros, öffentlichen Verkehrsmitteln …, die Stimmen der Radiosprecher begleiteten Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Musik, Nachrichten, Gespräche, Fußballspiele, Interviews mit prominenten und weniger prominenten Zeitgenossen sorgten für Bildung, Unterhaltung, und manchmal auch für Aufregung und Ärger … für Leben.

Es gibt Programme und Programmmacher, die in den Geschichtsbüchern ein eigenes Kapitel verdient hätten. Wem fällt nicht eine Erkennungsmelodie ein, wenn er eine Sekunde lang nachdenkt? Wer hat nicht Vater oder Mutter verzweifelt am Knopf drehen sehen, um nicht das Ende eines Spiels oder eines Liedes zu verpassen.

Diese Geschichte, auch wenn sie mit Tinte geschrieben und nicht von Stimmen erzählt wird, ist eine Hommage an das Radio, allen voran Virtudes Leo, eine Frau, die am Mikrofon und durch die Zuschriften ihrer Hörer und Hörerinnen den wahren Sinn ihres eigenen Lebens entdeckt, die soziale und politische Wirklichkeit ihres Landes erkennt und die Liebe findet. Virtudes und ihre Sendung Die Stunde der Señorita Leo sind inspiriert vom Consultorio de la Señorita Francis, einer Rundfunksendung, die jahrzehntelang fester Bestandteil des Alltags von unzähligen spanischen Frauen war. Darin wurden Ratschläge zu Schönheitspflege, familiären Problemen oder Liebeskummer erteilt – Antworten auf Fragen, die Señorita Francis – die von den meisten Hörern für eine Person gehalten wurde, tatsächlich aber im Laufe der Jahre von verschiedenen Sprecherinnen verkörpert worden war – per Post empfing. Señorita Francis war das Kind einer Zeit, die lange vorbei ist, an die sich aber doch noch viele Menschen erinnern, sei es mit Nostalgie, sei es mit Schmerz.

Die Figuren in dem Roman Die Stunde der Señorita Leo stehen in Señorita Francis’ Schuld, sind jedoch frei erfunden. Die Autorin möchte damit ihrer Hochachtung gegenüber allen Frauen und Männern Ausdruck geben, die jene oft so schlimmen Jahre in Spanien durchgestanden haben. Und ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen für die Radiosprecher der Rundfunksender, die die Menschen mit ihrer Stimme und ihrem Herzen begleiteten und sich zu jeder Zeit bemühten, ihr Bestes zu geben.

1

Deshalb sage ich Lebewohl

Barcelona, 8. Juni 1977

Liebe Señorita Leo,

Ich heiße Elisa, und ich schreibe zum ersten Mal einen Brief.

Hätte ich ihn doch bloß niemals schreiben müssen!

Ich schicke diesen Brief an Sie, aber eigentlich ist er an meine Eltern gerichtet. Ich habe einfach nicht den Mut, ihnen diesen Brief zu geben. Ich hoffe, sie werden mir eines Tages verzeihen.

Ich bin so müde, und dabei bin ich erst siebzehn. Aber ich habe jeden Tag für zwei gelebt, und das Schlimmste ist, dass ich weiß, dass es für den Rest meines Lebens so weitergehen würde.

Haben Sie eine Ahnung, was das heißt?

Ich hatte einen Zwillingsbruder, doch er ist mit fünf Jahren gestorben. Er hatte schon ein schwaches Herz, als er auf die Welt kam.

Seitdem bin ich die, die ihn überlebt hat. Weiter nichts.

Ich kann tun, was ich will, er ist immer präsent. So viele Jahre auch vergehen mögen, es gibt Tote, die mehr Raum einnehmen als die Lebenden. Sie übertönen alles. Immer wenn meine Eltern mich ansehen, denken sie unweigerlich an meinen Bruder, und er fehlt ihnen wieder schmerzlich. Marco ist ein an meine Fersen gehefteter Schatten, und ich bin das Salz, das immerzu in die offene Wunde meiner Eltern rieselt, sodass sie niemals heilen kann.

Jede Chance, die ich verpasse, verpasse ich für mich, aber zugleich auch für ihn. Wenn ich eine Begabung nicht nutze, vergeude ich sie auch für ihn. Jeder Traum, den ich nicht erfülle, jeder Irrtum, der mir unterläuft, alles, alles, alles …

Und das Schlimmste ist, dass auch ich Marco vermisse. Manchmal glaube ich, den Verstand zu verlieren. Auf eine irrwitzige Art und Weise habe ich das Gefühl, ihn verraten zu haben. Ich fühle mich schuldig, weil ich das Glück hatte, am Leben zu bleiben – diesem Leben, das uns beiden gleichzeitig zuteilwurde und dessen Last ich nicht mehr ertrage.

Ich möchte mich endlich ausruhen, Señorita Leo, und ich hoffe, dass Sie mich verstehen.

Das alles ist sehr schwer für mich. Ich bin so einsam und weiß nicht mehr, was ich tun soll.

Ich möchte mich ausruhen, Papa und Mama. Endlich ausruhen von allem.

Weint nicht um mich.

Und so sage ich euch Lebewohl und bitte euch um Verzeihung.

Elisa

***

Germán schloss die Augen.

Er lag auf seinem Bett und versuchte, sich das Mädchen vorzustellen, während es diesen traurigen Brief schrieb. Ob sie ihre Ankündigung bereits wahr gemacht hatte? Vielleicht hatte Elisa, deren Worte er soeben im Radio gehört hatte, schon aufgehört zu existieren, wie ein ferner Stern, den wir noch sehen, obwohl er bereits erloschen ist.

Die Stimme der Moderatorin, die den Brief vorlas, hatte ihn in ein kleines Zimmer mit hellblauen Wänden versetzt. Aus irgendeinem Grund glaubte er, so müsse es dort aussehen.

Ein siebzehnjähriges Mädchen mit dem Blick einer Fünfzigjährigen beugte sich dort über ein kariertes Blatt und hielt den Stift umklammert wie ein Schiffbrüchiger die letzte Planke seines Bootes.

Germán starrte in die Dunkelheit seines Pensionszimmers und meinte sogar die tränenverschmierten Buchstaben auf dem Papier zu sehen.

Als es klopfte, zuckte er zusammen.

»Sofort aufmachen«, verlangte eine kreischende Stimme vor der Tür. »Wie oft soll ich es Ihnen denn noch sagen? Es ist nicht das erste Mal, dass Sie mit der Kippe in der Hand einschlafen. Eines Tages werden Sie noch bei lebendigem Leib verbrennen. Und wir alle mit!«

Germán hielt den Atem an und rührte sich nicht. In einer Dokumentation hatte er Tiere am Amazonas gesehen, die ihren natürlichen Feinden entgehen, indem sie stundenlang in derselben Position verharren. Wenn das so ein Viech hinbekam, warum sollte ihm das nicht auch gelingen?

»Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Señor Gómez. Ich weiß, dass Sie da drin sind«, ließ sich die Frau wieder vernehmen. »Sie wollen mich nicht reinlassen? Na schön! Dann öffnen Sie wenigsten Ihre Nachttischschublade, da finden Sie die Hausregeln!«

Der einsame Handlungsreisende regte sich noch immer nicht.

Er brauchte der Aufforderung nicht nachzukommen, um zu wissen, was er in der Schublade finden würde: eine Taschenbibel und ein laminiertes Blatt mit den Zehn Regeln der Pension La Perla.

Die fünfte lautete: »Es ist strengstens verboten, auf dem Zimmer zu rauchen.«

Germán öffnete die Augen und sah den Rauch seiner letzten Zigarette noch immer im Raum hängen. Er lächelte. Doña Concepción zu provozieren und ihr despotisches Regiment über diese Privatpension in der Barceloneta zu unterlaufen, bereitete ihm ein gewisses Vergnügen.

Draußen hörte er die Wirtin stoßweise atmen.

Er stellte sich vor, wie sie an seiner Tür schnüffelte wie ein Spürhund.

»Irgendwann geschieht ein Unglück«, murrte sie, während sie sich humpelnd über den Flur entfernte. »Und dann kommt das große Heulen und Zähneklappern …«

Erst als ihre Schritte leiser wurden, wagte Germán es, sich im Bett zu regen und der griesgrämigen Stimme den Rücken zuzuwenden. Er stand auf.

Nachdem er seinen Anzug weggehängt hatte, war der Schrank offen geblieben, und so begegnete er jetzt auf der Innenseite der Tür seinem Spiegelbild: einem Mann Ende dreißig, recht groß, mit breiten Schultern und dem Ansatz dessen, was bald ein Bauch sein würde.

Ein Mann ohne Frau, ohne Kinder, aber mit sieben Koffern voller Unterwäsche zu seinen Füßen.

»Ich besitze ein Königreich aus Dessous, Spitze, Seide, Reiz- und Unterwäsche für Damen«, pflegte er zu sagen, wenn er in Pensionen und Gasthäusern nach einer Unterkunft fragte.

Als er noch jünger war, hatte er jede Woche in einer anderen Stadt nach Kunden gesucht. Und am Abend in der Kneipe waren die Trinkgefährten ständig neue gewesen.

In jenen ersten Jahren als Vertreter für Unterwäsche hatte er ausschließlich Chérie die Treue gehalten, obwohl er wusste, dass diese Beziehung auf einer Lüge beruhte. Die Marke, die er exklusiv für die Mittelmeerküste vertrat, gab vor, made in France zu sein. Zumindest behauptete er das in den Wäschegeschäften und Kurzwarenläden, die er mit seinem Seat 1400 abklapperte.

»Diese zauberhaften Büstenhalter kommen aus Paris, man erkennt es gleich an der exklusiven Spitze und dem erlesenen Satin, so etwas findet man nur in Paris!«, wiederholte er ein ums andere Mal, um seine Kundschaft zu überzeugen.

Und manchmal glaubte er es beinahe selbst, so oft hatte er es gesagt, wenngleich ihn die Fahrten zu der Fabrik in Mataró, die er am Anfang jeden Monats unternahm, um neue Ware zu holen, eines Besseren belehrten. Er hatte Spaß daran gehabt, bis es mit dem Spaß vorbei war.

Fünfzehn Jahre später hatte er seine festen Anlaufstellen, und den Einkäuferinnen war es egal, woher die Sachen kamen.

Sie machten etwas her, waren günstig im Preis und gefielen den Kundinnen, drei Gründe, großzügige Bestellungen aufzugeben. Seine ersten Thekenbekanntschaften, Handelsvertreter wie er, hatten einer nach dem anderen geheiratet oder waren durch andere, jüngere Kollegen ersetzt worden, doch die Gesprächsthemen blieben immer dieselben.

Germán zog es schon seit langem vor, die Abende bei einem Glas Dyc-Whiskey in seinem Zimmer zu verbringen, allein mit der Stimme und mit den Geschichten, die ihm die einzige Freude schenkten, die er besaß: das Radio.

Sorgsam stellte er die Frequenz ein und lauschte bis zum Einschlafen den Begebenheiten aus dem Leben anderer Zuhörer, von denen diese in ihren Briefen an den Kummerkasten des Rundfunks erzählten. Die Stunde der Señorita Leo – er hatte das Programm durch Zufall entdeckt und war zunächst aus Neugierde und Langeweile hängengeblieben. Doch darum ging es mittlerweile längst nicht mehr.

Sie war es, wer immer sie sein mochte, mit der er sein allabendliches Stelldichein hatte.

Die Moderatorin der Sendung. Oder besser gesagt, ihre Stimme, sanft, doch mit einem trockenen Unterton, der verhinderte, dass sie süßlich klang.

»Deine Stimme klingt nach Lebenserfahrung«, seufzte Germán, während er sich die letzte Zigarette des Tages anzündete.

Tausend und eine Nacht lang hatte er versucht, sich vorzustellen, wie seine Freundin aus dem Radio wohl sein mochte, und jedes Mal war das Resultat ein anderes.

Du bist keine dreißig mehr, so viel steht fest, dachte er.

Ohne dass er es hätte begründen können, sah er sie mit dunkelblondem langem Haar, nicht sehr groß und mit Körbchengröße 85 B.

In seiner Fantasie lebte die Stimme der Señorita Leo im Zentrum von Barcelona. Sie war früh verwitwet und hatte zwei Kinder, die noch zur Schule gingen, vielleicht zu den Salesianern in die Salle Condal wie ihr Vater. Und obwohl sie eine Frau war, musste sie arbeiten, um die Familie zu ernähren.

»So stelle ich mir dich heute vor«, sagte er zu dem Rundfunkgerät und blies ein paar Rauchkringel an die Decke.

In diesem Moment wiederholte die Stimme Elisas Namen, und das Schicksal des Mädchen vertrieb die Moderatorin aus Germáns Gedanken.

»Tu es nicht, Kleines, tu es nicht … Warte noch ein bisschen. Weißt du nicht, dass in vierundzwanzig Stunden alles wieder ganz anders aussehen kann? Halte durch, Elisa, nur ein paar Tage. Du hast nichts zu verlieren, Kleines. Warte! Dein ganzes Leben liegt doch noch vor dir …« Es waren die letzten Worte, die der Handelsvertreter in die Anonymität der Nacht hineinmurmelte, bevor er einschlief, ohne zu wissen, ob das Mädchen ihn überhaupt noch hören konnte.

2

Wind der Freiheit

Sole drehte das Radio lauter.

Sie spülte gerade das Geschirr vom Abendessen ab, und die Stimme der Moderatorin war ihre einzige Gesellschaft. Der Brief dieses unglücklichen Mädchens war ihr zu Herzen gegangen, vielleicht weil es im selben Alter war wie Toño, ihr Großer. Sie wollte unbedingt hören, was man ihr in Die Stunde der Señorita Leo antwortete. Es war eine dermaßen traurige Geschichte!

Liebe Elisa,

dein Brief hat mich tief berührt.

Es ist sehr gut, dass du mir geschrieben hast, denn es gibt Zeiten im Leben, in denen unsere Kraft allein nicht ausreicht und wir die Unterstützung anderer Menschen brauchen.

Ich verstehe, was du über deine Lebensmüdigkeit sagst, denn die Erschöpfung ist nichts, was die Erwachsenen für sich gepachtet haben. Auch Kinder und Jugendliche fühlen sich manchmal von den Herausforderungen des Lebens überrannt, wie du zurzeit.

Deine Eltern und du selbst, ihr habt eine schwere Zeit durchgemacht seit dem Tod deines Bruders. Dieser Verlust, diese Abwesenheit, wird euch für immer begleiten, aber du darfst dir deswegen nicht verbieten, glücklich zu sein.

Bitte, Elisa, überstürze nichts. Zum Ausruhen wirst du auch in siebzig Jahren noch Zeit haben, wenn du all das erlebt hast, was du noch erleben solltest, und das ist eine Menge.

Mag sein, dass du im Augenblick das Licht am Ende des Tunnels nicht sehen kannst, aber ich versichere dir, es existiert. Du hast bisher nur Traurigkeit und Verzweiflung kennengelernt, aber es warten neue Erfahrungen auf dich, eine berufliche Zukunft, um dich zu verwirklichen, und auch die Liebe, ja, ein junger Mann, der dir all die Zuneigung geben wird, die dir fehlt, und der dir helfen wird. Deine Wunden werden verheilen, und auch du wirst wieder glücklich sein.

Gib nicht auf, Elisa, hör nicht auf, nach vorn zu blicken. Es ist jetzt nicht die Zeit, Lebewohl zu sagen. Es ist die Zeit für dich, zu leben.

In Liebe

Virtudes Leo

Sole hatte noch nie Kind verloren. Sie besaß vier Schätzchen, die ihr manchmal Ärger und meistens viel Freude bereiteten. Ihr Ältester war Toño, ihr zweiter Sohn hieß Ramón und war dreizehn. Der dritte, Miguel, hatte gerade seinen zehnten Geburtstag gefeiert, und Esteban, der Kleinste, war sieben und der letzte Versuch gewesen, eine Tochter zu bekommen.

Danach hatte ihr Mann sie endlich in Ruhe gelassen.

Sie dankte Gott jeden Tag für ihre vier Kinder. Wenn sie die nicht gehabt hätte, wer weiß, ob sie an diesem Dienstagabend überhaupt noch da gewesen wäre.

»Das mit der Müdigkeit kann ich gut verstehen, Elisa, auch ich bin furchtbar müde. Aber meine vier Rangen sind mein Motor, die halten mich auf Trab«, sagte sie und nickte ein paar Mal, während sie die Pausenbrote für den nächsten Tag mit Butter bestrich.

Sole hatte vier Rosen und nur einen einzigen Dorn im Herzen, doch war der so groß, dass sie mit der Zeit daran verblutet war.

Seit zwanzig Jahren war sie mit Antonio verheiratet. Einen anderen Mann hatte es für sie nie gegeben. Schon mit siebzehn war sie seine Verlobte gewesen.

Kennengelernt hatten sie sich in der Schneiderei, in der sie beide arbeiteten, sie als Lehrmädchen und er als Laufbursche. Ihre Mutter meinte, sie hätte etwas Besseres verdient. Aber sie war hingerissen von seinem pomadisierten schwarzen Haar und seinem dandyhaften Gebaren. Nach zwei Jahren Verlobungszeit machte er ihr einen Heiratsantrag. Es war auf dem Jahrmarkt ihres Stadtviertels, Gracia. Sie hatten auf dem Platz getanzt, und er hatte das Orchester gebeten, ihn auf die Bühne zu lassen.

»Soledad, willst du mit mir alle Tänze deines Lebens tanzen?«

Noch nach all den Jahren konnte sie sich genau an den Augenblick erinnern, als sie mit einem einzigen Wort ihr Schicksal besiegelt hatte: »Ja.«

Die Hochzeit fand statt, als sie neunzehn war, und anfangs schwebte sie auf Wolke sieben. Ihr Ehemann wollte, dass sie nicht mehr für andere arbeitete, sondern nur noch für die Familie da war, die sie miteinander gründen würden.

Sie gab ihre Beschäftigung mit Freuden auf, denn genau das hatte ihre Mutter auch getan. Der erste Junge war höchst willkommen. Mit der zweiten Schwangerschaft fingen die Probleme an. Ihr Mann wollte unbedingt ein Mädchen, doch lag es nicht in ihrer Hand, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.

Antonio verbitterte zusehends. Er begann zu trinken. Mit der Geburt des dritten Sohnes wurde es noch schlimmer. Er gab ihr die Schuld an allem, was ihm widerfuhr, ob er eine Autopanne hatte oder sein Fußballverein eine Niederlage erlitt. Er verlor seine Stelle in der Schneiderwerkstatt, weil er ständig unentschuldigt fehlte, und Sole dachte, das sei das Ende. Antonio beleidigte sie unentwegt, und auch wenn sie noch keine Tracht Prügel bezogen hatte, hatte er sie doch schon im Streit geohrfeigt.

Dann wurde sie zum vierten Mal schwanger, und ein Nachbar, der sich ihrer erbarmte, bot ihrem Mann Arbeit als Nachtwächter in einer Fabrik an.

Sole und ihre Söhne konnten erst einmal aufatmen.

Sie begegneten sich nur noch sonntags. Den Rest der Woche kreuzten sich ihre Wege kaum.

Der Frieden in ihrem Haus war so stabil wie Pappmaché, doch Sole begnügte sich schon lange mit sehr wenig.

»Mama, kann ich ein bisschen mit dir Radio hören?«, fragte ihr Ältester und streckte den Kopf zur Tür herein.

Sie lächelte. Toño sah genauso gut aus wie sein Vater als junger Mann. Er hatte dasselbe schwarze Haar, doch im Wesen ähnelte er ihm überhaupt nicht. Toño war ein sehr liebevoller Junge.

»Und die Kleinen?«

»Schlafen schon.«

Sole nickte, und der Junge schlüpfte in die Küche.

»Möchtest du einen warmen Kakao?«, fragte sie.

Fünf Minuten später saßen sie einander gegenüber am Küchentisch und tunkten Kekse in ihre Tassen. Mäuschenstill lauschten sie beide dem Lied, das in diesem Moment im Radio gespielt wurde:

Dicen los viejos que en este país

Hubo una guerra

Que hay dos Españas que guardan aún

El rencor de viejas deudas

Dicen los viejos que este país necesita

Palo largo y mano dura

Para evitar lo peor …

Die Alten sagen, in diesem Land

habe es einen Krieg gegeben,

und Spanien sei in zwei Teile gespalten,

die einander noch immer grollten.

Die Alten sagen, dieses Land

brauche einen langen Stock

und eine harte Hand,

um das Schlimmste zu verhindern …

Sole schaute ihren Sohn an, der aussah, als hätte er etwas auf dem Herzen. Er zauderte, und sie lächelte ihm ermunternd zu.

»Erinnerst du dich an den Krieg, Mama?«, fragte er schließlich leise.

Sie fühlte sich überrumpelt. Zu Hause sprachen sie nicht über Politik; sie und ihr Mann hatten nie Lust auf Scherereien gehabt. Offensichtlich hatte die Stimmung der letzten Wochen Eindruck bei ihrem Sohn hinterlassen.

»Ich war damals noch sehr klein, Toño«, seufzte sie. »Ich kam während des Krieges zur Welt, erinnere mich also an nichts … Die Großeltern erinnern sich, mögen es aber nicht, wenn man sie danach fragt. Weißt du, es gibt Dinge, an die man besser nicht rührt.«

Der Blick, mit dem ihr Sohn sie ansah, schien von weit her zu kommen.

Im Radio sang die Gruppe Jarcha weiter:

Pero yo sólo he visto gente

Que sufre y calla, dolor y miedo

Gente que sólo desea

Su pan, su hembra y la fiesta en paz

Libertad, libertad

Sin ira libertad

Guárdate tu miedo y tu ira

Porque hay libertad

Sin ira libertad

Y si no la hay sin duda la habrá

Aber ich habe nur Menschen gesehen,

die leiden und schweigen, Schmerz und Angst.

Menschen, die nichts wollen als

ihr Brot, ihr Weib und ihre Ruhe.

Freiheit, Freiheit ohne Zorn, Freiheit.

Vergiss deine Angst und deinen Zorn,

denn es gibt Freiheit ohne Zorn, und wenn es sie nicht gibt,

dann wird es sie zweifellos bald geben.

»Es wäre schön, wenn es das gäbe, Freiheit ohne Zorn«, sagte Sole, während sie sich die Lippen mit der Serviette abtupfte.

»Du bist also noch nie zu einer Wahl gegangen?«, fragte ihr Sohn.

»Nein, mein Schatz. Die letzten freien Wahlen fanden vor einundvierzig Jahren statt, und ich bin erst vierzig, auch wenn ich dir wahrscheinlich viel älter vorkomme«, erwiderte sie, um ihm ein Lächeln abzuringen.

»Es macht mich so wütend, dass ich noch keine einundzwanzig bin! Ich werde nicht wählen gehen können.«

Sie schaute ihn an und hatte das Gefühl, er sei schlagartig erwachsen geworden.

Wir leben in seltsamen Zeiten, die uns alle vorzeitig reifen lassen, sagte sie sich.

Sole hatte eine ruhige Kindheit gehabt. Über die harte Nachkriegszeit, an die sie sich kaum erinnerte, hatten die Älteren in ihrer Familie einen Mantel des Schweigens und des Vergessens gebreitet, der ihnen allen sehr nützlich gewesen war, um während der Franco-Diktatur zu überleben.

Mit Ordnung, Sicherheit, ein wenig Brot und Arbeit hatte die Regierung den Vätern und Onkeln, aber auch vielen Nachbarn und Freunden die Erinnerungen abgekauft.

Als Sole alt genug für eine eigene Meinung war, ersparte ihr die Liebe, diese auch zum Ausdruck bringen zu müssen. Antonio wusste über alles viel besser Bescheid als sie. Er erklärte ihr die Welt und enthob sie jeglicher Verantwortung, die über die vier Wände ihres Heims hinausgegangen wäre. Mit der Zeit hielten die eigenen Probleme sie davon ab, dem Geschehen auf der Straße oder in anderen Familien Aufmerksamkeit zu schenken.

Und so waren die Jahre verstrichen, bis sich im letzten November die Ereignisse überstürzten: Der Diktator Francisco Franco war gestorben. Die Dominosteine begannen zu fallen, und schließlich hatte der Übergangspräsident Adolfo Suárez für den vierundzwanzigsten Mai Wahlen angekündigt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben musste Sole eine »politische« Entscheidung treffen, und das beunruhigte sie.

»Hast du dir schon überlegt, wen du wählen wirst, Mama?«, fragte Toño und sah sie forschend an.

»Von diesen Dingen verstehe ich nichts, ich werde deinen Vater fragen …«

»Mama! Keine faulen Ausreden. Jede Person hat eine Stimme«, begehrte ihr Sohn auf. »Wer gefällt dir am besten?«

Sie zuckte mit den Schultern. Dann stand sie auf, drehte ihrem Sohn den Rücken zu und fing an, mit irgendetwas zu hantieren. Sie wollte nicht, dass er ihre Unsicherheit bemerkte.

In den vergangenen Tagen hatten die verschiedenen Kandidaten Wahlkampf betrieben und sich, ob man wollte oder nicht, in das tägliche Leben aller gedrängt.

Mit einer gewissen Ergriffenheit entsann Sole sich jenes Morgens, an dem die ganze Straße plötzlich voller Plakate war. Es war acht Uhr, und sie musste die Kleinen zur Schule bringen. Vor ihrer Haustür lächelte ihr der amtierende Präsident unter dem Slogan »Die Männer, die Demokratie möglich machen« entgegen.

Die zwanzigjährige Tochter einer ihrer Nachbarinnen, die auch in diesem Moment aus dem Haus trat, sagte entrüstet:

»Die Männer machen die Demokratie, ganz recht! Auf seiner Liste stehen zweiunddreißig Männer und nur eine Frau! Nicht zu fassen!« Sie schüttelte den Kopf.

Sole hingegen erschien dieser Mann vertrauenswürdig. Bisher hatte er seine Sache gar nicht so schlecht gemacht. Außerdem mochte sie keine raschen Veränderungen. »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach«, pflegte ihre Mutter zu sagen. Und Sole fand, dass sie damit vollkommen recht hatte.

»Tja, es ist gar nicht so einfach, sich zu entscheiden …«, sagte sie jetzt und dachte an diesen anderen Kandidaten, diesen jungen, hübschen Mann, der für den PSOE antrat. Er war ziemlich moderat, und wenn er redete, schmolz man unweigerlich dahin. »Die Freiheit liegt in deiner Hand«, proklamierte er.

»Allerdings. Weißt du, wie viele Kandidaten es gibt?«, fragte ihr Sohn voller Begeisterung und redete weiter, ohne ihr Zeit für eine Antwort zu geben: »Über fünftausend!«

»Sag bloß!«

»Und der Kongress hat nur dreihundertfünfzig Sitze.«

Sole warf ihrem Sohn einen erstaunten Blick zu.

»Und woher weißt du das alles?«

»Das hat uns der Geschichtslehrer erzählt«, erwiderte Toño strahlend. »Und er hat auch gesagt, dass mehr als dreiundzwanzig Millionen Spanier wahlberechtigt sind.«

Sole war mächtig stolz. Dieser aufmerksame Schüler war ihr Sohn. Er würde der erste Martínez sein, der es auf die Universität schaffte. Würde er es zum Rechtsanwalt bringen? Zum Lehrer?

Im Radio war jetzt die Rede von der Kommunistischen Partei, und Toño horchte auf. Sie hörten eine Sondersendung anlässlich der bevorstehenden Wahlen.

Sole schaute ihren Sohn an und sah ihn zustimmend nicken. Das weckte ihren Argwohn. Dieser Felipe González mit seinem Lächeln und seinem weichen andalusischen Dialekt mochte ja noch angehen; oder ihretwegen auch Tierno Galván, der für die Sozialistische Volkspartei PSP antrat und aussah wie ein besonnener Professor. Ein ganz anderes Kaliber jedoch war dieser Santiago Carrillo, über den viele unschöne Geschichten im Umlauf waren.

War der Geschichtslehrer ihres Sohnes vielleicht einer dieser republikanischen Schulmeister, die unter Repressalien gelitten hatten und heute ihren Schülern Flöhe ins Ohr setzten?

»Endlich sind wir an der Reihe. Endlich sind wir es, die gefragt werden. Wir haben unsere Telefone freigeschaltet, damit sich alle, die uns an diesem Vorabend des Wahltages zuhören, äußern können. Dies ist ein historischer Augenblick, und wir möchten wissen, wie unsere Mitbürger ihn erleben«, erklang eine überschwängliche Stimme aus dem Äther.

Im Hintergrund begann ein Lied, das Sole sofort erkannte. Es wurde in den letzten Wochen unentwegt gespielt.

Habla, pueblo, habla. Tuyo es el mañana. Habla y no permitas

que roben tu palabra. Habla, pueblo, habla. Habla sin temor,

no dejes que nadie apague tu voz. Habla, pueblo, habla.

Este es el momento, no escuches a quien diga que guardes

silencio. Habla, pueblo, habla. Habla, pueblo, sí. No dejes

que nadie decida por ti.

Sprich, Volk, sprich. Dein ist die Zukunft. Sprich und lass nicht zu,

dass man dir deine Worte raubt. Sprich, Volk, sprich. Sprich frei heraus,

lass dir von niemandem den Mund verbieten. Sprich, Volk, sprich.

Dies ist der Moment, höre auf keinen, der dir sagt, du sollst

schweigen. Sprich, Volk, sprich. Sprich, Volk, ja. Lass nicht zu,

dass andere für dich entscheiden.

Man hörte ein Telefon klingeln, und der Moderator nahm den ersten Anruf entgegen.

»Arbeiter, die Kommunistische Partei ist eure Partei! Ihr Hausfrauen, ihr Werktätigen, ihr Bauern, ihr jungen Leute …«

»Verzeihung, aber das ist keine Sendung für Wahlwerbung. Wir möchten Gedanken austauschen«, unterbrach der Moderator.

Ungerührt fuhr der Mann in der Leitung fort:

»Lasst euch nicht beirren: Die Kommunisten wählen heißt, die Demokratie wählen. Dafür zu stimmen, dass wir alle gleich viel gelten, dass wir über die Straße gehen können, ohne darauf achten zu müssen, wer uns folgt, dass wir …«

Der Sender schnitt dem Stegreif-Wahlkämpfer das Wort ab und stellte einen anderen Anrufer durch.

»Guten Abend, mit wem spreche ich?«

»Mein Name ist Roberto Romanones de Ruiz. Geboren 1920 in einem Dorf bei Ourense, von dem noch nie jemand gehört hat.«

»Guten Abend, Don Roberto. Möchten Sie uns erzählen, wie Sie diese Stunden erleben?«

»Ich habe Angst, fürchterliche Angst. Das ist das Ende.«

»Wie bitte?«

»Haben Sie denn nicht gehört? Die schreien nach Rache! Die stürzen uns ins Chaos. Suárez ist ein Weichei, dass er die Kommunisten legalisiert hat!«

Sole fiel wieder ein, dass Santiago Carrillo ein paar Monate zuvor heimlich nach Spanien eingereist war. Er hatte seine Festnahme provoziert und damit Präsident Suárez praktisch gezwungen, sich zugunsten einer Legalisierung der Partei auszusprechen.

»Don Roberto, beruhigen Sie sich.«

»Wir haben einen Krieg geführt … Dafür etwa? Wir haben sie schon einmal vertrieben. Soll das Blutvergießen denn von vorne anfangen …?«

Wieder wurde die Sendung unterbrochen. Diesmal war es ein Werbespot für Sekt, der den aufgebrachten Hörer zum Verstummen brachte:

»Schwarz wie die Nacht, golden wie das Feuer. Cordón negro.«

Das Johannisfest stand vor der Tür. Und weder die ersten Wahlen noch sämtliche Politiker der Welt würden sie, Sole de Martínez, davon abhalten, ein weiteres Jahr ihre berühmte coca zu backen. Das versprach sie Toño, bevor sie ihn zu Bett schickte.

»Meine erste demokratische coca«, sagte sie zu sich selbst, als sie das Licht ausschaltete und mit einem Lächeln die Tür zur Küche schloss.

3

Der erste Schritt

Das ist ein sehr untypischer Mittwoch, dachte Aurora, die im Bus saß und durchs Fenster blickte. Sieht eher aus wie ein Sonntag.

Wie jeden Tag hatte sie sich in die hinterste Reihe nah ans Rückfenster gesetzt. Von ihrer Wohnung in San Gervasio bis zu ihrem Arbeitsplatz in der Calle Caspe war sie fast eine halbe Stunde unterwegs, die sie sinnvoll nutzen wollte. Im hinteren Winkel des Busses konnte sie sich weitgehend unsichtbar machen und sich auf ihre Papiere konzentrieren … Zumindest war ihr das bisher immer gelungen.

Für gewöhnlich betrat sie das Gebäude des Radiosenders gegen fünf Uhr nachmittags und verließ es um Mitternacht. Heute allerdings war alles anders. Sogar ihre Arbeitszeiten.

Es war elf Uhr morgens, und die Calle Balmes war ab der Plaza Molina völlig verstopft. Autos und Motorräder kamen nur langsam voran, stockend wie eine Prozession. Aber eine sehr fröhliche Prozession, sagte Aurora sich, als sie das Hupen der Autos und die Gesänge hörte, die aus den heruntergekurbelten Seitenfenstern drangen.

Auf der Höhe der Avenida Diagonal bremste der Bus plötzlich scharf. Hunderte von Menschen hatten die wichtigste Verkehrsader der Stadt blockiert. Jung und Alt, Hausfrauen und Universitätsprofessoren, Arbeiter und Künstler lagen einander in den Armen und sangen ausgelassen.

Aurora seufzte, wandte den Blick von der Straße ab und wieder dem Umschlag zu, den sie in den Händen hielt. Es war einer der Briefe, die von den Psychologen für die heutige Sendung ausgewählt worden waren, und sie hoffte, dass ihn niemand vermissen würde, denn Geschichten wie diese sollten nicht in der ganzen Stadt verbreitet werden. Zwar fühlte sie sich ein wenig schuldig, wurde jedoch gleich durch ein anderes Kuvert abgelenkt, das den blau-rot gestreiften Rand eines Luftpostbriefes hatte.

Sie betrachtete die Briefmarken. Ein paar Kronen und das Wort Sverige ließen keinen Zweifel zu: Sie stammten aus Schweden. Vorsichtig riss sie die Briefmarken heraus.

Die hat Nicolás bestimmt noch nicht. Sie lächelte bei dem Gedanken, welche Freude sie ihrem Bruder machen würde, wenn sie ihm am Sonntag die Briefmarken gab.

Sie öffnete den Umschlag und verlor sich, wie immer, zwischen den schiefen Zeilen, die jemand mit bebender Hand geschrieben hatte.

Liebe Señorita Leo,

ich heiße Manolo Carretero Ruiz.

Nach dem Krieg bin ich, aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, aus Spanien ausgewandert und habe zwei verwaiste Neffen zurückgelassen, die Söhne meiner Schwester Catalina.

Ermutigt durch die Veränderungen, die in unserem Land vonstattengehen, wende ich mich nun an Sie. Von Ihrer Sendung habe ich durch Verwandte anderer Emigranten erfahren. Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können, aber mir bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten. Ich möchte wissen, was aus meinen Neffen geworden ist. Mir geht es gut hier in Stockholm, und ich habe es zu etwas Geld gebracht. Obwohl ich einige Frauen hatte, habe ich doch nie eine eigene Familie gegründet.

Ich werde älter und würde gern mit meinen Neffen in Verbindung treten, um ihnen zu geben, was ihnen zusteht. Seinerzeit waren sie in der Obhut eines Klosters in Badajoz. An Sie wende ich mich mit der Bitte, mir zu helfen, die beiden zu finden …

Aurora hob den Blick von diesem kurzen Abriss eines Lebens, das der Brief zusammenfasste. Der Bus hatte wieder scharf gebremst. Der Fahrer, angesteckt von der allgemeinen Aufregung, fuhr schlechter denn je.

Sie schaute aus dem Fenster und sah eine lange Warteschlange vor einem der Wahllokale, mit denen die Stadt an diesem Tag über und über gesprenkelt war. Einige Leute hatten sehr ernste Mienen. Sie waren vornehm gekleidet und wirkten wie ihrem eigenen Hochzeitsfoto entstiegen. Andere dagegen sprangen lachend umher, in den Gesichtern die Spuren einer durchgefeierten Nacht.

Wohl wahr, Manolo, unser Land durchlebt einen Wandel. Aber wird es dabei bleiben?, fragte sich Aurora, während sie sich vorstellte, wie alle diese Bürger in wenigen Minuten einen Zettel in eine Urne werfen würden. Die meisten von ihnen zum allerersten Mal. Vielleicht machen sie ein Foto, um es ihren Kindern zu zeigen, wenn sie welche haben, dachte sie ergriffen.

Aurora musste an ihre Eltern denken und wie viel sie dafür gegeben hätten, diesen Tag zu erleben. Seit sie am Morgen um sieben Uhr aufgestanden war, gingen ihr die beiden nicht aus dem Sinn. Deshalb hatte sie bereits um neun als eine der Ersten das Wahllokal betreten. Zu dem Umschlag mit dem Wahlzettel hatte sie ein Foto ihrer Eltern in ihre Handtasche gesteckt. Es war Auroras Lieblingsfoto: Sie waren alt, hielten sich an den Händen und lächelten sich an.

»Auf diese Weise gehen die beiden heute auch wählen«, hatte sie Paquito ernsthaft erklärt. Doch der hatte sie mit seinen ausdruckslosen runden Augen angeblickt und dann dasselbe gesagt wie immer:

»Wie geht’s, wie steht’s?«

Womit wieder einmal bestätigt war, wie wenig Gespür ihr Papagei für historische Momente hatte.

Zwei Minuten später war sie bereits in den nächsten Brief vertieft, in dem es um etwas völlig anderes ging:

Ich weiß nicht, was ich tun soll, Señorita Leo.

Er ist verheiratet, und ich bin eine anständige Frau. Seit zehn Jahren bin ich seine Sekretärin, und bis jetzt ist er mir nie zu nahe getreten.

Doch vor drei oder vier Monaten begann er plötzlich, mir Geschenke zu machen. Anfangs waren es nur Kleinigkeiten. An einem Montag fand ich eine Rose auf meinem Tisch. Von einer Geschäftsreise in die Schweiz brachte er mir eine Schachtel Pralinen mit. Und Schokolade ist mein Verhängnis! Mit der Begründung, wir hätten so viel Arbeit, hat er mich sogar zweimal zum Essen eingeladen. Und auch wenn nichts passiert ist, warum mussten wir in einem Separee speisen?

Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, aber da in all den Jahren nie etwas passiert ist …

Seit zwei Wochen ist nun alles anders. Unter dem Vorwand, dass noch einige dringende Abrechnungen erledigt werden müssten, behielt er mich bis spät abends im Büro. Wir waren allein. Während ich Quittungen durchging, stellte er sich neben mich und legte mir wie aus Versehen die Hand in die Taille.

Sicher fragen Sie sich, was dann geschah? Ich will es Ihnen sagen: Nichts. Weder er noch ich machten eine weitere Bewegung. Wir blieben einfach so stehen.

Das war alles, aber seit diesem Abend spüre ich seine Blicke. Und wir Frauen, Señorita Leo, verstehen eine Menge von Blicken und ihrer Bedeutung.

Aurora seufzte. Sie moderierte die Sendung nun schon seit zehn Jahren. Wie viele Briefe dieser Art mochte sie wohl schon gelesen haben?

»Ledige Sekretärinnen, verheiratete Chefs … Das hängt einem langsam zum Hals raus!«, seufzte sie unwirsch.

Solche Geschichten konnte sie nicht leiden; für gewöhnlich gingen sie nicht gut aus, denn so viele gute Ratschläge die Señorita Leo diesen jungen Dingern auch geben mochte, fürchtete sie doch, dass sie in den seltensten Fällen beherzigt wurden. Ratschläge, die häufig die Zensur im Auge haben mussten, weshalb sie einen leicht ranzigen Beigeschmack hatten. Oft beruhten sie aber auch einfach auf gesundem Menschenverstand.

Die Mehrzahl der Briefe, die Aurora im Radio vorlas, handelten von Liebe und Trennungsschmerz, von Erinnerungen an erste und letzte Begegnungen, Untreue und Verbundenheit über den Tod hinaus. Geschrieben von eifersüchtigen Soldatenbräuten, die verzweifelt auf Post von ihren Liebsten warteten, die noch die Stellung in der Westsahara hielten, von schmachtenden jungen Mädchen, die von ihrem Märchenprinzen träumten, oder schüchternen Jungen, die sich nicht trauten, die Nachbarstochter oder die kleine Schwester ihres besten Freundes anzusprechen.