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Isländische
Erzählungen

Geschichten aus schroff-kargem Land

Übersetzt und herausgegeben
von Eva-Maria Klumpp

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Inhalt

Vorwort

Mein Dank

Magie und Zauberei

Der schwarze Rock

Halla vom Straumfjord

Der Zauberritt

Die acht Töchter des Edelmannes

Guðrún von Baugsstaðir

Gunna

Die Seherin Þórdís

Katla

Fromme und Heilige

Das Schneehuhn

»Die Seele von meinem Jón«

Der Hof Skíðastaðir

Geister und Spuk

Dísa, die Schwester von Bjarni

Die Zauberer auf den Westmännerinseln

Die Almosenfrau

Das Mädchen vom Hof Þrastarhóll

»Liebe Mutter bei den Schafen, Schafen«

Ein ausgesetztes Kind meldet sich

Solveig vom Hof Miklibær

Das Mädchen in der Mauer

Das Skelett in Skálholt

Tilberis

Verbannte und Geächtete

Das Hirtenmädchen

Die Geschichte von Solveig und Margrét

Die Frau am Ingjaldsberg

Humorvolles

»Jetzt würde ich lachen, wenn ich nicht tot wäre«

»Du bist so süß, lieber Tod«

Elfen

Die Elfen in der Weihnachtsnacht

Die Hebamme Oddný

Die Elfenfrau Úlfhildur

Die Sennerin

Land und Leute

Die Nonnen von Kirkjubær

»Mir ist so kalt geworden«

Manga vom Hof Keflavík

Übernatürliches

Der Seehundsbalg

Una und der Wunschstein

Trolle

Jón vom Hof Heiðarhús und die Trollfrau

Die Trollfrau Gellivör

Die Trollfrau auf der Arnarvatnsheiði und der Fischer

Quellennachweis

Vorwort

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Bei dem Wort »Island« driften die Gedanken unweigerlich zu brodelnden Vulkanen und Geysiren, großen Gletschern, weiten Lavafeldern und wild tobendem Wetter. Die gewaltigen Kräfte von Feuer und Eis haben die Insel hoch oben im Norden erschaffen und dieses Werk ist bis heute im Werden. Islands Natur mit ihrer bizarren Landschaft und ihren unbändigen Kräften hat die Insulaner über viele Jahrhunderte begleitet. Sie beeinflusste das Denken und Handeln der Isländer tief und beflügelte ihre Fantasie auf ganz besondere Weise. Es ist eine geistige Schaffenskraft entstanden, der man – lässt man sich auf die Insel und seine Bewohner etwas näher ein – in Erzählungen begegnet. Aus ihr haben sich die Volksgeschichten entwickelt, die zu den Schätzen des isländischen Kulturerbes gehören.

Naturkatastrophen und ihre Gefahren, Naturphänomene, aber auch Glaube und soziale Moralvorstellungen lieferten den Stoff, aus dem Geschichten gesponnen und gewoben wurden. Über mehr als tausend Jahre hat das isländische Volk unterschiedlichste Ereignisse und Kuriosa, Empfindungen und Wahrnehmungen, aber auch Ängste und Sorgen mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Daraus sind unendlich viele Geschichten erwachsen, die von übernatürlichen Wesen wie Trollen, Geistern, Elfen, Heiligen, Zauberern, Riesen und dem Teufel handeln. Erzählungen über Land und Leute schildern das Erleben rätselhafter und mystischer Geschehnisse und Vorgänge aus längst vergangener Zeit. Die Volksgeschichten spiegeln Kultur und Mentalität der Isländer wieder, ihren tiefgründigen Humor und ihre Verarbeitung von damals noch unerklärlichen Naturereignissen und Begebenheiten. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Erzählen auf der Insel zu einer bedeutenden Tradition entwickelt und Isländer lassen sich auch heutzutage gerne als Erzählvolk titulieren.

In früheren Zeiten lud das einfache Leben in den kleinen Grassodenhäusern – besonders in den lang andauernden Wintermonaten – dazu ein, sich die Zeit mit Geschichten zu vertreiben. Sie bereicherten den Alltag und das gemeinschaftliche Miteinander, dienten zur Unterhaltung und regten zur Diskussion an. Der Inhalt war aber auch oft als Anleitung für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und als Erziehungsinstrument gedacht. In vielen Volksgeschichten verbergen sich zwischen den Zeilen Botschaften und Aussagen, die dem Zuhörer oder Leser Regeln für das Leben, das Überleben und das Bestehen in einer Gemeinschaft vermitteln. Sie sollten zur moralischen Orientierung beitragen und lehren, was richtig und was falsch ist. Bis heute sind die Volksgeschichten tief in der isländischen Gesellschaft verwurzelt und haben nichts an Bedeutung verloren.

Die meisten Geschichten des vorliegenden Buches entstammen der Sammlung des Bibliothekars Jón Árnason (1819–1888) und des Pfarrers Magnús Grímsson (1825–1860). Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sie nach dem Vorbild der Brüder Grimm begonnen, die vielfältigen Volksgeschichten zusammenzutragen und aufzuschreiben. Der erste Band erschien 1852 und war der Grundstein für eine der umfangreichsten Sammlungen isländischer Volkssagen. Seither haben sich weitere isländische Historiker, Volkskundler und Literaturwissenschaftler der Erhaltung dieser Volksgeschichten angenommen. Sie sammelten, brachten die Erzählungen zu Papier und veröffentlichten ihre Werke.

In diesem Zusammenhang darf der deutsche Rechtshistoriker Konrad Maurer (1823–1902) nicht unerwähnt bleiben. Er war ein Vorreiter der nordischen Philologie. Zu seinen großen wissenschaftlichen Interessens- und Forschungsgebieten gehörten die Geschichte, Kultur und Literatur Islands. Während seiner Islandreise im Jahr 1858 verschrieb er sich besonders der Literatur der Insel und der Archivierung der alten Volksgeschichten. Konrad Maurer nahm mit vielen Geschichtensammlern und -erzählern Kontakt auf, u. a. mit Jón Árnason und Magnús Grímsson. Er brachte 1860 eine der ersten großen Abhandlungen zu isländischen Volksgeschichten mit Übersetzungen in deutscher Sprache heraus.

Für das vorliegende Buch wurde eine ganz besondere Auswahl an isländischen Volksgeschichten zusammengestellt; hier spielen Frauen oder weibliche Geschöpfe eine tragende Rolle. Die Geschichten erzählen vom Sein und Handeln sowohl weiblicher als auch männlicher Wesen und charakterisieren sehr facettenreich unterschiedliche Charakterzüge. Diese beeinflussen sich in alltäglichen, aber auch in geheimnisvollen Begegnungen wechselseitig und bestimmen das Verhalten der Protagonisten. Die Szenarien drehen sich um Liebe und Sehnsucht, Tragik und Kummer, Humor und Keckheit. Darüber hinaus veranschaulichen die Erzählungen unterschiedlichste Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, die den Menschen in der damaligen Zeit zugeschrieben wurden. Interessant ist, mit welcher Raffinesse und Findigkeit weibliche Wesen in diesen Geschichten agieren, um sich das tägliche Leben zu erleichtern. Letztendlich geht es oft darum, sich genügend Freiraum und auch Vergnügen zu verschaffen. Demgegenüber stehen die Männerfiguren, die ihr Begehren und ihre Ziele nicht weniger gerissen und verschlagen verfolgen.

Diese Volksgeschichten sollen die Leserin und den Leser mit auf eine Reise in eine mystische Welt nehmen, in der außergewöhnliche Wesen, aber auch Menschen wie du und ich zu rebellierenden oder stillen Heldinnen und Helden werden.

Mein Dank

Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Jón Karl Helgason, Literaturwissenschaftler an der Universität Island, der mir mit viel Interesse bei der Übersetzung von schwierigen und unklaren Textstellen beistand und Licht ins Dunkel brachte und der mich in meiner Begeisterung für isländische Volksgeschichten sowie in meinem Buchprojekt unterstützte.

Außerdem bedanke ich mich herzlich bei Herrn Dr. Philippe Beck, Kulturhistoriker und Literaturwissenschaftler an der Universität Löwen (UCL, Belgien), für sein zeitaufwändiges und geduldiges Korrekturlesen und seine hilfreichen Anregungen.

Danke sagen möchte ich auch meinem Sohn Konstantin Ivor Krauß, der mich als Testleser bei der Auswahl der Geschichten sehr engagiert begleitetete und mit seinen Kommentaren mein Schaffen bereicherte.

Nicht zuletzt gebührt mein Dank all denen, die mir mit ihrem Fachwissen zur Seite standen, um für einzelne isländische Begriffe das passende deutsche Wort zu finden.

Anmerkung

Die Schreibweise der isländischen Namen und Ortsbezeichnungen sind nicht an das Deutsche angeglichen worden, um einerseits die Ursprünglichkeit zu erhalten und andererseits den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit offenzuhalten, die Orte in anderen Medien wie Reiseliteratur oder Karten wiederzufinden. Sofern es sinnvoll erschien, ist die deutsche Übersetzung der Ortsnamen als Fußnote eingefügt.

Magie und Zauberei

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Der schwarze Rock

Vor langer Zeit lebte ein altes und weises Ehepaar; es war wohlhabend und hatte eine Tochter. Sie war hübsch und anmutig und viele hielten um ihre Hand an, aber sie wies alle ab. Schließlich kam der Gemeindepfarrer, ein junger und reicher Mann, und machte ihr einen Heiratsantrag. Die Eltern des Mädchens waren davon sehr angetan, aber sie selbst konnte durch nichts dazu gebracht werden, ihm das Jawort zu geben. Da fragte das alte Ehepaar die Tochter, wie es dazu komme, dass sie einen so noblen Antrag ausschlage. Sie antwortete, dass es an dem schrecklichen Schmerz bei der Geburt eines Kindes liege und dass sie gar nicht daran denken wolle, was damit auf sie zukäme.

»Ich gebe dir einen Rat, liebe Tochter«, sagte die alte Frau. Dann öffnete sie ihre Kleiderkiste, zog einen schwarzen Rock heraus und gab ihn der Tochter.

»Wenn du diesen Rock direkt auf der Haut trägst«, erklärte sie, »und ihn nie wieder ablegst, weder bei Tag noch bei Nacht, dann werden dich niemals Geburtswehen plagen.«

So ließ das Mädchen nicht länger auf sich warten; sie gab ihr Einverständnis und heiratete den Pfarrer. Die beiden führten ihren Hof mit Erfolg, zumal sich zeigte, dass die Pfarrersfrau fleißig und umsichtig war und alle sie gern hatten.

Es vergingen einige Jahre, bis das Pfarrersehepaar ein ansehnliches Auskommen erwirtschaftet hatte; nur Kinder hatte es keine, obwohl sich die beiden einander sehr zärtlich hingaben. Der Pfarrer hatte eine vage Vermutung, die den schwarzen Rock seiner Frau betraf. In seinen Augen war der Rock kein Glücksbringer und er bat seine Frau mit guten und mit bösen Worten, ihn nicht mehr zu tragen. Obwohl die Frau ihrem Mann gegenüber in allem nachgiebig und gehorsam war, war es ihr unmöglich, ihm in dieser Sache entgegenzukommen, und so beharrte sie auf ihrem Wunsch. Dem Pfarrer ging das sehr zu Herzen, aber er konnte nichts dagegen ausrichten.

Es war Sommer, genau ein Tag vor der Jónsmesse1, als der Pfarrer Besuch von einem ehemaligen Jugendfreund und Schulkameraden bekam. Dieser stammte aus einem anderen der vier Landesteile der Insel und war ein sehr gelehrter und kundiger Mann. Die Pfarrersleute nahmen ihn herzlich bei sich auf und die beiden Freunde schwelgten in Erinnerungen und tauschten viele Neuigkeiten aus. Unter anderem fragte der Gast nach den Kindern des Pfarrers; der aber wurde ganz betrübt und antwortete, dass er keine habe. Der Freund meinte, es sei ein großes Pech, dass ein so schönes Paar keinen Nachwuchs habe, und er fragte den Pfarrer, ob er sich diesen Umstand irgendwie erklären könne. So vertraute der Pfarrer seinem Freund an, dass seine Frau stets den schwarzen Rock trug, sowohl bei Tag als auch bei Nacht, und dass sie durch nichts dazu zu bewegen war, diesen Rock abzulegen. Da wurde sein Freund nachdenklich, schwieg einen Augenblick und erwiderte dann: »Ich könnte versuchen, diese Sache in Ordnung zu bringen, sodass euch beiden geholfen ist. Nun ist bald die heilige Nacht der Jónsmesse. Du musst ab Mitternacht Gotteslieder in der Kirche singen, und nur deine Frau und ich werden anwesend sein. Dann werden wir sehen, ob sich daraufhin etwas tut.«

Der Pfarrer stimmte zu und am Abend schlugen die beiden der Pfarrersfrau vor, mit in die Kirche zum Gesang zu gehen. Sie war sogleich damit einverstanden und die drei machten sich kurz vor Mitternacht auf den Weg in die Kirche. Der Pfarrer ging zum Altar, und die Pfarrersfrau und der Gast nahmen jeweils getrennt auf ihren Seiten in den Kirchenbänken Platz. Sie fingen zu singen an und taten das mit großer Inbrunst. Nach einer Weile kam ein kleiner Junge in die Kirche, blieb an den Knien der Pfarrersfrau stehen, schaute sie mit traurigen Augen und vorwurfsvollem Blick an und sagte: »Schlechtes hast du getan, Mutter, das Leben hast du mir verwehrt. Ich sollte Bischof werden.«

Dann ging er wieder zur Kirche hinaus und verschwand. Die Pfarrersfrau bekam einen großen Schreck und wurde ganz bleich im Gesicht, fuhr aber mit ihrem Gesang fort. Ein wenig später kam ein anderer Junge herein, blieb ebenfalls an ihren Knien stehen und sagte: »Schlechtes hast du getan, Mutter, das Leben hast du mir verwehrt. Ich sollte Bezirksamtmann werden.«

Dann ging er wieder zur Kirche hinaus und verschwand. Dieses Mal erschrak die Pfarrersfrau noch mehr als vorher, fing zu schwitzten und zu zittern an, und nur mit Mühe und Not konnte sie weitersingen. Dann kam ein kleines Mädchen, blieb an ihren Knien stehen und sagte mit zaghafter Kinderstimme: »Schlechtes hast du getan, Mutter, das Leben hast du mir verwehrt. Ich sollte Pfarrersfrau werden.«

Der Pfarrersfrau versagten die Kräfte. Sie rutschte ohnmächtig von der Kirchenbank auf den Boden und das Mädchen ging von ihr weg. Im gleichen Moment sprangen der Pfarrer und sein Freund auf und rissen der Pfarrersfrau den schwarzen Rock vom Leib, trugen sie nach Hause und legten sie in ihr Bett, den Rock aber verbrannten sie zu Asche.

Wie es der Pfarrersfrau damit erging, wurde nicht berichtet. Vom Pfarrer aber wurde erzählt, dass ihm ein Stein vom Herzen gefallen und er seinem Freund sehr dankbar gewesen sei. Seither war dem Pfarrerspaar das Glück hold. Sie bekamen drei Kinder, eines vielversprechender als das andere, zwei Söhne und eine Tochter. Der ältere Sohn wurde später Bischof, der jüngere Bezirksamtmann und die Tochter Pfarrersfrau.

Halla vom Straumfjörður2

Halla war recht wohlhabend und eine sehr fleißige und willensstarke Person. Sie hatte den Ruf, eine der fähigsten Frauen ihrer Zeit zu sein. Sie wohnte am südlichen Straumfjörður und bis heute belegen verschiedene Ortsnamen, dass sie dort gelebt hat.

Einmal schickte Halla vom Straumfjörður ihre Knechte zum Mähen nach Mýrar an einen See, der Heyvatn3 genannt wird; das Gebiet dort heißt Ljónsnes4. Sie sollten auf dem Gelände mähen und schlafen sollten sie im Zelt. Dort steht ein Stein, der Grásteinn5 genannt wird. Halla bat ihre Männer, die Sensen jeden Abend an diesem Stein abzulegen, sobald sie mit dem Mähen fertig seien. Jeden Morgen würden sie die Sensen dort am Stein wieder gedengelt vorfinden. Allerdings warnte Halla die Knechte davor, jemals auf die Schneiden ihrer Sensen zu blicken.

Die Männer taten, wie Halla befohlen hatte. Die Zeit verging und jeden Morgen lagen die gedengelten Sensen wieder am Stein und das Mähen schien ihnen daraufhin sehr leicht von der Hand zu gehen, so, als ob sie die Sensen durch Wasser gleiten lassen würden. Ein Knecht vermutete, dass Halla ihnen aus gutem Grund verbot, auf die Schneiden der Sensen zu schauen. Er wurde neugierig und wollte wissen, was geschehen würde, wenn er sich nicht an ihre Weisung hielt, und blickte auf die Schneide seiner Sense. Da sah er, dass sie nichts anderes als eine menschliche Rippe war, und im selben Augenblick geschah es, dass auch alle anderen Sensen zu Menschenknochen wurden. So mussten die Männer das Mähen einstellen und nach Hause gehen. Und das missfiel Halla sehr.

Wie so oft lief ein Handelsschiff im westlich gelegenen Hraunshöfn6 ein, nahe der Stelle, wo jetzt der Handelsplatz Búðir7 liegt. Halla wollte einen Kaufmann ausfindig machen und von ihm verschiedene Dinge erwerben, die sie dringend für den Haushalt benötigte. Sie sorgte immer gut für Haus und Hof. So brach sie mit einem Tross Lastpferde in Richtung Westen auf und zog in die Kaufstadt nach Hraunshöfn. Außerdem ließ sie zwölf alte Schafe dorthin treiben, um sie an die Händler vor Ort zu verkaufen. Wie gewohnt, nahm sie zunächst den Weg oben an den Bergen entlang und dann durch sämtliche Bezirke, bis sie am äußersten Zipfel des Hraundalur8 ankam. Dort wohnte damals ihr Pflegesohn Ólafur. Als Ólafur Halla und ihre Pferde mit der Ladung sah, rief er ihr zu: »Hartes Zeug in deinen Taschen, Ziehmutter.«

Darauf antwortete Halla: »Schweig, Junge, ich habe dir mehr als genug beigebracht.«

Dann zog Halla weiter und über ihre Reise wurde weiter nichts berichtet, bis sie in der Stadt angekommen war und einen Kaufmann gefunden hatte. Sie belieferte ihn mit einer großen Menge Butter und Talg und überließ ihm die Schafe, die sie mitgebracht hatte. Danach ließ sie sich von dem Kaufmann all die Waren geben, die sie brauchte, und was die Pferde tragen konnten; dann lud sie alles auf die Tiere und brach auf.

Nach ihrem Aufbruch warf der Kaufmann einen Blick auf die Waren, die er von Halla bekommen hatte. Da waren die Butter und der Talg zu Steinen geworden und die Schafe zu Mäusen. Halla hatte sich eines Zaubers bedient, der Butter und Talg wie Steine und die Schafe wie Mäuse aussehen ließ. Als der Kaufmann diese Gaunerei erkannte, machte er große Augen und rief auf der Stelle einige Männer zusammen und verfolgte Halla. Als aber Halla dies bemerkte, zog plötzlich pechschwarzer Nebel auf, sodass nichts mehr zu sehen war. Dennoch holten die Verfolger Halla und ihren Tross am Fluss Haffjarðará9 ein, aber sie führte deren Sinne so in die Irre, dass die Männer dort, wo eigentlich die Pferde Hallas standen, nichts anderes als Ödland und Felsen ausmachen konnten. Die Verfolger mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren, da sie weder Halla noch ihr Gefolge entdeckt hatten. Sie aber entkam mühelos und erreichte wohlbehalten ihr Zuhause am Straumfjörður.

Der Zauberritt

Es lebte einmal ein Pfarrer, ein guter und wohlhabender Mann. Er war gerade frisch verheiratet, als sich diese Geschichte zutrug. Er hatte eine junge und schöne Frau, die er über alles liebte. Sie war damals eine der vortrefflichsten Frauen in der Gegend. Allerdings wies ihre Lebensweise einen gewissen Makel auf, der dem Pfarrer nicht ganz unwichtig erschien. Sie verschwand nämlich in jeder Weihnachtsnacht und niemand wusste wohin. Der Pfarrer fragte sie oft, und das mit großem Nachdruck, aber sie sagte, dass ihn das nichts angehe. Diese eine Sache säte Zwietracht zwischen den beiden.

Einmal beherbergte der Pfarrer einen Betteljungen. Dieser hatte im Leben nicht viel erreicht, aber es wurde gemunkelt, dass er mehr wusste als andere Menschen seines Schlages. Die Zeit verging und es wurde Weihnachten, ohne dass sich etwas Außergewöhnliches ereignete. Am Heiligen Abend war der junge Bursche draußen im Pferdestall und striegelte und putzte die Zuchtpferde des Pfarrers. Völlig unerwartet tauchte die Frau des Pfarrers im Stall auf und plauderte mit dem Jungen über allerlei Dinge. Urplötzlich zog sie ein Zaumzeug unter ihrer Schürze hervor und streifte es dem Jungen über. Dabei entfaltete sich so viel Zauberkraft, dass der Bursche die Pfarrersfrau auf seinen Rücken steigen ließ, dann lospreschte und sich wie ein Vogel in die Lüfte schwang. Er flog über Berge und Täler, Felsen und Steinwüsten und über alles, was ihnen sonst noch unterkam. Dann war es plötzlich so, als ob er Rauchschwaden durchdringen würde. Schließlich kamen sie an ein kleines Haus. Dort stieg die Frau ab und band den Jungen an einen Pflock in der Hauswand.

Die Pfarrersfrau ging zur Haustür und klopfte an. Ein Mann kam heraus und begrüßte sie überaus freundlich. Er führte die Pfarrersfrau ins Haus. Als die beiden darin verschwunden waren, machte der Junge das Zaumzeug vom Pflock los, befreite sich daraus und steckte es ein. Dann schlich er sich auf das Hausdach und beobachtete durch einen Spalt, was drinnen vor sich ging. Er sah dort zwölf Frauen an einem Tisch sitzen und die dreizehnte Person war der Mann, der vorher an die Tür gekommen war. Dann erkannte er die Pfarrersfrau. Ihm fiel auf, dass die Frauen dem Mann mit großer Ehrfurcht begegneten und ihm allerlei von ihren Zauberkünsten erzählten. Unter anderem berichtete die Pfarrersfrau, dass sie auf einem lebenden Menschen hierher geritten sei. Der Hausherr meinte, dass dies zur ganz großen Zauberei gehöre, da der Zauberritt auf einem lebendigen Menschen der schwierigste sei. Er sagte, dass sie die anderen in Sachen Zauberei weit überrage, und fügte hinzu: »Denn ich kenne bis heute keinen, der diese Finesse gemeistert hätte, außer mir.«

Die Frauen rissen begeistert die Arme und Hände in die Höhe und baten ihn, auch ihnen diese Kunst zu lehren. Er legte ein Buch auf den Tisch. Es war grau und war mit Feuer oder feuerroten Schriftzeichen geschrieben worden. Von der Schrift ging ein Leuchten aus, welches das ganze Haus mit Helligkeit erfüllte. Ein anderes Licht gab es nicht. Der Hausherr begann, den Frauen aus dem Buch vorzulesen, wobei er immer tiefer in den Lehrstoff vordrang. Der Junge prägte sich alles ein, was der große Zaubermeister vortrug.

So verging die Zeit bis zum nächsten Morgen und die Frauen verkündeten, dass es nun an der Zeit sei zu gehen. Der Unterricht wurde beendet und jede Frau nahm einen Becher aus der Tasche und reichte ihn dem Hausherrn. Der Junge sah, dass die Gefäße mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt waren, und der Hausherr trank davon. Dann gab er den Frauen die Becher zurück. Danach verabschiedeten sie sich sehr herzlich von ihm und verließen das Haus.

Nun sah der Bursche, dass jede Frau ihr eigenes Zaumzeug und eigenes Gefährt besaß. Eine hatte einen Pferdeschenkel, eine andere einen Kieferknochen, die dritte ein Schulterblatt, und so weiter und so fort. Jede stieg auf ihr Gefährt und ritt davon. Allerdings wurde berichtet, dass die Pfarrersfrau ihr Reitgefährt nirgends finden konnte. Wie von Sinnen hastete sie um das Haus und ehe sie sich versah, sprang der Junge vom Hausdach auf sie, zog ihr das Zaumzeug über, setzte sich dann auf ihren Rücken und machte sich auf den Heimweg. In der Nacht zuvor hatte er so viel gelernt, dass er die Pfarrersfrau auf dem richtigen Weg nach Hause lenken konnte.