image

Über das Buch

Penny Maroux macht sich gerne ungewöhnliche Gedanken:

Ist das Rauschen des Windes eine Sprache, die wir nicht verstehen?

Fühlen sich Blumen immer gleich – oder sind sie montags auch mal genervt und freitags übermütig?

Bei ihren Mitschülern stoßen solche Überlegungen auf wenig Verständnis.

Doch eines Tages bekommt Penny Post: Die Karte im Kirschbaum vor ihrem Fenster steckt voller Ideen, die mindestens so verrückt sind wie ihre.

Nur wer sind die mysteriösen Elfer-Kinder, die ihr diese Nachricht schicken?

image

Inhalt

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Die 11 Top-Eleven-Listen der Elfer-Kinder

Danksagung

Über den Autor

image

Mein Name ist Penny Maroux, ich lebe in Winderbusch und mag Waldmeisterbrause, Erdbeereis und Pizza Funghi. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass das Rauschen des Windes eine Sprache ist, deren Worte wir nicht verstehen. Manchmal frage ich mich, ob Küchenkräuter sich immer gleich fühlen. Oder ob Basilikum montags möglicherweise genervt, mittwochs schwer gelangweilt und freitags auch mal übermütig sein kann. Vor allem aber frage ich mich, warum sich nicht jeder diese Fragen stellt.

Heute ist mein elfter Geburtstag. Donnerstag, der elfte Juli.

Normalerweise reißt mich das Klingeln des Weckers um sieben Uhr aus dem Tiefschlaf, worauf ich mich widerwillig aus dem Bett erhebe, unter die Dusche schleppe, warmes und kaltes Wasser auf mich einprasseln lasse und dabei versuche, ganz allmählich in die Gänge zu kommen. Aber heute Morgen schlage ich die Augen auf, bevor sich der Wecker meldet – und bin schlagartig so hellwach, als hätte ich eine Tüte Kaffeepulver inhaliert.

Elf Minuten vor sieben, stelle ich beim Blick auf das Ziffernblatt fest. Was für ein witziger Zufall: mein elfter Geburtstag, der elfte Juli und ich werde um elf vor sieben wach. Dabei habe ich keine Ahnung, dass in genau elf Minuten eine noch viel merkwürdigere Sache passieren wird.

Aber schön der Reihe nach: Als ich mit nassen Haaren aus der Dusche steige und in meine Klamotten schlüpfe, höre ich es unten in der Küche poltern. Tante Kirsten kramt das gute Frühstücksgeschirr aus dem Schrank. Kein Geburtstagsfrühstück ohne gutes Geschirr, Tiefkühltorte und Happy Birthday. Mit den halb aufgetauten Torten habe ich mittlerweile zu leben gelernt, aber wenn mir jemand ein Geburtstagsständchen singt, rollen sich mir vor lauter Peinlichkeit die Zehennägel auf. Letztes Jahr, an meinem zehnten Geburtstag, war ich so todesmutig, bei Tante Kirsten anzufragen, ob wir in Zukunft nicht auf das Ständchen verzichten könnten. Schwerer Fehler! Sie hat augenblicklich ihr Beleidigte-Leberwurst-Gesicht aufgelegt und gezischt: »Wenn jemand Geburtstag hat, dann wird ihm zu Ehren ein Ständchen gesungen. Das gehört sich so!«

Wenn jemand weiß, was sich gehört, dann Tante Kirsten. Sie hat zu allem eine Meinung. Und sie hat gerne recht. Weswegen man ihr möglichst nicht widersprechen sollte. Sie hat nicht nur gerne recht, sie hat immer recht. Und kommandiert dabei Leute rum. Kirsten ist Leiterin der Kindertagesstätte in Winderbusch. Was bedeutet, dass sie nicht nur die armen kleinen Kindergartenkinder, sondern auch sämtliche Erzieherinnen rumkommandieren darf.

Ich schnüre meine Chucks, ziehe die Jeansjacke über, schiebe mir meine grüne Samtkappe auf den Kopf und werfe einen kurzen Blick in den Spiegel. Und wie beinah jedes Mal frage ich mich, ob das Mädchen, das mir entgegenschaut, wirklich nur mein Spiegelbild ist. Könnte es nicht auch ein völlig fremdes Mädchen sein, das in einer geheimnisvollen Welt hinter dem Spiegel lebt, mir zufällig aufs Haar gleicht und mich verhohnepipelt, indem es immer genau das tut, was ich gerade tue? Zugegeben, das Mädchen sieht mir zum Verwechseln ähnlich: braune Locken, braune Augen, Sommersprossen um die Nase, T-Shirt, Jeansjacke. Sie trägt sogar die gleiche Kappe wie ich. Die grüne Samtkappe mit schmalem Schirm, die meiner Mutter gehört hat. Die Kappe ist mir ein bisschen zu groß, was aber nicht weiter auffällt, wenn man sie nur weit genug aus der Stirn schiebt. Dem Mädchen im Spiegel passt sie auch nicht.

Zeit für eine Runde Spiegel-Duell, denke ich. Zeig mal, was du draufhast, Spiegel-Mädchen!

Ich blicke meinem Spiegelbild tief in die Augen, dann wende ich mich langsam ab, schaue interessiert in eine Ecke, so als gäbe es dort was unglaublich Spannendes zu sehen, und dann – werfe ich blitzschnell den Kopf herum und beobachte, was das Mädchen im Spiegel macht. Das Mädchen ist clever. Bisher habe ich es noch nie bei einem Fehler erwischt. Es tut immer genau das, was ich tue. Auch diesmal. Aber fühl dich besser nicht zu sicher, denke ich. Früher oder später kriege ich dich, Spiegel-Mädchen!

»Penny? Kommst du?«, höre ich Papa von unten rufen. Gefolgt von Tante Kirstens vorwurfsvoller Stimme:

»Wie lange will uns das Geburtstagskind denn noch warten lassen?«

»Komme gleich«, rufe ich.

Aber vorher muss ich noch den Tag begrüßen. Wie man das macht, hat Mama mir gezeigt, als ich ganz klein war.

Sie ist seit fünf Jahren tot. Kurz nach meinem sechsten Geburtstag ist sie plötzlich schwer krank geworden und wenige Monate darauf gestorben. Man sagt, die Erinnerung an einen Menschen verblasst immer mehr, je länger er fort ist. Aber meine Erinnerungen an Mama sind bunt und voll knalliger Farben. Immerzu hat sie sich verrückte Geschichten für mich ausgedacht. Oder Lieder mit Nonsens-Texten, die wir dann gemeinsam gesungen haben: Wenn der Kammerjäger Urlaub hat, freuen sich die Kakerlaken. Und hängen ihre Sorgen fürs Erste an den Haken … Und die Erinnerung daran, wie Mama mir beigebracht hat, den Tag zu begrüßen, steht mir so deutlich vor Augen, als hätte sie es erst gestern getan. »Wenn du möchtest, dass der Tag dein Freund wird, solltest du so höflich sein, ihm Guten Morgen zu sagen«, hat sie mir erklärt.

Das Begrüßungsritual geht folgendermaßen: Ich gehe vor dem Fenster in Position, dann ziehe ich den Vorhang mit einem entschlossenen Ruck zur Seite, reiße das Fenster weit auf, nehme einen tiefen Atemzug und blicke dem jungen Tag ins Gesicht. Und nachdem ich mir einen ersten Eindruck davon verschafft habe, wie er so drauf ist, begrüße ich ihn. Zum Beispiel mit: »Hallo, sechster Mai. Freut mich, dich kennenzulernen. Und mach dir keine Gedanken wegen des kleinen Regenschauers. Ich mag Frühlingsschauer. Und du riechst total umwerfend. Nach Maiglöckchen!« Oder: »Guten Morgen, zweiter August. Wow, du bist echt heiß!« Manche Tage muss man ein bisschen trösten. Besonders in der kalten Jahreszeit: »Es darf auch graue Nebeltage geben. Du bist völlig in Ordnung, dritter November. Du bist eben ein Tag zum Lesen und In-eine-Decke-Kuscheln. Ist doch auch was.«

Der heutige Tag braucht keinen Trost. »Es ist mir ein Vergnügen, elfter Juli«, begrüße ich ihn. »Du bist eine echte Schönheit!« Und das meine ich genau so, wie ich es sage: Hinter unserem verwilderten Garten bahnt sich der leise murmelnde Brixbach seinen Weg durch die Landschaft. Der große Kirschbaum, der vor meinem Fenster aufragt, wirft einen langen Schatten auf die Obstwiese hinter dem Haus, die noch von Tau bedeckt ist. Jenseits des Baches erheben sich dicht bewaldete Hügel mit gewaltigen Laubbäumen. Die Morgensonne kitzelt meine Nase, ein paar Schnecken haben sich zum Frühstück im Salatbeet versammelt, der Himmel ist blau, nur vereinzelt segelt ein gut gelauntes weißes Wattewölkchen durch den Morgen. Viel besser kann ein Sommertag nicht starten. Und ein Geburtstag auch nicht.

»Penny, wenn du nicht bald kommst, sind die Kerzen runtergebrannt!«, reißt mich Kirstens beleidigte Stimme aus meinen Betrachtungen. Wenn ihr Tonfall von vorwurfsvoll zu beleidigt wechselt, wird es gefährlich.

»Komme!«, brülle ich und will das Fenster gerade schließen – als ich mitten in der Bewegung innehalte und mit offenem Mund in den Kirschbaum starre. Einen kurzen Moment lang glaube ich, ich hätte eine Halluzination. Aufgespießt auf einen kleinen Zweig steckt ein grüner Briefumschlag!

Er hat das gleiche Grün wie die Blätter um ihn herum, deswegen habe ich ihn nicht sofort wahrgenommen. Aber jetzt erkenne ich, dass jemand mit einem Filzstift eine 11 auf das Kuvert gekrakelt hat. Und darunter prangt – ebenso krakelig – mein Name: Penny Maroux.

Wie festgewachsen stehe ich da und stiere auf den grünen Umschlag. Ist das etwa eine Geburtstagskarte? Für mich? Aber wer deponiert eine Geburtstagskarte in einem Kirschbaum? Papa bestimmt nicht. Und Tante Kirsten erst recht nicht. Wer kommt auf so eine Idee?

Ich schließe kurz die Augen und kneife mich in den Unterarm, um sicherzugehen, dass ich mir den grünen Umschlag nicht einbilde. Aber als ich die Augen öffne, ist er noch immer da.

Also, wenn das so ist …

Ich atme einmal tief durch, dann schwinge ich mich kurz entschlossen aufs Fensterbrett, halte mich am Fensterkreuz fest und angele mit der anderen Hand nach dem mysteriösen Kuvert. Aber wie weit ich meinen Arm auch ausstrecke – zwischen Fingerspitzen und Umschlag fehlt ein guter Zentimeter. Da hilft nur noch eine halsbrecherische Akrobatik-Einlage: Ich klammere mich mit der Linken weiter fest, lasse mich so weit aus dem Fenster hängen, wie es geht, und schwinge mit dem Oberkörper vor und zurück, während meine rechte Hand versucht, die Karte zu erhaschen. Wahrscheinlich sehe ich dabei aus wie ein Schimpanse mit Sonnenstich. Und wüsste Tante Kirsten, was ich gerade tue, würde sie schon mit Feuerwehr und Notarzt telefonieren. Zweimal streifen meine Finger die Karte – beim dritten Versuch bekomme ich sie endlich zu fassen.

Ich ziehe die Stirn kraus und schnuppere vorsichtig an dem Umschlag. Begegnet einem etwas Merkwürdiges, ist es immer ratsam, erst mal daran zu schnuppern. Das Kuvert riecht nach Kirschen. Was nicht besonders verwunderlich ist. Schließlich hat es im Kirschbaum gesteckt.

Mit angehaltenem Atem öffne ich den Umschlag. Im Inneren findet sich, wie erwartet, eine Karte. Als ich sie zögerlich herausnehme, rieseln bunte Konfettiteilchen aus dem Kuvert und verteilen sich auf die Dielen.

Die Karte entpuppt sich als eine der Jux-Geburtstagskarten, wie man sie in jedem Schreibwarenladen bekommt. Auf der Vorderseite stehen die Worte Herzlicher Glückwunsch, darunter ist ein grünes Männchen (ein Alien? ein Kobold? ein Elferich?) zu sehen, das ein Partyhütchen auf dem Kopf trägt und so dermaßen heftig schielt, als ob es schon etliche Gläser Geburtstagsbowle intus hätte. Neugierig klappe ich die Karte auf und zucke zusammen, als eine quäkende Fanfare ertönt: Bäbbädäbäbb däbäbb däbäbb däbäbbdä bäää!

Na super! Eine singende Karte. Fast genauso peinlich wie ein Ständchen, denke ich. Dann fällt mein Blick auf einen handgeschriebenen Glückwunsch. Jeden Satz in einer anderen Schrift. So als hätte eine ganze Reihe von Leuten abwechselnd daran geschrieben. Noch viel merkwürdiger aber ist, was dort steht!

Liebe Penny,

ALLES GUTE ZUM ELFTEN GEBURTSTAG!

Willkommen in der Elfer-Welt!

Leider haben wir kein Geschenk für dich. Dafür aber ein paar Ratschläge. Und genau genommen sind gute Ratschläge auch so was wie Geschenke. Ganz genau genommen sind sie sogar die besten Geschenke.

Eigentlich sind aller guten Ratschläge elf, aber wir wollen es für den Anfang nicht übertreiben und fangen erst mal mit zwei an.

Also, hier kommt Ratschlag Nummer eins: Halte in den nächsten Tagen Augen und Ohren auf. Achte darauf, wo und wann dir die 11 begegnet. Du wirst überrascht sein, wie häufig du sie triffst.

Wahrscheinlich denkst du jetzt gerade so was Ähnliches wie: Häh? Was soll das? Gut, es ist mein elfter Geburtstag, aber was in aller Welt soll dieses Elfer-Gerede? Und dass du das denkst, ist schon mal ein prima Anfang. Fragen zu stellen, ist immer gut.

Was uns zu Ratschlag Nummer zwei führt: Denk über die 11 nach! Stell Fragen! Hast du dich schon mal gefragt, warum die 11 als Zahl der Narren gilt? Oder warum es zehn und nicht elf Gebote gibt? Oder warum von wirklich allem in der Welt eine Top-Ten, aber niemals eine Top-Eleven existiert?

Einen spannenden elften Geburtstag wünschen dir

DIE ELFER-KINDER

Fassungslos glotze ich auf die Unterschrift und mache wahrscheinlich ein ziemlich unintelligentes Gesicht. Wer sind die Elfer-Kinder? Was ist das für eine seltsame Botschaft? Wer hat sie in den Baum gesteckt? Ist das irgendein schräger Witz? Was sollen diese penetranten Hinweise auf die 11?

Achte darauf, wo und wann sie dir begegnet …

Blitzartig schießt mir durch den Kopf, wann ich heute Morgen aufgewacht bin: um elf vor sieben. Am elften Juli. Meinem elften Geburtstag. Und … unsere Adresse lautet: Am Brixbach 11.

»Penny! Wie lange willst du uns denn noch warten lassen?«, ruft Tante Kirsten nach oben und hört sich dabei so gereizt an, als stünde sie kurz davor, in die Geburtstagskerzen zu beißen.

»Ich … bin sofort da.« Ich werfe einen letzten verwirrten Blick auf die Karte, klappe sie hastig zusammen, verstaue sie in meiner Schultasche, schließe das Fenster und stürme aus dem Zimmer.

Die Treppenstufen knarren mitleiderregend, als ich nach unten steige. Unser Haus ist ein Holzhaus. Und nicht nur die Außenwände, das Dach und die Veranda bestehen aus Holz, auch innen gibt es jede Menge davon: Treppen, Böden, Täfelungen, Geländer … Holz, wohin man sieht.

Ich wohne jetzt seit fünf Jahren hier. Am Anfang fand ich es ein bisschen unheimlich (besonders nachts), weil es ständig irgendwo knarzt, knarrt, knackt oder klopft. Aber mittlerweile habe ich mich an die Geräusche gewöhnt und finde es hier urgemütlich.

Das Haus am Brixbach ist Papas Elternhaus. Er und Tante Kirsten haben es von meinen Großeltern geerbt. Papa ist in Winderbusch geboren und zur Schule gegangen. Aber dann hat es ihn in die Ferne verschlagen: Er hat studiert, bei einer Zeitung zu arbeiten begonnen, Mama kennengelernt und dann kam ich auf die Welt. Alles in der Ferne. Und da wären wir wahrscheinlich auch geblieben. Wenn Mama nicht gestorben wäre. Nach ihrem Tod wollte Papa nach Winderbusch zurück. Das heißt, eigentlich war es Tante Kirstens Idee, dass wir hierher ziehen. Sie ist Papas ältere Schwester und hat kein besonders großes Vertrauen in seine erzieherischen Fähigkeiten: »Ein Mann kann doch ein kleines Mädchen nicht alleine aufziehen. Ihr zieht zu mir!«, hat sie damals bestimmt und mir mit zuckersüßem Lächeln erklärt: »Ich weiß natürlich, dass ich deine Mutter nicht ersetzen kann, Liebes. Aber ich werde deine beste Freundin sein!«

Das Problem ist: Ich möchte nicht, dass Kirsten meine beste Freundin ist. Weil sie einem ständig sagt, was man zu tun und zu lassen hat, und dabei nervt wie nichts Gutes.

Als ich die Tür zur Küche öffne, fällt mein Blick als Erstes auf die Schwarzwälder-Kirsch-Tiefkühltorte, auf der elf bunte Kerzen brennen. Tante Kirsten sieht beleidigt aus, weil sie auf mich warten musste, entschließt sich dann aber doch, wieder meine beste Freundin zu sein. Sie zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht, hüpft von ihrem Stuhl auf und beginnt voller Inbrunst, Happy Birthday zu schmettern. Während ich das Ständchen über mich ergehen lasse, blicke ich zu Papa, der nur leise mitbrummt und dabei ziemlich verlegen aussieht. Ihm ist die Singerei genauso peinlich wie mir. Aber er hat auch gelernt, dass man problemloser durch den Tag kommt, wenn man tut, was Kirsten für richtig hält.

»Herzlichen Glückwunsch, Liebes!«, jauchzt sie, als das Gesinge endlich vorbei ist, und fällt mir um den Hals.

Dafür, dass Papa und Tante Kirsten Geschwister sind, sehen sie sich nicht besonders ähnlich. Papa ist groß und kräftig, hat glattes Haar und ist der eher bedächtige Typ, während Tante Kirsten klein und wuselig und mit einem krausen Lockenschopf gesegnet ist. Wären sie Bälle, dann wäre Tante Kirsten ein Flummi und Papa ein Medizinball.

»Alle Gute, Penny«, sagt er leise. Auf seinem Gesicht erscheint das traurige Lächeln, das ich jedes Mal bemerke, wenn er mich anblickt. Er umarmt mich und ich drücke ihn ganz fest. Papa sieht immer etwas schwermütig aus, und ich frage mich, wann ich ihn das letzte Mal lachend gesehen habe. Seit Mamas Tod wirkt er ein wenig verloren: Die meiste Zeit über vergräbt er sich in seine Arbeit und es gibt Tage, da wirkt er völlig abwesend. Dann nimmt er außer seiner Arbeit nichts und niemanden wahr. Manchmal nicht einmal mich.

Papa räuspert sich ausgiebig, kratzt sich nervös am Hals und zaubert ein Geschenk hinter seinem Rücken hervor. »Ich hoffe, es ist das Richtige«, murmelt er.

»Wow! Danke!«, entfährt es mir, nachdem ich das Geschenkpapier aufgerissen habe – und ich drücke Papa gleich noch mal und gebe ihm einen dicken Schmatz auf die Wange. Auch wenn er manchmal abwesend wirkt, kriegt er offenbar sehr genau mit, was seiner Tochter gefällt: Freudestrahlend blicke ich auf einen Band von Rory Shy – der schüchterne Detektiv. Meine Lieblings-Buchreihe. »Das ist super, Papa! Und kommt genau zur richtigen Zeit. Ich bin gestern mit Band 10 fertig geworden. Danke, danke, danke!«

Dann setzen wir uns. Tante Kirsten hat schon mit dem schärfsten Messer Stücke von der gefrorenen Torte gesäbelt. Prüfend stochere ich mit der Gabel in meinem Tortenstück herum. Es ist höchstens zu einem Drittel aufgetaut. Papa und ich werfen uns über den Tisch hinweg einen kurzen Blick zu und verzichten fürs Erste auf den Tortengenuss.

Weil weder Kirsten noch Papa noch ich backen können, gibt es an Geburtstagen bei uns immer Tiefkühltorte. Und jedes Mal vergisst Tante Kirsten, sie früh genug aufzutauen. Was passieren kann und eigentlich nicht dramatisch ist. Aber es nervt wie Seuche, dass Kirsten niemals zugeben kann, einen Fehler gemacht zu haben. Stattdessen kaut sie mit Todesverachtung auf der tiefgefrorenen Torte rum, tut so, als wäre alles in bester Ordnung, und zwitschert: »Hmm. Ist doch lecker. Habt ihr keinen Appetit?«

»Öhm … Torte ist mir so früh am Morgen ein bisschen zu mächtig«, zieht sich Papa diplomatisch aus der Affäre.

»Ja … mir irgendwie auch«, murmele ich, woraufhin Kirsten ärgerlich die Nase rümpft. »Da kann ich mir die ganze Mühe demnächst ja auch sparen«, befindet sie eingeschnappt.

Welche Mühe?, denke ich. Die Torte aus der Tiefkühltruhe zu nehmen? Aber natürlich sage ich es nicht laut. Ich bin ja nicht lebensmüde.

Während Tante Kirsten sich die frostige Torte einverleibt, kreisen meine Gedanken um die geheimnisvolle Geburtstagskarte.

Die Elfer-Kinder? Willkommen in der Elfer-Welt?

Einen Moment lang überlege ich, Papa und Kirsten die Karte zu zeigen und zu berichten, auf welch seltsame Art sie zu mir gefunden hat. Aber dann denke ich: Besser nicht! Kirsten hat nicht viel übrig für seltsame Dinge. Sie würde mir kein Wort glauben und wahrscheinlich vermuten, dass ich die Karte selbst geschrieben habe. »Fantasie ist ja schön und gut, junge Dame. Aber du hast definitiv ein bisschen zu viel davon«, hat sie mir schon mehrmals erklärt. Tante Kirsten findet Fantasie verdächtig. Und Karten im Kirschbaum bestimmt auch. Nein, ich sollte vorläufig niemandem davon erzählen.

Was das Rätsel natürlich nicht kleiner macht. Warum schickt mir jemand diese Botschaft? Achte auf die 11? Du wirst überrascht sein, wie häufig du sie triffst?

Also schön. Fassen wir mal zusammen: Ich werde heute elf. Am elften Juli. Ich bin um elf vor sieben aufgewacht.

Unsere Hausnummer ist die 11. Was noch? Mal überlegen. Oh … mein Name. Er hat elf Buchstaben! Und addiert man die Ziffern meiner Körpergröße (146 Zentimeter) ergibt das ebenfalls 11. Und … Mein Blick bleibt an Papas Geschenk hängen und mir wird schlagartig bewusst: Band 11! Das ist Band 11 der Rory Shy-Buchreihe: Rory Shy und der goldene Armleuchter. Schon wieder die 11! Eine wirklich bemerkenswerte Häufung von Elfer-Zufällen …

»So. Von mir gibt es natürlich auch noch ein Geschenk«, trällert Kirsten und schiebt den leeren Teller von sich weg. Dann überreicht sie mir mit großer Geste einen weißen Umschlag und merkt stolz an: »Es ist ein Gutschein. Ich habe ihn selbst gestaltet.«

»Oh! Danke«, sage ich und versuche, dabei halbwegs begeistert zu klingen. Von Tante Kirsten gibt es jedes Jahr einen selbst fabrizierten Gutschein. Zum Beispiel für 1x Picknick mit Tante Kirsten. Oder 1x Minigolf mit Tante Kirsten. Diesmal gibt es 1x Shoppen mit Tante Kirsten.

Gegen den ersten Teil des Gutscheins ist nichts zu sagen: Shoppen geht völlig in Ordnung. Der zweite Teil ist das Problem: mit Tante Kirsten. Wenn ich mit Kirsten shoppen gehe, habe ich am Ende immer einen Haufen neuer Klamotten, die nicht mir, sondern ihr gefallen.

Kirsten lächelt ihr Spendable-Tante-Lächeln und verkündet optimistisch: »Bei Monis Modekiste oder Hannis Damen-Boutique finden wir bestimmt was ganz Entzückendes für dich!«

Was ich ehrlich gesagt stark bezweifle.

Papa offenbar auch. Er verdreht hinter Kirstens Rücken die Augen, schnappt sich seine Tasche und den Autoschlüssel und nuschelt: »Muss so langsam mal los. Habe um acht eine Konferenz in der Redaktion.« Er arbeitet als Journalist bei der Winderbuscher Post und ist immer bestens informiert über das, was in der Stadt vor sich geht. Als er in der Tür steht, dreht er sich noch einmal um und lächelt mir zu. »Was hältst du davon, wenn wir zur Feier des Tages heute Abend eine Pizza essen gehen? Bei Mario?«

Ich lächle zurück und recke den Daumen hoch. Die Pizza Funghi von Mario steht in meiner Pizza-Favoritenliste ganz weit oben. »Für mich wird es auch Zeit«, sage ich, stopfe den Rory Shy-Band in meine Tasche und springe vom Tisch auf.

»Einen Moment!«, befiehlt Kirsten und drückt mir eine Frühstückstüte in die Hand. »Du gehst mir nicht ohne Pausenbrot aus dem Haus. Ich habe dir ein paar Käsetoasts gemacht. Käse ist für den Körper so wichtig wie Vitamin C.«

»Ja. Da bin ich mir auch ganz sicher«, entgegne ich und muss mir auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. So einen Blödsinn wie die Geschichte mit dem Käse behauptet Kirsten andauernd. Und legt dabei immer ein dermaßen wichtiges Gesicht auf, als würde sie gerade die weiseste aller Weisheiten verkünden. Ich greife nach meiner Tasche und sehe zu, dass ich Land gewinne, bevor sie vielleicht noch auf die Idee kommt, mir zu erklären, warum gefrorene Torte gut gegen Erkältung ist. »Tschüss«, murmele ich, bin im nächsten Moment aus der Tür und schwinge mich aufs Fahrrad.

image

Wilma Rübesam kann mich nicht leiden.

Wilma arbeitet in der Bäckerei am Fürstenplatz, direkt gegenüber meiner Schule. Papa hat mir erzählt, dass sie dort schon Brötchen, Teilchen und Torte verkauft hat, als er ein kleiner Junge war. Wilma hat Winderbusch nur ein einziges Mal verlassen. Vor drei Jahren, als sie mit dem Landfrauenverein für eine Woche nach Italien gefahren ist. Gefallen hat es ihr nicht besonders. »Kein Mensch spricht da Deutsch. Alle nur dieses komische Italienisch«, hat sie nach ihrer Rückkehr gemeckert.

Wilma hat rote Pausbacken, dicke Wurstfinger und sehr klare Ansichten darüber, wen sie leiden kann und wen nicht. Leiden kann sie Leute, die aus Winderbusch kommen und vernünftige Vor- und Nachnamen haben. Leute wie Hans-Jörg Klömpkens, den Bürgermeister, oder Gisela Fäller, die Vorsitzende vom Frauenverein. Nicht leiden kann sie Zugezogene und Leute, die seltsam klingende Namen haben. Penny Maroux steht auf ihrer Liste merkwürdiger Namen auf einer Spitzenposition. Und eine Zugezogene bin ich zu allem Überfluss auch noch.

Es ist kurz nach halb acht, als ich auf meinem Rad die Tonnenberg-Straße hinabschieße. Anschließend nehme ich den Weg am Wasserturm vorbei, erreiche gleich darauf die Winderbuscher Altstadt und halte auf die Bäckerei am Fürstenplatz zu. Ich will mir vor Schulbeginn noch schnell ein Schokokuss-Brötchen kaufen, weil Kirstens labbrige Käsetoasts völlig ungenießbar sind. Ich lehne mein Fahrrad gegen die Schaufensterscheibe der Bäckerei und springe die Stufen zum Laden hoch. Als ich eintrete, scheppert die kleine Glocke über der Tür. Wilma schaut auf, verzieht bei meinem Anblick das Gesicht und wendet sich wieder der Kundin zu, die sie gerade bedient: Hanni von Hannis Damen-Boutique. Die beiden sind damit beschäftigt, den neusten Winderbuscher Kleinstadt-Tratsch auszutauschen.

»Hast du es schon gesehen, Hanni?«, fragt Wilma, während sie mit ihren Wurstfingern Brötchen in eine Tüte füllt. »In der neuen Galant ist die Top-Ten der reichsten Junggesellen Deutschlands.« Sie kramt eine Illustrierte hinter dem Tresen hervor und hält sie ihrer Kundin vor die Nase.

Hanni betrachtet die Fotos der vermögenden Herren mit verbiestertem Gesichtsausdruck und befindet mit krähender Stimme: »Ich würde Nummer fünf nehmen. Der hat zwar ein paar Millionen Euro weniger als eins bis vier, aber dafür hat er wenigstens noch ein paar Haare. Wenn du mich fragst: Das ist eher die Top-Ten der haarlosesten Junggesellen Deutschlands.«

Urplötzlich habe ich wieder das, was in der Elfer-Karte steht, vor Augen: Hast du dich schon mal gefragt, warum von wirklich allem in der Welt eine Top-Ten, aber niemals eine Top-Eleven existiert?

Ja, warum eigentlich nicht? Was ist gegen eine Top-Eleven zu sagen?, frage ich mich. Und weil ich diese Art von Gedanken nur selten für mich behalten kann, schießt es aus mir heraus: »Wäre es nicht mal was anderes, wenn es von allem statt einer Top-Ten eine Top-Eleven gäbe?«

Von einem Moment auf den anderen herrscht Grabesstille im Laden. Wilma und ihre Kundin starren mich an, als hätte ich gerade vorgeschlagen, Weihnachten abzuschaffen. Dann tut Wilma das, was sie am besten kann: Sie schüttelt fassungslos den Kopf. Hanni bezahlt, nimmt ihre Brötchen und steuert auf die Tür zu. Dabei macht sie einen so weiten Bogen um mich, als hätte ich Masern, Mumps und Röteln gleichzeitig.

»Top-Eleven?«, knurrt Wilma, kaum dass die Frau den Laden verlassen hat, und nimmt mich mit zusammengekniffenen Augen ins Visier. »Was soll der Blödsinn? Zehn ist genau richtig. Das ist ’ne schöne, runde Zahl.«

Ich beschließe, Wilma ein bisschen zu verwirren. Sie ist ziemlich leicht zu verwirren.

»Aber sagt man nicht, aller guten Dinge sind elf?«, frage ich mit unschuldiger Miene.

»Was? Äh … nein. Sagt man nicht«, moppert sie. »Aller guten Dinge sind, ähm … wie viel waren es jetzt noch mal? Zwei? Vier? Sieben? Herrgott, du bringst einen völlig durcheinander mit deinem wirren Gerede! Also – was ist jetzt? Bist du nur zum Klugscheißen hier oder willst du auch was kaufen?«

»Ein Brötchen mit Schokokuss, bitte.« Ich sehe zu, wie sie mit mürrischem Gesicht ein Brötchen aufschneidet und einen Schokokuss auf die untere Hälfte platziert. »Warten Sie!«, sage ich und springe zur Verkaufstheke vor. »Können Sie das Brötchen ganz dicht an mein Ohr halten, wenn Sie die Hälften zusammenpappen? Und bitte, machen Sie das ganz langsam. Ich mag das leise Knacken, wenn die Schokohülle aufplatzt. Das ist eines von den Geräuschen, die mir gute Laune machen.«

»Häh?« Wilma glotzt mich begriffsstutzig an.

»Das Geräusch macht gute Laune. Es gibt Geräusche, die schlechte Laune machen: quietschende Türen oder das fiese Gluckern in der Spüle, wenn das Abflussrohr verstopft ist. Oder Sirenen. Und dann gibt es Geräusche, die mir gute Laune machen: das Geräusch, das entsteht, wenn man über Schnee läuft, eine brummende Hummel, Kirchenglocken an Ostern oder das Knacken, wenn die Schokohülle vom Schokokuss platzt. Haben Sie kein Geräusch, das Ihnen gute Laune macht?«

»Doch. Das Geräusch, wenn sich die Ladentür hinter dir schließt!«, sagt Wilma kurz angebunden und patscht die Brötchenhälften mit brutaler Gewalt zusammen.

Ich lege ein paar Münzen auf die Theke und bin schon auf dem Weg zur Tür, als sie die Hände in die Hüften stemmt und sich bedrohlich räuspert.

»Ich will dir mal was sagen, junges Fräulein«, beginnt sie, statt einfach zu sagen, was sie sagen will. Dann rückt sie aber doch noch damit raus: »Ich habe es deiner Tante Kirsten auch schon gesagt: Sie muss mal zum Arzt mit dir. Irgendwas ist bei dir im Oberstübchen nicht ganz richtig, Penny Maroux. Top-Eleven? Geräusche, die gute Laune machen? Solche Spinnereien mögen wir hier in Winderbusch gar nicht.«

»Oh, wie schade. Trotzdem noch einen schönen Tag.« Frohgemut hüpfe ich aus dem Laden. »Und übrigens: Aller guten Dinge sind drei. Wiedersehen, Frau Rübesam.«

Viertel vor acht. Behutsam verstaue ich das Brötchen in der Schultasche und steige auf mein Fahrrad. Donnerstags ist Wochenmarkt auf dem Fürstenplatz. Leckerleckerleute, der Gemüsehändler, preist lautstark Radieschen und Kohlrabi an. Ich nenne ihn so, weil er die Marktbesucher mit dem immer gleichen Ruf an seinen Stand zu locken versucht: »Lecker, lecker, Leute! Lecker, lecker, Leute!« Während ich in gemächlichem Tempo zwischen den Marktständen und bunten Buden hindurchradle, steigen mir die verschiedensten Düfte in die Nase. Es riecht nach frischen Himbeeren, Lakritze, Malzbonbons, gebratenen Auberginen und Räucherspeck, nach allen möglichen Kräutern und nach der Lavendelseife, die in einer der Marktbuden verkauft wird. Als ich am Käsestand vorbeikomme, werde ich kurz blass. Der Käsemann hat einen ziemlich streng riechenden Ziegenkäse im Angebot.

Nicht nur Geräusche, auch Gerüche machen gute oder schlechte Laune. Jeder Ort hat seine eigene Duftmischung. Jede Jahreszeit hat ihren eigenen Geruch. Genau betrachtet hat selbst jeder Monat seine eigenen Gerüche: Der Dezember duftet (wenig verwunderlich) nach Zimtplätzchen, Tannennadeln und Eierpunsch, während der Februar riecht wie jemand, neben dem man nicht in der Bahn sitzen möchte: nach feuchter Kleidung, Hustenpastillen und Bronchial-Salbe. Aber jetzt ist es Juli. Und der Juli riecht von allen Monaten am besten. Nach Erdbeeren, Orangenlimonade, Wildblumen und Freibad. Kurz gesagt: nach Ferien – auch wenn die erst in einer Woche beginnen.

»Morgen, Hugo, altes Knautschgesicht«, grüße ich die Statue von Fürst Hugo zu Winderbusch, die man am Rand des Fürstenplatzes errichtet hat. Natürlich antwortet er nicht, sondern steht so unbeweglich da wie immer und blickt grimmig in die Ferne. Fürst Hugo sieht auch aus wie jemand, neben dem man nicht in der Bahn sitzen möchte. Er hält eine Streitaxt in der rechten Hand, hat eng beieinanderstehende Augen, einen total krummen Zinken und einen ziemlich finsteren Gesichtsausdruck. Im Volksmund heißt er nur Hugo der Hässliche, was ein bisschen gemein ist, weil die Winderbuscher ihm einiges zu verdanken haben: Im Jahre fünfzehnhundertschlagmichtot hat Hugo der Hässliche die Truppen irgendeines feindlichen Fürsten (Donald der Dummbatz? Wahnfried der Wüterich?) besiegt und so dafür gesorgt, dass die Winderbuscher nicht von einem fremden Herrscher unterdrückt wurden. Sondern weiterhin von ihm. So wie sie es gewohnt waren. Die ortsansässigen Tauben sind davon nicht beeindruckt. Gerade landet wieder ein vorwitziges graues Federvieh auf Hugo und kackt ihm frech auf die Glatze.

Hinter der Statue mache ich einen kleinen Schlenker nach links – und stehe vor meiner Schule. Ein altes, verwittertes Gebäude mit hohen Fenstern, das dicht mit Efeu bewachsen ist. An seiner rechten Seite schraubt sich ein schmaler Turm in die Höhe, in dessen Spitze die Schulbibliothek untergebracht ist. Eine niedrige, bröckelige Mauer aus Naturstein umgibt den Pausenhof.

Dass die Schule Gymnasium am Fürstenplatz heißt, statt einfach nur Gymnasium Winderbusch, finde ich ein wenig irreführend. Das klingt so, als gäbe es noch ein anderes Gymnasium in Winderbusch. Gibt es aber nicht. Ein Gymnasium reicht auch völlig. Winderbusch hat gerade mal fünfzehntausend Einwohner und ist ein verschlafenes, von Wäldern und Feldern umgebenes Städtchen, dessen größte Attraktionen die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern, ein kleines Heimatmuseum und die Statue von Fürst Hugo sind.

Auf dem Schulhof ist das Fahrradfahren verboten, also steige ich ab und schiebe das Rad zu den Fahrradständern. Die befinden sich, versteckt hinter einer hohen Hecke, am Rand des Hofes. Das mit der Hecke halte ich für eine nur mittelgute Idee. Von den Klassenräumen aus kann man nicht sehen, was hinter dem dichten Grün vorgeht, was dazu führt, dass sich ständig irgendwelche Witzbolde an den Rädern zu schaffen machen. Gestern hat mir irgendein Blödmann die Luft aus den Reifen gelassen, während ich im Unterricht saß, und ich durfte vor Antritt der Heimfahrt erst mal kräftig pumpen.

Als ich um die Hecke biege, fällt mein Blick auf ein Mädchen mit einem blonden Zopf, das über den Fahrradständer gebeugt steht und sein Rad abschließt.

»Morgen, Hendrike«, sage ich fröhlich.

»Oh … Penny. Hallo«, entgegnet sie weitaus weniger erfreut. Hendrike trägt Sandalen und ein blaues Sommerkleid, und ihrem Gesicht ist deutlich anzusehen, dass sie von unserem Zusammentreffen nicht übermäßig begeistert ist. Eilig greift sie nach ihrer Schultasche und marschiert auf den Eingang zu.

»Warte doch! Ich komme mit«, rufe ich, renne los und schließe zu ihr auf.

Hendrike ist nicht zum Plaudern aufgelegt. Unser Klassenzimmer liegt im ersten Stock, und während wir die Treppe hinaufsteigen, schweigt sie hartnäckig und hält den Blick starr geradeaus gerichtet. Dass heute mein Geburtstag ist, scheint ihr entfallen zu sein.

In der Grundschule waren sie und ich die besten Freundinnen. Wir gluckten ständig zusammen und haben jeden möglichen Blödsinn ausgeheckt. In der ersten Zeit auf dem Gymnasium war es auch noch so. Aber seit ein paar Monaten hat Hendrike keine Zeit mehr, um sich mit mir zu treffen. Jedes Mal, wenn ich sie frage, hat sie angeblich schon was vor. Außerdem hängt sie seit Neuestem in den Pausen mit Pamela Fäller, Alina Ziburski und deren Zwillingsbruder Alex rum. Wenn man mich fragt: Die drei sind die übelste Clique unserer Klasse. Halten sich für megatoll und superschlau, haben zusammengenommen aber weniger Hirn als eine Tüte Gummibärchen. Ihre Hauptbeschäftigung ist es, über andere herzuziehen. Keine Ahnung, was Hendrike an diesen Hohlköpfen findet.

»Weißt du, was ich mir vorhin überlegt habe?«, sage ich, weil ich ihr Schweigen nicht gut aushalten kann. »Wäre es nicht viel spannender, wenn es eine Top-Eleven statt der langweiligen Top-Ten gäbe?«

»Was?« Hendrike hat plötzlich den gleichen Ausdruck im Gesicht wie vorhin Wilma Rübesam.

»Ich bin auch erst durch die merkwürdige Karte drauf gekommen.«

»Welche Karte, Penny? Wovon redest du schon wieder?«

»Die grüne Karte von den, äh … Elfer-Kindern. Sie steckte heute Morgen in unserem Kirschbaum. Und ich – «

»Halt die Klappe, Penny!«, fährt mich Hendrike an und stampft mit dem Fuß auf.

Ich bin völlig verdattert und stiere sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Was … was ist denn los?«

»Ich hab genug davon«, presst sie zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor. »Von deinen bescheuerten Fragen und all deinen beknackten Geschichten und Ideen.«

»Welche beknackten Ideen?«, stammele ich, noch immer ganz perplex.

»Na, das, was du da gerade gesagt hast, zum Beispiel. Eine Karte im Kirschbaum? Eine Top-Eleven? Was soll der Schwachsinn? Und dann deine fixe Idee, Bäume könnten traurig oder fröhlich sein. Ständig quasselst du davon. Ist dir nicht klar, wie verrückt das klingt? Es sind nur Bäume, Penny. Bäume haben keine Gefühle.«

»Doch. Haben sie«, protestiere ich. »Ich spüre, wenn es ihnen gut oder wenn es ihnen schlecht geht.«

»Das ist doch total irre. Merkst du das nicht?« Hendrike bedenkt mich mit einem Blick, der irgendwo zwischen mitleidig und angeekelt liegt. »Oder die Geschichte neulich, als du mir erzählt hast, die Figuren aus deinen Büchern würden nachts im Bücherregal rumklettern und die Figuren in anderen Büchern besuchen. Ich habe keine Lust mehr, mir so was anzuhören!«

»Aber ich habe doch gar nicht gesagt, dass sie das tun«, verteidige ich mich. »Nur, dass ich mir gerne vorstelle, dass sie es tun. – Was ist denn bloß los mit dir?«

Hendrike legt ein Gesicht auf wie eine Kindergärtnerin, die einer Dreijährigen erklärt, dass man nicht mit den Fingern ins Marmeladenglas greift. »Du benimmst dich noch immer wie ein Grundschulkind«, verkündet sie in wichtigem Ton. »Aber wir kommen nach den Ferien in die Sechste, Penny. Wir sind so gut wie erwachsen. Und du solltest langsam mal anfangen, dich wie eine Erwachsene zu verhalten! Und aufhören, den Leuten mit deinen kindischen Ideen auf die Nerven zu gehen. Merkst du nicht, dass sich alle über dich lustig machen? Und nimm endlich diese blöde Kappe ab! Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass sie dir zu groß ist. Das sieht total bescheuert aus. Ständig blamierst du einen!«

Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen. Aber jetzt bringe ich erst einmal kein Wort raus. Ich spüre einen dicken Kloß im Hals und merke, wie mir Tränen in die Augen schießen. »Ist das dein Ernst?«, krächze ich. »Ich bin dir peinlich? Denkst du wirklich, dass …«

»Hey, Pamela. Hey, Alina«, haucht Hendrike in diesem Moment, so als wäre ihr völlig egal, dass ich mit den Tränen ringe. Stattdessen schaut sie an meinem rechten Ohr vorbei und läuft zartrosa an. »Hey, Alex.«

Ich wende den Kopf und sehe die Ziburski-Zwillinge und Pamela Fäller die Treppe hochsteigen.

Die Ziburskis gucken mal wieder so unschuldig, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Die meisten Erwachsenen würden wahrscheinlich nicht glauben, dass die Zwillinge ihre Mitschüler mobben. Gegenüber Erwachsenen haben Alex und Alina es nämlich drauf, sich wohlgeraten und ganz besonders gut erzogen zu präsentieren. Und da sie unschuldige Gesichter machen können und außerdem noch hellblond sind, hat so mancher in Winderbusch ein ziemlich schiefes Bild von ihnen. Wilma Rübesam, zum Beispiel. »Zwei kleine blonde Engel«, schwärmt sie regelmäßig.

Wer die Ziburskis genauer kennt, der denkt bei ihrem Anblick eher an ein unheimliches Zwillingspärchen aus einem gruseligen Film. Die böse Brut des Höllenfürsten. Und Pamela Fäller sieht aus, als hätte der Fürst der Dunkelheit sie einzig auf die Erde gesandt, um seine unheilige Brut zu schützen. Pamela ist ausgesprochen kräftig, guckt finsterer als Fürst Hugo und fackelt nicht lange. Es gibt sogar Ältere, die vor ihr Angst haben. An der Bushaltestelle am Fürstenplatz hat sie einen Siebtklässler mal so verprügelt, dass er zu weinen begann.

»Hey, Rike«, sagt Alex Ziburski, woraufhin Hendrikes Gesichtsfarbe von Zartrosa zu Knallrot wechselt. Dann bedenkt er mich mit einem blöden Grinsen und macht leise: »Pffffft.« Genau das Geräusch, das Luft macht, wenn sie aus einem Reifen entweicht.

»Du warst das, du Hirni!«, kapiere ich. »Du hast mir gestern die Luft aus den Reifen gelassen.«

»Ich wäre an deiner Stelle sehr vorsichtig mit unbewiesenen Verdächtigungen!« Pamela Fäller rückt mir unangenehm nah auf die Pelle und mustert mich mit einem abschätzigen Blick. »Jeder weiß doch, dass du dir andauernd irgendwas zusammenspinnst.« Dann wendet sie sich Hendrike zu und rät ihr: »Du solltest dich besser nicht zu lange in ihrer Nähe aufhalten. Habe erst neulich gehört, dass Verrücktheit ansteckend sein kann.«

»Und ich habe gehört, dass Doofheit vor Ansteckung schützt. Also habt ihr drei nichts zu befürchten«, entgegne ich – als mir die Kappe vom Kopf gerissen wird. Eine Sekunde später segelt sie durchs Treppenhaus nach unten.

»Oops, das tut mir aber leid«, beteuert Alina Ziburski mit falschem Lächeln. »War keine Absicht. Aber vielleicht ist es ja auch ganz gut. Dann kann dein heiß gelaufenes Köpfchen mal ein bisschen abkühlen.«

Lachend und feixend marschieren die drei über den Flur davon. Vor dem Klassenzimmer dreht sich Alex Ziburski noch einmal um und ruft: »Was ist, Hendrike? Kommst du? Oder willst du deine Zeit weiter mit Penny Crazy verschwenden?«

Für einen Moment wirkt Hendrike verlegen und richtet den Blick zu Boden. »Tut mir leid, Penny. Wir können wieder Freundinnen sein. Aber erst, wenn du erwachsen und vernünftig geworden bist«, wispert sie, lässt mich einfach stehen und hastet davon.

»Vernünftig?«, murmele ich in mich hinein, während ich mit den Tränen kämpfe, und schreie ihr wütend hinterher: »Darauf kannst du lange warten!«

image

Wenn dir deine einzig wahre Freundin am Geburtstag nicht gratuliert, sondern erklärt, dass sie dich für durchgeknallt hält – das fühlt sich an wie ein Dolchstoß ins Herz. Ich schaffe es, nicht loszuheulen, bis die anderen im Klassenzimmer verschwunden sind – aber dann kann ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Erst nach zwei oder drei Minuten kriege ich mich wieder ein, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, atme tief durch und betrete den Klassenraum.

Mir fällt sofort ins Auge, dass der Stuhl neben meinem Platz leer ist. Hendrike hat sich weggesetzt. Sie sitzt jetzt neben Pamela Fäller, direkt hinter den Ziburski-Zwillingen, und würdigt mich keines Blickes.

Frau Franken, unsere Klassenlehrerin, ist dabei, die Anwesenheit ihrer Schüler zu kontrollieren und liest die Namen aus dem Klassenbuch ab. Ich habe Glück: Sie ist erst bei K. Eilig quetsche ich mich an meinen Tisch und krame Stifte und ein Heft aus der Tasche.

»Hanife Kaymaz?«

»Hier.«

»Luisa Küster?«

»Ja.«

»Sascha Leifert?«

»Yo.«

»Penny Maroux?«

»Leibhaftig«, antworte ich.

Von mir aus kann Wilma Rübesam meinen Namen so merkwürdig finden, wie sie will. Ich mag ihn. Maroux ist französisch. Mama kam aus Frankreich. Papas Familienname ist Reekmann, aber da er und Mama nicht verheiratet waren, als ich geboren wurde, trage ich ihren Nachnamen. Und Penny heiße ich, weil der Zufall oder das Schicksal darüber entschieden haben. Je nachdem, woran man lieber glaubt. Meine Eltern konnten sich nicht auf einen Vornamen einigen. Dabei hatten sie neun Monate Zeit. Aber als bei Mama die Wehen einsetzten und Papa mit ihr ins Krankenhaus raste, hatte ich noch immer keinen Namen. Da haben sie beschlossen, den Zufall (oder das Schicksal) entscheiden zu lassen: Papa würde das Autoradio einschalten und der erste Name, den sie hören würden, sollte mein Vorname sein. Ich bin ausgesprochen froh, dass keine Nachrichten gesendet wurden, als er einschaltete. Sonst hieße ich heute vielleicht Merkel Maroux. Aber ich hatte Glück: Es lief Musik. Penny Lane von den Beatles. Und wer seinen Namen den Beatles verdankt, dem ist ziemlich egal, was Wilma Rübesam davon hält.

»Alina Ziburski?«, liest Frau Franken und Alina antwortet, so gelangweilt wie möglich, mit »Ja«.

Wenn ich vorhin behauptet habe, dass es sich bei den Ziburskis und ihrer Clique um einen Haufen Hohlköpfe handelt, bedeutet das nicht, dass sie schlechte Schüler sind. Sie sind zwar nicht unbedingt die hellsten Kerzen am Baum, kommen aber im Unterricht ganz gut mit. Üblicherweise wird jemand als Hohlkopf bezeichnet, der nicht so richtig fix im Denken ist. Was ich total daneben finde. Es gibt Leute, die schnell im Kopf sind, und es gibt welche, die ein bisschen länger brauchen. Das ist eben so – und macht einen noch lange nicht zum Hohlkopf. Auch wenn man nicht der größte Denker unter der Sonne ist, kann man ein total netter Mensch sein. Man kann ein guter Freund oder eine gute Freundin sein. Man kann hilfsbereit und mitfühlend und verständnisvoll sein. Alles Dinge, die überhaupt nicht hohlköpfig sind. Hohlköpfig ist es, sich für was Besseres zu halten und sich über die tatsächlichen oder angedichteten Schwächen anderer lustig zu machen. Was das angeht, sind Pamela und die Ziburski-Zwillinge geradezu galaktische Hohlköpfe. Und wie die meisten Hohlköpfe sind sie mit einer großen Schnauze ausgestattet und bestimmen dadurch, welche Mitschüler zu ihrer erlesenen Hohlkopf-Clique gehören oder wer ein Opfer ist. Und dazu bestimmen sie dann gerne diejenigen, die sich nicht gut wehren können. Luisa Küster, zum Beispiel, die so schüchtern ist, dass sie kaum ein Wort rauskriegt. Oder Ahmed al Mira, weil er manchmal, wenn er aufgeregt ist, stottert. Zu Beginn des Schuljahres mussten die beiden ständig blöde Bemerkungen und dämliches Nachäffen ertragen. Bis Alex, Alina und Pamela die Sache langweilig wurde und sie mich als neues Opfer auserkoren haben. Penny CrazyPenny Crazy, Freaky Maroux, Köpfchen Kurzschluss …Frau Doktor Durchgeknallt