Peter Handke
Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke
Suhrkamp Verlag
Für
Karlheinz Braun, Claus Peymann, Basch Peymann, Wolfgang Wiens, Peter Steinbach, Michael Gruner, Ulrich Hass, Claus Dieter Reents, Rüdiger Vogler, John Lennon
VIER SPRECHER
Die Litaneien in den katholischen Kirchen anhören.
Die Anfeuerungsrufe und die Schimpfchöre auf den Fußballplätzen anhören.
Die Sprechchöre bei Aufläufen anhören.
Die laufenden Räder eines auf den Sattel gestellten Fahrrads bis zum Ruhepunkt der Speichen anhören und die Speichen bis zu ihrem Punkt der Ruhe ansehen.
Das allmähliche Lautwerden einer Betonmischmaschine nach dem Anschalten des Motors anhören.
Das Inswortfallen bei Debatten anhören.
»Tell me« von den Rolling Stones anhören.
Die zugleich geschehenden Einfahrten und Ausfahrten von Zügen anhören.
Die Hitparade von Radio Luxemburg anhören.
Die Simultansprecher bei den Vereinten Nationen anhören.
In dem Film »Die Falle von Tula« den Dialog des Gangsterbosses (Lee J. Cobb) mit der Schönen anhören, in dem die Schöne den Gangsterboß fragt, wieviele Menschen er denn noch umbringen lassen werde, worauf der Gangsterboß, indem er sich zurücklehnt, fragt: Wieviele gibt's denn noch? und dabei den Gangsterboß ansehen.
Die Beatles-Filme ansehen.
In dem ersten Beatles-Film Ringo Starrs Lächeln ansehen, in dem Augenblick, da er, nachdem er von den andern gehänselt worden ist, sich an das Schlagzeug setzt und zu trommeln beginnt.
In dem Film »Der Mann aus dem Westen« das Gesicht Gary Coopers ansehen.
In demselben Film das Sterben des Stummen ansehen, der mit der Kugel im Leib die ganze öde Straße durch die verlassene Stadt hinunterläuft und hüpfend und springend jene schrillen Schreie ausstößt.
Die die Menschen nachäffenden Affen und die spuckenden Lamas im Zoo ansehen.
Die Gebärden der Tagediebe und Nichtstuer beim Gehen auf den Straßen und beim Spiel an den Spielautomaten ansehen.
Wenn die Besucher den für sie bestimmten Raum betreten, erwartet sie die bekannte
Stimmung vor dem Beginn eines Stücks. Vielleicht ist hinter dem geschlossenen Vorhang
sogar das Geräusch von irgendwelchen Gegenständen zu hören, die den Besuchern das
Verschieben und Zurechtrücken von Kulissen vortäuschen. Zum Beispiel wird ein Tisch
quer über die Bühne gezogen oder einige Stühle werden geräuschvoll aufgestellt und
wieder beiseitegetragen. Die Zuschauer in den ersten Reihen können hinter dem Vorhang
auch die geflüsterten Anweisungen vorgetäuschter Bühnenmeister und die geflüsterten
Verständigungen vorgetäuschter Arbeiter hören. Vielleicht ist es zweckdienlich, dafür
Tonbandaufnahmen von anderen Stücken zu verwenden, bei denen vor dem Aufgehen des
Vorhangs in Wirklichkeit Gegenstände bewegt werden. Diese Geräusche werden zur besseren
Hörbarkeit noch verstärkt. Man typisiert und stilisiert sie, so daß eine Ordnung oder
Gesetzmäßigkeit in den Geräuschen entsteht. Auch im Zuschauerraum ist für die gewohnte
Theaterstimmung zu sorgen. Die Platzanweiser vervollkommnen noch ihre gewohnte Beflissenheit,
bewegen sich noch formeller und zeremonieller, dämpfen ihr gewohntes Flüstern noch
stilvoller. Ihr Gehabe wirkt ansteckend. Die Programme sind in vornehmer Ausstattung
gehalten. Das wiederholte Klingelsignal darf nicht vergessen werden. Es folgt in immer
kürzeren Abständen. Das allmähliche Verlöschen des Lichts wird nach Möglichkeit noch
hinausgezögert. Vielleicht kann es stufenweise geschehen. Die Gebärden der Platzanweiser,
die die Türen nun schließen, sind besonders gravitätisch und auffallend. Dennoch sind
sie nichts anderes als Platzanweiser. Es soll keine Symbolik entstehen. Zu spät Kommende
haben keinen Zutritt. Besucher in unangemessener Kleidung werden abgewiesen. Der Begriff
der unangemessenen Kleidung ist möglichst weit auszulegen. Niemand soll durch seine
Kleidung besonders aus den Zuschauern herausstechen und das Auge verletzen. Zumindest
sollen die Herren dunkel gekleidet sein, Rock, weißes Hemd und eine unauffällige Krawatte
tragen. Die Damen sollen grelle Farben ihrer Garderoben tunlichst vermeiden. Es gibt
keine Stehplätze. Sind die Türen geschlossen und ist das Licht allmählich erloschen,
so wird es auch hinter dem Vorhang allmählich still. Die Stille hinter dem Vorhang
und die Stille, die im Zuschauerraum eintritt, gleichen einander. Die Zuschauer starren
noch eine kleine Weile auf den sich fast unmerklich bewegenden, von einem vorgetäuschten
Huschen sich vielleicht sogar buchtenden Vorhang. Dann wird der Vorhang ruhig. Es
verstreicht noch eine kurze Zeit. Dann geht der Vorhang langsam auseinander und gibt
den Blick frei. Wenn die Bühne den Blicken frei ist, kommen aus dem Bühnenhintergrund
die vier Sprecher nach vorn. Sie werden in ihrem Gehen durch keinen Gegenstand behindert.
Die Bühne ist leer. Während sie in den Vordergrund kommen, in einem Gang, der nichts
anzeigt, in einer beliebigen Kleidung, wird es wieder hell, auf der Bühne und im Zuschauerraum.
Die Helligkeit hier und dort ist ungefähr gleich, von einer Stärke, die den Augen
nicht weh tut. Das Licht ist das gewohnte, das einsetzt, wenn zum Beispiel die Vorstellung
aus ist. Die Helligkeit bleibt auf der Bühne wie im Zuschauerraum während des ganzen
Stückes unverändert. Die Sprecher schauen noch nicht ins Publikum, während sie herankommen.
Sie proben noch im Gehen. Sie richten die Worte, die sie sprechen, keinesfalls an
die Zuhörer. Das Publikum darf noch keinesfalls gemeint sein. Für die Sprecher ist
es noch nicht vorhanden. Während sie herankommen, bewegen sie die Lippen. Allmählich
werden ihre Worte verständlich und schließlich laut. Die Schimpfwörter, die sie sprechen,
überschneiden sich. Die Sprecher sprechen durcheinander. Sie nehmen voneinander Wörter
auf. Sie nehmen einander die Worte aus dem Mund. Sie sprechen gemeinsam. Sie sprechen
alle zugleich, aber verschiedene Wörter. Sie wiederholen die Wörter. Sie sprechen
lauter. Sie schreien. Sie vertauschen die geprobten Wörter untereinander. Sie proben
schließlich gemeinsam ein Wort. Die Wörter, die sie zu diesem Vorspiel verwenden,
sind folgende: (die Reihenfolge ist nicht zu beachten) Ihr Fratzen, ihr Kasperl, ihr Glotzaugen, ihr Jammergestalten, ihr Ohrfeigengesichter,
ihr Schießbudenfiguren, ihr Maulaffenfeilhalter. Nach einer gewissen klanglichen Einheitlichkeit ist zu streben. Außer dem Klangbild
soll sich aber kein anderes Bild ergeben. Die Beschimpfung ist an niemanden gerichtet.
Aus ihrer Sprechweise soll sich keine Bedeutung ergeben. Die Sprecher sind vor dem
Ende der Schimpfprobe im Vordergrund angelangt. Sie stellen sich zwanglos auf, bilden
aber eine gewisse Formation. Sie sind nicht völlig starr, sondern bewegen sich nach
der Bewegung, die ihnen die zu sprechenden Worte verleihen. Sie schauen nun ins Publikum,
fassen aber niemand ins Auge. Sie bleiben noch ein wenig stumm. Sie sammeln sich.
Dann beginnen sie zu sprechen. Die Reihenfolge des Sprechens ist beliebig. Alle Sprecher
sind ungefähr gleich viel beschäftigt.