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aufgezeichnet von

Stefan Krücken

STURMKAP

Um Kap Hoorn und durch den Krieg –
die unglaubliche Reise von Kapitän Jürgens

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STURMKAP

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Stefan Krücken, Appel

Lektorat: Astrid Roth, Köln

Historische Fotografien: Privatarchiv Hans Peter Jürgens, Kiel

Ankerherz Verlag GmbH, Appel

ISBN 978-3-940138-01-9

Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz.

Die lange Reise ist vorbei.

Morgenlicht weckt meine Seele auf.

Ich lebe wieder und bin frei.

Rio Reiser · Land in Sicht

Hans Peter Jürgens, Jahrgang 1924, fuhr mehr als ein halbes Jahrhundert zur See. 1953 machte er sein Kapitänspatent und arbeitete hauptsächlich für die Hansa-Linie, Bremen. Er war der letzte Präsident der deutschen Kap Hoorniers Vereinigung, die sich 2004 auflöste. Nach seiner aktiven Zeit auf See wurde er Lotse auf dem Nord-Ostsee-Kanal. Heute gilt Jürgens als einer der wichtigsten deutschen Maler maritimer Kunst. Er lebt in Kiel.

Stefan Krücken, Jahrgang 1975, wollte schon als Kind Reporter werden. Er volontierte beim Kölner Stadt-Anzeiger, arbeitete als Polizeireporter für die Chicago Tribune und ging dann zur Zeitschrift Max. Krücken schreibt als Editor-at-large für GQ sowie für andere Magazine. »Sturmkap« ist sein zweites Buch nach dem Bestseller »Orkanfahrt«. Er lebt mit seiner Familie in einem Dorf bei Hamburg.

INHALT

PROLOG

Juli 1939, im Orkan vor Kap Hoorn
an Bord der Viermastbark Priwall

DER ZORN GOTTES

KAPITEL 1

Viermastbark Priwall

Mai 1939 – Mai 1941

KURS KAP HOORN

KAPITEL 2

Dampfer Erlangen

Mai 1941 – September 1941

IM KRIEG

KAPITEL 3

Truppentransporter Duchess of Bedford

September 1941 – Januar 1946

STACHELDRAHTJAHRE

KAPITEL 4

Fischkutter Dithmarschen

Januar 1946 – Mai 1949

KOHLENKLAU UND KABELJAU

KAPITEL 5

Frachter Helga Schröder

Mai 1949 – März 1953

LAND IN SICHT

EPILOG

KAPITÄN

STEFAN KRÜCKEN: GEDANKEN ZUM »STURMKAP«

GLOSSAR

PROLOG

JULI 1939, IM ORKAN VOR KAP HOORN
AN BORD DER VIERMASTBARK »PRIWALL«

DER ZORN GOTTES

Seit zwei Wochen halten wir nun nach Westen und kreuzen gegen den Sturm. Das Ölzeug ziehen wir nicht mehr aus, dazu fehlt uns die Kraft. Wir legen uns mit der Kleidung in unsere Kojen, auf dünne Matratzen aus Stroh, die völlig durchnässt sind. Eisiges Wasser schwappt durch das Logis. Es ist kalt in den Kammern, so kalt wie draußen an Deck, denn es gibt keine Heizung und keinen Ofen und keine Wärme in den Unterkünften der Mannschaft. An Schlaf ist kaum zu denken. Schlaf? Wenn es überhaupt eine Pause gibt, dauert sie höchstens drei Stunden, die sich anfühlen wie drei Minuten. Bis wir wieder den Befehl hören: »Reise, Reise! Alle Mann an Deck!«

Uns bleibt nicht mal Zeit für Albträume.

Brecher überspülen das Deck, und man muss aufpassen, dass immer eine Leine in der Nähe ist, an der man sich festhalten kann. Wir klettern an der Seite, die dem Sturm zugewandt ist, die Wanten hinauf. Der Orkan drückt uns an die Rahen, was es leichter macht, wenn sich die Priwall in einer großen See neigt. Über Bord zu gehen, das bedeutet in diesem Wetter den sicheren Tod, weil es für den Kapitän unmöglich ist, sein Schiff zu wenden oder ein Rettungsboot aussetzen zu lassen.

Der Sturm wirft die Viermastbark hin und her. Brecher überspülen das Deck, über das zur Sicherheit für die Besatzung zusätzliche Taue und »Leichennetze« gespannt sind. Ich liege hoch oben auf den Rahen und versuche mit den anderen Schiffsjungen und Matrosen, die schlagenden Segel zu bergen. Meine Fingerbeugen sind vor Kälte und Anstrengung aufgeplatzt. Das nasse Ölzeug hat meine Handgelenke und den Nacken blutig gescheuert.

»Gott hat Kap Hoorn im Zorn erschaffen«, meinte unser Kapitän, Adolf Hauth. In keinem anderen Gebiet der Weltmeere verloren so viele Seeleute das Leben. Mehr als 800 Schiffe – so schätzt man – sanken im Sturm oder zerschellten an den Klippen. Mehr als 10000 Männer ertranken. »Wenn du alt werden willst«, so heißt es in einer alten Seemannsweisheit, »dann meide Kap Hoorn und reffe rechtzeitig die Segel.«

An mehr als 300 Tagen im Jahr toben schwere Stürme dort, wo der Atlantische und der Pazifische Ozean aufeinander treffen. Die Wucht der westlichen Luftströmungen türmt die Seen zu gewaltigen Höhen auf, wie sie nirgendwo sonst in dieser Regelmäßigkeit zu beobachten sind. Wellenwände von 20 Metern Höhe und mehr sind nichts Besonderes, Brecher, hoch wie mehrstöckige Häuser. Eine weitere Gefahr sind Eisberge, die vom südpolaren Packeisgürtel abbrechen. Sie sind unberechenbare Gegner und machen besonders die Navigation der Segelschiffe zu einem Glücksspiel.

Vor allem in der Nacht. Vor allem im Sturm.

Kap Hoorn: ein Ort der Legenden und das am meisten gefürchtete Seegebiet der Welt. Willem Cornelisz Schouten, ein niederländischer Kapitän, hatte das verlorene Land als Erster erreicht, am 24. Januar 1616. Mit seinem Schiff Eendracht fand er eine Durchfahrt zwischen dem Festland und einer vorgelagerten Insel, die er »Le Maire« nannte, nach dem Kaufmann, der seine Expedition ausgerüstet hatte. Ein zweites Schiff, die Hoorn, geführt von seinem Bruder Jan Cornelius Schouten, war durch ein Feuer verloren gegangen. Sechs Tage nachdem die Eendracht die Le-Maire-Straße durchsegelt hatte, passierte sie ein gewaltiges Felsenkap, das Schouten in Gedenken an seine Heimatstadt im Norden der Niederlande Hoorn taufte.

Zunächst wagten nur Freibeuter die gefahrvolle Reise, wie Woodes Rogers, der 1708 die Umrundung schaffte und wenig später Alexander Selkirk an Bord nahm, den man auf einer Insel ausgesetzt hatte. Selkirks Schicksal diente Daniel Defoe als Vorlage für eine der bekanntesten Figuren der Literaturgeschichte: Robinson Crusoe.

Von einer Expedition des englischen Kommodore Anson, der 1740 mit einem Geschwader von sechs Schiffen in den Krieg gegen die Spanier segelte, kam nur das Flaggschiff Centurion zurück. Vier Jahre später. Mehr als 900 Besatzungsmitglieder hatten durch Skorbut oder nach Havarien ihr Leben verloren. Amerikanische Walfänger riskierten die Reise, um in die pazifischen Jagdgründe zu gelangen. Und auch immer mehr Handelsschiffe, nachdem in Kalifornien der Goldrausch ausgebrochen war. Es musste gute Gründe geben, das Kap herauszufordern. Die Aussicht auf Tran und Gold reichte offenbar aus.

Als erstes deutsches Schiff passierte die Hamburger Fregatte Hammonia 1799 das Kap, auf einer Reise von Kalkutta nach Rio de Janeiro. Jede Passage ums Kap der Stürme glich einem Abenteuer mit offenem Ausgang. Mancher Kapitän brach nach mehreren Wochen den Kampf gegen den Sturm ab, drehte bei und zog den weiten Weg über drei Ozeane und die ganze Welt vor, um den Bestimmungshafen an der Pazifikküste Amerikas zu erreichen.

1905 benötigte die Susanna – ebenfalls ein Schiff mit dem Heimathafen Hamburg – wegen eines fehlerhaften Chronometers, der eine genaue Positionsbestimmung unmöglich machte, 99 Tage um Kap Hoorn. Wie durch ein Wunder kam während der Irrfahrt kein Besatzungsmitglied ums Leben, aber die Berichte der Seeleute handeln von unmenschlichen Entbehrungen, von Hunger, von Skorbut, von Verletzungen, wenn Matrosen von Wellen erfasst und gegen die Aufbauten geschleudert wurden. Von der gemeinen Kälte, die dazu führte, dass einigen an Bord Hände und Füße erfroren. Als das Schiff nach mehr als 600 Stunden im schweren Sturm in den Hafen von Caleta Buena einlief, konnten noch acht der 24 Besatzungsmitglieder arbeiten.

An Bord der Admiral Karpfanger, einem anderen Segelschulschiff der Hamburg-Amerika-Linie, das mit 60 Mann Besatzung und einer Ladung Weizen auf der Reise von Australien nach Europa auf Höhe von Kap Hoorn verschwand, überlebte niemand. Nur eine Tür und ein Rettungsring wurden später an der Küste von Feuerland angetrieben. Vermutlich kollidierte das Schiff in schwerer See mit einem Eisberg.

Die Admiral Karpfanger sank 1938, ein Jahr vor unserer Reise.

Unsere Erschöpfung ist nach Wochen im Orkan in einer Sphäre angelangt, in der das Unterbewusstsein das Kommando über den Körper übernimmt. Wir sind mit unseren Kräften am Ende. Wir funktionieren nur noch, irgendwie, um die Strapazen zu beenden. Um das Kap zu überleben.

Das Meer kocht regelrecht, und die Priwall, einer der berühmten Flying P-Liner, wie die Schiffe der Reederei F. Laeisz wegen ihrer schnellen Reisen genannt werden, rollt schwer in der See. Es ist anstrengend, sich auf den Beinen zu halten und nicht mitgespült zu werden, wenn eine große See überkommt. Wieder und wieder müssen wir hinauf in die Rahen, um Segel zu bergen. Sicherheitsleinen gibt es dort oben nicht. Aber Angst? Angst spüre ich nicht, das ist seltsam. Ich denke nur an den Augenblick. Daran, wie es in der nächsten Minute weitergeht. Wie ich die nächste halbe Stunde überlebe. Ich hoffe, dass mein Körper nicht einfach versagt, nicht aufgibt vor Müdigkeit.

In manchen Momenten frage ich mich: Kann ich das noch ertragen?

Es wäre so einfach: nur die Hände von der Rahe nehmen. Die Augen schließen. Mich nach hinten fallen lassen.

Soll ich die Qual beenden?

14. MAI 1939
HAMBURGER HAFEN

ABSCHIED

Hamburgs Hafen wirkte auf mich wie ein Jahrmarkt, ein Durcheinander von Fähren, Elbkähnen und Schuten. Auf den Landungsbrücken hörte man das Dröhnen der Niethämmer, das herüberdrang von den Werften, von Blohm & Voss. Es roch nach dem Ruß und dem schwarzen Qualm, der aus unzähligen Schornsteinen der Dampfer in den Himmel aufstieg. An trüben Tagen hing der Rauch wie eine dunkelgraue Glocke über dem Hafen.

Die meisten Schiffe lagen nicht an einer Kaimauer, sondern waren an Pfählen festgemacht. Oft mehrere nebeneinander, Bordwand an Bordwand. Wenn ein Besatzungsmitglied an Land wollte, setzte man die Signalflagge N, eine Flagge mit kleinen Karos in Blau und Weiß. Dann wartete der Seemann auf das Wassertaxi. Zahllose kleine Fähren verkehrten in den Hafenbecken. Einen besonderen Ruf genoss die Fähre 7, die »Lumpensammler« genannt wurde, weil sie auf ihrem Zickzackkurs besonders viele Seeleute aufsammelte, auch in den weiter entfernten Hafenbecken.

Im Hafen spielte sich das ganze Leben des Seemanns ab, ganz anders als heute, wo Landgänge meist im Containerterminal enden. Der Hamburger Hafen war damals eine eigene Stadt inmitten der Stadt. Matrosen hatten es nicht weit zur Reeperbahn auf St. Pauli. Manche aber gingen gleich in eine der Spelunken unten an der Wasserkante. Seeleute bekamen damals in jeder Kneipe einen Kredit, einen Bierdeckel, auf den sie anschreiben lassen konnten, denn kaum einer prellte seine Zeche. Das war eine Frage der Ehre.

Es war ein warmer Tag im Mai, die Sonne schien aus einem Himmel ohne Wolken, als mein Vater und ich in Richtung Rödingsmarkt spazierten. Ich sollte mich in einem der Geschäfte für Seemannszubehör einkleiden: Seestiefel, Ölzeug, Unterhosen aus Wolle kauften wir. Frühmorgens waren wir in Cuxhaven aufgebrochen und in den Zug gestiegen, der von einer schwer keuchenden, alten Dampflok gezogen wurde. Vater sprach nicht viel, er sprach nie besonders viel. Hans Jürgens war ein angesehener Kapitän, eine Autoritätsperson, die Leute mit einem Blick zum Schweigen bringen konnte. Mit seinen Kontakten und dank seiner Reputation hatte er es möglich gemacht, dass ich – 15 Jahre alt – als Schiffsjunge auf die Priwall kam. »Wenn schon, dann gehörst du auf ein vernünftiges Schiff!«, sagte er. Ein vernünftiges Schiff?

Kein Schiff hatte es geschafft, Kap Hoorn schneller zu umrunden. Von 50 Grad Süd im Atlantik nach 50 Grad Süd im Pazifik, also von Ost nach West, in fünf Tagen und 14 Stunden, schneller als sämtliche amerikanischen Clipper oder der berühmte Fünfmaster Potosí. Die Bark Priwall der Hamburger Reederei F. Laeisz war kein vernünftiges Schiff: Sie war längst eine Legende mit vier Masten – 98,5 Meter lang und 14,4 Meter breit.

Nach dem Einkauf trug ich einen Seesack auf der Schulter, und wir spazierten hinunter zu den Landungsbrücken, wo wir auf die Fähre warteten. Die Priwall lag in einem der Gräben genau gegenüber von St. Pauli, wo sie mit Kali und Stückgut beladen wurde. Erster Zielhafen sollte Corral sein, eine Hafenstadt in Chile. Ich hatte keine Ahnung, wo genau Chile auf der Weltkarte zu finden war und wo sich dieses Corral eigentlich befand. Ich konnte in meinem Kopf hören, wie mein Herz schlug, als die Fähre lostuckerte und wir den Masten der Priwall näher kamen.

VATER

Meine Liebe zum Meer begann zu einer Zeit, an die ich keine Erinnerung haben kann. Wenn uns Vater mitnahm auf eine seiner Reisen, legte man mich, den Säugling, in eine Schublade unter seine Koje. Es kam aber nicht oft vor, dass meine Mutter Emma und ich ihn begleiten durften. Vater war selten daheim. Seine Reisen dauerten stets mehrere Monate, und als er für eine ägyptische Reederei Holz aus dem Schwarzen Meer fuhr, kam er zwei Jahre nicht nach Hause. Ich vermisste ihn oft, wie alle Kinder von Seeleuten ihre Väter vermissen. Man kann sagen, dass mich meine Mutter allein aufzog. Wir wohnten in Cuxhaven, in einem Backsteinhaus an der Nordersteinstraße, ganz in der Nähe des Amerikahafens. Kapitäne waren keine reichen Leute mehr nach dem Ersten Weltkrieg, aber wir hatten unser Auskommen.

Wenn Vater in Hamburg oder Bremen einlief, besuchten meine Mutter und ich ihn im Hafen. Festtage waren das für mich, denn als Sohn des Kapitäns ist man eine Art »kleiner Kapitän« an Bord. Die Matrosen erzählten mir, was sie auf ihren Reisen erlebt hatten. Ihre Geschichten von den Stürmen vor Kap Hoorn faszinierten mich besonders.

1914 hatte Vater im Krieg eine Seeschlacht vor den Falklandinseln überlebt, als die Briten fast das gesamte Geschwader der kaiserlichen Marine versenkten und nur ein Kreuzer entkommen konnte. Er gehörte zu den wenigen Seeleuten, die aus dem Ozean gezogen werden konnten. Mehrere Jahre verbrachte er dann in Kriegsgefangenschaft, im kargen schottischen Hochland. Auf einem Foto, das er mir zeigte, trug er eine Pelzmütze. Das Foto soll in meiner Geschichte noch eine Rolle spielen, aber dazu kommen wir später.

Als ich acht Jahre alt war – das war 1932 –, durfte ich Vater auf dem Dampfer Kersten Miles nach Schweden begleiten, wo wir Zellulose für Nordamerika luden. Unsere Besatzung bestand aus Chinesen – eine Sensation in den einsamen schwedischen Kleinstädten, wo noch nie ein Asiate angelegt hatte. In jedem Hafen entlang unserer Route liefen die Leute zusammen, um die fremdartigen Gesichter zu sehen. Ein Bootsmann brachte mir bei, wie man mit Sprotten umgeht, und ich durfte mit dem Arbeitsboot im Hafenbecken umherrudern. Jede Reise war ein Abenteuer, und mein Entschluss stand fest: Ich wollte zur See fahren. Noch heute kann ich mich an die Namen und alle Details erinnern, so sehr haben mich diese Erlebnisse geprägt.

Von einer seiner Reisen brachte Vater ein kleines Boot mit, etwa drei Meter lang, mit einem Mast, an den ich ein Bettlaken als Segel knotete. Mein Freund Egon und ich kreuzten damit vor Cuxhaven umher, im Mündungsgebiet der Elbe, was – wenn ich heute darüber nachdenke – ziemlich gefährliche war für zwei kleine Jungs. Das Seegebiet ist für Strömungen und den starken Gezeitenwechsel bekannt.

Einmal trieben wir zu weit vom Hafen ab und schafften es nicht mehr zurück, bevor die Ebbe einsetzte. Gerade noch konnten wir uns ins Watt retten, wo wir trocken fielen und abwarteten. Als die Flut einsetzte und wir wieder Wasser unter dem Kiel hatten, segelten wir zurück nach Cuxhaven. Obwohl wir uns beeilten, kamen wir Stunden zu spät nach Hause. Meine Mutter hatte sich große Sorgen gemacht und schimpfte, als ich endlich durch die Tür trat.

Sie hatte es nicht leicht mit mir. Ich war ein unaufmerksamer Schüler und langweilte mich im Unterricht. Statt daheim Hausaufgaben zu erledigen, zog es mich in den Hafen. Ich las jedes maritime Buch, das ich bekommen konnte, und malte mir ferne Länder aus, dachte an Städte mit magischen Namen, träumte von Rio de Janeiro, von Caracas, von Havanna. Meine Schulnoten im humanistischen Gymnasium an der Abendrothstraße wurden immer schlechter. Nachsitzen oder die Androhung von Stockschlägen konnten daran wenig ändern. Nur einmal brachte ich es zu einer Höchstleistung im Klassenzimmer, als ich von einer Reise mit meinem Vater zurückkehrte und den Dampfer malte, auf dem wir gefahren waren. Dem Lehrer gefiel das Bild so gut, dass er es an die Wand hängte. Darauf war ich sehr stolz.

Meine Eltern waren von meiner Leidenschaft für die Seefahrt wenig begeistert. Ich sollte, wenn überhaupt, zur Marine gehen, aber das wollte ich nicht. Wir diskutierten, wir stritten oft, bis zu jenem Abend, als mein Vater in mein Zimmer kam. Er war ausnahmsweise gerade zu Hause, um einen Lehrgang zu besuchen; es ging um Verhaltensregeln für Kapitäne der Handelsschifffahrt im Krieg. Er setzte sich auf die Bettkante und sagte: »Also gut, Junge, du kannst auf ein Schiff. Ich habe dich auf der Priwall untergebracht.«

Ich erinnere noch heute das Gefühl: Es war, als treffe mich eine warme Welle. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben. Vaters Entscheidung, mich doch zur See fahren zu lassen, hat mir vermutlich das Leben gerettet.

Von meinen Klassenkameraden haben nur drei den Krieg überlebt.

Meine ersten Minuten an Deck der Priwall glaubte ich zu träumen, so beeindruckt war ich von der Höhe der Masten, vom Gewirr der Takelage, die sich wie ein gewaltiges Spinnennetz über uns spannte. Als wir das Hochdeck betraten, stupste mich Vater an und flüsterte mir zu: »Junge, sieh mal: Eine der Brassen auf der Brassenwinde ist übergelaufen. So etwas darf nicht vorkommen.«

Diese Worte haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt, ganz seltsam, aber sie haben mich mein ganzes Leben auf See begleitet. Vom ersten Moment an hatte Vater mich für Nachlässigkeiten sensibilisiert, die bei schwerem Wetter fatale Folgen haben können. Alle anderen Ratschläge habe ich vergessen. Diesen einen jedoch nicht.

Der Dritte Offizier nahm uns in Empfang und zeigte uns das Schiff. Unter der nach hinten offenen Back befanden sich der Mannschaftswaschraum, Toiletten, die Werkstatt des Zimmermanns sowie die Ankerwinde. Meine Koje sollte ich zunächst im vorderen Teil des Hochdecks beziehen, in dem Logis der Matrosen. Zwölf Mann teilten sich einen Schlafraum. Als Lager dienten übereinander stehende Betten, deren Matratzen mit Stroh gefüllt und mit Segeltuch überzogen waren.

Meine Aufregung wich allmählich einem mulmigen Gefühl. Vater nahm mich noch einmal in den Arm. Er sagte nichts und drückte mich nur an sich. Dann ging er wortlos über die Gangway. Ich sah ihm hinterher, als er an Bord der nächsten Fähre stieg, die langsam in Richtung der Landungsbrücken davonfuhr. Ich fühlte mich einsam, doch ich beruhigte mich: Schon Weihnachten sollte ich wieder zu Hause in Cuxhaven sein. In sieben Monaten war ich zurück.

Was sollte dazwischenkommen?

»REISE, REISE!«

Das war der Weckruf an Bord, angelehnt ans englische »rise«, aber eingedeutscht. Wer nicht aufstand, wurde wachgerüttelt. Etwa zehn Minuten blieben, bis die Wache auf Deck begann; diese zehn Minuten nutzte man für eine kurze Wäsche und Zähneputzen. Die Waschräume lagen vorn an der Steuerbordseite, unterhalb des Backdecks, und achtern, unterhalb des Poopdecks, ganz hinten im Heck.

Ich war rechtzeitig zum ersten Wachantritt an Deck, wo der Erste Offizier die Arbeit verteilte. Zu meinem Erstaunen und meiner Enttäuschung schien niemand Notiz von mir zu nehmen. Keiner beachtete mich, den Jüngsten an Bord. Ich wurde einem Leichtmatrosen zugeteilt, mit dem ich die Stützen des Laderaums mit Sackleinwand umwickelte, damit sich keine Feuchtigkeit an den eisernen Trägern bildete und die geladenen Kalisäcke nicht nass wurden. Der Leichtmatrose hieß Willy Buch, ein groß gewachsener, blonder Kerl, 18 Jahre alt, mit einem breiten Kreuz.

»Min Jung, wo kommst du her?«, fragte er.

»Aus Cuxhaven.«

»Ach was! Cuxhaven? Ich auch!«

Willys Vater war Fischdampferkapitän. Wir plauderten über die Stadt mit dem Wahrzeichen Kugelbake und suchten nach gemeinsamen Bekannten, was mir half, meine Unsicherheit zu überspielen. Willy, der seine dritte Reise mitmachte, gab mir Ratschläge und erklärte, wie der Alltag funktionierte: Für jeden Mast war ein Toppmatrose zuständig, der kleinere Reparaturen in der Takelage selbst erledigte. Größere Reparaturen übernahmen die Segelmacher, Deckschlosser (»Meister« genannt, weil sie sogar mit schwerem Gerät in die Takelage kletterten) und ein Zimmermann, den wir im Bordjargon »Blaubüddel« oder »Blau« riefen.

Meine Aufgabe als Schiffsjunge war es zunächst nur, möglichst eifrig hinterherzulaufen. Ich sollte zusehen, lernen, ich sollte mir einprägen, wo die Taue und Seile der Takelage verliefen, wie die Segel aufgegeit wurden, welcher Handgriff bei welchem Kommando zu erledigen war. Das Handwerkszeug eines Segelschiffmannes. Es war anfangs sehr verwirrend.

Am Morgen des 16. Mai 1939 warfen wir die Leinen los. Unter einem blauen Himmel zog uns der Schlepper Simson Richtung Nordsee. Langsam schoben wir die Elbe hinunter und verabschiedeten St. Pauli und Blankenese nach einem alten Brauch mit »Three Cheers«: »Hipp, hipp, hurra!« Dann wurde der Fluss breiter.

Ein letzter Abschiedsgruß ertönte, als wir den Reededampfer, die Alte Liebe, vor Cuxhaven passierten. Einige Freunde meiner Familie waren an Bord der Alte Liebe, um mir zuzuwinken und ein Foto zu schießen. Als ich sie sah, spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, denn nun war endgültig klar, dass es kein Zurück mehr gab. Der Schlepper Simson dampfte davon, und auf der Priwall setzte man die Segel. Bald darauf verschwand die Küstenlinie hinter dem Horizont.

19. MAI 1939
IM ÄRMELKANAL

NEBEL

In der Nähe der weißen Küste von Dover, wo der Ärmelkanal am schmalsten ist, legte sich Nebel auf das Wasser. Dichter, weißer, schwerer Nebel. Der Kapitän entschied, etwas abseits des normalen Schiffswegs vor Anker zu gehen. Wenn sich nun auch noch der Wind legte, trieben wir blind und unkontrolliert in der starken Strömung. Um uns herum war das stumpfe Brüllen der Nebelhörner anderer Schiffe zu hören. Auch wir schlugen die große Glocke auf der Back, aber ihr Klang konnte leicht überhört werden. Eine solche Lage ist für jedes Segelschiff gefährlich: Ohne Motorkraft kann die Besatzung nur treiben und muss hoffen, dass kein anderes Schiff aus der Nebelwand auftaucht und nicht mehr ausweichen kann. So erging es der Preußen, einem Fünfmaster, der von einem Dampfer gerammt wurde und vor den Klippen von Dover strandete.

Außer dem Kollisionsschott hinter der Ankerkette hatte unser Segelschiff keine weiteren wasserdichten Schotten. Nach einer Kollision würden wir volllaufen und dann sinken wie ein Kreidefels. Selbst geübte Schwimmer hätten es schwer gehabt, zu überleben, denn im undurchdringlichen Nebel findet man Schiffbrüchige nur durch Zufall.

Wir warteten ab. Die Nebelhörner tuteten. Dann geschah das, was alle befürchtet hatten: Wie ein böser Geist schob sich der Bug eines Dampfers aus der Nebelwand! Unser Kapitän rannte vom Hochdeck nach vorn und schlug die Glocke nun selbst, so hart, laut und schnell es ging. Der Dampfer aus Dänemark schien das zu hören und uns nun zu sehen. Er drehte bei – in letzter Sekunde. In einer Entfernung von weniger als 50 Metern schrammte sein Steven an uns vorbei. Etwa 50 Meter fehlten zur Katastrophe, das ist nicht viel auf dem Wasser. Wir atmeten auf.

Tags darauf löste sich der Nebel zu unserer Erleichterung auf. Rasch stellte sich Routine an Bord ein. Zur ersten Phase einer Reise gehören das Schrubben des Decks und die Grundreinigung des Schiffs. Die Matrosen nutzten jede Gelegenheit, uns Junge mit den unterschiedlichen Handarbeiten vertraut zu machen. Sie zeigten uns auch, wie man Taue knotet und Drähte spleißt.

Dann wurden die Wachen eingeteilt: In diesem alten, überlieferten Ritual wählten der Erste und der Zweite Offizier im Wechsel ihre Leute aus. Traditionell unterstand die Backbordwache (die so hieß, weil sie an der Backbordseite des Schiffes schlief) dem Ersten Offizier. Auf Schiffen, die mit wenig Besatzung aus vielen Nationen fuhren, kam dieser Wahl ziemliche Bedeutung zu: Der Offizier mit der besseren Menschenkenntnis fuhr hinterher bestimmt besser.

Ein Anfänger wie ich spielte keine besondere Rolle, und es war Zufall, dass ich der Backbordwache des Ersten Offiziers zugeteilt wurde. In den nächsten Tagen merkte ich, dass man sich erst an den neuen Schlafrhythmus gewöhnen musste. Eine Wache dauerte vier oder sechs Stunden, im ständigen Wechsel. Je stürmischer das Wetter wurde, desto öfter fielen Freiwachen aus, das sollten wir noch früh genug merken.

Ich zog in eine andere Unterkunft um. Die Schiffsjungen und Jungleute schliefen unter dem erhöhten Poopdeck in drei ziemlich kleinen Räumen. Ich bekam eine Koje an der eisernen Bordwand zugewiesen, was – wie ich später feststellte – nicht gerade ein Vorteil war: War es warm, lief Kondenswasser die Schweißnähte herunter, und in der Kälte bildeten sich daran Eiszapfen.

Nach zwei Tagen im Ärmelkanal kamen uns – nur eine halbe Seemeile entfernt – drei Dampfer in einem Mini-Konvoi entgegen. Drei Urlaubsschiffe der nationalsozialistischen Organisation Kraft durch Freude, deren Aufgabe es war, Freizeitaktivitäten im Dritten Reich zu organisieren und gleichzuschalten. An Deck der Schiffe befanden sich eigenartig viele Passagiere.

Wir sahen genauer hin und entdeckten: Das waren keine Touristen, das waren Soldaten in Uniformen. In grauen Uniformen. Als sie die vier Masten der Priwall sahen, wurden es immer mehr. Ein paar tausend Mann, schätzten wir. Es waren Einheiten der Legion Condor auf der Rückkehr aus dem Bürgerkrieg in Spanien.

Auf uns Schiffsjungen machte die Begegnung wenig Eindruck; die kriegerische Rhetorik, die 1939 immer aggressiver wurde, spielte keinerlei Rolle im Bordleben. Wir sprachen nicht über Politik, wir sprachen nicht über Hitler. Wir waren mit dem Regime aufgewachsen, wir kannten nichts anderes. Alle waren in der Hitlerjugend oder im Jungvolk gewesen, jeder kannte die vormilitärische Ausbildung. Unsere Eltern hatten uns nicht davor bewahren können.

Auf der Priwall gab es keine Bord-SA wie auf manch anderem Frachtschiff. Niemand grüßte mit ausgestrecktem Arm. Man rief auch nicht: »Heil Hitler«, man sagte zum Wachwechsel: »Moin«. Nur einer der älteren Jungen las in »Mein Kampf« und ging uns gelegentlich mit »Weisheiten« daraus auf die Nerven. Er galt als komischer Außenseiter und wurde von den anderen gemieden. Für uns waren ganz andere Dinge interessant: Filme wie »Die Neufundlandfischer« oder »F.P.1 antwortet nicht«, mit Hans Albers in der Hauptrolle. Wir lasen die Groschenromane von Tom Shark, dem König der Detektive, oder die Abenteuer des Agenten John Kling. Mädchen waren überhaupt kein Thema, wie aus einem Gefühl heraus, dass es besser wäre, nicht über sie zu reden, weil sie ohnehin zu weit weg waren. Zum Reden und Lesen kamen wir aber ohnehin selten. In der Freizeit schlief man vor Erschöpfung schnell ein.

IM MAST

Wir Schiffsjungen ließen keine Liebe und keine Kinder zurück, also fiel uns der Abschied von zu Hause nicht schwer. Die ersten Tage auf See sind für einen Seemann, der Familie zu Hause weiß, eine Qual. Eine finstere Zeit, in der man sich bisweilen nach dem Sinn des eigenen Tuns fragt. Es gab Schiffe, auf denen begegnete man dem Kapitän nach dem Auslaufen tagelang nicht, weil er sich in seiner Unterkunft verkrochen hatte.

Die Arbeitsroutine während der Wachen hilft, den Schmerz zu lindern. Jeder Tag ähnelt einem Kreislauf, dessen Wiederholungen sich mit der Monotonie des Meeres in einen Zustand verweben, in dem die Zeit kaum eine Rolle spielt. Die Tage und Wochen gehen vorbei. Wer die See liebt, liebt auch genau diese Routine an Bord.

Woran ich mich gewöhnen musste, war das Gefühl, zu keiner Sekunde und zu keinem Moment allein zu sein. In meiner Gruppe, die für den Kreuzmast und den Besammast verantwortlich war, freundete ich mich bald mit einigen Jungs an: mit Bruno Pichner, einem hünenhaften Leichtmatrosen. Mit Cassen Eils, einem frechen Kerl von der Nordseeinsel Norderney. Mit Willy und dem rothaarigen Joachim Lange, der sich vorstellte, als wir oben in den Rahen lagen und ich mit weichen Knien überlegte, wie ich jemals wieder hinunterklettern könnte.

»Gestatten, Roter Gollo«, sagte er und streckte mir mit breitem Grinsen die Hand entgegen. Ich lachte so heftig, dass ich beinahe abgestürzt wäre. Wer zum ersten Mal in den Mast klettert, hat sonst nicht viel zu lachen. Man muss mit der Mischung aus Respekt und Erfurcht fertig werden. 56 Meter hoch waren die Masten der Priwall. Wer zum ersten Mal hinaufsollte, wurde von einem erfahrenen Matrosen begleitet, zur Sicherheit und zur mentalen Unterstützung. Was an einer Stelle am Mast, an der Mars, an der man einen etwa drei Meter breiten Überhang hochklettern musste, auch nicht weiterhalf. Es kostete Selbstüberwindung weiterzusteigen. Ohne Sicherheitsseil.

Von Unfällen wusste jeder Matrose. Auf der Padua, einem Schwesterschiff, brach in einem Sturm die Stenge des Vormastes, auf dem sechs Seeleute in der Takelage standen, um Segel einzuholen. Alle stürzten ins Meer und ertranken. Überhaupt kam es an Bord der Padua beinahe auf jeder Reise zu einem Unglück mit Todesfolge. Immer wieder stürzte jemand vom Mast in die Tiefe. Auf der baugleichen Priwall hingegen geschah selten etwas. Warum manche Schiffe das Unglück anziehen und manche im Glück zu segeln scheinen – dafür gibt es keine Erklärung, nur den Aberglauben.

Ein besonderes Unglücksschiff war die britische Viermastbark Wanderer, der während ihrer Jungfernfahrt im Bristolkanal alle vier Masten brachen, bevor sie in den ersten Hafen einlief. Jede Fahrt forderte Tote oder Verletzte, und kein Matrose ging ohne zwingenden Grund auf die Wanderer. Sie war an einem Freitag aus der Werft gekommen, was als schlechtes Omen galt. Kein Kapitän lief an einem Freitag mit seinem Schiff aus. Der Freitag brachte Unglück.

Priwall