3Stuart Hall

Das verhängnisvolle Dreieck

Rasse, Ethnie, Nation

Herausgegeben von Kobena Mercer
Mit einem Vorwort von Henry Louis Gates, Jr.

Aus dem Englischen von Frank Lachmann

Suhrkamp

5Für Becky und Jess

9Vorwort
Henry Louis Gates, Jr.

Als die Europäer der Alten Welt im fünfzehnten Jahrhundert zum ersten Mal auf die Völker und Kulturen der Neuen Welt stießen, stellten sie sich selbst eine gewichtige Frage, allerdings nicht »Bist du nicht ein Sohn und ein Bruder, eine Tochter und eine Schwester?« […], sondern: »Sind dies echte Menschen? Gehören sie zu derselben Art wie wir? Oder sind sie die Ausgeburt einer anderen Schöpfung?«

Stuart Hall

 

 

Stuart Hall hielt seine Du Bois Lectures im April 1994 in Harvard nicht, um nur das zu bestätigen, was wir eh schon wussten. Es ging ihm auch nicht darum, alten Argumenten neues Leben einzuhauchen oder in den Chor jener Gelehrten einzustimmen, die »Rasse« über Jahrzehnte hinweg wacker als soziales Konstrukt enttarnt haben, als sprachliches Phänomen, das kaum etwas mit Biologie und dafür sehr viel mit Macht zu tun hat.1 Hall war über diese Ansicht bereits hinausgelangt; in einer Welt, die rasant auf die Globalisierung zusteuerte, war 10das, was ihn faszinierte, die Zentralität und Beharrlichkeit von »Rasse« als einer Markierung essentieller biologischer Unterschiede, die fortwirkte, obwohl sich so viele der klügsten Köpfe mindestens von W. ‌E. ‌B. Du Bois bis Kwame Anthony Appiah darum bemüht haben, dies zu widerlegen. Selbst wenn wir wüssten, dass »Rasse« als wissenschaftliches Konzept eine Lüge war, so würde uns, wie Hall bemerkte, der Augenschein doch nicht belügen, und solange Menschen Unterschiede in den Hautfarben, ganz zu schweigen von Haarstrukturen und anderen körperlichen Eigenschaften, sehen und auf sie hindeuten können, würde es schwer sein, sie von vorschnellen Schlüssen darüber abzuhalten, worin die Ursprünge dieser Unterschiede liegen und was sie eigentlich zeigen ‒ angefangen von gruppenspezifischen Differenzen des IQ-Wertes, die vermeintlich in der Genetik begründet liegen, bis hin zur »natürlichen« Eignung zur Produktion von Kultur und der Verwirklichung von Zivilisation, eine Idee, die so alt ist wie die Aufklärung.

Was wir als »Halls Dilemma« bezeichnen können ‒ die Aufgabe, die Menschen davon abzuhalten, »Rasse« auf der Grundlage oberflächlicher, augenfälliger Differenzen als Kategorie biologischer Differenz zu deuten ‒, ist so alt wie einige der frühesten europäischen Begegnungen in der Moderne (die vor fünfhundert Jahren begonnen hat) mit »dem Anderen« in Afrika und der Neuen Welt, wobei Unterschiede der Kultur und des Phänotyps bald mit ökonomischen Wünschen und wirtschaftlicher Ausbeutung verschmolzen sind, um »den Afrikaner« als einen neuen und großteils negativen Signifikanten zu produzieren. Und diese toxische Mischung hat jahrhundertelang in unseren ureigensten menschlichen Instinkt hineingespielt, uns selbst durch einige der 11augenfälligsten, oft »messbaren« Unterschiede wie der Farbe unserer Haut, der Größe unseres Schädels, der Breite unserer Nase oder durch andere Körperteile zu definieren, die allesamt wahllos unter die Kategorie der »Rasse« summiert wurden, die ihrerseits zu verschiedenen Zeiten selbst entweder ein Amalgam von Ethnizität, Religion und Nationalität oder etwas davon Verschiedenes sein konnte.

Durch das, was Hall als lose, aber tödliche »Äquivalenzenkette« bezeichnet (ein Begriff, den er vom argentinischen politischen Philosophen Ernesto Laclau entliehen hat), die zwischen dem verläuft, was die Augen sehen und was der Geist erfassen kann, sind hierarchische Strukturen der einen oder anderen Art errichtet worden, in denen die Mächtigen die Autorität an sich ziehen, das Wissen darüber zu produzieren, was jene willkürlich über andere Menschen verhängten Differenzen bedeuten, und sich dann diesen Differenzen oder Differenzenketten entsprechend verhalten ‒ mit verheerenden Auswirkungen in der Realität.

Zudem beeindruckte es Hall, wie unterdrückte Gruppen im Zuge vermeintlicher Akte der Selbstbefreiung selbst diese Kategorien umkehrten, ohne sie zu verwerfen, und stattdessen einem rassischen oder ethnischen Stolz das Wort redeten, so als ob sie der Meinung gewesen wären, dass, nachdem man die tödlichen Auswirkungen der Essentialisierung überlebt hat, die effizienteste Weise, beispielsweise einen gegen Schwarze oder Braunhäutige gerichteten Rassismus oder Kolonialismus zu bekämpfen, darin bestünde, das Ganze umzukehren, körperliche Unterschiede zu affirmieren und sich selbst zu essentialisieren. Und so wurden die Grenzen zwischen Nationen-in-Nationen gezogen, mit denen im Zentrum 12und jenen an der Peripherie als verstrickt in einen Kampf um die Macht statt um die diskursiven Termini, die diesen Kampf ausdrücken oder widerspiegeln. Anders formuliert, in einer chaotischen Welt der Vermischung und der Migrationen bemerkt Hall, dass die Grenzen von Rasse, Ethnizität und Nationalität ihren je eigenen Charakter auf irgendeine Weise bewahren ‒ eine Entwicklung, die nicht nur an Halls kosmopolitischen Empfindsamkeiten rührte, sondern ihn auch insofern in Sorge versetzte, weil er sich auf der Suche nach einem besseren, gerechteren, verlässlicheren Signifikanten für kulturelle Differenz befand.

Die Dringlichkeit von Halls Vorhaben rührte daher, dass die Welt Mitte der 1990er Jahre rapide zusammenschrumpfte und sich der Jahrhundertwechsel in einer Zeit zunehmenden technologischen Wandels, gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeiten und der Massenmigration abspielte, einhergehend mit einem Anschwellen rassischer, ethnischer, nationaler und religiöser Fundamentalismen. Hoffnungsschimmer lagen für ihn in den schöpferischen Sehnsüchten marginalisierter Gruppen, die neue Ansprüche auf »Identifikationen« und »Positionalitäten« erhoben und aus einer geteilten historischen Erfahrung heraus »Signifikanten einer neuen ethnisierten Moderne« entwarfen, die »nahezu an der vordersten Front einer neuen Ikonographie und der neuen Semiotik stehen, die ›das Moderne‹ selbst neu definierten« (vgl. die zweite Vorlesung) ‒ ein Thema, dem Hall in seinem wegweisenden Essay »Neue Ethnizitäten« nachgegangen ist, der erstmals 1988 als Beitrag zu einer Konferenz am Institute of Contemporary Arts in London präsentiert wurde.

Zugleich stellte er jedoch fest, dass es erheblichen An13lass zu der Sorge gab, dass die Welt an jenen alten, verschlissenen Nahtstellen in dem Augenblick zerreißen könnte, in dem sie gerade begonnen hatte, zusammenzuwachsen, mit starren Kategorien rassischer, ethnischer und nationaler Differenz, die sich mit der Aussicht auf ‒ oder der Bedrohung durch ‒ erhebliche Veränderungsprozesse noch verhärten könnten. Hall, so der Historiker James Vernon, »sprach sich für ein anderes, postkoloniales Verständnis von Multikulturalismus aus«. »Dabei handelte es sich um eines, das den hybriden und mongrelisierten Charakter der Kulturen feierte, die die Sklaverei und der Kolonialismus sowohl hervorgebracht als auch verdrängt haben. Die koloniale Geschichte hat dafür gesorgt, dass es nicht mehr möglich war, spezifische Gemeinschaften oder Traditionen mit definierten und feststehenden Grenzen zu denken.«

Obgleich Stuart Hall ein Realist mit Blick auf die Potenz und die unzweifelhafte Resilienz rassischer, ethnischer und nationaler Konzepte war, kam er, wie ich bereits angemerkt habe, im April 1994 nicht nach Harvard, um Altbekanntes zu wiederholen. Vielmehr erschien er dort, um, wie er es in seiner ersten Vorlesung formuliert, die in der Gesellschaft nach wie vor fortwirkenden Ideen von Rasse, Ethnizität und Nation ‒ also das, was er im Titel der Vorlesungsreihe als »verhängnisvolles Dreieck« bezeichnete ‒ »zu verkomplizieren und ins Wanken zu bringen« und neue Möglichkeiten dafür zu eröffnen, unser Ich des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu definieren. Hall lehrte uns nicht nur, dass diese alten Differenzkategorien dabei versagten, die Unbestimmtheit der menschlichen Existenz, die ungezählten Überschneidungen von Identitäten, Vergangenheiten und Hintergründen zu erfassen, sondern er hat auch deutlich ge14macht, dass diese alten Kategorien dadurch, dass sie vorgeben, so etwas wie scharfe Grenzen zwischen Gruppen zu repräsentieren, Unterdrückungsgeschichten aufwiesen und ein gefährliches Gruppendenken aufrechterhielten, während sie zugleich hierarchische Vorstellungen von kultureller Differenz bestätigten. Es musste folglich ein Neuanfang gemacht werden, und Hall hatte den Schlüssel dazu in der Hand.

Den Rahmen für seine Intervention bildeten die drei W. ‌E. ‌B. Du Bois Lectures, die er im Raum 105 der Emerson Hall auf dem Campus der Universität Harvard hielt. Ich weiß es so genau, weil ich dabei war. Ich war damals im dritten Jahr Direktor des W. ‌E. ‌B. Du Bois Institute for African and African American Research der Harvard University, das die Du Bois Lectures jährlich im Rahmen unseres Auftrags veranstaltet, die Forschung über die Geschichten und Kulturen Afrikas und der afrikanischen Diaspora zu fördern. Ich war sehr erfreut darüber, dass Stuart meine Einladung zum Vortrag annahm, und war, ebenso wie das restliche Publikum, in dem sich auch Kwame Anthony Appiah befand, gefesselt von seiner Vorstellungskraft und seinem Mut dazu, das Motto seines intellektuellen Seelenverwandten Antonio Gramsci tatsächlich zu leben: »Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens«. Genial, wie er war, repräsentierte Hall den klassischen Störenfried, der überlieferten Wahrheiten zugunsten einer offeneren, unendlich veränderlichen Weise des Seins in der Welt aus dem Weg ging ‒ einer Welt, die sich zu jener Zeit, ebenso wie heute, vor unseren Augen wandelte.

Die Mitte der 1990er Jahre war, um einen Hall'schen Ausdruck zu verwenden, ein »konjunktureller« Zeitpunkt, zu dem die Mächte der Globalisierung Vorstel15lungen von rassischer, ethnischer und nationaler Differenz überall in Europa und den Vereinigten Staaten zugleich getilgt und bestärkt haben. In seiner Unzufriedenheit damit, auf den gleichen Schlachtfeldern immer wieder die gleichen Kämpfe auszufechten, hält er uns in seiner dritten Vorlesung dazu an, seinen Vorschlag zu prüfen, dass die Metapher mit dem größten Potential zur Entfaltung der Möglichkeitsenergien, die jene Menschen umgeben, die sich rasch von den Peripherien der Gesellschaft in ihr Zentrum bewegen, die eines historischen Bogens ist, mit dem wir bereits vertraut sind: »Diaspora«. In unserer schönen neuen Welt wäre »Heimatlosigkeit« eigentlich eine passendere Umschreibung für die postmoderne Seinsweise als die, eine Heimat einzuklagen, die es in einem reinen, ursprünglichen Zustand ohnehin niemals gegeben hat. »Halls Skepsis dem Essentialismus gegenüber schafft Raum für die Möglichkeit einer Konversation, die in radikaler Heimatlosigkeit enden könnte«, schreibt Grant Farred 2016 in seiner Einleitung zu einer Hall gewidmeten Sonderausgabe des South Atlantic Quarterly. Als Immigrant, der über Immigranten auf der ganzen Welt schreibt, bestand Halls Bestreben darin, heimatliche Gefühle zu entwickeln, ohne »so wie« die Mehrheitskultur zu werden. »Das in dieser Zurückweisung zum Ausdruck kommende ›wir werden nicht so werden wie ihr‹ ist jene Spannung, die Hall als Denker geprägt hat«, wie Farred erklärt.

Für Hall bezog sich »Diaspora« auf das Gefühl pausenloser Bewegung, die er in der Welt um sich herum erblickte, und war mit der Moderne verquickt. Der Begriff stand außerdem für Zugehörigkeit zu einer Kultur, einer Tradition, einer Überlieferung ‒ einem geschichtlichen Bogen, der uns verband, ohne die Möglichkeit weiterer 16Transformationen oder anderer Beziehungsarten auszuschließen. Mit ihm ging es nicht so sehr um Ursprünge denn um Verläufe. Hall war nicht daran interessiert, die Metapher der Diaspora einfach eins zu eins auf die Menschheit des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu übertragen. Er wollte ihre Geschichte, die gute wie die schlechte, von ihr abschütteln, bevor er sie als neue Bezeichnung für neue Subjektivitätskonstruktionen anbieten wollte, die das neue Zeitalter der Globalisierung erzeugte. »Wenn ich heutzutage jemanden frage, wo er oder sie herkommt, rechne ich mit einer sehr langen Antwort«, erzählt Hall im Dokumentarfilm The Stuart Hall Project, der 2013 entstand. In seinen Du Bois Lectures formulierte er seine Reaktion auf dieses Phänomen und dachte auf kreative Weise darüber nach, wie es so adressiert werden könnte, dass jene gestärkt würden, die in den Kämpfen um Religion, Wissenschaft und Multikulturalismus lange Zeit marginalisiert waren. Und dies tat er im Epizentrum der African and African American Studies an einer der pluralistischsten Universitäten der Welt.

Seinem Titel nach war Hall Professor für Soziologie und Leiter des Fachbereichs Soziologie an der Open University in England (der er seit 1979 angehörte), nachdem er im Herbst 1951 aus seinem Herkunftsland Jamaika nach England gegangen war, um als Rhodes-Stipendiat am Merton College der Universität Oxford Englische Literatur zu »studieren«. Die, die Stuart Hall als Theoretiker studierten, als Helden verehrten und als Lehrer und Freund liebten, kannten ihn als einen der Begründer der Cultural Studies (zusammen mit Richard Hoggart und Raymond Williams), die er im Jahr 1960 als Gründerherausgeber der New Left Review und seit 1964 als Mitglied des Centre for Contemporary Cultural Studies 17an der Universität Birmingham auf den Weg brachte; von Letzterem wurde er 1968 geschäftsführender und 1972 gesamtverantwortlicher Direktor. Zudem wurde er als unverbrüchlicher und unnachgiebiger Kritiker des »Thatcherismus« bekannt.

Margaret Thatcher war von 1975 bis 1990 Vorsitzende der Konservativen Partei Großbritanniens und von 1979 bis 1990 britische Premierministerin. Stuart Hall war einer ihrer standhaftesten und eindringlichsten Kritiker. Seine Analyse der besonderen Spielart der konservativen Politik Thatchers, die als Thatcherismus bekannt ist, und danach die von New Labour und des Neoliberalismus begann während seiner Zeit bei der New Left Review. Sie umfasste Arbeiten, die er und seine Kollegen für das Buch Policing the Crisis (1978) angefertigt haben, und fand dann mit dem zehn Jahre später (1988) veröffentlichten Buch The Hard Road to Renewal: Thatcherism and the Crisis of the Left ihre Fortsetzung. Halls politische Schriften sowie jene über Rasse und Kultur werden oft als parallele Diskurse betrachtet, obwohl sie in Wirklichkeit auf unentwirrbare Weise miteinander verknüpft sind; sie bilden einen Teil derselben, umfassenderen Bemühungen darum, die Welt, in der wir leben, zu verstehen.

Zu dieser Zeit stand Hall weiterhin an der Spitze des Feldes der Cultural Studies, die bei den Afroamerikanisten aufgrund des Zusammenwirkens mit Autograph ABP (früher als Association of Black Photographers bekannt, gegründet 1988) und mit dem Institute of International Visual Arts (Iniva, gegründet 1994) sowie mit tonangebenden Schauspielern und Filmemachern des British Black Arts Movement (wie Isaac Julien, John Akomfrah, Joy Gregory oder Rotomi Fani-Kayode und 18den Kuratoren David A. Bailey, Mark Sealy und später Renée Mussai) seit den späten 1980er und frühen 1990er Jahren auf ein wohlwollendes Echo stießen. Hall saß sowohl Autograph ABP als auch Iniva vor, welche 2007 am Rivington Place in ein gemeinsames, von Sir David Adjaye entworfenes Gebäude einzogen. Im Zentrum des Black Arts Movement stand jedoch Stuart Hall, als Theoretiker, Mentor, Freund und guter Geist, der nicht nur Künstler und Filmemacher, sondern auch andere junge Theoretikerinnen wie Hazel V. Carby, Paul Gilroy und Kobena Mercer inspirierte. Darüber hinaus waren es er und sein Werk, die die Gebiete der kritischen Afroamerikastudien und der schwarzen britischen Cultural Studies miteinander verbanden. So wie Halls Werk dazu beitrug, den Fokus der Cultural Studies so auszuweiten, dass sie auch Rasse und Gender in den Blick nehmen konnten, so hat es auch daran mitgewirkt, dass sich der Fokus der Afroamerikastudien auf die Themen Klasse und kosmopolitische oder internationale Definitionen von Rasse und Ethnizität ausweiten konnte.

Stuart Halls geschriebene Worte waren leidenschaftlich, scharfsinnig, tiefgründig und provokant, seine Sprache lyrisch, klangvoll, innig und manchmal auch rhapsodisch, und er veränderte die Art und Weise, auf die eine ganze Generation von Kritikern und Kommentatorinnen über Fragen von Rasse und kultureller Differenz diskutierte. Um ihm zu folgen, musste man neugierig und geistig beweglich sein, wenn man den Raum betrat, in dem er sich befand. Er wollte, dass wir alles infrage stellten, von seiner Subjektposition (oder seinen -positionen) zu unserer (oder unseren).

Von Stuart Hall gehört habe ich zum ersten Mal von Raymond Williams, und zwar im Rahmen unserer »Su19pervision« (eines Tutoriums) zur Tragödie, die im akademischen Jahr 1973/1974 in Williams' Büro am Jesus College der Universität Cambridge stattfand, wo ich Englische Literatur studierte ‒ oder es zumindest versuchte ‒, nachdem ich in Yale bereits einen Abschluss in Geschichte erworben hatte. Es sollte noch etwa ein Jahrzehnt vergehen, bis ich bemerkte, dass Stuart Hall schwarz war. Sollte Professor Williams Halls jamaikanische Herkunft für wichtig erachtet haben, so war es ihm ebenso wichtig, sie, im Einklang mit seiner marxistischen Politik und Ästhetik, nicht zu erwähnen ‒ möglicherweise erst recht nicht gegenüber einem jungen Afroamerikaner. Ich war einfach baff, als ich später erfuhr, dass Hall schwarz war, und selbst noch heute, gut vierzig Jahre später, finde ich Williams' Entscheidung irgendwie merkwürdig. Sie können mir glauben, ich hätte, als ich mich Mitte der 1970er Jahre in Cambridge durch den Dschungel der Literaturtheorie hindurchkämpfte, einen schwarzen Signifikanten sehr gut gebrauchen können ‒ jemanden, der eine ähnliche Rolle wie Wole Soyinka oder Kwame Anthony Appiah hätte spielen können, die mir in ebenjener Zeit den Weg in die Afrikastudien gewiesen haben. Als ich Stuart Ende der 80er Jahre zum ersten Mal traf, erzählte ich ihm diese Geschichte, um zu erklären, warum ich zu jener Zeit keine Pilgerfahrt von Cambridge nach Birmingham hinauf unternommen hatte. Er schien nicht sonderlich überrascht. Ich glaube, dass Williams, den ich außerordentlich respektierte, dieses Gefühl hatte, dass »es« einfach gar nicht existierte, wenn wir nicht darüber sprachen.

Bei Stuart hieß Lehren dagegen, so viel wie möglich ‒ so viel von unseren Subjektpositionen, wie uns bekannt war ‒ offenzuhalten. Es gab nichts, was nicht zum Ge20genstand von Kritik oder Debatten werden konnte. Angela McRobbie schrieb kürzlich in einem Artikel über Halls Lehre, dass er sich der Idee einer »offenen Pädagogik« verpflichtet fühlte, die Menschen jenseits der Elite einbinden wollte. »All seiner wichtigen theoretischen Bemühungen zum Trotz war Stuart Hall kein Philosoph und sicherlich auch kein Begründer eines philosophischen Paradigmas«, erinnert uns Lawrence Grossberg in seinem Nachruf auf seinen einstigen Mentor. »Er liebte die Theorie, aber in seiner Arbeit ging es nie um sie, sondern immer darum, die Realitäten und Möglichkeiten dessen verstehen und verändern zu können, wie Menschen auf der Welt zusammenleben können.«

In aller Kürze ausgedrückt, bekundete Hall, dass sein Ziel in seinen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gehaltenen Du Bois Lectures darin bestand, Du Bois' kühne Ermahnung vom Anfang jenes Jahrhunderts zu erneuern, nämlich die dazu,

die Frage nach der Ethnizität ‒ in ihrer mittleren Position zwischen Rasse einerseits und Nation andererseits und mit Blick auf jenes angespannte, unaufgeklärte Verhältnis, in dem sie zu beiden steht ‒ so zu verstehen, dass sie ein zentrales Problem darstellt, das alle drei Begriffe radikal erschüttert. Die Frage so zu formulieren lässt uns meiner Meinung nach das Problem des einundzwanzigsten Jahrhunderts vor Augen treten, nämlich das des Lebens mit Differenz, und zwar auf eine Weise, die nicht nur analog zum Problem der ›Farbgrenze‹ (color line) ist, die W. ‌E. ‌B. Du Bois vor über hundert Jahren ausgemacht hat, sondern die auch dessen historisch spezifische Transformation darstellt.

21Da es nicht mehr in der »color line« der Segregation durch die Jim-Crow-Gesetzgebung wurzelt, betraf das Problem nun die Differenz im engen Sinne; bevor er zu einer Lösung kam, wollte uns Hall aber sowohl den Irrtum aufzeigen, den das Festhalten an den alten Kategorien ‒ so eng verflochten mit der Macht, wie sie waren ‒ bedeutete, als auch die Gefahr, mit ihrer Verteidigung dem Fundamentalismus zu huldigen; eine Warnung, die heute bemerkenswert prophetisch klingt.

In seiner Analyse des Problems führte Hall einen Meisterkurs für die Anwendung jeder Differenzkategorie durch und zeigte, wie oberflächliche, augenfällige Differenzen in inferentielle Urteile des Verstandes übersetzt werden, die auch vom talentiertesten Wissenschaftler mit Fakten kaum mehr entkräftet werden konnten. Allerdings hielt ihn dies nicht davon ab, es zu versuchen. Tony Bennett erklärte in einem kürzlich erschienenen Aufsatz, dass Halls Ansicht nach »die Elemente, aus denen jegliche hegemonistische Formation besteht, immer auseinandergebrochen und mit neuen Bedeutungen und politischen Stoßrichtungen versehen werden können, und zwar durch politisches Handeln in ‒ für Stuart ‒ primär der Gestalt einer Reihe ideologisch-diskursiver Kämpfe«. Im Falle von Rasse, Ethnizität und Nationalität war Hall skeptisch, dass irgendeiner dieser Diskurse für künftige Zwecke wiederangeeignet werden könnte. Wenn Differenzen der einen oder anderen Art auch unvermeidbar sind, die Reihe der Metaphern für diese Differenzen ‒ und die gesellschaftlichen und politischen Implikationen und Effekte dieser Metaphern ‒ ist es nicht; auf dem Spiel standen hier nicht nur die Begrifflichkeiten, sondern die Räume, die von solchen Wörtern für neue Subjektivitäten und Werte eröffnet werden.

22Für den Anthropologen David Scott zeichneten sich Halls Werke, darunter auch der bahnbrechende Essay »Neue Ethnizitäten«, durch

die Elemente einer Ethik des Selbst und des Anderen aus, die gerade auf die Grenzbereiche, die Ränder zugeschnitten ist, wo ›Identität‹ ihren sicheren Stand verliert und Ambiguität, Andersheit, Beschränkung, Endlichkeit, das Außen sich dezentrieren und das Märchen von ihrem stabilen Beisichsein unterminieren. Stuart regt an, dass wir den Umstand ernst nehmen, dass das Bild des menschlichen Selbst und der menschlichen Interaktion, das sich aus der einseitigen Bewunderung der Aufklärung für ein souveränes, autonomes Ich ergibt, welches für uns alle das eine Gute festlegt, etwas zutiefst Reduktionistisches und deshalb auch moralisch Dürftiges an sich hat. Unsere Chancen auf eine stärkere Entfaltung unseres Selbst stehen ihm zufolge umso besser, je stärker wir uns selbst aktiv unserer eigenen Verwundbarkeit ‒ unserer eigenen fragilen, nackten Rezeptivität ‒ der Differenz gegenüber öffnen.

Larry Grossberg hat, wie so viele von uns im universitären Leben, »nie zuvor einen Akademiker wie diesen kennengelernt ‒ bescheiden, großzügig und leidenschaftlich, jemanden, der allen Menschen die gleiche Achtung entgegenbrachte und sich anhörte, was sie zu sagen hatten, jemanden, der daran glaubte, dass Ideen gerade aufgrund der Verantwortung, die wir als Intellektuelle gegenüber den Menschen und der Welt tragen, wichtig waren«. Weiter heißt es bei ihm: »Stuart hat uns nicht gelehrt, wie die Fragen lauten, und uns gewiss auch nicht 23mit Antworten versorgt. Er hat uns beigebracht, wie man relational und kontextuell denkt, und folglich, wie man Fragen stellt. Er lehrte uns, wie mit Komplexität und Differenz zu denken und sogar zu leben sei.« Hall bot keine Lösungen an; er zeigte uns einen Ansatz, wie das Leben in einer Welt aus miteinander verflochtenen Leben gelingen könnte.

»Ich bin sehr glücklich darüber, hier sein zu dürfen«, erklärte Hall anlässlich seiner Du Bois Lectures gegenüber dem Harvard Crimson. »Das Du Bois Institute im Herzen Harvards ist eine äußerst bedeutsame politische Einrichtung, und ich bin über die Einladung, hier sprechen zu dürfen, höchst erfreut.« Ich hingegen habe mich noch viel mehr gefreut, so würde ich behaupten. Stuart Hall am Du Bois Institute als Gast zu empfangen war einer der großartigsten Momente meines akademischen Lebens; folglich bin ich außerordentlich glücklich darüber, dass Harvard University Press seine Vorlesungen nun veröffentlicht. Dieses Buch wird sowohl dazu dienen, die Erinnerung an diesen sehr besonderen Moment zu bewahren, in dem, wie man sagen könnte, das Feld der Cultural Studies auf die Afrika- und Afroamerikastudien traf, als auch dazu, eine neue Generation von Wissenschaftlern mit den weitsichtigen Überlegungen vertraut zu machen, die dieser große Denker zur Identität in einer globalisierten Welt angestellt hat. Ich bedauere nur, dass Stuart und seine Frau Catherine die Veröffentlichung dieses Buches nicht gemeinsam mit den Fakultäten der Afrika- und Afroamerikastudien zelebrieren können, da Stuart 2014 mit 82 Jahren verstorben ist, zu früh, um die Drucklegung dieser Vorlesungen noch erleben zu können.

»Überall in Stuarts Werk«, so schreibt Homi Bhabha 24in einem Artikel über Halls Erbe, »lässt sich die Überzeugung erkennen, dass Kultur und Politik Praktiken ›ohne Gewähr‹ sind.« Diese Überzeugung betraf gewiss auch die Begriffe von Rasse, Ethnizität und Nationalität, so beständig sie auch im menschlichen Denken und Handeln fortleben mochten. Und so sehr Bhabha mit Blick auf diese fehlende Gewähr auch richtiglag, ich kann den Leserinnen und Lesern dieses Bandes dennoch eines fest zusichern: Im Verlauf Ihrer Lektüre der folgenden Seiten werden Sie von Halls Genialität ebenso »problematisiert und destabilisiert« werden wie wir, als wir vor mittlerweile etlichen Jahren in der Emerson Hall auf dem Harvard Yard saßen und gebannt jedem seiner Worte lauschten ‒ destabilisiert, elektrisiert und verwandelt.