Katja Kullmann

Echtleben

Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben

Suhrkamp

Inhalt

VORWORT

AUF EINE KIPPE MIT DEM KAPITALISMUS
»Wir sind doch alle Achtundsechziger.«

GOLDENE PONYS IM NEBEL
»Und was denkst du so?«

ANLEGER SIND IMMER DIE ANDEREN
»Geld ist ein Arschloch.«

SISYPHOS IM DOWNHILL-MODUS
»Kann man sich eigentlich zu Tode flexibilisieren?

DER TRAUM VON DER SCHÖNEREN ARBEIT
»Nichts ist anstrengender, als ganz man selbst zu sein.«

AIRBAG-ELTERN UND AURA-FOTOGRAFIE
»Der alte Herr Sattler gibt gern.«

STADT, LAND, FRUST
»Deutschland hat die dichtesten Fenster der Welt.«

SHOPPING-DEMOKRATIE
»Bei Hertie haben sie jetzt großes Latinum.«

KEIN BIER FÜR DIE BOURGEOISIE!
»Jetzt am Mikrofon: der linksliberale, feministische, sozialstaatsfixierte Multikulti-Wischiwaschi-Mainstream.«

WIR NEHMEN DIE AMTSGESCHÄFTE AUF
»Sie müssen sich wirklich nicht schämen.«

BUCHSTABIEREN SIE »AUTHENTIZITÄT«
»Ich weiß, es ist spießig, aber …«

IRGENDEIN RECALL IST IMMER
»Geile Preise, geile Leute.«

ERFOLGSMENSCH
»Willkommen in der Drehtür zum Glück.«

PROTO-YUPPPIE HINTER GLAS
»Eine muss den Job ja machen.«

DER BESTE MONTAG MEINES LEBENS
»Glückwunsch, du bist safe

DANK

MATERIALIEN

VORWORT

Ich bin eine von den Leuten, die ständig Fotos machen. Meine Digitalkamera hat einmal 89,90 Euro gekostet, hat ein schwarzes Gehäuse, ein paar Funktionen, die ich nicht verstehe, und einen Pixel-Grad, den ich immer wieder vergesse, denn er ist mir völlig gleichgültig. Es ist ein lächerlicher Apparat, aber er genügt mir. Hauptsache, er funktioniert. Egal wohin ich mich bewege, ob ich meine Kamera in eine Tasche meines Allwetter-Parkas stopfe oder in meine zierliche Vintage-Bag mit den nachtblauen Pailletten, in meine aktentaschenähnliche Aktentasche oder in meinen baumwollenen Einkaufsbeutel mit der Aufschrift Berufsschullehrer gegen Atomkraft: Sie ist immer dabei.

Einige Kratzer und Dellen hat sie über die Jahre davongetragen, weil sie mir unterwegs ein paar Mal aus der Hand gerutscht und auf den Asphalt irgendeiner Großstadt geknallt ist. Wann immer ich glaube, einen Fetzen Wirklichkeit vor Augen zu haben, der mir etwas sagt, drücke ich ab – damit ich die Unübersichtlichkeit der Dinge wieder einmal sehen kann. Oft fotografiere ich mich selbst oder bitte Freunde, den Auslöser zu betätigen. Zwei meiner Lieblingsaufnahmen sind auf diese Art entstanden, in Berlin, in ein und derselben Nacht: Ich lehne mich an einen elfenbeinfarbenen Jaguar, der irgendwo in Mitte zufällig unter einer Straßenlaterne geparkt ist, fast wirkt es so, als gehörte mir der prächtige Wagen und als stiege ich gleich ein. Das zweite Foto ist eine Stunde später aufgenommen worden, in der gekachelten Vorhalle eines Edeka-Markts. Ich stehe vor einem Mitternachts-Imbiss, halte eine türkische Pizza für um die Einsfünfzig in den Händen und beiße, mit übertrieben gezückten Augenbrauen, hinein.

Wir machen es alle so. Liebevoll, akribisch, manchmal narzisstisch, in jedem Fall detailversessen archivieren wir die Welt, wie sie sich uns darstellt (oder wie wir sie uns vorstellen – oder wie wir uns uns in ihr vorstellen), drehen wackelige Videos im YouTube-Format, betätigen uns als Dokumentare unseres eigenen Lebens und packen die Bilder in ein Facebook-Album oder einen Blog. Wir versuchen, uns selbst und den anderen von der Wirklichkeit zu erzählen. Damit wir sie so vielleicht irgendwie zu fassen kriegen.

Gelegentlich entsteht ein Foto, das wie Kunst aussieht. Man kann abgerissene Plakatwände, verwehte Plastiktüten, Burger-Reste im Rinnstein und Sonderangebotsschilder – Alles muss raus! – ganz leicht so fotografieren, dass sie perfekte Motive für einen modernen Bildband ergäben, der in begrenzter Auflage in einer Art Edition erscheinen könnte, mit einem klein gedruckten, schwer verständlichen Einführungs-Essay auf Englisch. Traumhafte Trümmer wäre ein Titel, der uns neugierig macht. Wir stellen uns vor ein Bulgari-Schaufenster und ziehen Grimassen. Wir knipsen die Warenauslage eines Ein-Euro-Shops und verstärken die Farben mit der High-Contrast-Funktion. Wir setzen uns auf verwitterte Kunststoff-Elefanten in heruntergekommenen Freizeitparks, klettern stillgelegte Rolltreppen hinauf und hinab, spazieren an Backsteingebäuden mit zerschlagenen Fensterscheiben entlang und schneiden mit. Manche hängen sich Geweihe an die Wand oder stellen sich ausgestopfte Tierkadaver ins Regal und nehmen sie bei unterschiedlichem Tageslicht auf. Wir halten die Pressspan-Einrichtungen sanierungsreifer Autobahnraststätten fest und fotografieren brach liegende Industrieanlagen im Sonnenuntergang. Wir sind fasziniert von Ruinen aller Art. Schwarz-weiß ist unsere Lieblingsfarbe. Oder wir wählen die grobkörnige Retro-Ästhetik der Hipstamatic-Funktion. Sentimental ist der Name, den wir unserem hochbegabten Kind gern gäben, gleich ob es schon geboren ist oder nie zur Welt kommen wird, weil die Zeit irgendwie nie die richtige dafür ist. Wir werden alle älter und leben in einem nicht enden wollenden Jim-Jarmusch-Film.

Eines der berühmtesten Bilder der Gegenwart ist gleich in Dutzenden Varianten aufgenommen worden, in London, Madrid, Kopenhagen, Paris, Wien, Zürich, Krakau, Antwerpen, Köln, Leipzig und Berlin. Es zeigt ein hell erleuchtetes Schaufensterladen-Büro, spätnachts: Man sieht zwei bis drei halbwegs jung wirkende Menschen hinter Glas, wie sie dünn und erschöpft vor ihren chronisch aufgeweckten Computern sitzen.

Das Bild erzählt von gutem Willen, gepaart mit Ratlosigkeit.

Von Formschönheit bei gleichzeitiger Verzweiflung.

Von Müdigkeit, die sich den Schlaf nicht gönnt.

Es ist eines der eindrücklichsten Zeugnisse von »neu-erwachsenem« Leben. Um ebenjenes Leben geht es in diesem Buch.

Als »neu-erwachsenes Leben« sind hier all jene biografischen Entwürfe begriffen, die einmal anders gedacht waren als das, was die Vorgänger gelebt haben. »Neue Erwachsene« sind diejenigen, die vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren angetreten sind, endlich ein paar Dinge neu zu gestalten und ein weltoffenes, selbstbestimmtes, freundliches, emanzipiertes Leben zu führen – eine Existenz, die weitgehend frei ist von Hierarchien und in der Geld, Geschlecht und Geburtsurkunden, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle spielen.

Jene Leute dürften heute, grob gerechnet, zwischen 30 und 45 Jahre alt sein. Lang befreit vom wirtschaftswunderdeutschen Spießer-Muff, entwachsen auch der Theorie-Wut der Achtundsechziger und der Honecker-Agonie, nahmen sie die Einladung zum spielerisch-ambitionierten Umgang mit den »vielfältigen Möglichkeiten« der späten neunziger und frühen nuller Jahre begeistert an. Sie stellten einst die erste große Praktikantenschwemme und die Vorhut des forcierten Quereinsteigertums. Die Selbstverwirklichung war für sie ein ehrfürchtig bis lustvoll, ernsthaft bis verwegen verfolgtes Ideal. Manche tauften ihre Abenteuerlust von Anfang an etwas übermütig »Unternehmergeist«.

Inzwischen sind die Verheißungen des »vielfältigen Lebens« für viele allerdings in ein barsches Funktionierenmüssen gemündet, und den meisten entfährt nur mehr ein böses Keckern, wenn sie das Wort Selbstverwirklichung irgendwo hören oder lesen. Manche haben die ersten Not-Runden beim Amt gedreht, als »Aufstocker« oder Interims-Hartzer, mit Doktortitel, Fachabitur oder respektabler Ausbildung im Rücken. Ihre Ideen und Ideale gibt es längst im Sonderangebot zu kaufen, als T-Shirt-Aufdruck und Magazin-Booklet, als Ratgeber-DVD und in Seifenform. Oft sind sie es selbst, die ihr Innerstes durch eine Marktforschung jagen, verbraucherfreundlich aufbereiten und in den immerwährenden Warenkreislauf einspeisen, in irgendeiner Nische der sogenannten Kreativwirtschaft, und im Grunde hassen sie sich dafür. Den eigenen Praktikanten bezahlen sie nichts mehr, mal wollen, öfter können sie nicht. Was einst als Lebenskunst gedacht war, ist zur Überlebenskunst verkommen. Die eigene Biografie: ein knallhartes Geschäft. Der eigene Standort: anhaltend unbestimmt. Die Mitte des Lebens: von einem Break-even weit entfernt. Gut ein Jahrzehnt der verschärften Flexibilisierung liegt hinter den neuen Erwachsenen, zehn, fünfzehn Jahre unberechenbares Leben – ein Heranreifen, das auf ungeahnte, oft ungewollte und schier unentrinnbare Art vom Faktor »Arbeit« bestimmt ist. Angestellte, die ahnen, dass ihr Job nächsten Monat weg sein könnte oder die selbst Kündigungen aussprechen müssen, Ausgegliederte, die verzweifelt wieder Anschluss suchen, Minijobber wie Umschüler, insbesondere die Selbstständigen haben verstanden: Nicht der Beruf ist das Leben, sondern das Leben ist jetzt der Beruf. Irgendwie war das früher aber einmal ganz anders gedacht.

Konstante Selbsterfindung, -optimierung und -überarbeitung ist kein freiwilliges Vergnügen für Wagemutige mehr, sondern jetzt Staatsbürger(innen)pflicht – und das Attribut kreativ bedeutet oft nichts anderes als »marktgängig« und »verwertbar«. Zehntausende einst hoffnungsvoll gestartete Freelancer sind über die nuller Jahre zu traurigen Tagelöhnern geworden. Ob freie Grafiker, Sprachlehrer, PR-Assistenten, Miet-Pflegekräfte, Veranstaltungstechniker, Programmierer, Fotografen oder Leih-Lohnbuchhalter: Sie unterbieten sich gegenseitig bei den Honoraren und im Verschenken ihrer Ideen, Rechte und Patente. Und diejenigen, die weiterhin festangestellt arbeiten, sehen sich oft gezwungen, den sogenannten Kostendruck an Gleichaltrige weiterzugeben. Während sie vielleicht um ihren eigenen Job bangen, müssen sie Honorarkürzungen, Umstruktierungsmaßnahmen, Kostenpoker verwalten – und werden nicht selten für die Illoyalität gegenüber den freien Zuarbeitern belohnt. Viele sind mehrfach von der einen auf die andere Seite gewechselt und wieder zurück. Befristet, verliehen, überraschend mal wieder gebucht: Der Alltag vollzieht sich konstant auf Zuruf und wird, in seiner oft unfreiwilligen Beliebigkeit, für viele zäh und zäher.

Oft wissen die Eltern der neuen Erwachsen, die heute Sechzig- oder Siebzigjährigen, nicht, was sie von der Lebensrealität der Nachfahren halten sollen. Viele bieten, wenn sie es können, materielle Unterstützung an, andere sehen ihre Söhne und Töchter grau und grauer werden, nicht nur auf dem Kopf, auch im Gesicht, und sagen: »Kind, du musst doch einmal zur Ruhe kommen, irgendwann. Wenigstens ein bisschen.«

So wie der Soziologe und Essayist Siegfried Kracauer (1889–1966) vor rund achtzig Jahren Die Angestellten als neue soziale Gruppe markiert und untersucht hat, so ist es heute an der Zeit, deren Nachfolger im Auge zu behalten – die Post-Angestellten – diejenigen, die sich einst bereitwillig auf die Perspektive eingelassen haben, keine »sichere Stelle auf Lebenszeit« mehr zu haben – und denen es nun mitunter vorkommt, als hätten sie sich über den Tisch ziehen lassen. Mal geht es rein, dann wieder raus, mal hoch, mal runter, und von »Freiwilligkeit« sprechen dabei nur noch die zufällig Erfolgreichen. Mitunter müssen unfreiwillige Hasardeure sich von selbst ernannten »Neuen Bürgerlichen« und anderen Hass-Predigern dann auch mit über Vierzig noch den Vorwurf der »Entscheidungsunwilligkeit« und der »Warteschleifenexistenz« anhören, ganz so, als seien sie ungezogene, späte Jugendliche, die einfach nicht wissen, was sie wollen.

Noch immer erscheinen ihnen die scharfkantigen neuen Verhältnisse nicht wie ihr Echtleben, noch immer wissen sie nicht, mit welcher Haltung sie den Ungerechtigkeiten, Ungereimtheiten und Unverschämtheiten der Gegenwart begegnen sollen. Massenstreik? Montagsdemo? Molotow? Mieterinitiative? Magengeschwür? Eine weitere Facebook-Gruppe gründen?

Das hohe Niveau, von dem aus viele neue Erwachsene ins Prekariat trudeln oder schon getrudelt sind, irritiert sie noch immer. Sich selbst als Verlierer zu betrachten, passt nicht in ihr Selbstbild. Längst haben die kreativen, oft akademisch ausgebildeten und weltgewandten Prekären viel mehr gemein mit den auf Stunde bezahlten Supermarktregaleinräumern, den per Zeitarbeit verliehenen Security-Bären und den Sieben-Tage-die-Woche-Wurstbudenverkäufern, über die sie mitfühlende Reportagen schreiben, aufrüttelnde Sozialstudien erstellen oder deprimierende Reality-Dokus drehen, als mit den Agenturchefs, Etatbewilligern oder Ressortleitern, von denen sie sich Aufträge erhoffen und ein bisschen Honorar. Doch ist das adäquate Foto für diesen Erkenntnisschritt noch nicht geschossen – es ist noch kein wasserfester Name dafür gefunden.

»Mittlerweile haben wir ein Millionenheer von Enthusiasten, (…) die nicht wissen, welcher gesellschaftlichen Gruppe sie angehören, für die es keine parteipolitischen Programme gibt. Diese Gruppe wächst an, und man hofft, dass sie selbst nicht erkennt, wie groß sie ist. Dass sie sich selbst weiter ausbeutet unter dem Schirm von Events, Kongressen, Partys und so weiter«, sagt Chris Dercon, der frühere Direktor des Hauses der Kunst in München und heutige Chef der Londoner Tate Gallery of Modern Art. »Heer der freien Dienstleister« nennt er die wachsende Gruppe Enttäuschter, Erschöpfter, Versprengter.

Von der Utopie einer pluralisierten, durchmischten, offenen Gesellschaft (Karl Popper) ist unterdessen nicht viel übrig geblieben. Statusangst (Alain de Botton) verdirbt die Laune, schürt das Misstrauen. Dutzende Spezial-Milieus sind über die nuller Jahre entstanden, die sich geflissentlich gegeneinander abgrenzen. Gleichaltrige geifern über andere Gleichaltrige, garstiger als einst auf dem Schulhof. Immer neue Vokabeln werden erfunden, um die unterschiedlichen, filigran gehäkelten Mikrowelten zu benennen: Bionade-Bourgeoisie, digitale Bohème, Vegetarier-Elite, intellektuelles Proletariat, Macchiato-Spießer, Pseudo-Hipster, neue Kunstsammler, Proto-Yuppies, Autonome 2.0, Neo-Kons – und der Hartz-IV-Empfänger lümmelt stets im Singular im Hintergrund herum, als anonymer Trinker, der überall ganz gut besichtigt werden kann, auf RTL und im Stern, an Bushaltestellen und in Kik-Kleidermärkten. Wobei: Der Hartz-IV-Empfänger ist man nun mitunter ja selbst.

Die horizontale Weltsicht – »Nichts ist unmöglich, jeder, wie er will« – weicht einer vertikalen Perspektive. Zwangsläufig treten unter neoliberalen Vorzeichen die Faktoren »Reichtum« und »Armut« wieder deutlicher hervor – und in immer kürzeren Abständen auch die Frage, ob man sich selbst gerade dem oberen oder dem unteren Ende der Gesellschaft nähert – oder ob man sich tatsächlich noch dazwischen befindet, wo auch immer das sein mag. Für was oder gegen wen könnte man sein – für oder gegen sich selbst? Und was wäre dann mit den anderen? Oder ist man längst der oder die andere? War man es einmal?

Soll man eine Senkung des Spitzensteuersatzes und eine Erhöhung des Elterngelds gutheißen (solange man einen Job hat, wäre es schlüssig) – oder für die Streichung aller Subventionen und die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens eintreten (wenn gerade mal wieder das Gehartze droht, läge es nah)? Wie viele Kompromisse kann man eingehen, um den eigenen Status zu halten – ab wann muss man »Nein, danke« sagen – und: Was passiert dann? Kann man sich die allenthalben beschworene Authentizität überhaupt leisten?

Wie viele andere bin auch ich in den vergangenen zehn Jahren mal von der einen in die ganz, ganz andere Ecke geschleudert, dann wieder zurück, nach oben, unten und seitwärts. Oft gab es Momente, in denen ich nicht mehr wusste, wer ich – im sozialen Sinne – eigentlich bin. Die Begriffe »links« und »rechts«, »Reichtum« und »Armut«, »freiheitlich« und »konservativ« sind mir unterwegs öfters entglitten, und immer, wenn ich sie wieder in die Finger bekam, haben sie etwas anders bedeutet als vorher.

Doch habe ich unterwegs nicht nur vieles verloren, darunter zahlreiche vermeintliche Gewissheiten – sondern vielleicht auch etwas gefunden. Es ist etwas Zartes, Diskretes, und inzwischen glaube ich doch, dass ich es mit vielen Gleichaltrigen teile: einen durchaus egozentrischen Eigensinn – der dennoch einmal sehr viel mehr wollte, und auch heute noch will, als bloßes Ego-Trouble-Shooting.

Einen einzigartigen Erfahrungsschatz haben die neuen Erwachsenen über ihre jetzt rund zwanzig Jahre währende Volljährigkeit gesammelt. Sie sind die Pioniere und Laborkaninchen einer aggressiven neuen »Freiheit«, die den Namen sehr oft nicht verdient. Für etwas müssen diese Erfahrungen gut sein.

Weder »Werte«-Appelle noch Psychotricks zur Schmerzlinderung bietet dieses Buch. Kein Coaching-Effekt soll von ihm ausgehen und kein künstliches »Wir« soll kreiert werden, wo vielleicht gerade keines ist. Das Buch weiß es nicht besser. Es erzählt eine weitere Geschichte aus der Gegenwart – als Beigabe zum Bewusstseinspool, zum großen Gespräch, wie auch immer man das nennen mag.

Willkommen im Echtleben.

Katja Kullmann, Hamburg, im Frühjahr 2011

Ich will nicht verallgemeinern,

ich spreche von mir und vielleicht

noch hundert Leuten, die ich kannte

(es gab aber viel mehr).

Pedro Almodóvar im Vorwort zu seinem
Realitäts-Roman Patty Diphusa, 1991

AUF EINE KIPPE
MIT DEM KAPITALISMUS

»Wir sind doch alle Achtundsechziger.«

Es war eine klirrend kalte Winternacht am Ausgang der sogenannten nuller Jahre. Tiefschwarz hatte der Himmel sich zugezogen, kein Mondstrahl erreichte die Erde. Stattdessen klickerten Eiskörner herab. Ich fror bis auf die Knochen. Vielleicht war es auch umgekehrt, vielleicht ging die Kälte von meinem Mark aus und kroch mir von innen nach außen. Wo auch immer das Zittern seinen Ursprung hatte, ganz ohne Zweifel sah ich gut dabei aus, in meinem eng anliegenden schwarzen Etuikleid mit den bourgeoisen weißen Pünktchen, darüber mein taillierter Nadelstreifenblazer mit dem granatapfelroten Innenfutter, unten die sexistisch hohen Absätze meiner Sonntagspumps aus glattem, schwarzem Ziegenbabyleder. Es war der am geschäftstüchtigsten daherkommende Frauen-Look, den meine Garderobe hergab. Allerdings waren die Kleidungsstücke zu leicht, zu flatterhaft und dünn, um damit im Freien herumzustehen, bei solch einem Wetter. Meine Unterlippe spannte von den Wunden, die ich über die vergangenen Wochen hineingebissen hatte. Alle fünfzehn bis zwanzig Minuten kontrollierte ich, ob der Lippenstift aus dem mittleren Preissegment noch hielt, wozu ich einen Taschenklappspiegel zur Hand nahm, der zwei Euro in einem Charlottenburger Chinashop gekostet hatte. Und ich sah: Weder klebte die Farbe an meinen Zähnen, noch lagen die wunden Stellen bloß. Ich konnte mich auf den Longlast-Effekt verlassen. Das war selbstverständlich mehr, als ich von den meisten anderen Dingen des Lebens sagen konnte.

So verbrachte ich auch jene zugigen Stunden wie die meisten Tage und Nächte der Saison: mit einem diskreten Schmerz (nicht nur auf den Lippen), dem Zittern, einem Rattern (oben, in meinem Twenty-four-seven-Gehirn) und einem ungeduldigen Blick, der mal hier-, mal dorthin flog. Ich tat, was ich am besten konnte, ich wahrte Fassung und Form. Instinktiv folgte ich dem, was die strenge Frau Tschuchaslow mir beigebracht hatte, meine Ballettlehrerin von 1974 bis 1981, damals die einzige echte Russin in unserer hessischen Kleinstadt: Bauch rein, Brust raus, Schultern gerade, Spannung in Schenkel und Arme legen, das Kinn recken, die Nase hoch tragen, aber nicht so hoch, dass es Nackenschmerzen gibt, bloß hoch genug, um der Welt mit angemessener Herablassung zu begegnen. Stolz vorzeigen, egal, wie erbärmlich es läuft, ganz gleich, ob deine Füße in den Spitzentrippelschühchen bluten, ob dir schwindelig wird, ein Wolfshund sich gerade in deine linke Wade verbeißt oder deine Elementarteilchen kurz vor der Explosion stehen vor lauter Hass. Was immer geschieht: Haltung bewahren. Nur so kommst du durch.

Deutschland hieß der Ort, genauer gesagt: Stuttgart. Ich stand vor dem Eingang eines Vier-Sterne-Hotels. Ein Fernsehsender hatte zu einer Talkrunde zum Thema »1968 und die Folgen« geladen, die Aufzeichnung war gelaufen, und zum Dank an die Gäste hatte der Sender alle zum späten Dinner gebeten. Alle, das waren zum Beispiel der Sexualaufklärer der Nation, Oswalt Kolle (†), und Krista Sager von den Grünen. Auch Ex-Industrieboss Hans-Olaf Henkel war dabei. Und eben ich, die nervöse Gesellschaftswissenschaftlerin aus einem halbwegs jüngeren Jahrgang. Die Einladung hatte mich überrascht, und sofort hatte ich zugesagt, es gab nichts dabei zu gewinnen, aber noch weniger zu verlieren. Eine Stunde lang war dann vor- und zurückgeplaudert worden, und am Ende war wieder einmal bewiesen: Die 68er waren Schuld. Mit ihrem vollbehaarten Gruppensex hatten sie die bürgerlichen Traditionen in Grund und Boden kopuliert, jetzt hatten wir den Salat: Keiner kannte sich mehr aus. Irony war auch over. Wir brauchten neue Werte. Wäre ich zu Hause beim Zappen hineingeraten, hätte ich sogleich weggeschaltet und mir lieber eine RTL-II-Reportage über vergnügungswahnsinnige Erdgasmilliardäre angesehen.

Der schlimmste Talkgast war ich selbst gewesen. Es war klar, warum man mich eingeladen hatte, ich sollte etwas über »meine Generation« sagen. »Meine Generation«, das waren die Töchter und Söhne der Revolution. Nun schlingerten sie auf die statistische Mitte ihres Lebens zu, und ich sollte berichten, was sie dabei so dachten und fühlten, wie die Stimmung so war bei den Ego-Taktikern und Ich-Lingen, den Pragmatikern und Weicheiern, den First Movern und Job-Nomaden, bei den traurigen Strebern, den in die Jahre gekommenen Konsumkids, der grau werdenden Heiapopeia-Jugend, der durchflexibilisierten Gestaltungsmacht von nebenan. Vor der Sendung hatte ich gedacht, ich könnte das. Einfach ein paar bewährte Tricks aus dem Arsenal der Aufmerksamkeitsökonomie abfackeln: von Sinnsuche und Sehnsucht sprechen, eine neue Ernsthaftigkeit beschwören und vor allem ganz oft »Wir« sagen. Ein Klacks. Erst als ich mit Antishine-Zeugs abgepudert auf dem Talksofa saß und die Kameras längst liefen, fiel mir auf: Ich kannte all jene Leute gar nicht. Die mehr oder minder Gleichaltrigen. Ich hatte keine Ahnung, was die dachten, fühlten oder wollten. Ich wusste ja nicht einmal, wer ich selbst gerade war. Aufgefallen ist es, glaube ich, niemandem.

Nun stand ich also, gut eine Stunde danach, im Graupel vor dem Hotel-Restaurant, statt drinnen einen dieser herrlich wärmenden baden-württembergischen Obstbrände zu kosten. Es war mein freier Wille, und ich war nicht allein.

Das Schicksal hatte mir beim Dinner Hans-Olaf Henkel als Tischnachbarn zugespielt, und schnell hatten wir festgestellt, was ihn, die Führungskraft, und mich, die Vertreterin des Bodenpersonals, verbindet: eine ausgeprägte Nikotinsucht. »Kommen Sie mal mit raus, vor die Tür?«, hatte zwischen Amuse-Gueule und Vorspeise der smarte Lobbyist gefragt und seine Zähne gezeigt. »Wir können unsere Unterhaltung doch bei einer Zigarette fortführen?« Schlimm unter Entzug leidend, hatte ich »Ja, sehr gern« geantwortet. Wir entschuldigten uns für einen Augenblick von der Nichtraucherrunde. Mit Schwung, vermutlich heißt es »galant«, hielt Henkel mir die Tür auf, und als er sah, dass ich schauderte, bot er mir sofort sein Jackett an. Dankend lehnte ich ab und fragte nach Feuer, worauf er eine beeindruckende Flamme aus dem Handgelenk schüttelte.

Er ging auf die 70 zu, ich auf die 40, taufrisch waren wir also beide nicht mehr. Doch noch immer hielt Henkel sich wacker auf den Laufstegen der Erregungsindustrie. Als Verfasser euphorischer Schriften wie Die Ethik des Erfolgs und Die Macht der Freiheit wurde er häufig ins Fernsehen geladen, um Worte der Aufmunterung und des Zupackens zu streuen. Ein Routinier des »Kopf hoch!«-Totalitarismus. Ich hingegen war kurz davor, nur noch im Bett zu liegen und zu schlafen. Die SPD, die ich einst im Wahlkampf unterstützt hatte, war vorläufig in die Bedeutungslosigkeit abgetaucht, während ich mich zur Staatskundin gemorpht hatte. Es war die gerechte Strafe für meinen unbedachten Flirt mit der Politik: Seit einigen Wochen ritt ich tatsächlich auf Hartz IV, dem Hilfsgeld, das Gerhard Schröder einst eingeführt hatte. Niemandem hatte ich von dieser Einkommensquelle erzählt. Sie passte zu keinem der um die Hundert Entwürfe, die ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr von meiner Person gezeichnet hatte. Vermutlich war ich verzweifelt, verwendete aber viel Energie darauf, es mir selbst möglichst wenig anzumerken.

Der Klassenfeind und ich, wir verstanden uns ziemlich gut, wie wir da gemeinschaftlich unsere Gesundheit sabotierten, in gegenseitigem Einvernehmen. Zügellos, egoistisch, ohne jede Rücksicht, ohne jeden Gedanken an die Solidarität und die Sozialsysteme, genossen wir unser privatisiertes Lebensrisiko. Gut über achtzig Millionen unschuldige, arglose, mehrheitlich leistungsbereite Einwohner der tapferen Bundesrepublik Deutschland würden eines Tages als Beitragszahler und mies entlohntes Pflegepersonal für unsere Herzrhythmusstörungen und Raucherlungen aufkommen müssen. Es kümmerte uns einen ausgehusteten Schleimklumpen. Wir zahlten schließlich Tabaksteuer. Herzlosen, kalten Hedonisten-Rauch lachten wir in die sowieso schon zufrierende Atmosphäre.

Wenig später wurden drinnen Jakobsmuscheln, Edelrind und Exotikfisch serviert, finanziert von GEZ-Gebühren, auf öffentlich-rechtliche Cassa. Die Speisen waren auf altmodische Art »modern« dekoriert und schmeckten hervorragend. Das Fleisch: ganz vorzüglich zart, von vornehmem Altrosa. Der Wein: herrlich golden und nass. Der Alte und ich, wir bekleckerten die Damastservietten auf unseren Schößen mit Trüffeljus, jeder die eigene Serviette auf dem jeweils eigenen Schoß, und führten unsere Konversation fort. Inzwischen ging es um das Für und Wider des Modells »Elite-Universitäten«. Henkel vertrat das Für, ich das Wider. Die Premiumgetränke hatten mich etwas aufgelockert, und ich erzählte von meiner Herkunft, dass ich die erste und bislang einzige im Familienkreis sei, die je studiert habe. Und dass ich dies ganz wesentlich dem barrierefreien, öffentlichen Uni-System der alten Republik zu verdanken habe. Dass ich dankbar sei, wem auch immer, meine Jugend in einer Zeit verbracht zu haben, in der der familiäre Stallgeruch keine allzu große Bedeutung zu haben schien, in einer Ära, in der ich als Nichtakademikerkind aus dem einfachen Kaufleutemilieu zur Vollakademikerin werden konnte, ohne jegliche Schwellenangst, ohne Verwandtschaft zu irgendeiner Stiftung, zu keiner Loge, keiner Palastetage, keinem Geheimorden, ohne jede Elitenehrfurcht, ohne irgendein Casting, ohne die geringste Spur von Vitamin B in meinem Blut. Ich lobte, und es überraschte mich selbst, mit welcher Verve ich das tat, ich pries meine Heimat: die mittlere Mittelgebirgs-Mittelschicht.

Henkel wiederholte, obwohl es an dieser Stelle gar nicht passte, was er zuvor so ähnlich schon in die Kameras gesagt hatte: Auf seine Art sei er ja auch ein Achtundsechziger, da würde er oft verkannt. Wilde Tage habe er einst auf der Hamburger Reeperbahn erlebt, es gebe da noch Bilder mit Astrid Kirchherr, der damaligen Stern-Fotografin und Beatles-Freundin. »Wir waren uns einmal sehr nah, haben dann aber leider den Kontakt verloren«, sagte Henkel. »Schade«, antwortete ich, obwohl ich genauso gut »Lügner!« hätte rufen können oder »Selbst wenn!« Womöglich hätte er sich dann von mir weggedreht. Doch das wollte ich nicht. Ich wollte mich unbedingt weiter mit Hans-Olaf Henkel unterhalten. Ich wollte Krista Sager gegenübersitzen und Oswalt Kolle zuzwinkern. Ich wollte ein öffentlich-rechtlich geladener Fernsehgast sein an diesem Abend, ich wollte mich beruhigen und außerdem das Dessert nicht gefährden, ein federleichtes Mousse-Ensemble von sieben verschiedenen Importfrüchten.

Bald standen wir erneut draußen, er sog gieriger an seinem Zigarillo als ich an meiner Zigarette, dafür rauchte ich gleich zwei hintereinander. Beide fanden wir es unverschämt kalt, beide sprachen wir uns für die sofortige Wiedereinführung klimakillender Heizpilze aus und stimmten außerdem darin überein, dass es einem Wirt selbst überlassen sein sollte, ob er eine Raucher- oder eine Nichtraucherkneipe führte, immerhin lebten wir in einem freien Land und in einem liberalen Zeitalter. Schließlich erklärte mein mir zugelaufener Kapitalanlegerfreund, was an der Freiheit so sexy sei und warum Leistung sich wieder lohnen müsse. Er riss ein paar Kapitalisten-Kalauer: Wir alle trügen Verantwortung, jeder zuerst für sich selbst. Warum auch nicht? Wenn jeder für sich selber sorgte, ginge es doch allen gut! Die Kalauer trafen mich aus verständlichen Gründen an einem wunden Punkt. Es war der Moment, in dem ich aus dem Gespräch ausstieg, wenigstens innerlich. Wie gesagt: Ich wahrte die Form. Henkel redete weiter, und ich rechnete im Stillen noch einmal nach, ob ich es mit den für den Januar verbliebenen 210 Euro tatsächlich bis in den Februar schaffen könnte. Mit der rechten Pumps-Spitze kratzte ich im Kies herum, zeichnete das Illuminaten-Auge der Dollarnote nach oder etwas in der Art. Von Weitem, von oben, von wo aus auch immer sah ich uns da stehen, im Halbdunkel einer schwäbischen Winternacht, vor einem blank polierten First-Class-Portal. So wie wir schmauchten, rauchten sonst nur noch Totalverlierer. Der Oldschool-Kapitalist und ich, das ironische Proletariat neuen Stils, wir lungerten da herum wie zwei echte Problemfälle, wie ein abgeschriebenes Schwarzfahrerpaar an einer demolierten Bushaltestelle.

GOLDENE PONYS
IM NEBEL

»Und was denkst du so?«

Vermutlich gilt es für alle Epochen: dass sie wahnsinnig sind und anstrengend, verwirrend und empörend, jede auf ihre Art. Gegenwärtig spricht man von der »postindustriellen Ära«, vom »Informationszeitalter« oder vom »späten Spätkapitalismus«. Manche feiern noch immer »das Ende der Ideologien«, einige heißen anhaltend feurig »die neue Kreativwirtschaft« willkommen. Wieder andere sehen Anzeichen für »die Rückkehr der Geschichte«. Es gibt welche, die sehnen eine neue »Revolution« herbei, und manche, die garantiert immer irgendwo einen neurotischen »Aufschwung« finden. Besonders fantasievolle Menschen sparen angestrengt aufs Auswandern. Aber wohin?

Kalendarisch sind die nuller Jahre vorbei. Faktisch dauern sie an. Es sind Tage der voreiligen Entschlüsse, Stunden des trotzigen Stümperns, Minuten erhellt von flüchtigem Bling-Bling. Jede Woche eine neue Kette von Vorläufigkeiten, jeder Monat eine weitere Mischkalkulation. Arbeit, Lügen, Laptops, Liebe und sogar Geld: Alles, wirklich alles gibt es woanders stets noch billiger. Und vielleicht wird man eines Tages über die ersten zehn, zwanzig Jahre des dritten Jahrtausends sagen: Die Ära hatte etwas von einem hysterisch gemusterten Messehallenteppich. Alle fanden ihn geschmacklos, niemand hatte ihn sich so ausgesucht. Doch führte vorläufig kein Weg daran vorbei. Der Teppich lud die Menschen auf, elektrisierte ihr Haar und teilte Stromstöße aus, jedenfalls an diejenigen, die sich in Fake-Lederschuhen zu Schleuderpreisen bewegten, weil sie sich vollisolierte Echtledersohlen aus Original-Italien nicht leisten konnten, und das waren die meisten. Wollte man von Halle A nach Halle B gelangen, musste man da drüber.

Wenn man etwa zum Standputzen abkommandiert war, für einen Bruttostundenlohn von 5,20 Euro, einen Wassereimer auf Rädern vor sich herschiebend und in einen Kunstfaserkittel gekleidet, in eine Dienstleisteruniform der unteren Ränge, in die links oben, ungefähr in Höhe des menschlichen Herzens, das Logo der zuständigen Leiharbeitsfirma eingestickt ist.

Oder wenn man freiberuflich auf Sneakers-Sohlen durch die Messegänge schlich, mit einer geräumigen Unisex-Umhängetasche über dem Brustkorb, um hie und da ein brandneues Fantastic-Magic-Produkt zu stehlen oder die eigene Visitenkarte wie zufällig liegenzulassen.

Selbst wenn man zu den Wenigen zählte, die doch noch einen Fünf-vor-Zwölf-Deal zu unterzeichnen hatten, um eine für Minuten tröstende Win-Win-Situation herzustellen.

Und auch wenn man komplett vergessen hatte, was man eigentlich verloren hatte auf dieser oder jener Leistungsschau, bei der Cebit, der ITB, der Fachpack oder der Art Cologne, bei der Euroblech, den Mineralientagen München, der Venus, der CallCenterWorld, beim internationalen Baumaschinenkongress Bauma, bei Hand & Nails, den Deutschen Gründer- und Unternehmertagen oder bei Du und Deine Welt; ja, wenn man bloß irritiert den Ausgang suchte: So oder so war der Boden eine Katastrophe. Und er lag stets schon da, wohin auch immer man im Augenblick treten wollte.

Alle warteten auf eine Antwort. Unklar war allein, wie die Frage lautete und wem sie zu stellen war.

Eine der Verwirrten bin ich. Mein 40. Geburtstag liegt hinter mir, und ich muss sagen: Fortgeschrittenes Erwachsensein hatte ich mir anders vorgestellt. Eindeutiger, kräftiger. Fest verdübelte Einbauschränke und akkurat beschnittene Gartenhecken waren meine Sache nie. Aber eine gewisse innere Sicherheit, die hatte ich durchaus erwartet. Klare Standpunkte zu vertreten, eine verlässliche Unbestechlichkeit zu pflegen und nicht ständig missverstanden zu werden: All dies zählte einmal zu meiner Idee von den besten Jahren, früher, als ich um die 20 war, ein selbstbewusstes Indie-Pop-Mädchen mit Geschmack und kritischer Gesinnung. Erwachsenheit verband ich erstens mit dem Prinzip Jungbleiben sowie zweitens mit den Faktoren Würde und Weitsicht.

Tatsächlich stolpere ich nun aufgescheucht und kurzatmig durch die Blüte meines Lebens, komme mir häufig albern dabei vor und kenne kaum jemanden, dem es wesentlich anders ergeht. Öfters frage ich mich: Gehe ich noch aufrecht? Oder schleime ich mich durch meine Zickzack-Existenz wie eine grenzdebile Nacktschnecke auf Speed? Immer auf der Suche nach Chancen, von einer schläfrigen Streberinnenhaftigkeit getrieben, lauwarm »kreativ-biografisch«?

Geboren bin ich in einer Zeit, in der die Ideale und Utopien ins Kraut schossen. Sie haben mit Bäumen gesprochen, damals, und Sprengsätze gezündet. Sie haben sich tatsächlich angelegt mit den »Verhältnissen«, haben die Freiheit in die Hand genommen, irgendwie. Viele nagelneue Ideen haben sie in die Welt gesetzt, von denen einige bis heute überlebt haben. Mitunter haben sie die Dinge auch an die Wand gefahren. Alles haben sie sehr ernst genommen, auch das Privatleben. Sie haben es zum Politikum erklärt. Dennoch scheinen sie sich einigermaßen amüsiert zu haben. Uns Mädchen haben sie beigebracht, dass wir genauso viel können und dürfen wie die Jungs, und den Jungs, dass sie nicht mehr bis ins Gastritis-Stadium funktionieren müssen.

Nun, da ich überreif bin für eigene Kinder, finde ich mich in einer ziemlich fantasievollen Jasager-Umgebung wieder. Die meisten tun jetzt doch wieder alles dafür, zu funktionieren. Doch sieht man es ihnen auf den ersten Blick nicht an. Leute meines Alters und Schlags wissen ganz genau, wie man Folgsamkeit als Hipstertum tarnt. Wie man »originell« aussehen kann, während man an der eigenen Fadheit doch beinahe erstickt. Wie man anhaltend »jung« wirkt, obwohl einem schon lange nichts Überraschendes mehr durch den Sinn gegangen ist. Auch heute führen wir Freiheit im Mund, beinahe wie damals, Sixtyeight; wenn das Licht aber gedämpft ist und die Atmosphäre intim, erzählen wir uns überwiegend von Unfreiwilligkeiten. Oft sage ich selber in verschiedenen Situationen »Ja«, obwohl ich ein »Nein« fühle und denke. Nicht immer kann ich mir das »Nein« leisten – glaube ich. Manchmal schmiege ich mich ans »Vielleicht«, den kleinen Bruder des »Ja«. Wenn ich »Ja« sage, obwohl ich »Nein« meine, schiebe ich es auf meine erhöhte Existenzangst. Und ich versuche, mich mit dem Gedanken zu beruhigen: »Alles halb so wild.« Oder: »Das versendet sich.« Oder: »Ich bin ja nicht persönlich verantwortlich für die Verhältnisse, ich muss schließlich auch sehen, wo ich bleibe.« Wie so viele andere bin ich auf dem Weg, exakt zu der Art Erwachsener zu werden, die ich nie sein wollte.

Pragmatismus ist das Zauberwort. Viele benutzen es wie ein Bußgebet. »Man muss die Dinge pragmatisch sehen«, sagen sie, wenn es eng wird, also ständig, rund um die Uhr, immer wieder. »Schwierige Umstände erfordern pragmatische Lösungen.« Wenn die Formel Pragmatismus fällt, blickt man sich von Erwachsenem zu Erwachsenem in die Augen und weiß: Es ist eine Lüge. Der Pragmatismus ist eine ideelle Bankrotterklärung. Konsens besteht darin, nicht auf diesem Faktum herumzureiten. Das Leben, die Politik, die Liebe, die Arbeit programmatisch pragmatisch anzugehen bedeutet: Man hat keinen blassen Schimmer, worum es eigentlich geht. Man hat auch das Suchen und Sich-Kümmern aufgegeben. Man überspielt eine verheerende Inhaltsleere mit hektischem Flügelschlagen, von Quartal zu Quartal, und dekoriert das Vakuum mit gelegentlichen Erfolgsmeldungen und Urlaubsfotos. Das Durchkommen ist Zweck und Ziel. Man sollte es möglichst unversehrt und gut aussehend hinkriegen. Nischen finden. Oft arbeiten die Gehirne ganz normaler Leute, zum Beispiel meines, wie eine Marketingagentur. »Uncool ist das neue Cool«: Manchmal möchte auch ich glauben, ein solcher Slogan bilde schon eine Haltung ab. Es wäre so viel leichter, wenn es so wäre. Jeder Zweite in meinem Alter wünscht sich Helmut Schmidt als Großvater, den alten, kantigen, störrischen Mann. Wenn er nicht gestorben wäre, würden manche auch Franz-Josef Strauß adoptieren. Im Hass auf die Politiker-Gattung »Westerwelle« spiegelt sich der Hass auf die eigene Glitschigkeit. Nie hatte ich zum Beispiel damit gerechnet, dass Geld einmal eine solche Rolle spielen würde, in meinereiner Leben. Oft habe ich den Eindruck, die anderen sind genauso verblüfft.

Zwangskurzsichtig gestaltet sich der Lauf der Dinge, und seit Kurzem (also viel zu spät) trage auch ich eine dieser schwarz gerahmten Nerd-Brillen mit den etwas zu groß geratenen Gläsern (es gab keine anderen mehr). Man sagt übrigens nicht mehr Nerd, sondern Geek. Einige Mühe gebe ich mir, mich als Mensch der neuen Zeit zu bewegen, und bin froh, wenn es momentweise gelingt, wenn da zum Beispiel eine nachweisliche Kommunikation ist in meinem Leben. Ein Facebook-Konto, ein paar Hundert Blog-Besucher in der Woche und einige Suchmaschineneinträge: Wenn ich mich selbst googele, geht es mir für ein paar Minuten besser. Dann weiß ich: Ich bin. Auch sonst ist mein Leben dünn und ständig in Gefahr aufzufliegen. Ich atme auf, wenn meine Finanzierung für die kommenden drei bis sechs Monate steht, wenn man mich daraufhin weder für einen Yuppie, noch für einen Junkie hält, wenn man dem Obst in meiner Küche nicht ansieht, dass es sich um unverantwortliche Massenfrüchte aus Monstergewächshäusern handelt, und wenn ich nach einer Wahl nicht gefragt werde, wo ich mein Kreuzchen gesetzt habe, denn ich müsste weit ausholen, um es zu erklären. Noch umständlicher würde es, wenn ich begründen müsste, warum ich überhaupt wählen gehe, worin mein sonstiger Beitrag zum Gemeinwohl besteht und wie es kommt, dass ich den Kapitalismus mittlerweile durchaus verachte, obwohl ich weiterhin mein Geld in ihm verdiene und ausgebe. Zwar habe auch ich schon von brennenden Banken und heulenden Superreichen geträumt, doch klammere ich mich ansonsten an alle Versatzstücke von Bürgerlichkeit, die mir zur Verfügung stehen – Bildung und Benehmen, Codes und Charme, Distinktion und Distanz –, ungefähr so wie ein Beach Bunny vielleicht seine Plastikbrüste streichelt, wenn es nach Selbstvergewisserung hungert, es hat ja nichts anderes als seine dick aufgeblasenen Show-Elemente.

Eine exzellente Schauspielerin bin ich über die Jahre geworden, man kann mich für fast alles casten. Freitags preisgekrönten Riesling trinken bei einem Get Together potenter »Medienmacher«, dabei immer wieder Lipgloss nachlegen, um von meinen schludrigen Fingernägeln abzulenken, mit denen ich aber prima Papierflugzeuglein aus Visitenkarten knispeln kann, dabei aufgeweckt über die Wachstumschancen des Internetjournalismus plaudern, um vielleicht einen Schreibauftrag zu ergattern, oder, was immerhin schon fast halb so gut ist wie ein Job, einen neuen Kontakt. Samstags eine von Hausbesetzern kredenzte Folienkartoffel zum Solipreis von 4,80 Euro von einem Flohmarkt-Lagerfeuerrost klauben, mir schmerzlich, aber authentisch die Zunge daran verbrennen, an einem Flöhe-Stand einen Packen moldawischer Keller-Schallplatten mit Überraschungsmusik aus den sechziger Jahren kaufen, mich unwidersprochen mit »Tussi« anreden lassen, weil ich’s nicht kleiner habe als in Form eines Zwanzigeuroscheins, dabei insgesamt Street Credibility üben und sehr klar wahrnehmen, dass man mir hier niemals ganz trauen wird. Schließlich sonntagnachmittags vor einem Museumsportal einen schönen, großen, gelockten Mann küssen, einen ungeheuer belesenen, kunstinteressierten Menschen mit Philosophietitel und Osteuropaerfahrung, von dem ich sehr gern sehr viel halten würde und der augenzwinkernd erzählt, dass er augenzwinkernd mehrere Teenie-Porn-Services im Internet abonniert hat, zu popkulturellen Forschungszwecken, worauf ich dergestalt reagiere, dass ich ihm und mir eindringlich versichere, dass das mit sogenannter Lie-hie-be nun wirklich nichts zu tun habe und dass ich das schon verstünde: die Doppelbödigkeit heutzutage, die Ironie nach der Ironie, die Bilderflut, gegen die man sich nicht wehren kann. All diese Charaden sind technisch überhaupt kein Problem für jemanden wie mich. Ungefähr 57 verschiedene Kostüme (plus Accessoires!) hält mein Kleiderschrank parat, für alle nur erdenklichen Gelegenheiten und sozialen Situationen.

Selbstverständlich habe ich Freunde. Weder bin ich depressiv noch gefährlich. Ich bin mit anderen Erwachsenen zusammen, von denen viele vieles viel richtiger machen als ich. Sie lassen sich trainieren, als wären sie knubbelige, goldene Ponys, aus denen eines Tages doch noch etwas werden könnte. Sie buchen alle möglichen Dienstleistungen, Augenbrauenzupfing, Rhetorikkurse, Chinese lessons, Typberatung, Hostessenbesuche, Horoskopanalysen, Hot-Stone-Massagen. Sie strengen sich wirklich mächtig an. Ständig bestrafen sie sich für irgendetwas. Erst haben sie die Körperbehaarung zum Feind erklärt (»Brasilian Waxing, jetzt auch für Männer ein Muss!«), dann die Windows-PCs (»Welcome to the Apple Community!«), schließlich den Latte-Macchiato-Trinker (»Pseudo-Hipster-Schickimicki-Poser-Loser«), seit Kurzem ist die Bratwurst dran (»Vegetarismus ist nur die Vorstufe zu Veganismus ist nur die Vorstufe zum Weltfrieden ist nur ein anderes Wort für Erlösung«). Wenn sie richtig unglücklich sind und dringend einen Namen brauchen für alles, lassen sie sich ein »Syndrom« anhängen und geben sich Mühe, dir auch gleich eins einzureden. Überall Balancing-Fragen, Öko-at-home-Probleme und neue Anstandsregeln. Und wenn du nicht einverstanden bist mit diesem oder jenem, lächeln sie milde und sagen dir, du seist »modernisierungsfeindlich«, und dass du vielleicht mal ein Coaching buchen solltest, um dich »locker« zu machen, um dir »helfen« zu lassen, um wieder einmal eine »Orientierung« zu finden. Wohnen sie in Berlin, empfehlen sie Ritalin. In jedem Fall meinen sie es gut, sagen sie – »du brauchst keine Angst zu haben« –, und spät nachts, wenn du gerade dabei bist, dich in den Schlaf zu zwingen, ganz kurz bevor es dir gerade wieder einmal gelingt, simsen sie dir die Nummer ihres Therapeuten oder Yogalehrers mit einem flatulenten Brummton auf dein völlig überholtes Handy.

Das ist meine Welt.

Ich finde sie kindisch, und sie findet mich kindisch.

Das Allerkindischste ist: Qua Ausbildung habe ich das Zeug zur Gewinnerin. Ein Glückspilz bin ich, ein nicht untalentiertes Mehrzweckschräubchen. Jemand, der vieles checkt und nichts weiß, ein beweglicher Durchschnitts-Psycho, der an seiner eigenen Fadenscheinigkeit leidet. Dennoch gebe ich mich meist optimistisch. Ich wüsste vorläufig nicht, was ich sonst tun sollte. Zuversicht ist Pflicht, alles andere ist sozialer Selbstmord. Ich will aber noch nicht sterben. So lächle ich mich durch die Jahreszeiten.

Meine vielseitigen Gold-Pony-Freunde. Wie gern ich sie habe. Gut um die Hundert Kumpels, Bekannte, Kollegen gibt es, strahlende Aufsteiger und tragische Strauchler, kein einziger Filmstar ist darunter, allerdings ein Fahrlehrer, zwei Tierschützer und eine Modedesignerin, zudem einige junge Eltern sowie drei, vier Dauer- oder Teilzeit-Hartzer. Schulabbrecher und Doktorinnen sind dabei, zwei echte und zwei Minigolfer, des Weiteren drei, vier Menschen, die sich Künstler nennen, und natürlich der obligatorische Taxifahrer. Immerhin ungefähr zwei Dutzend Leute kenne ich, die einen richtigen, echten, festen White-Collar-Job haben, zwei, drei bekleiden gar eine Führungsposition. Darüber hinaus unterhalte ich Verbindungen zu hauptberuflichen Ebay