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Inhalt

Mein geliebter Held Simon

Krümel

Die Sache mit dem Rücken

Chemoritter

Heimkehr

Die kleinen Dinge

Das Erwachen

Kunibert, du kannst uns mal

Cancer is an Asshole

Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Nimm das, Krabbe!

Tag X

Die Frage der Fragen

Kuniberts Erwachen

Plan B

Wo ist das beigefarbene Sofa, wenn man es braucht?

Kunibert übernimmt die Macht

Sonnenuntergang

Der Wunsch nach Alltag

Wünsche

Planänderung

Versuch erst gar nicht, es richtig zu machen

Kuniberts Kreuzzug

Der erste große Hochzeitstag

Simons Sieg über Kunibert

Die großen Flügel

Luftballons für Simon

Das Geheimversteck

Mein geliebter Held Simon,

Du bist einer der großartigsten Menschen, den ich jemals kennenlernen durfte. Du bist der weltbeste Papa, den sich die Kinder hätten wünschen können. Danke, dass ich zehn Jahre mit Dir verbringen durfte.

In den letzten sechs Jahren hast Du gekämpft wie ein Löwe, Du hast nie aufgegeben. Du hast uns gezeigt, zu was ein Mensch in der Lage sein kann, selbst wenn die Situation eigentlich aussichtslos ist.

Am 6. Juli 2018 um 0.02 Uhr hast du gesiegt, über Kunibert und Deine ständigen Schmerzen. Es war Dein Tag, es war Dein Befreiungsschlag. Ich liebe Dich, mein Held.

Du hast Dir immer gewünscht, dass Deine Geschichte in einem Buch festgehalten werden wird. Nicht weil Du Ruhm und Ehre wolltest, sondern um zu zeigen, dass ein Leben auch mit einer unheilbaren, schweren Krebserkrankung weitergehen kann, dass ein Leben mit Krebs so viel mehr beinhalten kann als Kotzeimer, Glatze und Trübsal.

Ich versuche nun, Deinen Wunsch zu erfüllen. Ich möchte, dass Du nicht vergessen wirst, denn mit Deiner Geschichte hast Du mindestens sechs Menschen die Chance auf ein gesünderes, schönes und vor allem langes Leben geben können. Mit Deiner Geschichte hast Du Aufmerksamkeit erregt, die so wichtig ist. Du hast die DKMS (ehemals Deutsche Knochenmarkspenderdatei) unterstützt, obwohl es für Dich schon zu spät gewesen ist.

Du warst ein Held, Du bist ein Held und Du wirst immer ein Held sein.

Ich hoffe, dass Du Deinen Frieden gefunden hast. Wir vermissen Dich, mein Schatz, wir wissen aber auch, dass es Dir nun endlich besser geht. Wir schicken Dir ganz viele Luftballons und Himmelspost nach oben, versprochen. Deine Urne, Deine Erinnerungskapsel liegt im Friedwald, unter einer mächtigen Buche. Es ist ein magischer Ort, unsere Kinder vermuten, dass es dort vielleicht sogar Einhörner gibt. Falls eines Tages eines dieser Wesen an Deinem Baum vorbeilaufen sollte, dann grüß es von uns.

Wir lieben Dich. Rock den Himmel, mein Held.

Deine Emma, Dein Leonard, Deine Ines

Krümel

Es ist abends, irgendwas nach 21 Uhr. Emma ist endlich eingeschlafen, wer hätte gedacht, dass ein sechs Monate altes Baby solch starke Bauchschmerzen haben kann? Ich zumindest nicht.

Es ist Oktober, der Kalender zeigt das Jahr 2008. Meine Tochter und ich wohnen in einer kleinen Altbauwohnung, nahe dem Zentrum von Berlin. Wir wohnen allein, da Emmas Papa und ich schon zu Beginn der Schwangerschaft feststellten, dass unsere Vorstellungen vom Leben zu weit auseinanderklaffen. Ich bin 24 Jahre alt und beschwere mich bei guten Freunden anscheinend zu häufig darüber, dass mein Zug nun abgefahren sei. Ich jammere, dass es fast unmöglich zu sein scheine, »den einzig Wahren«, den »Mann fürs Leben« zu finden. Irgendwann können sie es nicht mehr hören und melden mich auf einer Single-Plattform im Internet an. Ich belächele das und nehme es nicht ernst. Das alles ist mir zu neumodisch, und es treiben sich mit Sicherheit ausschließlich merkwürdige Menschen dort rum.

An diesem Abend bekomme ich das dritte Mal eine E-Mail von einem Mann, der ähnlich verzweifelt sein muss wie ich. Er ist auf derselben Plattform angemeldet und nennt sich Smallcrumb. Ich frage mich, welcher Mann, der eine Frau sucht, sich tatsächlich und voller Ernst »Krümel» nennt. In seinem Profil habe ich gelesen, dass er später einmal keine Kinder möchte. Ich schaue zu Emma, die eingekuschelt in ihrem Babybett liegt und an ihrem Schnuffeltuch nuckelt. Krümels Lebensplan sieht also andere Dinge vor als meiner. Ich ignoriere seine Nachricht – wie schon die beiden davor.

Am nächsten Tag schreibt mir der Mann mit dem seltsamen Namen erneut. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich sehe mir sein Profil noch mal genauer an. Er hat verschiedene Fotos hochgeladen, durch die ich mich hindurchklicke. An einem bleibe ich hängen, und obwohl ich es mir nicht eingestehen will – das Bild ist wirklich nett, sehr nett. Ich gucke es immer wieder an. Krümel trägt eine blaue Jacke, einen Ohrring und hat verwuschelte Haare. In der Hand eine riesige Kaffeetasse und im Gesicht ein Lächeln, ein wahnsinnig schönes Lächeln, das Seinesgleichen sucht.

Ich antworte ihm und erzähle ihm gleich, dass ich eine wundervolle Tochter habe, die anscheinend Brokkoli nicht verträgt und nun Bauchweh hat. Ich klicke auf »Senden« und rechne nicht mit einer Antwort. Krümel schreibt trotzdem recht schnell zurück und wünscht gute Besserung. Er benutzt die üblichen Floskeln, fragt, wie es mir geht, und meint, dass er sich freue, dass ich mich zurückgemeldet hätte. In den nächsten Tagen schreiben wir hin und her, um uns am Ende sogar zu verabreden. Ich kann’s nicht fassen!

Wir treffen uns an einem Sonntagnachmittag. Eine gute Freundin passt derweil auf Emma auf. Eigentlich wollen wir in den Park gehen, das Wetter hat allerdings andere Pläne. Es ist grau, es regnet und kalt ist es sowieso.

Ich stehe an unserem Treffpunkt und warte. Zwanzig Minuten später warte ich immer noch. Weitere zwanzig Minuten ebenfalls. Ich habe keine Ahnung, was mich dazu veranlasst, so lange auf einen Mann zu warten, den ich gar nicht kenne.

Irgendwann schreibt mir Krümel, der eigentlich Simon heißt, dass er sich etwas verspäten werde (ach was!), die Straßen seien voll. Zum Glück bin ich überzeugte S-Bahnnutzerin. Dann sehe ich ihn. Meine Befürchtung, Simon eventuell nicht zu erkennen, erübrigt sich. Er kommt lächelnd auf mich zu, gibt mir seine Hand und sagt »Hallo«. Die Haare sind genauso strubbelig wie auf seinem Foto, die Regentropfen rollen über sein Gesicht, und sein Lächeln ist genau jenes, das mich auf seinem Bild so fasziniert hat. So warm und so schön. Seine Zähne sind weiß, er trägt eine graue Hose und Sneaker, die er anscheinend sehr liebt – sie sind abgetragen und verschrammt und spiegeln wider, dass er lebt. Sehr sympathisch.

Wir gehen in ein Café. Simon fragt nach Emma, erzählt von seinen Hobbys – Motorradfahren, Superhelden, Star Wars, Lesen und – ja, wirklich! – Shoppen. Ich mache einen Witz darüber, weil ich shoppen nicht leiden kann. Es wird nicht still, wir reden über die verschiedensten Dinge. Es ist fast so, als würden wir uns bereits seit Ewigkeiten kennen.

Als der Regen vor dem Fenster nachlässt und es nur noch nieselt, gehen wir doch noch in den Park, an eine Stelle, an der zwei riesige Schaukeln stehen. Ich will unbedingt schaukeln, Simon nicht. Er stellt sich daneben, breitbeinig und mit verschränkten Armen. Er hat in diesem Moment etwas von einem Bodyguard, der darauf aufpasst, dass ich nicht von der nassen Schaukel rutsche, und der mich auffängt, falls doch. Jedes Mal, wenn ich etwas höher schaukele, zuckt er. Er guckt mich ununterbrochen an und lächelt immerzu dieses Lächeln, das ich so toll finde.

Der Regen wird wieder stärker, aber ich möchte diesen Moment nicht verlassen. Simon anscheinend auch nicht. Ich schaukele und er lächelt tapfer weiter. Erst als wir nass bis auf die Haut sind, gehen wir in ein weiteres Café. Triefend und zitternd vor Kälte tropfe ich den Boden voll. Simon gibt mir seine blaue Jacke, obwohl sie genauso nass ist wie der Rest. Macht nichts.

Als zwei dampfende Tassen vor uns stehen, frage ich ihn, warum er keine Kinder haben will. Simon wirft mir einen langen Blick zu, bevor er sagt: »Ich fühle mich nicht bereit dafür, die Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen.«

Wow, das ist ehrlich!

»Du weißt, dass zu Hause meine Tochter auf mich wartet? Emma? Das Kind, das keinen Brokkoli verträgt.«

Er nickt.

»Warum hast du mir trotzdem geschrieben?«

Simon zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung«, meint er. »Irgendwas in mir sagte, dass ich es tun sollte.«

Es ist ein tolles Date, dennoch denke ich auf dem Nachhauseweg, dass ich ihn nicht wiedersehen will. Ein Mann, der keine Verantwortung übernehmen möchte und sich keine Kinder vorstellen kann, kollidiert zu sehr mit meinem Leben. Trotzdem telefonieren wir jeden Tag, um uns schon eine Woche später erneut zu treffen. Ich mag die ungezwungene Stimmung zwischen uns. An eine Beziehung denke ich nicht, Simon ebenso wenig.

Irgendwann treffen wir uns im Kino. Während des Films wandert seine Hand immer näher zu meiner, bis sie sich berühren. Obwohl ich es eigentlich vermeiden will, kriege ich eine Gänsehaut. Vom Film bekomme ich nicht mehr viel mit, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, mir zu sagen, dass der Mann, der sich Krümel nennt, nicht derjenige sein kann, den ich suche.

Später wollen wir tanzen gehen. Beneidenswerterweise sehe ich jünger aus, als mein Personalausweis nahelegt. Um in einen Club zu kommen, muss ich mich regelmäßig ausweisen. Allerdings liegt mein Ausweis zu Hause, und Simon denkt, dass das nur eine Ausrede sei, um das Date zu beenden. Bevor er enttäuscht von dannen ziehen kann, sende ich einen Hilferuf an eine Freundin, die einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Entweder hat sie Mitleid oder Angst, dass mein Jammern sonst bald wieder losgeht; ich weiß es nicht genau. Zumindest treffen wir uns auf der Hälfte des Weges zwischen meiner Wohnung und dem Club und sie schwenkt schon von Weitem meinen Perso durch die Luft.

»Danke, du bist die Beste!«

Sie winkt ab und grinst. »Los, seht zu, dass ihr endlich in den Club kommt!«

Das machen wir! Simon scheint die Die Ärzte zu mögen und tanzt so gar nicht wie ein Smallcrumb beim Song Monsterparty. Ich muss mir eingestehen, dass ich nicht mithalten kann.

Wir tanzen die ganze Nacht, wenngleich ich genau weiß, dass ich es am nächsten Tag bereuen werde. Emma ist es nämlich egal, wann ich ins Bett gegangen bin; wenn sie wach ist, ist sie wach. Aber das ist in diesem Moment nebensächlich. Und dann passiert, was passieren muss: Zack … Wir küssen uns. Natürlich nicht nur einmal.

Seine Lippen sind so weich, wie sie auf dem Foto aussehen. Grandios, ich habe angefangen, einen Mann anzuhimmeln, der eigentlich so gar nicht in mein Leben passt.

Am frühen Morgen bin ich zu Hause und löse meinen armen Babysitter ab. Eine Stunde später wacht Emma auf. Geschlafen habe ich nicht. Ich erzähle meiner Tochter von Simon und dass ich keine Ahnung habe, warum er sich Krümel nennt. Ich erzähle ihr, dass er ein toller Kerl ist, der sich ehrenamtlich beim DRK engagiert. Er hilft anderen Menschen, das ist etwas, das nicht selbstverständlich ist. Emma gluckst mich an, als habe sie verstanden, was ich zu ihr sage.

Simon und ich treffen uns weiterhin. Irgendwann schläft Emma bei ihrem Papa, und ich habe über Nacht frei, das erste Mal. Ich verabrede mich mit Simon, wir wollen bei ihm zu Hause etwas kochen. Zuvor stehe ich elend lang vor meinem Kleiderschrank und kann mich für nichts entscheiden. Ich möchte gut aussehen, ohne dass es so aussieht, als hätte ich beabsichtigt, gut auszusehen.

Als ich Stunden später endlich bei ihm klingele, öffnet Simon mir die Tür. Ich trete in eine Wohnung ein, die nach Waschmittel riecht. Alles ist aufgeräumt, jede Menge Aktenordner und Bücher stehen in den Regalen. An der apfelgrünen Küchenwand kleben Wandtattoos – sehr kitschige, schwarze Blumenranken. Simon trägt Hausschuhe.

Ich bin da eher der chaotische Mensch. Bücher besitze ich auch, Aktenordner nicht. Die Wand in meiner Küche ist weiß mit Kürbisbreiflecken über dem Herd. An meiner Wand hängt ein Poster von Che Guevara. Noch vor einem Jahr wohnte ich in einer Studenten-WG, die am Wochenende manchmal mehr lebte als die Bewohner. Mein Bein zieren bunte Bilder, ich studierte Politik, um danach zu beschließen, dass ich doch lieber Erzieherin werden will.

Simon dagegen scheint sehr strukturiert, karrierebewusst und gut organisiert. Eines aber haben wir gemeinsam: Seine Ohren und meine Lippe sind gepierct. Immerhin.

Wir kochen Spaghetti bolognese. Danach gucken wir uns eine DVD an, der Rest ist Geschichte. Wir treffen uns weiterhin. Im Dezember fragt mich Simon, ob er Emma kennenlernen darf. Einen Tag später steht er völlig verzweifelt im Spielzeugladen und lässt sich über eine Stunde lang beraten, was einem acht Monate alten Mädchen gefallen könnte.

Emma hat an diesem Tag wieder Bauchweh, ist quengelig und nicht besonders gut gelaunt. Grandiose Voraussetzung für das erste Treffen mit Simon.

Als es klingelt, halte ich das kleine Mädchen auf dem Arm. Simon betritt die Wohnung und lächelt. Wir gehen ins Wohnzimmer, setzen uns auf mein neues Kunstledersofa und reden. Simon zeigt Emma sein Mitbringsel, eine Stoffrassel. Sie ist begeistert und lutscht sofort darauf herum. Das Quengeln hat ein Ende. Simon legt seine Hand auf ihr Bein, Emma guckt und beugt sich zu ihm hinüber.

»Ich glaube, sie möchte zu dir«, sage ich und setze sie auf seinen Schoß. Dieses Bild werde ich nie vergessen: Beide strahlen sich an.

Am 14. Dezember 2008 besuche ich Simon wieder bei ihm zu Hause. Der Geruch von Waschmittel wirkt mittlerweile vertraut. Ich habe meine Zahnbürste dabei, weil ich heute bei ihm übernachten werde. Am Abend sitzen wir auf seinem Balkon, Simon guckt mich an und sagt: »Sag mal, wenn wir uns mal zusammen mit meinen Freunden treffen, wie stelle ich dich dann vor – als was?«

Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was er gerade versucht hat, mir zu sagen.

»Darf ich dich dann als meine Freundin vorstellen?«

Zwei Wochen später baute Simon ein Babyreisebettchen in seiner Wohnung auf, stellte einen Hochstuhl an seinen Esstisch und eine Spielzeugkiste ins Wohnzimmer. Meine Zahnbürste musste ich inzwischen nicht mehr mitbringen – Emma und ich hatten unsere eigenen in Simons Badezimmer. Er lernte Schlaflieder und Techniken, wie man ein knapp einjähriges Kind am besten anzieht. Er trocknete Emmas Tränen und lachte mit ihr.

Wir lebten sehr lebendig, stritten leidenschaftlich und vertrugen uns wieder. Unsere Freunde verstanden uns oft nicht. Für seine Vertrauten war ich vermutlich »Die merkwürdige Streitlustige«, und für meine Lieben war er »Der merkwürdige Streitlustige«, es passte also. Gegen alle Erwartungen hielt unsere Beziehung.

Emma feierte ihren ersten Geburtstag. Sie sprach zu diesem Zeitpunkt drei Worte: Tomate, Mama und Momo – das war ihr Spitzname für Simon.

Wir fuhren in den Urlaub, mal mit Emma, mal ohne. Wir machten Ausflüge in den Park, in den Zoo und zu Indoorspielplätzen. Simon hielt Emmas Hand, als sie ins Krankenhaus musste, er half ihr bei den ersten Schritten. Manchmal kaufte er T-Shirts für das kleine Mädchen, weil er sie so »niedlich« gefunden hatte.

Obwohl wir uns oft sahen, zogen wir nicht zusammen. Wir liebten uns, das wussten wir. Aber jeder von uns brauchte seinen eigenen Raum; für den Notfall.

Eines Abends kuschelten wir auf dem Sofa, er strich mir die Haare aus dem Gesicht und sagte, was für ein Glück er habe. Welcher Mann könne schon behaupten, sich gleich zwei wundervolle Frauen auf einmal geschnappt zu haben. In diesem Moment wusste ich, dass es Simon ernst meinte, so richtig ernst. Mein Körper wurde von einer Welle durchflutet, ich zitterte und wusste kaum, was ich sagen sollte. Als wäre es Zauberei.

Emma feierte ihren zweiten Geburtstag. Kurz nach ihrem dritten Geburtstag wurde sie getauft. Die Familie ihres Papas wohnt in Bayern. Alle sind katholisch, ich bin konfessionslos. Emma glaubte an Gott, betete hin und wieder. Sie wollte getauft werden, ihr Papa wollte das sowieso. Ihr großer Tag fand in Bayern statt, in derselben Kirche, in der auch ihr Papa und ihre Oma getauft worden waren.

Simon und ich begleiteten sie. Emma liebte ihr weißes Kleid und die ganze Aufmerksamkeit um sie herum. Als sie die Kirche betrat, hielt sie an der rechten Hand ihren Papa und an der linken Simon. Sie erzählte jedem, dass sie zwei Papas habe. »Ich hab Papa und Momo.«

Als wir in diesem Jahr gemeinsam mit ein paar Freunden Silvester feierten, standen wir um Mitternacht draußen und schossen Raketen mit kleinen Wunschzetteln in den Himmel. Wir freuten uns auf das kommende Jahr. Aufregend sollte es werden – Simon hatte seine Meisterschule beendet und wollte beruflich durchstarten. Er arbeitete bei Daimler und plante manche Projekte, zum Beispiel wie man Mitarbeiter mit Handicaps im Arbeitsalltag besser unterstützen konnte. Ich hatte die Idee, nun endlich meinen Führerschein zu machen. Wir küssten und umarmten uns.

Simon sagte: »Weißt du, ich lieb dich ganz schön dolle.«

Auch wenn wir uns gestritten hatten, und das zum Teil über Belangloses, auch wenn wir immer noch grundverschieden waren – es war alles richtig zwischen uns. Ich hätte in diesem Moment neben keinem anderen Menschen stehen wollen. Es gab Tage, an denen ich mein Glück gar nicht fassen konnte. Egal wohin ich ging, Simon hielt stets seine schützende Hand über mich. Beim Autofahren legte er jedes Mal, wenn er bremste, seinen Arm vor meine Brust, als befürchte er, ich könne sonst durch die Windschutzscheibe fliegen. Der Krümel mit dem Fotolächeln war zu meinem persönlichen Superhelden geworden.

Die Sache mit dem Rücken

Im Januar 2012 quälte uns ein Magen-Darm-Virus. Emma und Simon ging es nach einiger Zeit wieder besser. Bei mir hingegen wollte die Übelkeit nicht vergehen. Es dauerte eine Weile, bis wir feststellten, dass mein »Magenproblem« anderer Natur war: In meinem Bauch wuchs Superheld Nummer zwei, unser Miniheld, heran.

Als es mir endlich wieder besser ging, half Simon seinem besten Freund beim Umzug. Im Anschluss peinigten ihn starke Rücken- und Schulterschmerzen. Wie es sich für echte Heldenmänner gehört, tat er sie zunächst als Kleinigkeit ab.

»Ach, ich habe mich nur verhoben«, sagte er, wenn ich ihn darauf ansprach.

Die Wochen vergingen, die Schmerzen nicht. Irgendwann konnte er sich kaum noch bewegen, sodass ich ihn im März endlich zum Orthopäden schickte. Dieser tippte auf einen Bandscheibenvorfall und überwies Simon zum CT. Bis es so weit war, vergingen etwa fünf Wochen.

Im April feierte unsere Tochter ihren vierten Geburtstag. Zusammen mit vielen Freunden, meinem Babybauch, der inzwischen größer war als Simons, und den Schmerzen des Helden. Simon trug diverse Wärmepflaster, nahm Schmerzmittel und versuchte tapfer, den Tag zwischen vielen wuseligen und lauten Kindern zu überleben. Abends brach er völlig k. o. auf dem Sofa zusammen.

»Oh Mann«, sagte ich, als ich meinen Helden so geschlagen vor mir liegen sah. »Hoffentlich bestätigt sich der Verdacht auf Bandscheibenvorfall nicht.«

So kurz vor der Zeit mit zwei Kindern wären eine eventuelle Operation und die Maßnahmen danach ganz schön ungünstig gewesen. Simon wollte den Kinderwagen schieben, Windeln wechseln und das Baby in einem Tragetuch tragen. Dazu war ein gesunder Rücken unabdingbar.

»Das wird schon«, stöhnte er.

Wir versuchten, uns gegenseitig zu beruhigen, dass es nichts Schlimmes sei. Warum auch? Warum gerade jetzt? Vermutlich war es nur eine sehr hartnäckige Verspannung, ein eingeklemmter Nerv oder Ähnliches. Simon war noch nie zuvor wirklich krank, nie im Krankenhaus gewesen. Warum also sollte jetzt etwas Derartiges eintreten?

Zu diesem Zeitpunkt wohnten wir immer noch nicht zusammen. Obwohl wir uns häufig sahen, hatten wir uns bislang gegen diesen Schritt entschieden. Nun überlegten wir, ob es an der Zeit war, das endlich zu ändern. Zumal es für ein Familienleben das Praktischste war.

Während wir Pläne schmiedeten, freuten wir uns auf unseren Sohn, den kleinen Batman Leonard, der im September zur Welt kommen sollte. Nachdem ich ihn bereits seit dem ersten Ultraschallbild zum Minihelden erklärt hatte, benannte Simon ihn konsequent nach seinem persönlichen Lieblingshelden. Und analog zum Spitznamen unseres Babys forderte nun auch Emma ihren eigenen Superspitznamen ein und wurde so zur Einhornbändigerin. Sie konnte ihren kleinen Bruder kaum erwarten und versprach: »Wenn er in die Schule kommt, dann kann ich ihm schon helfen und mache das auch.«

Unser Held freute sich vor allem aufs Fußballspielen, auf männliche Verstärkung in der Familie. Er bekam glänzende Augen, wenn er daran dachte, dass wir schon ganz bald Ausflüge zu viert machen würden. Oft nahm er die Babysachen aus dem Schrank, um sie auf meinen Bauch zu legen. Simon roch an ihnen, seine Fingerspitzen strichen die zarten Nähte der winzigen Kleidung nach. Alle Zeichen standen auf Familie, die Weichen waren gestellt, und es sollte einfach nur Geradeaus weitergehen. Einen Plan B gab es nicht. Wozu auch?

Abends streichelte Simon oft meinen Bauch, er sprach mit dem kleinen Batman und eigentlich war alles perfekt, wenn da bloß diese schlimmen Rückenschmerzen nicht gewesen wären. Endlich kam der Tag der Computertomografie. In der Erwartung, nun endlich Gewissheit zu erlangen und etwas unternehmen zu können, ging Simon guten Mutes zu seinem Termin. Und kam ernüchtert zurück: Erst in einer Woche sollte er das Ergebnis erfahren.

»Sei’s drum«, brummte er, »auf die paar Tage kommt’s nun auch nicht mehr an.«

Die Woche verstrich, das Ergebnis kam. Aber anstatt Simon zu sagen, was los war, blieb der Arzt sehr verhalten. Der Mann in Weiß meinte, dass die Bilder nicht eindeutig seien und dass unser Held zu einer weiteren bildgebenden Untersuchung gehen müsse. Inzwischen war es Anfang Mai.

Emma und ich machten oft Ausflüge ins Grüne. Simon konnte nicht mitkommen, weil die Schmerzen inzwischen so schlimm geworden waren, dass er kaum noch laufen konnte. Arbeiten ging ebenfalls nicht; Simon hatte sich krankschreiben lassen. Unsere Tochter fragte regelmäßig, was Momo denn habe.

»Das müssen die Ärzte noch rausfinden«, sagte ich zu ihr, unzufrieden mit meiner eigenen Antwort. In mir machte sich langsam ein ungutes Gefühl breit. Mir war oft flau im Bauch, obwohl ich die Schwangerschaftsübelkeit doch bereits überwunden hatte. Das machte mir Angst, denn meinem Bauch konnte ich schon immer vertrauen. Irgendwas ging da vor sich, das nicht gut sein konnte. Nach wie vor hofften wir, dass es kein Bandscheibenvorfall war, irgendwas anderes, aber nicht das. Dass sich dieser Wunsch später als zynisch herausstellte, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Im Juni verfolgten wir die Fußball-EM im Fernsehen. Ich hasse Fußball, hatte aber Mitleid mit Simon, da es kaum etwas anderes gab, das er sonst machen konnte. An einem Freitagabend, zwei Tage, bevor Deutschland gegen Schweden spielen sollte, ging es unserem Helden immer schlechter. Er wusste nicht, ob er sitzen oder stehen sollte. Liegen ging auch nicht. Ich bat ihn, einen Rettungswagen zu rufen. Am Telefon wurde er jedoch abgewiesen mit dem Hinweis, er solle sich an einen Bereitschaftsarzt wenden.

Da ich eine Tendenz zur Panik habe und dann sehr hartnäckig werden kann, rief ich erneut die Notrufnummer an. Ich erzählte die gleiche Geschichte wie Simon, fügte allerdings hinzu, dass ich in der 23. Woche schwanger sei, mir große Sorgen mache und das bestimmt nicht gut für meine vorzeitige Wehentätigkeit sei. Keine zehn Minuten später stand der Rettungswagen vor unserer Tür.

Die Sanitäter entschieden, unseren Helden mitzunehmen, wobei sich die Treppen des Altbauhauses als fast unbezwingbar erwiesen. Drei Etagen mussten gemeistert werden. Es war ein furchtbarer Anblick.

Ich blieb zu Hause zurück, da ich tatsächlich leicht angeschlagen war. Unsere Tochter verbrachte das Wochenende bei ihrem Papa-Eins. Ich saß nervös im Wohnzimmer, starrte mein helles Kunstledersofa an und fragte mich, wie da schon wieder ein Kugelschreiberstrich hingekommen sein konnte. Ich putzte und versuchte alles, um diesen Fleck zu entfernen. Danach den Fußboden, dann die Küche, um dann wieder beim Sofa von vorn anzufangen. Gegen zwei Uhr nachts schrieb mir Simon eine Nachricht:

Die wissen noch nichts, komme jetzt erst mal auf die Krebsstation, woanders ist bestimmt kein Platz mehr.

Nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte, schrubbte ich erneut das Sofa. Der Kugelschreiberfleck war irgendwann tatsächlich verschwunden, das Kunstleder vom Sofa aber leider auch. Ich schrie das Sofa an, warum es denn jetzt kaputtgegangen sei. Dass das nicht richtig sein könne und es ein Fehler in der Produktion sein müsse. Dieses blöde Sofa! Irgendwann trat ich dagegen und verletzte mir dabei leicht den Fuß. Ich schrie meinen Fuß an.

Ich schrie alles an, schließlich auch mein Spiegelbild, weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, was Simon mir geschrieben hatte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass man ihn nur deshalb auf der onkologischen Station untergebracht hatte, weil woanders kein Platz mehr war.

Irgendwann setzte ich mich auf das breite Fensterbrett in der Küche, atmete die dreckige Großstadtluft ein und fragte mich, was ich eigentlich an einem Bandscheibenvorfall so schlimm gefunden hätte. Plötzlich erschien das gar nicht mehr so dramatisch.

Am Samstag fuhr ich ins Krankenhaus. Simon hatte geistesgegenwärtig seine CT-Bilder mitgenommen. Mein kluger Mann dachte selbst in solchen Momenten immer noch mit. Ich schrie nur das Sofa an. Die Ärzte hatten Simon Blut abgenommen und wollten die Ergebnisse abwarten, bevor sie mit uns sprachen. Es dauerte bis Sonntag. Man bat uns in ein Ärztezimmer, wir sollten uns setzen. Vor uns nahmen drei Menschen in weißen Kitteln Platz. Einer reichte Simon und mir je ein Glas Wasser. Der Heldensohn in meinem Bauch stoppte mit dem Strampeln. Es war ruhig, viel zu ruhig.

Plötzlich holte einer der Menschen vor uns tief Luft und redete. Er erzählte von etwas, das er Multiples Myelom nannte, einer bösartigen Erkrankung des blutbildenden Systems im Knochenmark. Der zweite Mensch in Weiß sprach über Knochenfraß, der die Schmerzen verursache, von Löchern in den Wirbeln der Wirbelsäule. Der Dritte zog uns schließlich den Boden unter den Füßen weg. Er redete lang, wirklich lang; von einer eingeschränkten Lebenserwartung, von Stadium drei, weit fortgeschritten, ungünstige Zytogenetik und der Prognose von drei bis vier Jahren.

Ich atmete ein und atmete aus. In meinem Bauch war es immer noch ruhig, und ich überlegte, aufzustehen und wortlos den Raum, die Klinik und das Land zu verlassen. Ich wandte Simon den Kopf zu, Simon rutschte in seinen Stuhl und trank sein Wasser, alles auf einmal.

Am nächsten Tag sollte der Beckenknochen punktiert werden, um möglichst schnell mit der ersten Chemotherapie zu beginnen.

Chemotherapie. Das war ein Wort, das ich nur aus schlechten amerikanischen Arztserien kannte. Wir verließen den Raum und weinten. Ewig und so doll, dass ich fast das Atmen vergaß. Das konnte alles gar nicht sein, die mussten sich irren, den Patienten verwechselt haben. Simon war zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt, ich 27. Wir hatten eine vierjährige Tochter, und im September sollte unser Sohn zur Welt kommen. Wir redeten doch schon davon, wie es sein würde, wenn er in die Schule käme. Und plötzlich wussten wir noch nicht einmal, ob Simon an Leos Einschulung überhaupt dabei sein würde.

Mit Feststellung der Schwangerschaft hatte mir mein Frauenarzt Beschäftigungsverbot erteilt. Damit war es mir möglich, vormittags, wenn unsere Tochter in der Kita war, zu Simon in die Klinik zu fahren. Wenigstens etwas. Im Flur der Station begegneten wir anderen Patienten, ohne Haare, mit einem Zugang im Hals und einer seltsamen Hautfarbe. Das war gruselig, sehr gruselig.

Am Mittwoch folgte das nächste größere Arztgespräch. Die Ärzte hatten auf mich gewartet. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Sie redeten von einer Hochdosis-Chemo, die noch dieses Jahr stattfinden sollte. Die, bei der unser Held in ein Isolationszimmer müsse, weil er kein Immunsystem mehr haben werde. Später werde man ihm seine eigenen Stammzellen zurücktransplantieren, die er zuvor für sich selbst spenden werde.

»Das nennt sich autologe Stammzelltransplantation«, erklärte uns einer der Ärzte, und in meinem Kopf rauschte es. »Später wird dann eine fremde Stammzellspende nötig sein.«

Wir hörten, dass zuvor vier Zyklen einer anderen Chemotherapie durchgeführt werden sollten, als eine Art Vorbereitung. Im Herbst dann die Hochdosis.

Moment, im Herbst sollte doch unser Sohn geboren werden. Das ging doch nicht! Was ist eigentlich aus dem Bandscheibenvorfall geworden, wo ist der hin?

Wieder verließen wir heulend das Arztzimmer, ein Desaster nach dem nächsten. Als wir den Gang der Station entlangschlichen, hörte ich plötzlich ein Geräusch, dass ich nie wieder vergessen werde. Da knackte etwas, relativ laut und so seltsam, dass ich es mit nichts anderem vergleichen konnte. Zeitgleich rutschte Simons Hand aus meiner, er ging zu Boden und schrie auf. Er schrie, wie ich noch nie jemanden habe schreien hören, und krümmte sich vor Schmerzen. Ich dachte an mein furchtbar hässliches Sofa und schrie ebenfalls. Die Schwestern kamen angerannt, die Ärzte auch. Simon wurde auf ein Bett gelagert und sofort ins MRT gefahren. Drei Wirbel der Wirbelsäule, die vom Myelom bereits angefressen waren, waren gebrochen. Ein weiterer angebrochen. Die Bilder zeigten weiterhin, dass die betroffenen Stellen am Beckenknochen größer geworden waren. Simon wurde in den OP geschoben, die Brüche wurden versorgt, der angebrochene Wirbel mit Knochenzement aufgespritzt. Am Folgetag hatte unser Held nach wie vor starke Schmerzen und bekam Morphin, jede Menge davon.

Er lag in seinem Bett, Gitter an beiden Seiten, und über ihm hing ein riesiger Infusionsbeutel. Simon sah mich kurz an, begrüßte mich mit »Hallo Krankenschwester« und schlief wieder ein. Ich schob meinen Stuhl, auf den ich mich eigentlich gerade setzen wollte, zur Seite, verließ das Zimmer und machte mich auf die Suche nach einem Arzt.

Wir waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet, was es manchmal schwierig machte, Auskunft zu bekommen. An diesem Tag hatte ich Glück und fand jemanden, der mit mir sprach. Der angebrochene Wirbel schmerzte stark, das angeknabberte Becken auch. Zusätzlich waren in der Nacht zuvor zwei Rippen gebrochen. Mein Held stand unter starken Schmerzmitteln, die ihn benommen machten, zum Teil orientierungslos.

Okay, er durfte also so sein.

Als ich in Simons Zimmer zurückkehrte, begrüßte er mich abermals als Krankenschwester. Ich nickte und meinte, dass ich mit den Kollegen abgesprochen habe, ihn etwas frisch zu machen. Ich habe schon viele Menschen gewaschen, allerdings waren sie meist unter einem Meter groß und gingen noch in die Kita. Das hier war etwas anderes. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen.

Mein Held dämmerte immer wieder weg, und jedes Mal, wenn er aufwachte, freute er sich, dass ich, die nette Krankenschwester, noch da war. Irgendwann entdeckte er meinen dicken Bauch, und ich hoffte, dass ihm dadurch bewusst würde, wer ich war.

Simon lächelte, zeigte mit seiner von Zugängen zerstochenen Hand auf meinen Bauch und sagte: »Oh, das ist ja schön, freut sich denn der Papa auch so sehr?«

Ich ließ das Handtuch fallen, setzte mich, atmete ein und atmete aus. Nur das Atmen nicht vergessen. Atmen. Ich biss mir erneut auf die Lippe, um die Fassung zu wahren. Ich versuchte zu lächeln und nickte. Ich nahm Simons Hand und meinte, dass ich mir ganz sicher sei, dass der Papa vom Bauchjungen sich freue und dass ich glaubte, dass er ein großartiger Papa für unseren Sohn sein werde.