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Dana Summer, Loki Miller

Vanilleküsse schmecken besser





Elaria
80331 München

Kapitel 1

 

*Charity*

 

Der Duft von frischen Tannenzweigen, vermischt mit dem von Zimt, Gewürznelken und Keksen, durchdringt meine Wohnung. Tief atme ich ihn ein und ein Lächeln breitet sich wie von alleine auf meinem Gesicht aus. Ich liebe Weihnachten.

Und damit meine ich nicht nur den Heiligen Abend, sondern ebenso die Tage und Wochen davor, während man sich langsam in Stimmung bringt. Es beginnt mit dem Kauf der Geschenke, bei dem ich mir schon ausmale, wie sich der Beschenkte darüber freuen wird. Danach mache ich mich an die Planung des Menüs. Wenn das steht, durchkämme ich alle Läden auf der Suche nach der passenden Dekoration. Zum Schluss wird der Baum ausgewählt und gemeinsam mit der Familie geschmückt.

Nun, ich muss zugeben, dass der letzte Punkt in den vergangenen Jahren schwer umzusetzen war ...

Aber das wird sich heute ändern! Ab sofort wird Weihnachten auch bei den Davies wieder ein fröhliches Familienfest werden.

Entschlossen greife ich die nächste Kartoffel aus der Schüssel vor mir und gehe im Kopf noch einmal alles durch, während ich sie schäle. Mum und Dad haben mir für das Dinner fest zugesagt. Cousine Hope und ihr Mann Nate sind bereits da und haben sogar meine Granny mit nach London gebracht. Bei dem Gedanken an Gran wird mir wie immer ganz warm ums Herz. Wenn es einen Menschen gibt, der immer für mich da ist, dann ist es meine gutmütige, liebevolle Großmutter, die ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe. Umso mehr freue ich mich, dass sie nun neben mir in meiner Küche steht und wir uns beim Schälen der Kartoffeln ein kleines Wettrennen liefern, wer zuerst mit seinem Stapel fertig wird. Ich schenke ihr ein fröhliches Lächeln, lasse den Kartoffelschäler in die Spüle fallen und schlinge die Arme um meine Grandma, die daraufhin das Kichern von sich gibt, welches ich so schmerzlich vermisst habe.

„Charity, meine Süße, so werden wir nie fertig mit den Vorbereitungen“, sagt sie und tätschelt mir den Rücken.

„Ich weiß, Gran. Aber wir haben uns so unfassbar lange nicht mehr gesehen, dass ich dich am liebsten nie wieder loslassen will.“ Ich atme noch einmal ihren Duft ein, bevor ich sie freigebe. Dieser Geruch nach frischen Blumen und Gartenerde, der sie umgibt, und wegen dem ich mich entschieden habe Floristin zu werden.

Mum konnte mir als Teenager zwar den Umgang mit Gran verbieten, aber durch meine Berufswahl niemals die Erinnerung an sie nehmen. Inzwischen bin ich eine erwachsene Frau, und doch hatte ich noch viele Jahre ohne Kontakt zu Gran oder meine Cousine Hope verstreichen lassen, weil ich meine Mutter nach der Scheidung nicht verletzen wollte.

Um nicht erneut in Schuldgefühlen und Tränen zu versinken, straffe ich die Schultern und fahre mit den Essensvorbereitungen fort, während ich in Gedanken noch einmal die Planung durchgehe. Alles muss perfekt sein für meinen großen Tag.

Hope und Nate dekorieren gerade das Wohnzimmer, Dad holt Mum ab und wird mit ihr um sieben hier sein. Ich werfe einen Blick auf die Küchenuhr. Es ist kurz nach halb zwei. Alfie hat um drei Feierabend, wird sich in seiner Wohnung fertigmachen und dann um halb acht zu uns stoßen. Alles ist perfekt durchgeplant. Was soll schon schiefgehen?

Genau in dem Augenblick, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schießt, zucke ich zusammen. So etwas zu denken bringt Unglück, du dusselige Kuh!, schreie ich mich selbst an. Hektisch sehe ich mich in der Küche um, klopfe dreimal auf den Esstisch aus Teakholz und erlaube mir, erleichtert aufzuatmen.

Gerade noch einmal gutgegangen!

Ich spüre eine sanfte Hand auf meinem Rücken und höre Granny sagen: „Alles wird gut. Der Abend wird genau so, wie du ihn dir vorstellst. Wir werden Alfie in die Familie aufnehmen und ihn lieben. Alleine, weil du ihn so sehr liebst.“ Ich werfe ihr einen verunsicherten Blick zu, weil ich ihren Optimismus so gar nicht teile. Wie immer liest sie in mir wie in einem offenen Buch. Sie stimmt ein Lied an, welches mich schon als kleines Kind beruhigt hat. Leise summe ich mit, bis ich mich am Ende nicht mehr ganz so nervös fühle.

„Danke, Granny. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.“ Um nicht in Tränen der Rührung auszubrechen, widme ich mich wieder der Schüssel voller Kartoffeln, die noch geschält werden wollen.

„Du machst das klasse, mein Schatz. Wir sind alle unheimlich stolz auf dich.“ Gran öffnet den Ofen und übergießt noch einmal den Braten. Ein herrlicher Duft steigt mir in die Nase. Mit ihm kehren die Erinnerungen an glückliche Weihnachten zurück.

„Na ja, du und Dad vielleicht. Mum sicherlich nicht.“

„Sag so etwas nicht. Natürlich ist sie stolz auf dich.“

„Das wird sie hoffentlich sein, wenn sie Alfie sieht.“ Der Gedanke an ihn verscheucht alle negativen Gefühle und Erinnerungen an meine Kindheit. „Oh Granny, er ist so toll. Intelligent, gutaussehend und stell dir vor, er wird bald Partner in der Kanzlei. Gerade erst hat er eine Wohnung in Chelsea gekauft. Und wenn er mich ausführt, dann nur in die teuersten und nobelsten Restaurants. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, ihn abbekommen zu haben.“

Gran wirft mir einen Blick zu, den ich nicht recht deuten kann. „Das klingt prima, Schatz. Ich freue mich schon darauf, den jungen Mann selbst unter die Lupe zu nehmen. Als Anwalt sollte er ja einem Verhör standhalten können, nicht wahr?“

Ich lache nervös, da Granny nicht so aussieht, als ob sie einen Witz gemacht hätte, und habe beinahe ein wenig Angst vor ihr. Wenn es um ihre Familie geht, wird aus der lammfrommen Achtzigjährigen eine wilde Löwin in den besten Jahren, die mit ihren Klauen selbst einem Anwalt die Kehle zerfetzen würde.

„Wo soll denn die Engellichterkette aufgehängt werden, Char?“, höre ich in dem Augenblick Hope aus dem Wohnzimmer rufen.

„Komme“, gebe ich zur Antwort, froh der Küche kurz entfliehen zu können. Auf dem Weg zu ihr tätschle ich kurz Balus Kopf, der in seinem Körbchen im Flur liegt und das Geschehen aufmerksam beobachtet. Nate hat ihn mit in die Familie gebracht und jeder liebt den treuen Vierbeiner. Ich muss mich unbedingt bei Alfie erkundigen, ob wir uns auch einen Hund anschaffen. Dann schießt eine Frage durch meinen Kopf und ich fange an nervös auf meiner Lippe herumzukauen. Was soll ich denn bloß machen, wenn sie ihn nicht mögen? Ein Jahr lang hatte ich Alfie nach allen Regeln, die mir meine Mutter beigebracht hatte, umworben, bis er endlich einmal mit mir ausging. Er war der begehrteste Junggeselle Londons und ich daher umso stolzer auf mich, dass ich ihn mir angeln konnte. Heute sollte er schließlich meine Familie kennenlernen und bei meinem Vater offiziell um meine Hand anhalten. Darauf hatte ich bestanden, als er mir vor ein paar Wochen bei einem Dinner den Antrag machte. Die Tradition verlangt den Segen meines Vaters. Ohne den wird die Ehe Unglück bringen. Und ich will verdammt sein, wenn ich diesen heute nicht von ihm erhalte.

Wieder ein wenig zuversichtlicher gestimmt, seufze ich zufrieden. Mein Leben würde nach einer langen Durststrecke endlich so sein, wie meine Mutter und ich es immer geplant haben.

„Vorsicht, Charity!“, höre ich Nate, den Mann meiner Cousine, rufen. Dann geschieht alles ganz schnell.

Meine Füße werden von etwas festgehalten, ich verliere das Gleichgewicht und stürze wild mit den Armen rudernd und Gesicht voraus in den festlich dekorierten Weihnachtsbaum. Hope schlägt die Hände auf die Wangen und sieht dabei aus wie ein Emoji. Aus der Küche höre ich Granny fragen, ob etwas passiert ist. Dann taucht Nate in meinem Blickfeld auf, dessen Gesicht eine Mischung aus Besorgnis und unterdrückter Heiterkeit widerspiegelt. „Warte, ich helfe dir“, sagt er, befreit zunächst meine Füße von der Engellichterkette, die sich wie eine Liane darum geschlungen hat, und hilft mir dann aus dem Baum heraus. „Alles in Ordnung?“

Ich nicke. Doch dann fällt mein Blick auf den Baum. Nichts ist in Ordnung. Ich bin über und über mit piksenden Nadeln bedeckt, die mich bei jeder Bewegung schmerzhaft zusammenzucken lassen. Ich fische ein paar aus meinen Haaren und den Strümpfen, wobei ich mich damit in die Finger steche, sodass letztlich noch mehr Körperteile wehtun. Und der Baum erst ... Oh Gott, der schöne Baum ... Tränen schießen in meine Augen und ich schüttele heftig den Kopf.

„Neeiii ... heeeiiinnn“, schluchze ich und betrachte das Desaster. „Ni ... hichts ... ist in ... Ordnung.“ Ich hebe eine der zerbrochenen Kugeln auf und lasse mich frustriert auf die Couch fallen. „Das war Mums Lieblingskugel. Ein ... ein ... Familienerbstück!“ Granny und Hope setzen sich neben mich und legen tröstend ihre Arme um mich.

Nate steht etwas überfordert mit Kehrschaufel und Besen vor den Trümmern der Dekoration. „Also ... wenn du Sekundenkleber hast, könnte ich versuchen ...“ Er verstummt, als er unsere Blicke sieht.

Okay, keine Panik, Charity. Du hast schon mal schlimmer im Schlamassel gesteckt. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, um wieder klar denken zu können .

Da kommt mir auch schon eine Idee: „In Chelsea gibt es einen Laden, der Christbaumschmuck verkauft. Ich kenne den Besitzer. Also, nicht ich kenne ihn, sondern Alfie, aber ich habe seine Nummer. Ich rufe ihn gleich an und flehe auf Knien, damit er den Laden noch einmal öffnet. Hope, du hilfst Gran weiter in der Küche. Nate, du bist ab sofort alleine für die Deko zuständig. Enttäusche mich nicht, mein Großer.“

„Yes, Ma’am“, antwortet er mit einem Salut, den er noch aus seiner Zeit beim Militär formvollendet beherrscht. „Verlass dich auf mich. Ich habe auch Hopes Onlineshop alleine eingerichtet.“

„Hey!“, beschwert sich meine Cousine, stemmt die Hände in die Hüfte und sieht ihren Mann herausfordernd an. Dabei muss sie den Kopf in den Nacken legen, was mich schmunzeln lässt. „Das hast du gar nicht. Du hattest Hilfe von deinem Hacker-Kumpel.“

„Aber das Konzept war ganz alleine von mir.“ Bevor Hope protestieren kann, hat Nate sie an sich gezogen und ihre Lippen mit einem Kuss verschlossen, der mich rot anlaufen lässt.

Während ich die Nummer wähle, frage ich mich, ob Alfie mich jemals so küssen wird.

 

„Vielen Dank noch mal.“ Überglücklich winke ich Mister Shamari, dem Ladenbesitzer, zum Abschied und überquere die Straße. Leichter Schneefall setzt ein und bedeckt den grauen Bürgersteig mit Puderzucker, was meine Vorfreude auf den Abend noch mehr steigen lässt. Schnee gehört einfach zu Weihnachten dazu, wie Santa Claus und die Geschenke. Einmal durfte ich sogar bei einem Weihnachtsshooting meiner Mutter dabei sein. Sie als Engel gekleidet, mit Heiligenschein und Harfe, und von Erdenbürgern angebetet. Danielle Davies, Supermodel und Supermom, lautete die Schlagzeile. Gefolgt von einer Doppelseite mit Interview und kleinem Bild, wie sie mich auf ihrem Schoß sitzend umarmt. Eine meiner liebsten Erinnerungen an die Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte. Jede Sekunde, die sie in ihrem vollen Terminkalender für mich erübrigen konnte, war für mich kostbar. Und ist es heute auch noch. Ich werfe einen Blick auf die Uhr der Kirche, an der ich gerade vorbeikomme. Ihr Flieger aus Paris landet in einer Stunde. Einer Eingebung folgend, beschließe ich, noch einmal Dad anzurufen. Nur, um ganz sicher zu gehen, dass er es nicht vergessen hat.

„Hallo mein Schatz“, meldet er sich fröhlich. Seine Stimme klingt, als ob er über die Freisprechanlage telefoniert, und ich atme erleichtert auf. Er ist also wirklich auf dem Weg.

„Hey Dad. Ich wollte nur mal hören, ob alles in Ordnung ist. Ist viel Verkehr?“

„Nein, Süße, noch geht es. Aber ich brauche ja auch noch ein bisschen. Je näher ich London komme, umso schlimmer wird es.“

Mir entgeht die Nervosität in seiner Stimme nicht. Ursprünglich wollte ich Mum selbst abholen, aber als Dad mich darum bat, das übernehmen zu dürfen, konnte ich nicht Nein sagen. Fünfzehn Jahre liegt der Rosenkrieg zurück, den die Medien um ihre Scheidung entfacht hatten. Doch noch immer kann mein Vater meine Mutter nicht vergessen. Vor Kurzem erst habe ich den Stapel Zeitschriften mit ihrem Cover entdeckt, den er in einer Abstellkammer seines Hauses verwahrt. Ganz oben auf dem Stapel liegt die Sun, mit ihrem Hochzeitsfoto als Cover.

Schönheitschirurg heiratet Supermodel.

„Ich freu mich, dass du dir freinehmen konntest. Granny ist schon da. Die ganze Wohnung duftet nach deinem Lieblingsgericht.“

„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf euch alle freue. Der Kongress war unfassbar langweilig. Und mein Vortrag kam auch nicht so gut an. Ich glaube, ich habe meinen Charme verloren, Schatz.“

„Rede nicht so einen Unsinn, Dad. Ich freu mich auf dich. Und alle anderen auch.“

„Hab ich dir gesagt, wie lieb ich dich habe? Und wie toll du diese Familienzusammenführung organisierst? Ich bin unheimlich stolz auf dich.“

Wie immer, wenn mein Vater mich lobt, weiß ich nichts zu erwidern. Er tut es ständig, und ich freue mich auch sehr darüber, aber ... er ist nun mal nicht Mum. Von ihr ein Lob zu ergattern und endlich ihren hohen Ansprüchen zu genügen – das ist mein Ziel. Eines, das fast unerreichbar scheint.

„Ich muss jetzt Schluss machen, Dad. Melde dich bitte, wenn du am Flughafen bist. Hab dich lieb!“

„Werde ich. Ich dich auch!“

Kaum habe ich aufgelegt, vibriert das Handy erneut. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend öffne ich die Nachricht meiner Mutter.

Flug verspätet sich. Hier schneit es wie verrückt. Aber keine Sorge, ich habe einen netten Zeitvertreib gefunden.

Das mitgeschickte Bild zeigt meine wunderschöne Mutter Arm in Arm mit einem nicht weniger gut aussehenden Kerl in meinem Alter.

Ich tippe eine schnelle Antwort und hoffe inständig, dass sie nicht auch eng umschlungen mit dem Kerl aus dem Gate tritt, wenn mein Vater dort mit Blumen und verliebtem Blick auf sie wartet. Warum müssen Gefühle nur immer so kompliziert sein? Hätte er sich nicht einfach wieder neu verlieben können?

So wie ich.

Nach jeder beendeten Beziehung richtet man das Krönchen und zieht wieder los, um sich den nächsten, größeren und besseren Fisch aus dem Single-Becken zu angeln. Bis man beim Moby Dick angelangt, ihn umgarnt und dann langsam aber stetig zu sich an Land zieht. Dann besteht die Kunst darin, ihn zu halten. Man darf sich nie gehen lassen, muss immer interessant und niemals eintönig sein.

Dann kommt mir ein neuer Gedanke. Was, wenn meine Mutter für meinen Vater der größte Fang des Beckens war? Wieso hat er sie dann nicht halten können? Er hat ihr doch die Welt zu Füßen gelegt.

Nachdenklich verlangsame ich meine Schritte, bis ich vor einem Café zum Stehen komme. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass es genau das Café ist, in dem ich Alfie zum ersten Mal begegnet bin. Wenn das kein Zeichen ist!

Ich werfe einen Blick hinein. Heute scheint wenig los zu sein. Nur zwei Tische sind besetzt. Ein nervöses Pärchen sitzt direkt am Fenster. So wie sie herumzappelt, scheint es ihr erstes Date zu sein. Am Nachbartisch sitzen zwei Freundinnen, unterhalten sich angeregt und brechen dann in Lachen aus, welches ich bis raus auf die Straße höre.

Auf einmal steht mir der Sinn nach Alkohol. Und ich habe noch genug Zeit, um bei meinem Lieblingscocktail Vieux Carré darüber nachzusinnen, wie ich Alfie für immer halten will. Natürlich neben dem obligatorischen Fitnesstraining, Yoga für die Beweglichkeit im Bett und Friseur- und Kosmetikbesuchen. Ich brauche ein ultimatives Alleinstellungsmerkmal. Dass ich mich mit Blumen auskenne und ganz passabel kochen kann, reicht noch lange nicht aus.

Ich drücke die Klinke hinunter und öffne die mit Schnitzereien verzierte Holztür. Die Türklingel des Cafés kündigt mein Eintreten an. „Oh, hallo Miss Davies“, begrüßt mich die Kellnerin überschwänglich und fast schon übertrieben laut. Ich runzele kurz die Stirn, grüße dann aber zurück und setze mich an einen freien Tisch an der Wand, der einen perfekten Blick durch das gemütlich eingerichtete Café zulässt. Das Pärchen betrachtet mich neugierig, kümmert sich dann aber wieder um sich selbst. Die Freundinnen stecken jedoch die Köpfe zusammen, tuscheln und schauen dabei immer wieder in meine Richtung.

Na das fehlt mir gerade noch!

Dank der Berühmtheit meiner Mutter ist auch der Großteil meines Lebens für die Öffentlichkeit von Interesse. Es kommt nicht selten vor, dass ich beim Einkaufen oder beim Ausgehen mit Alfie von Fotografen abgelichtet werde. Meistens dann, wenn meine Mutter zu lange nicht mehr präsent gewesen ist und wieder eine Schlagzeile braucht. Ich glaube noch immer, dass sie die Fotografen dafür bezahlt, auch wenn sie das vehement abstreitet.

Die beiden Frauen vom Nachbartisch sehen allerdings nicht aus wie Fotografen, sondern wie ganz normale Londoner Bürger, die ihr Glück nicht fassen können, eine Promi-Tochter einmal live zu erleben. Meistens ist das die schlimmere Variante, weil sie noch haarsträubendere Geschichten erfinden als jeder Klatschreporter.

Verärgert ziehe ich den Schal vor mein Gesicht und starre in die Karte, obwohl ich doch schon längst weiß, was ich bestellen will. Mit jedem Kichern vom Nachbartisch wächst mein Zorn. Entsprechend unfreundlich bin ich zur Kellnerin, als ich meinen Cocktail ordere. Immerhin hat sie mit ihrer Begrüßung ja erst die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Auch als ich die Bestellung aufgebe, ist sie noch immer übertrieben laut und sagt ständig meinen Namen, damit auch wirklich jeder Gast des Cafés mitbekommt, wer die einsame Frau am Tisch ist. Das Trinkgeld ist so was von gestrichen!, denke ich bei mir.

Aus der Tasche mit den Einkäufen ziehe ich meinen Notizzettel hervor und beginne auf der Rückseite herumzukritzeln. Wirkliche Ideen, was mich so einzigartig machen könnte, wollen mir jedoch nicht einfallen. Stattdessen kommen mir jede Menge Verwünschungen für die gackernden Hühner neben mir in den Sinn.

Ich bestelle meinen zweiten und kurz darauf den dritten Cocktail. Langsam spüre ich eine wohlige Wärme in meinen Kopf steigen, die alle Gedanken in weiche Watte packt. Plötzlich habe ich das Bedürfnis, mit den Hühnern zu kichern und zu gackern.

Bis ein Blitzlicht mich aus meinem leicht debilen Zustand reißt. Ich starre das linke der beiden Hühner am Nachbartisch an, die unauffällig versucht, ihr Handy zu verbergen.

„Jetzt reicht es“, rufe ich und springe von meinem Stuhl. „Schon mal was von Persönlichkeitsrecht gehört? Ich verklage euch, bis euch hören und sehen vergeht.“

Die Linke starrt mich herausfordernd an. „Mach doch. Mit dem Verkauf der Bilder, die wir heute geschossen haben, können wir uns eine Klage locker leisten. Und du, als Tochter einer Berühmtheit, bist doch bestimmt ganz scharf auf den Rummel. Wie heißt es so schön? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“

Ich schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Selbst die Klatschreporter haben ja mehr Anstand als diese Trulla! Bevor ich antworten kann, steht sie auf, beugt sich zu mir herüber, als ob wir seit Jahren befreundet wären, und flüstert in mein Ohr: „Dir ist noch gar nicht aufgefallen, wer da hinten in der Ecke sitzt, oder?“

Ich folge mit meinem Blick der Richtung, in die sie genickt hat. Zunächst kann ich außer einem mit Jacken vollgehängten Garderobenständer nichts erkennen. Die Tische davor sind alle unbesetzt. Gerade will ich die blöde Kuh anfahren, was zum Teufel sie meint, da fällt mein Blick auf eine ganz bestimmte Herrendesignerjacke.

„Ähm ... Miss Davies ...“, höre ich die Kellnerin wieder schreien.

„Jetzt nicht!“, zische ich zurück.

Langsam stehe ich auf, um besser sehen zu können, und nähere mich mit klopfendem Herzen dem Garderobenständer, dicht gefolgt von den beiden Möchtegern-Reporterinnen und der fast schon verzweifelt meinen Namen rufenden Kellnerin. Ich hoffe und bete, dass es eine vernünftige Erklärung dafür gibt, dass diese Jacke hier hängt.

„... natürlich, aber das geht nicht so einfach. Heute ist doch Weihnachten“, höre ich die Stimme meines Verlobten und mein Blutdruck fällt rapide ab. Meine Kehle fühlt sich an, als ob zwei große Pranken sich um sie legen und zudrücken.

Eine verführerisch raue Stimme antwortet: „Aber Silvester will ich mit dir verbringen. Bis dahin musst du sie abgeschossen haben.“

Beide scheinen so in ihre Unterhaltung vertieft zu sein, dass sie von dem kleinen Tumult im Café nichts mitbekommen haben. Allerdings wird mir jetzt auch klar, warum die Kellnerin die ganze Zeit über so laut war. Sie wollte meinen Verlobten warnen!

„Natürlich, Schatz, das kriege ich hin. Nur nicht heute. An Weihnachten Schluss zu machen, bringe ich nicht übers Herz.“

„Du bist einfach zu gut für die Welt.“ Ich höre ein freudiges Kichern, das wie Krallen über meine Seele fährt. Als dann auch noch ein eindeutiges Kussgeräusch an meine Ohren dringt, bin ich nicht mehr zu halten. Ich schubse eines der Hühner, die beide ihr Handy gezückt haben, aus dem Weg. „Hey, Vorsicht“, beschwert sie sich lautstark. „Die Aufnahme verwackelt doch total.“

Ihre aufgeregte Stimme hat nun endlich das Pärchen alarmiert. Zwei Köpfe werden aus der Nische gestreckt, die angestrengt um den Garderobenständer herum spähen, um zu sehen, was im Café vor sich geht. Einen der Köpfe und den zugehörigen durchtrainierten Körper kenne ich nur allzu gut. Dieser lag nämlich gestern noch neben mir im Bett, nachdem er mich fast zwei Stunden wund gevögelt hatte!

Als Alfie mich entdeckt, weiten sich seine Augen. In derselben Sekunde schubst er die Frau von seinem Schoß, steht auf und versucht doch allen Ernstes mit eingezogenem Genick aus dem Café zu fliehen. „Oh nein“, brülle ich und erwische ihn gerade noch am Ärmel. „Aus der Nummer kommst du nicht so einfach raus. Willst du mir deine Bekanntschaft nicht vorstellen?“

„Das ... ähm ... also, ... ich habe sie heute zum ersten Mal gesehen.“

„Was?“, rufen die Unbekannte und ich gleichzeitig und mindestens genauso aufgebracht.

„Ich wollte mir nach der Arbeit nur noch schnell einen Drink gönnen, weil ich doch so nervös bin wegen heute Abend. Und da habe ich sie getroffen und mich ganz nett mit ihr unterhalten.“ Alfie kommt auf mich zu und fasst meine Hand. „Wirklich, nur unterhalten, Schatz.“ In seiner Verzweiflung fleht er die Kellnerin um Beistand an. „Nicht wahr, Juliette? Du kannst das doch bestätigen, dass absolut nichts passiert ist.“ Juliette wird noch blasser und bringt es nicht fertig, mir in die Augen zu sehen.

„Ich habe eure Unterhaltung gehört! Du willst mich verlassen. Aber weißt du was? Ich verlasse dich zuerst. Fahr zur Hölle, Alfie!“

Damit drehe ich mich auf dem Absatz um, ignoriere seine Rufe und schreite hoch erhobenen Hauptes aus dem Café.

Meine überlegene Selbstsicherheit ist in der Sekunde dahin, als die Tür hinter mir zufällt.

Die Miststücke vom Nachbartisch haben anscheinend die Klatschpresse alarmiert. Auf der Straße vor dem Café steht eine Meute von über dreißig Fotografen, die alle meinen Namen rufen, und dass ich doch bitte in ihre jeweilige Kamera schauen soll. Fragen zu meinem Verlobten und seinem offensichtlichen Betrug an mir prasseln auf mich ein wie ein Hagelschauer und schlagen Löcher in mein Selbstbewusstsein.

Das Schlimmste ist nicht einmal Alfies Untreue, sondern dass ich erneut versagt habe.

Schon wieder bin ich allein.

Schon wieder das Gespött der Leute.

Schon wieder wird meine Mutter enttäuscht von mir sein.

Ich ziehe den Schal über die Nase, schlage den Kragen meines Mantels hoch und fliehe durch das Blitzlichtgewitter und mehrere Seitenstraßen nach Hause. Dabei summe ich leise Grannys Lied vor mich hin und wünsche mich in ihre tröstenden Arme.

Kapitel 2 – ein Jahr später

 

*Charity*

 

Abwesend blicke ich aus dem Fenster meiner Wohnung. Ich bin erst seit ein paar Tagen wieder hier, und doch habe ich das Gefühl, jeden Moment von meinen vier Wänden erdrückt zu werden. Dabei habe ich diesen Raum einst so sehr geliebt.

„Char, ich weiß, wie schwer die letzten Monate für dich waren, wir alle wissen das, aber …“, vernehme ich die Stimme meiner Cousine hinter mir, die gerade dabei ist meine Bücher in einen Karton zu packen. „Ich bin mir absolut sicher, dass der Neuanfang genau das Richtige ist.“

„Hm, mag sein, dennoch fühle ich mich irgendwie …“ Hilflos wedle ich mit den Händen und blicke mich in dem Chaos um, das einst meine Wohnung gewesen ist. Überall stehen große Kartons, die bis oben hin voll sind. Voll mit all meinen Habseligkeiten. Angefangen von meinen Tagebüchern, die ich, kaum dass ich das Alphabet beherrschte, geschrieben habe, bis hin zu meinen Spitzendessous, die ich zuletzt vor Monaten getragen habe. „ ... unvollständig.“

„Ach Süße.“ Mitleidig sieht Hope auf und schenkt mir ein tröstendes Lächeln. „Du musst Alfie vergessen. Er ist es nicht wert, dass du ihm nachweinst.“

„Ich weine Alfie nicht hinterher“, verteidige ich mich, denn das tue ich bestimmt nicht. Während der letzten Monate, in denen ich die halbe Welt gesehen habe, konnte ich mich recht passabel von dem Schock erholen. Nun ist fast ein Jahr um und ich denke kaum noch an Alfie und die geplatzte Verlobung. Zumindest war das der Fall, bis ich vor wenigen Tagen aus dem Flieger gestiegen bin und zum ersten Mal wieder englischen Boden unter den Füßen hatte. Bis zu dem Moment war ich der Überzeugung, alles gut verarbeitet zu haben. Doch wieder hier zu sein, die vertrauten Plätze, die ich mit ihm besucht habe, meine Wohnung, in der wir beide so viele - wie ich dachte - glückliche Momente gemeinsam verbracht haben, all das weckt Erinnerungen.

„Es ist nur seltsam, nach fast einem Jahr wieder zurück zu kommen und alles hier sieht so fremd und doch irgendwie vertraut aus.“

Wissend nickt Hope, hält mit dem Einpacken der Bücher inne und fragt: „Bereust du den Entschluss, zu Granny zu ziehen?“

„Nein, überhaupt nicht“, widerspreche ich bestimmt. „Ich freue mich darauf und auf unser gemeinsames Projekt. Ich glaube, es ist genau das Richtige für mich. Gerade jetzt, wo Weihnachten vor der Tür steht und die Vergangenheit so gegenwärtig ist wie nie.“

„Das glaube ich dir. Diese Zeit im Jahr muss die schlimmste für dich sein und …“, abrupt beendet Hope ihren Satz. „Lassen wir das. Lass uns lieber über unseren Shop reden.“

Seit ich Hopes Vorschlag vor ein paar Wochen zugestimmt habe, mit ihr gemeinsam einen Geschenkeladen zu eröffnen, gibt es für meine Cousine kein anderes Thema mehr. Hope ist völlig aus dem Häuschen deswegen. Noch während ich auf dem Weg nach Hause durch Spanien gereist bin, hat sie sich um die Räumlichkeiten für unser Geschäft gekümmert, Genehmigungen eingeholt und sich gemeinsam mit Nate um die Umbaumaßnahmen seiner alten Scheune gekümmert, die sowieso nicht mehr genutzt wurde.

In wenigen Tagen können wir darin unseren Geschenkeshop eröffnen und ich freue mich ebenso auf diese neue Aufgabe wie Hope. Jetzt muss ich mich nicht mehr mit irgendwelchen VIP-Freunden meiner Mum herumärgern, die für ihre Veranstaltungen Blumenschmuck benötigen. Ich habe endlich die Möglichkeit, aus eigener Kraft etwas ganz Wundervolles zu erschaffen. Zumindest hoffe ich, dass unser Plan aufgeht und wir einige Kunden mit Hopes Pralinen, Süßgebäck und anderen leckeren Sachen sowie meinem Blumenschmuck begeistern können. Als mir Hope vor wenigen Monaten von ihrer Idee berichtet hatte, war ich zuerst nicht ganz überzeugt. Was vielleicht daran lag, dass ich mitten in Asien und meine einzige Fortbewegungsmöglichkeit ein alter Karren war, mit einem für mich recht gefährlich aussehenden Ochsen als Zugtier vorneweg.

Damals war meine dringlichste Sorge, heil, und ohne von Moskitos halb aufgefressen zu werden, die Stadt zu erreichen. Im Nachhinein kann ich über all die Erfahrungen, die ich auf meinen Reisen erlebt habe, lächeln. Es war eine wunderschöne Zeit, die ich trotz aller Umstände nicht missen möchte.

„Nate hat gestern die Theke fertig montiert. Sie sieht einfach nur klasse aus. Soll ich dir mal die Fotos zeigen?“ Hope springt auf, ist schon dabei zu ihrem Mobiltelefon zu hechten, als ich sie gerade noch stoppen kann.

„Lass uns das lieber später machen. Nate wird jeden Moment mit dem Auto hier sein und ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht begeistert sein wird, wenn er sieht, dass wir noch immer nicht so weit sind.“

Hope seufzt laut. „Du hast ja recht. Aber ich freue mich so auf unseren Laden, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

„Oh doch, Cousinchen, das kann ich. Schließlich gibt es gerade kein anderes Thema mehr für dich.“

„Ja, ich weiß. Ich glaube, Nate ist auch schon etwas genervt davon.“ Erneut macht sie sich daran, die restlichen Bücher einzupacken.

„Aber gesagt hat er nichts. Habe ich recht?“

„Nein.“

„Wundert mich auch nicht. Nate würde alles für dich tun.“ Ich greife nach den letzten Dekoartikeln auf meinem Regal, wickle sie in Zeitungspapier ein und lege sie dann vorsichtig in den Karton. Dann wird mir leicht übel, als ich zwei bekannte Gesichter auf der Zeitungsseite erkenne, die jetzt nach oben zeigt. Alfie und die Frau, mit der er mich betrogen hat. Arm in Arm. Verliebt. Und offensichtlich frisch verlobt. Ein Jahr habe ich jeden Gedanken an die beiden, so gut es geht, verdrängt, jeden Kontaktversuch seinerseits abgeblockt. Und ausgerechnet jetzt, wenn ich ein neues Leben anfangen will, müssen sie mir ihr Glück unter die Nase reiben. Genervt verdrehe ich die Augen und kann dabei den Stich nicht ignorieren, den mir der Anblick verpasst. Meine Cousine bekommt davon nichts mit.

Hope grinst breit und säuselt verliebt: „Ja, mit Nate habe ich wirklich einen Glücksgriff gemacht.“

„Kann man so sagen“, seufze ich.

„Er freut sich übrigens auch sehr, dass du zu uns ziehst.“

„Ich ziehe nicht zu euch, sondern zu Granny“, verbessere ich sie milde lächelnd, greife nach dem Klebeband auf dem Tisch und verschließe den Karton. Befreie mich damit auch von dem Anblick meines bescheuerten Ex-Verlobten.

„Weiß ich doch. Was ich damit sagen will, ist, dass ich nun endlich meine beste Freundin und Seelenverwandte bei mir habe. Die Zeit, während du im Ausland warst, war schrecklich.“

„Ich dachte immer, Nate ist dein Seelenverwandter.“

„Auch. Aber bestimmte Dinge möchte Frau doch lieber von Frau zu Frau besprechen als mit dem eigenen Partner.“ Hope zwinkert mir zu.

„Ich verstehe.“

„Nun, jedenfalls freue ich mich schon auf unseren ersten Mädelsabend. Viel zu lange hatten wir keinen mehr.“

„Was wir ja bald nachholen können“, murmle ich.

 

Es ist bereits Abend, als wir endlich alles eingepackt haben und nun auf dem Weg zu Granny sind. Dabei lege ich erschöpft den Kopf an die kalte Fensterscheibe von Nates Wagen. Die zurückliegenden Stunden haben mir sowohl körperlich als auch emotional einiges abverlangt. Mit dem letzten Blick in meine alte, nun leer stehende Wohnung kamen auch all die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an Tage, in denen ich so voller Glück war, dass ich am liebsten die Welt umarmt hätte. Momente, die mich geprägt und stärker gemacht hatten, in denen ich nicht wusste, wie meine Zukunft aussehen würde. Eine Weile zweifelte ich, ob ich wirklich das Richtige tue. Ob dieser Neubeginn tatsächlich die Leere, die ich seit Monaten in mir empfinde, füllen kann. Doch ich weiß auch, dass ich, wenn ich hierbleiben würde, immerzu an die letzten Monate denken müsste und das möchte ich noch viel weniger. Genau jetzt fallen mir Grannys Worte wieder ein, als ich ihr davon berichtet habe, dass ich ernsthaft in Erwägung ziehe, zu ihr zu kommen, um mit Hope den Geschenkeshop zu eröffnen.

Granny hat gesagt: „Das Ende von etwas ist immer auch ein Neuanfang und nur du selbst kannst bestimmen, was du daraus machst. Du kannst das Beste daraus machen, wenn du nur willst.“

Und genau das habe ich vor. Ich möchte das Beste daraus machen. Ich möchte den Leuten um mich herum, und allen voran mir selbst, beweisen, dass ich mich nicht mehr unterkriegen lasse. Dass ich mein Leben von nun an selbst in die Hand nehme.

Während Nate durch Londons Straßen fährt und wir uns immer weiter von meinem alten Dasein entfernen, spüre ich, dass es sich richtig anfühlt. Dass ich das Richtige tue.

Diese Empfindung wird mit jedem Kilometer intensiver und in dem Augenblick, als ich Grannys Haus vor mir sehe, fühle ich mich sogar befreit.

Noch bevor der Wagen gänzlich hält, reiße ich die Tür auf und atme tief die frische Luft ein. Dann muss ich husten, da es frostig kalt ist und es mir so vorkommt, als ob meine Lunge zu Eis erstarrt. Nate und Hope steigen lachend aus. „Du gewöhnst dich schon noch daran“, sagt meine Cousine und tätschelt mir den Rücken.

In dem Moment öffnet sich die Haustür und eine Bande von älteren Damen, angeführt von meiner Granny, kommt wild durcheinanderredend auf uns zu.

„Da bist du ja endlich.“ Gran schließt mich in ihre Arme und mir bleibt erneut kurz die Luft weg. Für ihr Alter hat sie wirklich enorme Kraft. In meinem Rücken höre ich jemanden sagen: „Endlich ein neues Gemeindemitglied. Ist sie Single?“

Darauf folgt: „Nun lass sie doch erst einmal richtig ankommen.“

„Aber sie ist doch da. Schau – da steht sie.“

„Ich meine damit, dass du ihr wenigstens einen ganzen Tag Zeit lassen solltest, bevor du irgendwelche Pläne schmiedest.“

Granny löst ihre Umarmung und wendet sich mit einem Funkeln in den Augen an ihre Freundinnen. „Müsst ihr nicht noch Kuchen und Pastete backen?“

„Du weißt genau, dass wir das schon alles erledigt haben“, empört sich die Größte ihrer drei Freundinnen.

Nate, der sich die ganze Zeit abseits gehalten hat, umrundet das Auto und wirft seine ganze Diplomatie in die Waagschale: „Aber, aber, meine Damen. Muss ich etwa eifersüchtig werden, dass ihr jemand anderen bekocht, nur weil ich jetzt verheiratet bin?“

Alle drei kichern wie junge Mädchen. „Ach, Nate. Du wirst für immer unser Liebling bleiben“, seufzt die Kleinste und Kräftigste von ihnen.

„Darf ich euch auf einen Tee einladen?“

Alle drei nicken mit leuchtenden Augen, dann wirft die Größte, die die Wortführerin zu sein scheint, ein: „Aber nur eine Tasse. Wir haben noch einen weiteren Termin.“

 

 

*William*

 

Zugegeben, ich habe nicht damit gerechnet, in eine Bruchbude zu ziehen, doch noch viel weniger habe ich erwartet, dass mir die Gemeinde, in der ich ab dem morgigen Tag als Reverend tätig sein werde, solch ein Haus zur Verfügung stellt.

„Wissen Sie, Reverend Lewis, wir alle danken dem Herrn, dass Sie sich für unsere Gemeinde entschieden haben. Bestimmt konnten Sie sich vor Angeboten kaum retten“, meint Mister Stuart, der Ortsvorsteher, der mir nun den Haustürschlüssel meiner neuen Bleibe überreicht.

„Kann man so sagen. Ja.“

Mister Stuart bedeutet mir hineinzugehen. Als ich das Haus betrete, stockt mir der Atem. Wenn ich eben schon von dem Äußeren des Gebäudes beeindruckt war, bin ich es jetzt noch viel mehr. Der Eingangsbereich erinnert mit der großen Wendeltreppe, dem Kronleuchter, der von der Decke baumelt und den Raum in ein warmes Licht hüllt, ein wenig an ein Schloss. Ich lasse meinen Blick nach oben wandern, entlang des offenen Treppenhauses, und staune über die Anzahl der Holztüren, die sich ein Stockwerk höher an beiden Seiten des ausladenden Ganges auftun.

„Ich hoffe sehr, Sie werden sich hier wohlfühlen. Natürlich wussten wir nicht genau, welche Ausstattung Sie bevorzugen, aber als wir erfahren haben, dass wir einen jungen Pfarrer bekommen, haben wir es entsprechend modern einrichten lassen. Sollte Ihnen etwas nicht gefallen, scheuen Sie sich nicht, es uns mitzuteilen. Wie schon gesagt, es ist uns ein sehr großes Anliegen, dass Sie sich in unserer Gemeinde heimisch fühlen.“

„Das werde ich ganz bestimmt.“ Meine Reisetasche, die ich noch immer in meiner Hand halte, sinkt zu Boden. Achtlos lasse ich sie liegen, denn ich bin viel zu neugierig und will wissen, was sich hinter der Glastür rechts von mir verbirgt.

Mit verengten Augen suche ich den Lichtschalter, um den Raum vor mir besser ansehen zu können. Als ich ihn endlich finde, springt die Beleuchtung an und hüllt ihn, genau wie schon den Eingangsbereich, in ein warmes Licht. Ich stehe in einem riesigen Wohn- und Essbereich mit einer offenen Küche, in der man ohne Probleme eine Großfamilie verköstigen könnte. Alles ist sowohl modern als auch zeitlos eingerichtet und so viel mehr, als ich erwartet habe.

„Wurde das alles renoviert?“ Ich werfe einen Blick zu dem Ortsvorsteher, der ein paar Schritte hinter mir stehen geblieben ist und nun nickt.

„Das Haus stand eine geraume Zeit leer, da wir, wie Sie ja bestimmt mitbekommen haben, jahrelang keinen Nachfolger für Reverend Martin gefunden haben.“

„Davon habe ich gehört“, meine ich und streiche über die hochglanzpolierte Küchenzeile.

„Nun, da ohnehin einige Sanierungsarbeiten im Haus fällig wurden, haben wir in dem Zug gleich die Einrichtung neu bestellt, nachdem uns versichert worden war, dass wir wieder einen Reverend bekommen.“

„Ich verstehe.“ Mein Blick fällt auf den Esstisch mit dem bunten Blumenstrauß darauf. Bei all den Bemühungen der Gemeinde würde es mich nicht wundern, wenn auch noch der Kühlschrank gut gefüllt ist. Als ob der Ortsvorsteher meine Gedanken lesen kann, meint er: „Unsere Damen waren so frei, Ihren Kühlschrank auszustatten. Falls Sie also Hunger haben sollten, es ist reichlich da.“

Breit grinsend drehe ich mich zu Mister Stuart um, lehne mich gegen die Küchenzeile und nicke. „In der Tat, Hunger habe ich.“

„Das ist gut. Sie müssen wissen, die Leute hier, sie sind … nun ja, sehr offen. Ich denke, es ist nur fair, wenn ich sie vorwarne.“

„Vorwarnen. Wovor?“

„Die Einwohner in unserer Gemeinde sind, sagen wir es mal so, sehr neugierig.“

„Soll heißen, dass ich mich auf Besuch einstellen kann, habe ich recht?“

„Exakt.“ Mister Stuart wirkt erleichtert, als er sieht, dass auf meinem Gesicht noch immer ein Lächeln vorherrscht.

„Gut zu wissen. Aber ich kann die Neugierde der Bewohner verstehen. Ich werde alle mit offenen Armen empfangen.“

Mister Stuart lächelt, streicht sich über sein grau meliertes Haar und meint dann: „Schön. Allerdings werde ich mich hüten, das den Leuten so zu sagen.“ Dann zwinkert er mir zu, geht hinüber zur Haustür und verabschiedet sich mit einem „Auf Wiedersehen, Reverend, und einen schönen Abend“.

„Das wünsche ich Ihnen auch und vielen Dank, Mister Stuart.“ Mit diesen Worten schließe ich die Tür hinter ihm und mache mich, noch bevor ich das restliche Haus inspiziere, auf den Weg zum Kühlschrank. Mein Magen knurrt und erinnert mich daran, dass ich seit heute Morgen, als ich von York losgefahren bin, nichts mehr zu mir genommen habe. Viel zu nervös war ich gewesen und gespannt darauf, was mich in dieser Gemeinde erwartet. Es war keineswegs selbstverständlich, dass die Dorfgemeinschaft einen Fremden akzeptiert, der gerade erst die Weihe empfangen hat. Die Ungewissheit lag mir die ganze Fahrt von York aus bis hierher schwer im Magen.

Auch schon vor der Weihe hatte ich meiner Ernährung manchmal unbeabsichtigt ein Zölibat auferlegt, wenn ich gestresst war. Ich wollte meinem Mentor, Reverend Coleman, beweisen, dass er sich nicht in mir getäuscht hatte. Mein Theologiestudium schloss ich mit Auszeichnung ab, verbrachte jede freie Minute im Jugendzentrum und war bald ein geachtetes Mitglied der kleinen Gemeinde im Norden Englands, die mein Mentor und Ziehvater betreut.

Bei dem Gedanken an ihn muss ich lächeln. Der kleine, gutmütige Mann mit Dackelblick und Bierbauch ist der beste Vaterersatz, den ich mir hätte wünschen können. Entsprechend schwer ist es mir gefallen, ihn und die Menschen dort zu verlassen. Aber es wird Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen.

Mit einem leisen Quietschen öffnet sich die Kühlschranktür, und was ich sehe, lässt mich noch breiter grinsen. Die Dorfbewohner scheinen es wirklich sehr gut mit ihrem neuen Reverend zu meinen. Mein Kühlschrank ist über und über mit Leckereien gefüllt. Vom Kuchen bis hin zum fertig gekochten Gericht ist alles dabei, was mich vor eine wahre Herausforderung stellt. Denn ich kann mich gar nicht entschließen, was ich zuerst zu mir nehmen soll.

Meine Entscheidungsfindung wird jäh unterbrochen, als ein lauter Dong durch das Haus hallt. Ich seufze und entschuldige mich bei meinem Magen, als er beharrlich knurrt.

„Okay, dann eben später“, murmle ich zu mir selbst und werfe die Tür des Kühlschranks sachte zu, um meinen Besuch willkommen zu heißen.

„Einen wunderschönen guten Abend, Reverend Lewis“, werde ich, kaum dass ich die Tür geöffnet habe, von drei älteren Frauen begrüßt.

„Guten Abend meine Damen.“

„Wir haben gesehen, wie Mister Stuart wegfuhr, und dachten, wir stellen uns kurz vor. Ich bin Misses Martin. Aber bitte nennen Sie mich doch Dolores. Ich leite den Kirchenchor der Gemeinde“, eröffnet die Frau das Gespräch, die ihre beiden Begleiterinnen beinahe um zwei Köpfe überragt. Ihr Gesicht ist hager und ihre braunen Augen sehen mich zwar freundlich, doch auch sehr wachsam an.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Misses Martin.“ Ich schüttele die Hand, die sie mir entgegenstreckt.

„Dolores“, verbessert sie mich.

„Gut, Dolores.“ Aus Angst, ihre knochigen Finger könnten unter meinem Druck zerbrechen, gebe ich ihre Hand schnell wieder frei.

„Ich bin Camilla. Ich singe ebenfalls im Chor und übernehme die gemeinnützige Arbeit“, stellt sich mir die andere Dame vor, die ebenfalls irgendwo Anfang siebzig zu sein scheint und ein wenig kräftiger ist.

„Freut mich ebenfalls, Camilla.“

Nachdem ich auch sie begrüßt habe, meldet sich nun die Dritte zu Wort.

„Mein Name ist Meghan. Ich bin die Pfarramtssekretärin und zudem Ihre Nachbarin.“ Sie deutet auf das hell erleuchtete Haus auf der anderen Straßenseite. „Wir haben es hier schön ruhig.“

„Ach ja? Ist mir noch gar nicht aufgefallen …“, murmle ich ironisch.

„Ja, durch die Abgelegenheit unserer Häuser kann man ganz wunderbar entspannen. Aber Sie sind ja hier, um zu arbeiten, nicht wahr? Nun, jedenfalls dürfen Sie sich zu jeder Tageszeit bei mir melden, wenn Sie Fragen haben sollten.“

„Ihr Angebot weiß ich zu schätzen, vielen Dank.“ Unschlüssig stehe ich da, denn irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass die drei Damen gerne hereinkommen wollen. Was vermutlich daran liegt, dass die größere der drei, Dolores, neugierig über meine Schulter späht.

„Sie reisen aber mit wenig Gepäck, Reverend Lewis“, sagt sie kurz darauf mit zusammengekniffenen Augen.

„Nicht direkt. Meine restlichen Sachen kommen morgen mit dem Möbelpacker.“

Ich werfe einen kurzen Blick auf meinen Chopper, den ich unbedingt noch in die Garage schieben muss, damit er nicht eingeschneit wird. Bislang ist noch kein Schnee gefallen, aber er lässt sicher nicht mehr lange auf sich warten. „Genau. In der Stadt ist ein Motorrad einfach praktischer als ein Auto.“

„Hatten Sie denn schon Gelegenheit, in den Kühlschrank zu schauen?“, will nun Camilla von mir wissen.

„Nicht nur, aber viele, ja. Wissen Sie, Reverend Lewis, wir sind hier eine ganz wunderbare Gemeinschaft und wir freuen uns sehr, dass der Herr Sie zu uns geschickt hat. Auch wenn ich gestehen muss, dass viele von uns etwas schockiert waren, als wir erfahren haben, wie jung unser neuer Reverend ist.“ Camilla deutet an mir herab. „Und wie gut Sie aussehen.“ Dann schlägt sie sich die Hand vor den Mund und murmelt: „Ach herrje, darf ich so etwas überhaupt zu Ihnen sagen, Reverend?“

„Was Camilla Ihnen zu sagen versucht, ist, dass unsere Gemeinschaft vorwiegend aus der älteren Generation besteht. Was heißen soll, dass dieses ganze moderne Zeugs nicht unbedingt das ist, was wir hier haben wollen.“

„Nun diese neuen Kirchenlieder, dann diese neue Art der Gestaltung des Gottesdienstes. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Gut, Reverend Lewis. Das ist gut.“ Eine Art Genugtuung breitet sich auf dem Gesicht der Chorleiterin aus.

„Schön. Reverend Lewis, ich denke, wir werden uns jetzt zurückziehen, damit Sie sich in aller Ruhe einleben können.“ Meghan nickt mir zu und deutet noch einmal auf ihr Haus. „Sollte was sein, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“

„Und wir werden die Einzelheiten der nächsten Gottesdienste morgen besprechen.“ Dolores tritt einen Schritt zurück.

„Wie dem auch sei. Reverend Lewis, ich werde die nächsten Tage bei Ihnen vorbeikommen.“ Dolores greift nach ihrer Brille, die an einem kleinen Band um ihren Hals hängt.

Ich blicke den drei Damen nach, wie sie die Einfahrt wieder verlassen. Dabei tuscheln und diskutieren sie wild gestikulierend. Na, das kann ja heiter werden, denke ich mir und schließe die Tür, als sie das Haus meiner Nachbarin erreichen.