Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
    1. Prolog
  7. TEIL 1 AUF INS SÜDLICHE AFRIKA
    1. Kapitel 1 Ein erster Meilenstein
    2. Kapitel 2 Von Windhoek aus immer nach Osten, in die Kalahari
    3. Kapitel 3 Mein neuer Arbeitsplatz
    4. Kapitel 4 Klein, »putzig«, bissig
    5. Kapitel 5 Schwarzohr
    6. Kapitel 6 Pavian in der Hose
    7. Kapitel 7 Unter Wildhunden
    8. Kapitel 8 Mit Raubkatzen auf Tuchfühlung
    9. Kapitel 9 Mitten im Nirgendwo
  8. TEIL 2 TIEF IM BUSCH
    1. Kapitel 10 Into the wild
    2. Kapitel 11 Von Narben und Spinnen
    3. Kapitel 12 Ohne Ohren
    4. Kapitel 13 Der Ausbrecher
    5. Kapitel 14 Sturm
    6. Kapitel 15 Vollmond
    7. Kapitel 16 Schwalbentanz
    8. Kapitel 17 Kruger National Park
    9. Kapitel 18 Abschied
  9. TEIL 3 ZURÜCK IN DIE KALAHARI
    1. Kapitel 19 Wiederholungstäter
    2. Kapitel 20 Rooikat
    3. Kapitel 21 Morning-Tour
    4. Bildteil
    5. Kapitel 22 Orange leuchtende Augen
    6. Kapitel 23 Grenzerfahrungen
    7. Kapitel 24 Fieber
    8. Kapitel 25 Von Fabelwesen, sprechenden Bäumen und Abschiednehmen
  10. TEIL 4 AUF SAFARI IN NAMIBIA
    1. Kapitel 26 Erste Welt
    2. Kapitel 27 Die Wüstenstadt am Ozean
    3. Kapitel 28 »Call the breakdown service!«
    4. Kapitel 29 Safari, Safari, Safari
    5. Kapitel 30 Der Ameisenbärendrache
    6. Kapitel 31 Come, visit!
  11. TEIL 5 STAUB UND BLUT
    1. Kapitel 32 Hey! Ho! Let’s go
    2. Kapitel 33 Erschreckend einfach
    3. Kapitel 34 »Löwenjagd«
    4. Kapitel 35 Das Interview
    5. Kapitel 36 Auf dem Tafelberg
    6. Kapitel 37 Auf in den Nordosten
    7. Kapitel 38 Twee seekoeie
    8. Kapitel 39 Spitzes Horn, spitzes Maul
    9. Kapitel 40 Hört das denn nie auf?!
    10. Playlist zum Buch
    11. Danksagung

Über das Buch

Tief im südlichen Afrika, inmitten berauschender Landschaften, wo Geparden ihm den Kopf putzen, Erdmännchen sich in seiner Achillessehne verbeißen und er einem Spitzmaulnashorn zu Fuß begegnet, erlebt Sebastian Hilpert Abenteuer, die er sich nie hätte vorstellen können. Zwölf Jahre war er Soldat und hatte sich am Ende so weit von sich selbst entfernt, dass er in eine Depression stürzte. Der Weg der seelischen Heilung führt ihn zu verwaisten Raubkatzen in der Kalahari und weiter auf eine Nashorn-Auffangstation in Südafrika, wo der Rhino War, der Krieg um die letzten Nashörner, erbarmungslos wütet. Als Volontär kümmert er sich um verwaiste und verletzte Tiere, zieht Karakale und Nashörner mit der Flasche auf und lernt die Härte der Natur wie auch die Skrupellosigkeit der Wilderer aus erster Hand kennen. Später reist er als Fotograf durch die beeindruckende Weite Namibias und arbeitet als Wildhüter in einem Wildtierreservat. Ein Buch voller Engagement und Abenteuer in nahezu unberührter Natur und zugleich eine Geschichte des inneren Wachstums, die uns an die Verantwortung erinnert, die wir tragen: gegenüber den Lebewesen dieser Erde und uns selbst.

Über den Autor

Sebastian Hilpert, 33 Jahre alt, lebt in Würzburg als Fotograf. Vor drei Jahren hat er das aufregende Leben auf einer Wildtierauffangstation in Namibia für sich entdeckt. Seitdem engagiert sich Sebastian jedes Jahr für mehrere Monate vor Ort. Und wenn er hier nicht gerade versucht, wilde Tiere mit der Kamera einzufangen, Nashornbabys mit der Flasche aufzuziehen oder Wilderer zu verjagen, dann schreibt er auf animalperson.org über seine Abenteuer.

SEBASTIAN HILPERT

ÜBERLEBEN

ALS WILDHÜTER IN AFRIKA

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Nashorn, Leopard und Pangolin

Prolog

Langsam schiebt sich der tiefrote Feuerball über die Kante des Horizontes. In atemberaubend kräftigen Farben leuchtet der Himmel im Osten, von dunklem Blau über Lila zu Rotorange. Scharf zeichnen sich davor die Silhouetten der Schirmakazien ab. Die Strahlen der aufgehenden Sonne durchbrechen die Lücken im Geäst und beleuchten punktuell die Landschaft um uns herum. Tief atme ich die trockene, noch eiskalte namibische Morgenluft ein. Eine Bewegung über mir. Ich blicke auf, entdecke am wolkenlosen Morgenhimmel einen Raubadler. Scheinbar entspannt zieht er seine weiten Kreise, dann geht er von einer Sekunde auf die andere in den Sturzflug. Pfeilschnell schießt er Richtung Boden und verschwindet hinter den Bäumen aus meinem Sichtfeld. Was für eine Beute er wohl geschlagen hat? Ein Damara-Dikdik? Oder einen Kaphasen?

Wir halten direkt auf den mächtigen Tafelberg zu, der alles dominierend vor uns thront. Eine massive Felsformation, rot schimmernd im ersten Licht des Tages, die endlose Buschlandschaft um fünfhundert Meter überragend. Ein beeindruckender Anblick. Welch eine tiefgreifende Freiheit dieses weite, so unvergleichliche Land ausstrahlt. Namibia, manchmal scheint deine Schönheit mich zu überwältigen.

Ich bleibe stehen, als ich etwas am Wegesrand entdecke. Eine Spur, nicht sehr frisch, aber ich erkenne gleich die typische Katzenpranken-Form. Keine sichtbaren Krallenabdrücke, ungefähr zehn Zentimeter lang, eine fast kreisrunde Anordnung der Ballen. Dahinter weißlicher, von der Sonne ausgeblichener Kot. Es ist eindeutig, welches Tier hier sein Revier markiert hat.

»Leopard. Von der Größe der Pfote her ziemlich sicher männlich«, sage ich mehr zu mir selbst als zu meinem neun Jahre jüngeren Bruder Alex. Er steht einige Schritte hinter mir und nickt. Lässt sich wie immer nicht anmerken, was in ihm vor sich geht. Bis über die Nase hat er sein Gesicht in dem hohen Kragen seines Pullovers vergraben. Mit einer Hand umklammert er eine seiner Kameras, die andere hat er tief in seine Hosentasche gesteckt. Auch mich fröstelt es, trotz Fleece-Pullover und Jacke. Ich sehne mich nach der Wärme der afrikanischen Sonne.

Etwas steif gehen wir weiter, froh über jede Bewegung, die die Kälte aus unseren Knochen vertreibt. Dass wir den Leoparden sehen, der die Spuren hinterlassen hat, ist höchst unwahrscheinlich. Zum einen ist die Spur alt, und zum anderen sieht man die wunderschönen Raubkatzen nicht, wenn sie nicht gesehen werden wollen. Sie sind schüchtern, weichen den Menschen meist schon weit im Voraus aus. Außerdem sind sie Meister der Tarnung und des Versteckens. Der Leopard könnte drei Meter von uns entfernt im Gras liegen, und wir würden ihn nicht sehen. Das hat etwas Unberechenbares, aber ehrlich gesagt mag ich genau das.

Wir erreichen unser Ziel, einen frisch ins Erdreich gebauten, überdachten Unterstand, direkt an einem kleinen Wasserloch gelegen. Hier wird uns Wildhüter Louis in knapp drei Stunden wieder abholen. Um das Wasserloch herum entdecke ich im Matsch frische Spuren eines Spitzmaulnashorns. Es muss heute Nacht zum Trinken hier gewesen sein. Ich bin begeistert, Leoparden- und Spitzmaulnashorn-Spuren an einem Morgen! Gleich zwei meiner drei Lieblingstiere. Wie soll das denn heute noch weitergehen?

Mit gespitzten Ohren steige ich die wenigen Stufen hinab in den tief gelegten Unterstand. Er hat keine Tür, was bedeutet, dass jederzeit Wildtiere eindringen könnten. Mal sehen, ob jemand heute Nacht hier geschlafen hat.

»Bis auf etwas Paviandreck ist alles frei«, lasse ich nach kurzer Kontrolle meinen Bruder grinsend wissen. Der wartet draußen mit der schweren Ausrüstung und sucht prüfend die Umgebung ab. Wir beziehen den Unterstand, packen unsere Kameras und das Zubehör aus. Unsere Aufgaben sind klar verteilt. Er filmt, sowohl vom Boden aus als auch bei Gelegenheit mit der Drohne aus der Luft. Darin ist er Profi. Ich selbst fotografiere und organisiere.

Vom Unterstand aus blicken wir durch schmale rechteckige Öffnungen auf das Wasser. Wenn ein Tier zum Trinken kommen sollte, sind wir direkt auf Augenhöhe mit ihm. Ein absoluter Traum für jeden Wildtierfotografen.

Ein einzelner kleiner Baum steht gegenüber auf der anderen Uferseite. Er ist wie die meisten Bäume in der Trockenzeit kahl. Statt mit Blättern ist er über und über mit zwitschernden Vögeln bedeckt. Kleine blaue Angola-Schmetterlingsfinken, bunte, leuchtende Granatastrilden und dazwischen die Grauen Lärmvögel mit ihrem unverkennbaren »Elvis-Kamm«. Kaum habe ich die Kamera auf eine besonders bunte Mischung von Vögeln ausgerichtet, ertönt ein Geräusch. Und was für eines! Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus. Ich lege meine Nikon aus der Hand und gehe langsam einen Schritt aus dem Unterstand heraus. Ein tiefes, röhrendes, enorm bass-lastiges Brüllen, das alles durchdringt. Es ist unvergleichlich, pure Kraft. In der Morgensonne stehend, lausche ich dem beeindruckenden Konzert, das kilometerweit über die Savanne hallt. Nach kurzer Zeit stellt sich Alex zu mir. Die Müdigkeit in seinen Augen ist verschwunden.

»Löwen?«, fragt er tonlos.

»Ja, ein weit entferntes Rudel in ungefähr dieser Richtung.« Ich deute nach Südwesten. »Und eine einzelne Stimme von dort.« Ich weise schräg hinter uns nach Nordosten. »Im Gegensatz zum Rudel ist uns der Einzelgänger der Lautstärke nach zu urteilen um einiges näher.«

Wir entscheiden uns, in beide Richtungen Ausschau zu halten. Alex blickt von innen durch die schmalen Fenster über das Wasserloch nach Norden. Ich überwache halb verdeckt, im offenen Eingang stehend, den Bereich Richtung Süden. Wir verhalten uns mucksmäuschenstill. Die Sonne hat ein wenig an Höhe gewonnen und scheint nun rotgolden über die trockene Buschlandschaft. Das Fernglas in der Hand, stütze ich mich mit den Ellenbogen am Rand des Aufgangs ab. Halte so Ausschau nach Bewegungen im Gras, zwischen den Büschen und Bäumen. Doch auch nach mehr als einer halben Stunde ist nichts passiert. Ich nehme das Fernglas herunter und erstarre augenblicklich in der Bewegung. Keine zehn Meter vor mir tritt ein Löwe seitlich aus dem hohen Gras. Ein ausgewachsenes, etwa drei bis vier Jahre altes Männchen. Deutliche Narben im Fell zeichnen bereits seinen Rücken. Sie sind Zeuge seines Überlebenskampfes in der rauen Natur. Löwenmännchen kämpfen ihr Leben lang um Reviere, um die Vorherrschaft innerhalb eines Rudels, um das Recht, sich zu paaren, und nicht wenige lassen durch brutale und entzündende Verletzungen dabei ihr Leben.

Der junge, jedoch schon reichlich kampferfahrene Löwe geht ein paar Schritte, passiert einen Dornenbusch – und erstarrt in der Bewegung. Er hat mich bemerkt. Ruckartig wendet er den massigen Schädel in meine Richtung. Die Sonne beleuchtet von hinten einen Teil seiner Mähne und lässt sie orange leuchten. Das größte Landraubtier des afrikanischen Kontinents blickt mit seinen gelben Augen direkt in meine blauen. Ein wahnsinnig intensives Gefühl. Meine Kopfhaut kribbelt. Ich fühle mich vollkommen nackt in diesem Moment. Ausgeliefert, aber auch unsagbar lebendig. Alle unnötigen Gedanken, vermeintlichen Probleme und Sorgen sind schlagartig weg. Jetzt gibt es nur mehr ihn und mich.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich in solch einer Situation bin. »Du bist der Boss«, sage ich im Stillen zu mir, »du beherrschst die Lage.« Zum Glück weiß ich, wie ich mich zu verhalten habe. Durch Aufenthalte als Volontär auf Wildtier-Auffangstationen, als Fotograf auf Safaris und als Wildhüter mit Louis auf Patrouillen habe ich mir dieses Wissen angeeignet. Ich bin ganz sicher kein Vollprofi, aber ich weiß ganz genau, was man besser bleiben lassen sollte, und auch, was man auf keinen Fall tun sollte. Ich bewege mich langsam, entspannt und selbstsicher um die Ecke des Eingangs. So, als würde mich die Großkatze gar nicht interessieren. Mein Bruder wirft mir einen fragenden Blick zu.

»Da ist einer«, flüstere ich.

»Ein was?«

»Ein Löwe, männlich, keine zehn Meter entfernt.« Seine Augen weiten sich, ich kann spüren, wie sein Herz zu rasen beginnt. »Er bewegt sich seitlich zu uns. Wenn er den Weg so weitergeht, kannst du ihn auch gleich sehen. Halte deine Kamera bereit.«

Auch ich bin nervös. Sollte der Löwe, wieso auch immer, aggressiv oder neugierig sein, hätten wir ein Problem. Denn wir sind unbewaffnet. Das Einzige, was als Waffe zählen könnte, ist das Jagdmesser, das ich am Gürtel trage und lediglich als Werkzeug benutze. Völlig lächerlich gegen die rund zweihundertfünfzig Kilo schwere Raubkatze, die nur aus Muskeln, Fangzähnen und rasiermesserscharfen Krallen besteht. Ein einziger Prankenhieb, und man ist außer Gefecht gesetzt. Ich blicke langsam um die Ecke. Der Löwe ist weitergegangen, bleibt aber in dem Moment, in dem ich mich wieder zeige, sofort stehen. Unsere Blicke treffen sich erneut. Gut, ich habe verstanden – solange ich ihn offen ansehe, wird er seinen Weg nicht fortsetzen. Ich tue, als würde ich gelangweilt und leicht arrogant zwei Vögel in einem Baum gegenüber mustern, und zwinge mich, dabei ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ich spüre, dass er mich noch ein paar Augenblicke beobachtet. Dann geht er tatsächlich weiter. Als er die Flanke des Unterstandes passiert hat und vor dessen Fenstern sichtbar wird, trete ich wieder durch den Eingang neben meinen Bruder. Er filmt, ich fotografiere. Das majestätische Tier schreitet am Wasserloch vorbei. Ein weiteres Mal bleibt es stehen, fixiert uns. Ein paar dunkle Vögel fliegen im Hintergrund vorbei, machen die Szene noch dramatischer. Der Löwe blickt kurz in die Richtung, aus der er kam. Setzt dann seinen Weg auf riesigen Pranken fort. So verschwindet er wieder im hohen, trockenen Gras. Sein vernarbter Rücken ist das Letzte, das wir von ihm sehen.

Was für eine faszinierende Begegnung. Alex ist verständlicherweise ziemlich aufgekratzt, denn das hätte auch anders ausgehen können. Wenn man auf Augenhöhe mit einem körperlich völlig überlegenen Löwen ist, gilt es, die aufkeimende Angst in den Griff zu bekommen und den Impuls, wegzurennen, um jeden Preis zu unterdrücken. Denn für Raubkatzen gilt: Nur Beute rennt.

Ich kann mich noch gut an meine eigene erste Begegnung mit Löwen erinnern. Über dreieinhalb Jahre ist das nun schon wieder her. Wahnsinn, wie die Zeit verrinnt. Seitdem hat sich so unglaublich viel verändert. Vor allem ich mich selbst …

TEIL 1

AUF INS SÜDLICHE AFRIKA

Unter Wildtieren auf der
Auffangstation in der Kalahari

Kapitel 1

Ein erster Meilenstein

Frankfurt–Windhoek, im Februar 2015

Noch nie bin ich auf so einem langen Flug gewesen. Noch nie bin ich allein geflogen. Noch nie wusste ich so wenig, was auf mich zukommt.

Das leicht ironische »Wonderful Life« in der schweren Version von Smith & Burrows rauscht durch meine Kopfhörer, während ich versuche, irgendwie eine halbwegs bequeme Position zum Schlafen zu finden. Klappt nicht, zu eng, zu wenig Beinfreiheit, zu unbequem. Ich lehne mich wieder in meinem Sitz zurück, blicke aus dem kleinen Flugzeugfenster. Schwärze unter mir, der Sternenhimmel über mir. Laut der Flugübersicht auf dem Display im Sitz vor mir befinden wir uns gerade über der endlosen, weiten Sahara, der größten Trockenwüste unserer Erde. Irgendwie kann ich es noch nicht vollkommen realisieren, dass ich hier in diesem Flieger sitze, statt auf einen Truppenübungsplatz oder Lehrgang befohlen worden zu sein. Statt genau das zu tun, was andere und nicht zuletzt ich selbst von mir erwarten. Es fühlt sich an wie ein Traum. Mache ich das gerade wirklich?, wundere ich mich. Meine Gedanken driften in der Zeit zurück …

*

Würzburg, zwei Jahre zuvor

Es ist März 2013, und die Welt ist grau. Wie ich den langen Winter verabscheue. Nass, kalt, ungemütlich; das Leben findet fast ausschließlich drinnen statt. Aber na gut, viel Leben findet für mich gerade sowieso nirgends statt. Ich bin, ohne dass ich es bewusst wahrnehme, mehr tot als lebendig. Alles, was ich mache, geschieht, weil ich es eben machen muss. Morgens aufstehen, schlaftrunken in die Kaserne fahren, schlechten Filterkaffee trinken, Dienst verrichten, nach Hause fahren. Zwischendurch Lehrgänge besuchen und meine Liste an Weiterbildungen verlängern. Weil es gut für den Lebenslauf ist.

Momentan mache ich eine Ausbildung zum Wirtschaftsinformatiker. Eigentlich reicht es mir völlig, wenn mein PC und die Programme, die ich nutze, funktionieren. Ich habe keinerlei Interesse daran, zu wissen, wie man sie programmiert oder solch ein Programm plant. Trotzdem verbringe ich seit Jahren Unmengen an Zeit damit, mir genau das einzubläuen. IT-Systemelektroniker, IT-Systemadministrator, IT-Netzwerkadministrator, IT-Sicherheitsbeauftragter und so weiter. Bald werde ich noch das Diplom für den Betriebs- und Wirtschaftsinformatiker in den Händen halten. Fast hätte ich das nicht überlebt.

Ich bin am Ende. Über die letzten Jahre hat sich immer mehr in mir angestaut. Ich reagiere fast nur noch über. Entweder bin ich aggressiv oder völlig still und ziehe mich zurück. In meiner Freizeit lenke ich mich so weit wie möglich von mir selbst ab. Doch auch das kann nicht ewig gut gehen. Ich betreibe meine Hobbys regelrecht fanatisch. Von null auf hundert, ohne Kompromisse. Kaum bin ich zu Hause, dreht sich alles nur noch um das jeweilige Hobby. Die Realität wird ausgeblendet, bis ich es nicht mehr ertrage und das eine Hobby gegen das nächste austausche. Meine Beziehung leidet massiv darunter. Lisa, meine Freundin, mit der ich zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Jahre zusammen bin, kommt überhaupt nicht mehr an mich heran. Ich sehe alles nur noch grau und verkrampft.

Auf die Idee, dass ich einfach den falschen Weg eingeschlagen habe, komme ich nicht. IT ist doch die Zukunft. Als Wirtschaftsinformatiker werde ich nach meiner Militärzeit locker dreitausend Euro netto als Einstiegsgehalt verdienen. Im öffentlichen Dienst würde ich damit auch eine gute Stelle finden. Das ist zukunftssicher, das ist richtig, sagen alle. Zweifel werden nicht zugelassen. Die anderen machen das doch auch.

Aber in mir schreit alles nach dem echten Leben, einem Leben, das meiner Persönlichkeit entspricht. Dennoch zwinge ich mich, wie alle um mich herum den vermeintlich sicheren Weg zu gehen, und werde dabei immer depressiver.

An manchen Tagen halte ich den psychischen Schmerz kaum mehr aus. Schon allein die Existenz schmerzt.

Um den Abend zu überleben, stürze ich mich in ein Online-Panzerspiel. Es gibt 1,6 Millionen Spieler zu diesem Zeitpunkt in Europa, und ich habe mich unter all den Freizeitpanzerkommandanten auf Platz dreißig hochgearbeitet. Obwohl ich unter den Top fünfzig bin, stellt es mich bei Weitem nicht zufrieden. Ich spiele wie unter Zwang, immer besser, immer mehr.

Erschütterung, »Wir wurden getroffen«, meldet eine aufgeregte Stimme im Headset. Eine Stichflamme lodert auf. Wir sind abgeschossen worden. Verdammt! Mein Team hat versagt! Ich reiße mir den Kopfhörer vom Schädel. Lisa, die auf der Couch sitzt und liest, zuckt durch meine plötzliche Bewegung zusammen. Ich stehe vom Schreibtisch auf und gehe frustriert zur Couch.

Mit weit aufgerissenen blauen Augen schaut mich Pauzi an, springt von ihrem Platz und streicht mir einmal auf Katzenart um die Beine. Ich lasse mich erschöpft auf die Couch fallen und höre ein dumpfes »Miau«. Herr Dachboden hat es sich unter der Decke zwischen Lisas Füßen bequem gemacht. Klar, es ist kalt, da heißt es leider Decke und dicke Socken statt kurzer Hose und barfuß. Verdammter Winter! Ich seufze laut und zappe unmotiviert durch die Kanäle. Negative Nachrichten, selbstverliebte Männer beim Kochen, oberflächliche und gestresste Frauen beim Klamotteneinkauf, Leute, die nichts können, aber trotzdem berühmt sind, verlogene Werbung für unnützes Zeug. Wie ätzend!

Komm, Sebastian, mach die Kiste wieder aus, sage ich zu mir selbst. Doch dann bleibe ich bei einem Sender hängen, in dem eine Doku läuft. Grüne, weite Buschlandschaft unter blauem Himmel. Leute mit kurzen Hosen, Käppis und Hüten gegen den Sonnenschein – und Geparden. Geparden?! Tatsächlich, Menschen laufen gemeinsam mit den schnellsten Raubkatzen der Welt durch den Busch. Als Nächstes reparieren sie Zäune und heben Wasserlöcher in der Savanne aus. Ich setze mich aufrecht hin und verfolge gebannt den Fernsehbeitrag. Nach zwanzig Minuten weiß ich Bescheid. Es geht um Volontäre in Namibia, um Freiwilligenarbeit auf einer Wildtier-Auffangstation. Beeindruckend! Das kommt mir so erstrebenswert vor. Einen sinnvollen Beitrag leisten, für und mit Wildtieren arbeiten, dabei das südliche Afrika entdecken. Etwas, das ich schon ewig nicht mehr gefühlt habe, keimt in mir auf. Begeisterung und Hoffnung.

Sofort aber melden sich Vernunft und Zweifel. Du das südliche Afrika entdecken? Niemals! Du machst jetzt deinen Wirtschaftsinformatiker und leistest die restlichen Jahre in der Armee ab, um dann im Anschluss in einem Büro in einer Behörde oder einem Amt an einem Schreibtisch zu sitzen und auf die Rente zu warten!

Mir wird fürchterlich schlecht bei diesem Gedanken. Aber träumen, geschweige denn Träume zu verwirklichen, das ist nur etwas für andere, davon bin ich zu diesem Zeitpunkt fest überzeugt.

Lisa hat mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Ihr ist es am Ende zu verdanken, dass ich knapp zwei Jahre später das erste Mal nach Namibia reisen werde. Sie hat meine Begeisterung gespürt und ist nicht müde geworden, mich zu ermutigen, bis ich meine Zweifel hinter mir lasse. Im Internet suche ich nach Volontärprogrammen in Namibia. Schnell merke ich, dass man sich gut informieren muss, um nicht den Angeboten einiger schwarzer Schafe aufzusitzen, die es in diesem Bereich durchaus gibt.

Währenddessen mache ich mehr als hundert Überstunden, als Ausbilder auf einem Truppenübungsplatz. Meinem Vorgesetzten erzähle ich von meinem Plan, er erklärt sich einverstanden, mir zwei Monate freizugeben. Schließlich finde ich eine Wildtier-Auffangstation in der Kalahari, deren Bewertungen überwiegend positiv klingen. Ich mache Nägel mit Köpfen und buche meinen Aufenthalt knapp ein Jahr im Voraus.

*

Ein Blick auf das Display vor mir zeigt, dass wir die trockene Wüste hinter uns gelassen haben.

Und ich? Was habe ich hinter mir gelassen? Habe ich mich diesmal tatsächlich selbst überwunden? Trotz aller negativen Stimmen in meinem Kopf? Warum habe ich nicht wie gewohnt den kritischen und pessimistischen Gedanken nachgegeben? Diese Reise als naive Träumerei abgetan? Die Antwort lautet: weil der Punkt erreicht war, an dem es einfach nicht mehr so weiterging.

Das hier ist ein Sprung, ein Sprung ins kalte Wasser, denn ich habe das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Vielleicht löschen die kommenden Erfahrungen ja das selbstzerstörerische schwarze Feuer in mir, vielleicht aber auch nicht. Positiv zu denken schaffe ich noch nicht, aber zumindest neutral zu sein sollte ich versuchen. Am besten erwarte ich einfach gar nichts, dann kann ich am Ende auch nicht enttäuscht werden. Bei diesem Gedanken muss ich über mich selbst lachen. Ich bestehe doch nur aus Erwartungen! Erwartungen an mich selbst – und die will ich ausschalten?! Wir werden sehen. Denn ganz tief in mir habe ich ein Gefühl, das auch von all meinen Zweifeln, meinem anerzogenen Pessimismus und meiner selbst gepflegten Skepsis nicht vollständig erstickt werden kann: Ich freue mich, freue mich auf das, was kommt. Ganz insgeheim, in mir, ohne dass es für andere ersichtlich wäre. Diese Reise ist ein gewaltiger Meilenstein für mich. Was sie auslösen, wo sie mich hinführen wird, das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber ich weiß aus ganzer Seele, dass es unfassbar wichtig für mich ist, genau das jetzt zu tun.

Kapitel 2

Von Windhoek aus immer nach Osten, in die Kalahari

Nach knapp zehn Stunden Flug landet der Flieger in Windhoek. Etwas steif vom langen Sitzen steige ich die Metalltreppe hinunter und stehe direkt auf dem Beton des Flugfeldes. Das helle Licht blendet mich. Man spürt, dass der Flughafen auf gut eintausendsiebenhundert Metern Höhe liegt, die Luft ist trocken und dünn.

Während ich den anderen Passagieren ins Flughafengebäude folge, blicke ich mich um. Nichts als Halbwüste, so weit das Auge reicht. Ich bin von dem Nachtflug noch völlig durcheinander, fühle mich desorientiert.

Auf der Fahrt in die vierzig Kilometer entfernte Stadt sehe ich aus dem Fenster und staune. Die Landschaft ist weit und trocken. Verdorrte Büsche, dazwischen ab und an ein Warzenschwein. Eine Gruppe Paviane hockt direkt am Straßenrand. Ich reibe mir die müden Augen und sauge all die fremdartigen Eindrücke in mich auf.

Eine halbe Stunde später erreichen wir den Ostteil der Hauptstadt. Ich habe eine kleine, schöne Pension für eine Nacht im Stadtteil Klein-Windhoek gebucht. Nach einer erfrischenden Dusche entschließe ich mich, die Umgebung zu erkunden. Ich laufe am Straßenrand entlang, denn Bürgersteige gibt es hier keine. In der Ferne sehe ich das Schild eines Supermarkts. Je näher ich ihm komme, desto mehr Menschen begegnen mir. Frauen mit vollen Einkaufstüten, Männer, die am Straßenrand im Schatten eines Baumes oder Gebäudes sitzen. Die Straßen sind gut befahren, ich sehe immer wieder Pick-up-Trucks. Ihre Ladeflächen sind voll von sitzenden oder stehenden Menschen, die mir zuwinken und grinsen. Sie alle sind offensichtlich weitaus ärmer als die Menschen in Mitteleuropa, aber wesentlich besser gelaunt. Unsicher lächle ich zurück. Inmitten der fremden Stadt komme ich mir ein wenig wie ein Außerirdischer vor. Ich bin der einzige Weiße in einer Umgebung aus ausschließlich Schwarzen, eine neue Erfahrung. Dies ist ganz einfach eine andere Welt, die in nichts dem gleichkommt, was ich bisher gesehen habe. Ich bin gebannt, geflasht, finde keine Worte, die Geräusche, Gerüche, all die Eindrücke zu beschreiben. Und all das ist ja erst der Anfang meines Abenteuers.

Am nächsten Morgen werde ich vom Fahrer der Auffangstation abgeholt. Im Wagen sitzen bereits zwei Schwedinnen, eine Norwegerin, ein Däne und ein Belgier. Als Nächstes steigt ein Medizinstudent aus Köln dazu, braunhaarig, schlank, ich schätze ihn auf Mitte zwanzig.

Wir fahren nach Osten, es herrscht nur wenig Verkehr auf den gerade gezogenen, frisch geteerten Straßen. Namibia ist nach der Mongolei das am wenigsten besiedelte Land der Welt. Mit seinen 824.116 Quadratkilometern ist es zweieinhalbmal so groß wie Deutschland, hat aber nur 2,3 Millionen Einwohner. Und so passieren wir auf unserem Weg in die Kalahari nur wenige Siedlungen. Ab und an zweigt eine Sandpiste ab, die zu einer Farm oder einer Ansammlung von Hütten und Häusern führt. Dazwischen ist nichts als namibisches Buschland – einzelne niedrige Akazien, Büsche und Wüstengras. Auffallend sind die Dornen und Stacheln der Pflanzen, mit denen sie ihre meist kleinen Blätter gegen die Pflanzenfresser verteidigen.

Wasser ist knapp hier; die Hälfte des Jahres, wenn Winter herrscht, fällt überhaupt kein Regen. Der Fahrer erzählt uns, dass die namibischen Farmer ein Hauptgesprächsthema haben, wenn sie sich treffen: »Hat es bei dir dieses Jahr schon geregnet? Wie viele Millimeter pro Quadratmeter?« Jetzt, im Februar, ist hier Hochsommer und somit Regenzeit, das freut die Namibier mehr als die Touristen.

Je näher wir der Kalahari kommen, desto sandiger wird der Boden. Gelb, grau, hin und wieder ein erdiger rötlicher Ton. Einzelne Büsche und Gräser sind leicht ergrünt, es muss geregnet haben. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt machen wir Pause im letzten Ort vor unserem Ziel: volltanken, einen Dollar für ein dreckiges WC zahlen und Milchshake in einer unbekannten Fastfood-Kette trinken. Danach geht es für eine Stunde auf einer staubigen Schotterpiste weiter.

Mich überkommt ein seltsames Gefühl, das ich nicht deuten kann. Ich bin gespannt, was mich erwartet, doch auch nervös. Mir fehlt das Vertrauen neuen Dingen gegenüber. Doch schon bald wird mich all das Neue so in den Bann ziehen, das Leben und Überleben der Tiere in dieser öden, doch auch schönen Wildnis, dass es mich von Grund auf verändert und mir neue Horizonte eröffnet …

*

Die Wildtier-Auffangstation in der Kalahari hat ihre Wurzeln in den späten Siebzigerjahren und ist ein Refugium für verwaiste, misshandelte und verletzte Wildtiere. Erklärtes Ziel der Station ist es, die Tiere so lange in einem gesicherten, möglichst naturnahen Gehege zu versorgen, bis sie wieder ausgewildert werden können. Seit einigen Jahren gibt es ein Volontärsprojekt, wo Menschen aus allen Ländern der Erde zusammenkommen, um die Tiere zu betreuen und anstehende Arbeiten rund um die Station zu übernehmen.

Das Volontärsdorf liegt etwa einen Kilometer von den Hauptgebäuden, der sogenannten Farm, entfernt. Es besteht aus knapp einem Dutzend Holzhütten; die neueren sind auf kurzen hölzernen Stelzen gebaut, die alten auf einem Betonfundament. Ich teile mir eine der rustikalen Hütten, die auch schon bessere Tage gesehen hat, mit Rick, einem jungen Belgier, Magnus, einem schüchternen Dänen, und dem Kölner Medizinstudenten, den ich wegen der ausschließlich langen Hosen, die er trägt, bald Dr. Long Trousers nenne.

Die Sanitäranlagen befinden sich außerhalb der Hütte, es sind einfache Wellblechverschläge und sie tun ihren Dienst, denke ich mir. Ich packe aus und fühle mich etwas verloren. Die Hitze ist erdrückend.

Als es dunkel wird, laufe ich zu der halb überdachten Gemeinschaftsunterkunft am Rand des Volontärsdorfes.

Jeden Freitag findet nach dem Abendessen hier die Vorstellungsrunde statt. Zuerst sind die Neuankömmlinge, die Newbies, an der Reihe. Gesprochen wird Englisch, eine Sprache, mit der ich bislang nie wirklich warm geworden bin. Angestrengt versuche ich, die unterschiedlichen Akzente der rund vierzig bis fünfzig Freiwilligen zu verstehen. Über die Hälfte sind Skandinavier, ansonsten überwiegend Niederländer, Deutsche, Österreicher und Schweizer.

Die Vorstellungsrunde läuft immer gleich ab. Jeder sagt, wie er heißt, woher er kommt, was er zu Hause macht, ob er Single oder vergeben ist, wie viele Wochen er bleibt und ob er Dog- oder Catperson ist. Die meisten geben an, »Hundemenschen« zu sein. Wenn es nach dem ginge, was man am liebsten mag, müsste ich »Animalperson« antworten, denn Tiere interessieren und begeistern mich ganz allgemein. Aber hier will man offenbar wissen, welchem Tier der eigene Charakter näher ist. Ich bin mit Hunden aufgewachsen und mag sie sehr, Katzen aber habe ich lieben gelernt. Ihre Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und freiheitsliebende Natur sagen mir persönlich viel mehr zu. Deshalb antworte ich »Catperson«, auch wenn »Animalperson mit der Priorität auf Katzen aller Art« mich am besten beschreiben würde.

Im Anschluss an uns Newbies stellen sich die Mitglieder der einzelnen Gruppen vor, die ganz unterschiedliche Aufgaben vom Caretaker für Tierbabys über tiermedizinische Betreuung bis hin zu Forschungsprojekten umfassen. Im Anschluss daran müssen sie noch ihr jeweiliges Gruppenlied singen, die Melodie eines bekannten Songs mit umgeschriebenem, auf die Arbeiten der Gruppe angepasstem Text. Ein etwas peinlicher Moment, aber auch der geht vorüber. Ich fühle mich ein wenig wie ein Außenseiter, tue mich noch schwer, unbefangen auf andere zuzugehen, hier in dieser ungewohnten Umgebung, wo nichts so ist, wie ich es kenne.

Es ist spät geworden, unsere Einweisung und der Rundgang durchs Dorf werden erst morgen stattfinden. Ich kann es kaum erwarten, die Tiere kennenzulernen, denn ihretwegen bin ich hier.

Als ich zurück zu meiner Hütte gehe, stolpere ich fast über ein massiges Wesen, das sich mitten auf dem Weg niedergelassen hat. Mit seiner graubraunen, spärlich behaarten Haut, den Warzen im eigentümlich geformten Gesicht und den Hauern handelt es sich unverkennbar um ein Warzenschwein.

»Das ist Bacon, unser Alpha-Keiler. Der ist zahm, aber er duldet hier keine anderen Warzenschweine«, sagt Sandy, eine Biologiestudentin aus Österreich mit langen dunkelblonden Haaren und ausgeprägtem Wiener Dialekt. »Pass besser auf deine Sachen auf, der frisst alles.« Und schon verschwindet sie in der Dunkelheit zwischen den Hütten.

Bacon grunzt, reckt die Schweinenase und rappelt sich auf. Sprachlos blicke ich ihm hinterher, wie er zu den Duschen stapft und sich in einer Kabine breitmacht. Ich blinzle verdutzt. Ein Warzenschwein, das Bacon heißt und in der Duschkabine schläft? Wenn das schon so anfängt, was wird mich hier dann wohl noch erwarten?

Kapitel 3

Mein neuer Arbeitsplatz

Am nächsten Morgen begrüßt uns Alice, die Gründerin der Kalahari-Auffangstation. Ich schätze sie auf Ende sechzig, sie wirkt auf den ersten Blick sympathisch und äußerst tierlieb. Mit dabei hat sie ein Pavianbaby, ihr derzeitiges Pflegekind, wie sie uns erklärt. Ein Koordinator führt Dr. Long Trousers, die skandinavischen Volontäre, die tags zuvor mit mir hier angekommen sind, und mich über das Gelände der Auffangstation, um uns anschließend in unsere Tätigkeiten einzuweisen. Ich habe Mühe, den Akzent des alten, wettergegerbten Südafrikaners zu verstehen.

Unsere erste Station ist ein Entwicklungshilfe-Projekt: die Vorschule für die San-Kinder, die sich einen knappen Kilometer vom Volontärsdorf entfernt befindet. Das Volk der San, auch Buschmänner genannt, sind die eigentlichen Ureinwohner Namibias. Sie haben eine gelblich-bräunliche Haut, eine eher geringe Körpergröße von eins vierzig bis eins sechzig und sprechen eine interessante Klicksprache, bei der sie mit der Zunge schnalzen. Der Film »Die Götter müssen verrückt sein« von 1980 hat Buschmänner über das südliche Afrika hinaus bekannt gemacht. In Wahrheit können sie in der heutigen Zeit kaum mehr so leben, wie es ihrer Tradition entspricht. Mit einer Stammeslinie, die vor mindestens zehntausend Jahren ihren Anfang nahm, sind sie wohl das älteste Volk der Welt. Die San waren über Jahrtausende reine Sammler und Jäger, bis die Europäer Afrika kolonialisierten. Als rückständig verschrien, versklavt und vertrieben, litten sie Jahrhunderte unter der Kolonialherrschaft, aber auch anderen Stämmen, die in ihr Gebiet einwanderten, wie den Herero oder Nama. Noch heute gibt es keine Lobby, die sich für sie einsetzt, und die Regierungen der Länder, in denen sie noch leben, interessieren sich kaum für sie. Somit sind sie einer der großen Verlierer im heutigen Afrika. Wie ich erfahre, arbeiten einige San für Alice und leben in einer kleinen Dorfgemeinschaft neben der Farm. Die Vorschule hat sie für die dortigen Kinder gegründet.

Rechter Hand befindet sich der Carpark. Er ist das Revier einer kleinen, zutraulichen schwarz-weißen Katze, die neugierig um unsere Gruppe herumstreicht. Ansonsten sind hier Geländefahrzeuge, Käfigwagen, Safariwagen, Traktoren und ein Lkw abgestellt. Dahinter befindet sich der Kühler-Container, in dem das Fleisch für die Raubtiere aufbewahrt und jeden Morgen durch den eingeteilten Guide zurechtgesägt wird. Hauptsächlich handelt es sich um alte Esel und Pferde von Farmern aus der Umgebung, die als Fleischlieferanten für die vielen Carnivoren der Auffangstation dienen.

Wir öffnen das erste Tor der Farm, hier herrscht eine Gruppe Gänse als Wachhunde. Linker Hand befindet sich die Mechanikerhalle, die von einem freundlichen, untersetzten Mann regiert wird. Heute trägt der grinsende Kerl, der nur noch einen Teil seiner Zähne besitzt, sein Lieblings-T-Shirt, auf dem steht: »Die Kalahari-Auffangstation ist nichts für Pussys.« Damit hat er wohl recht, zumindest, wenn man den Worten unseres Koordinators Glauben schenkt: »Das hier ist kein Streichelzoo, und wer von euch nicht damit klarkommt, dass Fressen und Gefressenwerden ein Bestandteil der Natur sind, wird es sehr schwer haben. Die Natur ist nun mal kein Disney-Zeichentrick-Film.« Im Klartext: Wer sich hier anmeldet, der ist zwar freiwillig hier, verpflichtet sich aber, zu arbeiten, sich einzugliedern und gewisse Härten in Kauf zu nehmen.

Gegenüber befindet sich das Zuhause eines sehr aggressiven Pavianmännchens ohne Schwanz. »Bei ihm solltet ihr eine Armeslänge Abstand zu den Gittern halten«, erklärt der Koordinator. Daneben, in einem Gehege mit einem kleinen Hügel in der Mitte, residiert in einem Erdloch Gumbi, ein altes, entspannt wirkendes Schabrackenhyänenmännchen. Links von uns befindet sich die »Food Prep Area«, ein Extrabereich, in dem zweimal täglich das Futter für die Tiere auf der Farm von Volontären zubereitet wird. Sofort habe ich den Geruch von Blut und Fleisch in der Nase. Denn dort schneidet man nicht nur Karotten und Äpfel klein, sondern hat auch mal ein vierzig Kilo schweres Eselhinterteil inklusive Schwanz, Fell und Genitalien auf dem Tisch liegen, das man in passende Portionen für Mangusten, Erdmännchen, Geparden oder Hyänen schneiden darf.

Als wir durch das zweite Tor treten, befinden wir uns auf einer großen grünen Wiese, welche die umzäunte Farmanlage dominiert. Um das Gras in diesem trockenen Land grün halten zu können, wird es täglich mit dem Abwasser der Auffangstation gegossen. Wenn die Sprenkelanlage angestellt ist, sollte man also nicht unbedingt durch das Wasser laufen, geschweige denn davon trinken.

An den Rändern der Farm sind ein paar kleinere Gehege untergebracht. Es sind aber nur wenige, die meisten Gehege sind weitläufig angelegt und befinden sich in der weiteren Umgebung der Farm.

Unser Weg führt uns an den Büros und den privaten Räumen der Gründerin Alice sowie den Wohnräumen der Angestellten vorbei. Zweihundert Meter weiter geradeaus steht die »Lapa«, ein großes reetbedecktes Haus unter einem noch größeren Baum. Dort befinden sich die Bar und das Restaurant für die Gäste, die in den Lodges in der Nähe der Farm übernachten und die Auffangstation als Touristen besuchen.

Im Schatten des großen Baumes neben der Lapa erklärt uns der Koordinator den Tagesplan. Unwillkürlich denke ich an zu Hause. 05:50 aufstehen, rasieren, Zähne putzen, Uniform anziehen. Anschließend Fahrt in die Kaserne, schlechten Filterkaffee trinken, bis 17 Uhr arbeiten, wenn nichts Besonderes anfällt, wie Übung, Lehrgang, Schießen. Dann heimfahren, kochen, unzufrieden sein, ohne den genauen Grund zu erkennen, ablenken, schlafen. Ich verdränge die aufsteigenden diffusen Gefühle und versuche aus dem fürchterlichen Akzent des Koordinators schlau zu werden.

06:20

Einer der Koordinatoren oder Guides fährt mit einem bis zwei Volontären die großen Gehege abseits der Farm ab. Grund: Kontrolle und Messung der elektrischen Zäune, damit man nicht Gefahr läuft, beim nächsten Spaziergang einer Gruppe Löwen oder Afrikanischen Wildhunden zu begegnen.

07:00

Frühstück für alle Volontäre im Gemeinschaftshaus mit Blick auf das Wasserloch.

08:00

»Tree-Meeting«: Einteilung der Gruppen in die anfallenden Tätigkeiten. Danach hat jede Gruppe täglich dieselben Tiere nach einem festen Plan zu versorgen. Meist werden hierfür je zwei bis vier Leute eingeteilt. Alle anderen erhalten Aufgaben, die sehr unterschiedlich sein können, wie zum Beispiel »Tracking«, also Spurenlesen in der Wildline, dem neuntausend Hektar großen Gebiet der Auffangstation, in dem Tiere frei leben und jagen. Einige wenige ausgewilderte Geparden haben dort ein Zuhause gefunden. Auch »Walks« stehen an, also Spaziergänge außerhalb des normalen Aufenthaltsgebiets mit Tieren, die auf der Farm aufgewachsen sind. Das können normale Hunde, aber auch Paviankinder oder sogar Geparden sein.

Bei der »Morning-Tour« füttert man die Tiere in den großen Gehegen, und bei der »Interaktion« geht es um den Kontakt zu verschiedenen Tieren auf der Farm. Laut unserem Koordinator kann das lustig bis schmerzhaft sein mit Pavianbabys, sehr ruhig mit Meerkatzen-Omis und entspannt oder actionreich mit jungen Geparden-Waisen.

Bei der »Farmwork« schließlich muss man Feuerholz besorgen, Gehege bauen, Zäune reparieren und große Gehege reinigen, die weiter außerhalb liegen. Unser Koordinator erzählt, dass beim Reinigen die Tiere in dem unübersichtlichen Gelände anwesend sind und es sich deshalb meist auf das Entfernen von Knochenresten beschränkt.

Farmwork ist bei vielen Volontären unbeliebt, hauptsächlich deshalb, weil es die körperlich anstrengendsten Arbeiten beinhaltet.

In Kürze werde ich meine eigenen, einschlägigen Erfahrungen mit Gehegen und Elektrozäunen sammeln, aber das ahne ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

12:30

Pause und Mittagessen im Volontärsdorf. Laut unserem Koordinator eine gute Zeit, um zum Beispiel seine Socken oder Unterhosen in dem Becken bei den Duschen zu waschen. Das sind die einzigen Kleidungsstücke, die man selbst reinigen muss. Alles andere kann man einmal in der Woche in der Wäscherei der Farm bei den San-Frauen abgeben.

15:00

Zweites Tree-Meeting. Einteilung der Volontäre auf die Aufgaben am Nachmittag.

19:00

Abendessen, wie alle anderen Mahlzeiten auch wieder im Volontärsdorf. Im Anschluss Freizeit – wie man diese gestaltet, bleibt einem meist selbst überlassen. Eine Ausnahme bildet immer der Mittwochabend. Dann findet die »Lapa-Night« statt, eine zur Verabschiedung der abreisenden Volontäre am nächsten Tag gedachte Motto-Party.

Uns allen wird klar, dass hier tatsächlich Arbeit ansteht. Mit Erholungsurlaub hat das nichts zu tun, man bekommt dreckige Hände, Schrammen, Kratzer und Bisse an Armen und Beinen statt eines Cocktails mit Schirmchen am Pool, nachdem man ein paar Tiere gestreichelt hat. Doch das ist genau nach meinem Geschmack. Ich will arbeiten, mich verausgaben, etwas Sinnvolles tun. In gewisser Weise gibt mir der straffe Zeitplan Halt. Einen Rahmen, in dem ich funktionieren kann. Dass es nicht ums Funktionieren geht, sondern um leben – sich freiatmen, fühlen, sich spüren, hinterfragen, suchen, sich erfahren –, das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und doch erlebe ich einen Perspektivwechsel, der mich nach und nach in die richtige Richtung treiben wird.

Außerdem wartet das erste Abenteuer auf mich. Zwar nicht mit anmutigen und geschmeidigen Raubkatzen, aber Zähne bekomme ich dennoch zu spüren.

Kapitel 4

Klein, »putzig«, bissig

Mit meiner Gruppeneinteilung als Caretaker für verwaiste Tierbabys und verletzte Tiere bin ich mehr als zufrieden – auch wenn ich bald merke, dass die Grenzen zu den anderen Aufgaben sich recht fließend gestalten. Die Erdmännchen, die mein Team zu versorgen hat, zählen nämlich weder zu den Babys und Waisen noch sind sie verletzt, glücklicherweise.

Erdmännchen sind fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter kleine Mitglieder der Mangusten-Familie, deren Schwanz noch mal um die zwanzig Zentimeter misst. Die klugen, geselligen Tiere mit dem hellbraunen Fell und den schwarzen Flecken um die Augen leben in Gruppen zusammen. Touristen sind immer ganz aus dem Häuschen, wenn sie ihnen begegnen. Sie sehen aber auch niedlich aus, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellen und »Männchen machen«, um die Umgebung zu überwachen. Viele lässt ihr »putziges« Äußeres jedoch vergessen, dass sie Raubtiere sind und ein dementsprechendes Gebiss haben.

Auf der Wildtier-Auffangstation lebt ein Dutzend der kleinen Räuber in Zweier- bis Vierergruppen in Gehegen, die von einer ein Meter zwanzig hohen Betonmauer umgeben sind.

Sie alle wurden zuvor von irgendwelchen Leuten als Haustiere gehalten, bis diese merkten, dass es doch keine gute Idee ist, Wildtiere zu domestizieren. Als Babys sind sie ja so süß, aber auch Erdmännchen werden nun mal größer, versuchen überall Löcher zu buddeln und knabbern alles an, vom Fernsehkabel über die Möbel bis zum Hund. Stubenrein sind sie natürlich auch nicht und markieren eifrig überall im Haus ihr Revier. Während einige Leute die Tiere einfach in der für sie völlig fremden Wildnis aussetzen, haben andere zumindest so viel Verstand, sie zu Auffangstationen zu bringen. So wie diese Exemplare hier.

Mein Team ist für eine Dreiergruppe verantwortlich. In der Food Prep Area fülle ich ein Schälchen mit Apfelstücken, zwei Hühnereiern und etwas Eselfleisch, so wie es auf der Aufgabentafel steht. Dieses Schälchen soll ich nun in das Gehege der drei Erdmännchen stellen, außerdem das Wasser austauschen und den Sand reinigen. Eigentlich keine große Sache. Ich setze mich seitlich auf die Mauer, ziehe das rechte Bein nach und lasse mich in das Gehege gleiten. Ein Erdmännchen kommt sofort schnurstracks auf mich zu. Ich stelle das Schälchen mit dem begehrten Futter ab und begrüße den heranstürmenden Gehegebewohner mit einem launigen »Na, da hat es ja jemand sehr eilig«.

Im nächsten Moment huscht das Erdmännchen knurrend zwischen meinen Füßen hindurch, beugt den Kopf unter meinem linken Knöchel hindurch, erreicht so meine Achillesferse und beißt kräftig zu.

Ich bin mehr überrascht über den Blitzangriff, als dass es wehtut. Außerdem habe ich mir das wohl selbst zuzuschreiben, denn ich Anfänger bin barfuß ins Gehege gestiegen. Aber das wirklich Blöde ist, dass das Tier keine Anstalten macht, loszulassen.

Hm, gut, nichts Unüberlegtes machen, sage ich mir. Vielleicht lässt es los, wenn ich das Gehege, das ja sein Revier ist, wieder verlasse. Also springe ich mit meinem Hintern voran wieder auf die Mauer und hebe die Füße an. Aber das kleine, knurrende Etwas denkt überhaupt nicht daran, loszulassen. Stattdessen lässt es alle Pfoten hängen, macht sich möglichst schwer und schwingt sich mit dem ganzen Körper von links nach rechts. Ein Außenstehender würde vermutlich denken, ich hätte einen zappelnden, fleischfressenden Pelzfisch am Bein hängen.

So langsam erreicht der Schmerz mein Gehirn. Trotz des kleinen Kopfes schätze ich, dass das Gebiss meines Angreifers dem einer Hauskatze gleichkommt. Zusammen mit der klug ausgewählten Bissstelle wird das Ganze langsam unangenehm.