Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. KAPITEL EINS
  8. KAPITEL ZWEI
  9. KAPITEL DREI
  10. KAPITEL VIER
  11. KAPITEL FÜNF
  12. KAPITEL SECHS
  13. KAPITEL SIEBEN
  14. KAPITEL ACHT
  15. KAPITEL NEUN
  16. KAPITEL ZEHN
  17. KAPITEL ELF
  18. KAPITEL ZWÖLF
  19. KAPITEL DREIZEHN
  20. KAPITEL VIERZEHN
  21. KAPITEL FÜNFZEHN
  22. KAPITEL SECHZEHN
  23. KAPITEL SIEBZEHN
  24. KAPITEL ACHTZEHN
  25. KAPITEL NEUNZEHN
  26. KAPITEL ZWANZIG
  27. KAPITEL EINUNDZWANZIG
  28. KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
  29. KAPITEL DREIUNDZWANZIG
  30. KAPITEL VIERUNDZWANZIG
  31. KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
  32. KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
  33. KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
  34. KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
  35. KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
  36. KAPITEL DREISSIG
  37. KAPITEL EINUNDDREISSIG
  38. KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
  39. KAPITEL DREIUNDDREISSIG
  40. KAPITEL VIERUNDDREISSIG
  41. KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
  42. KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
  43. KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
  44. KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
  45. KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
  46. KAPITEL VIERZIG
  47. KAPITEL EINUNDVIERZIG
  48. KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
  49. KAPITEL DREIUNDVIERZIG
  50. KAPITEL VIERUNDVIERZIG
  51. KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
  52. KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
  53. KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
  54. DANK

Über das Buch

Yorkshire, 1925. Als ein folgenschwerer Fehler ihre Träume jäh platzen lässt, verschlägt es die ehrgeizige junge Krankenschwester Agnes Sheridan von London nach Leeds. Sie soll sich fortan um die Patienten in Quarry Hill kümmern, einem Ort, wo die Menschen in bitterster Armut leben. Doch es erweist sich als schwierig, ihr Vertrauen zu gewinnen, denn die Einwohner von Quarry Hill begegnen der hübschen jungen Frau mit Argwohn. Sie scheinen zu ahnen, dass Agnes etwas zu verbergen hat …

Über die Autorin

Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrer Familie in York. Die Schwestern aus der Steeple Street ist der Auftakt einer neuen Serie der Autorin, die bereits mit ihrer Romanserie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals in England die Top Ten der Sunday-Times-Bestsellerliste eroberte. Auch hierzulande hat sie es mit ihren Romanen auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Neben ihrer Arbeit an weiteren Bänden beider Serien schreibt die Autorin außerdem regelmäßig für verschiedene englische Zeitungen. Mehr über Donna Douglas und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.

DONNA DOUGLAS

Die Schwestern aus der
Steeple Street

Ein neuer Anfang

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Moreno

BASTEI ENTERTAINMENT

Dem Andenken an Digby Clark gewidmet.

KAPITEL EINS

Die Leiterin der Gemeindepflege kam zu spät zu ihrer Besprechung.

Agnes Sheridan saß kerzengerade auf einem Stuhl vor Miss Gales Büro, die Füße unter den Stuhl gezogen, um mit ihnen nicht ungeduldig auf den Fliesenboden zu klopfen. Auf der anderen Seite des Flurs zeigte eine große altmodische Standuhr gewichtig die verstreichenden Minuten an und erinnerte sie daran, wie lange man sie bereits warten ließ.

So ein Pech, dachte sie. Sie war zu ihrer Besprechung pünktlich um drei Uhr hier gewesen und hatte sich am Bahnhof sogar ein Taxi genommen, das sie sich kaum leisten konnte, um nicht zu spät zu kommen.

Aus der Küche erschien wieder das schmächtige, kleine Hausmädchen und trippelte mit gesenktem Kopf und abgewandtem Blick in ihre Richtung. Sie sagte nie auch nur ein Wort, machte aber in regelmäßigen Abständen eine Art Kontrollgang über den Flur, seit sie Agnes die Haustür geöffnet hatte.

Als das Mädchen wieder an ihr vorbeihuschte, räusperte sich Agnes und sagte zu ihr: »Entschuldigen Sie bitte, aber wissen Sie, wie viel länger Miss Gale noch brauchen wird?«

Das Mädchen erstarrte, und ihr traten fast die Augen aus ihrem schmalen Gesicht. Sie sah aus wie ein verängstigtes Kaninchen. »Sie ist bei der Bergarbeiterfürsorge«, murmelte sie in einem breiten Yorkshire-Akzent.

»Das haben Sie mir schon gesagt.« Agnes bemühte sich, geduldig zu sein. »Ich frage mich nur, wie lange …«

»Ich hab was auf dem Herd stehen«, fiel das Mädchen ihr ins Wort. Und dann verschwand sie auch schon wieder, flitzte den Weg zurück, den sie gekommen war, und stolperte über ihre eigenen Füße in ihrer Eile wegzukommen.

»Na, das ist ja reizend, kann ich nur sagen!«, brummte Agnes, als die Küchentür am unteren Ende des Flurs zuschlug. Sie war aus Manchester gekommen, und ihr war nicht einmal eine Tasse Tee angeboten worden!

Sie schaute sich um und versuchte, sich einen besseren Eindruck von ihrer Umgebung zu verschaffen. Der Flur, in dem sie saß, war lang, schmal und endete vor ein paar Stufen, die zu der Küche hinabführten. Durch das Buntglasfenster über der Eingangstür am oberen Ende fiel Sonnenlicht, in dem die Fliesen wie farbige, flimmernde Diamanten spiegelten. Agnes gegenüber befand sich eine Tür, an der ein Messingschild mit dem Schriftzug »Susan Gale – Gemeindepflegeleiterin« angebracht war. Natürlich gab es auch noch andere Türen an den Seiten des Flurs. Eine stand offen, und Agnes konnte zu ihr hineinschauen. Sofas und Sessel waren um einen offenen Kamin herum gruppiert, Bücherregale standen rechts und links der Feuerstelle, und in einer Ecke befand sich ein Klavier. Wahrscheinlich der Aufenthaltsraum der Schwestern, schloss sie.

Auf einem Tischchen neben der Haustür stand ein Telefon, daneben lag ein aufgeschlagenes Büchlein für Nachrichten. Ein Stück weiter bedeckte die verblasste Flurtapete eine große Anschlagtafel mit verschiedenen Listen und Arbeitsplänen. Unter der Tafel befanden sich etwa ein Dutzend Fächer, von denen die meisten leer, einige aber auch vollgestopft mit noch nicht abgeholter Post waren.

Agnes fand ein wenig Trost in der Vertrautheit dieses Orts, weil er sie an das Schwesternheim des Londoner Krankenhauses erinnerte, in dem sie ihre Ausbildung gemacht hatte. Vielleicht würde es hier ja doch nicht so viel anders sein als dort …

Ein Krachen hinter der Küchentür zerriss plötzlich die Stille und ließ Agnes erschrocken aufspringen. Sie fragte sich gerade, ob sie nachschauen sollte, als in der Etage über ihr eine Tür zufiel und sie dann das Stampfen schwerer Schritte hörte.

Agnes blickte auf und sah eine Frau die Treppe herunter- und auf sie zukommen. Sie war etwa Mitte vierzig, eher stämmig als füllig, ihr üppiger Körper steckte in einem taillierten dunkelblauen Mantel. Unter ihrem hübschen Hut waren einige ergrauende Haarsträhnen hervorgerutscht.

Bevor die Frau etwas sagen konnte, ertönte ein weiteres Krachen aus der Küche, gefolgt von einem lauten Fluchen. Agnes schrak zusammen, aber die Frau vor ihr schien den Lärm kaum zu bemerken.

»Achten Sie nicht darauf«, sagte sie schnell. »Es ist immer dasselbe, wenn Dottie kocht. Sie sind die neue Schwester, nehme ich an? Miss Gale hat mir gesagt, Sie würden heute kommen.«

Agnes erhob sich. »Ganz recht«, sagte sie. »Ich bin Agnes Sheridan.«

»Agnes, hm? Dann werden Sie bestimmt Aggie genannt?«

Agnes verzog das Gesicht. »Ich bevorzuge Agnes, falls es Ihnen nichts ausmacht«, erwiderte sie steif.

»Ach ja?« Die Frau musterte sie mit einem amüsierten Funkeln in ihren wachsamen dunklen Augen. »Nun, Agnes – oder wie auch immer Sie sich nennen wollen –, ich bin Bess Bradshaw, die stellvertretende Gemeindepflegeleiterin. Miss Gale bat mich, mich während ihrer Abwesenheit um Sie zu kümmern. Also kommen Sie am besten mit.«

Sie ging über den Flur voraus und öffnete eine mit »District Room«, Utensilienraum, beschriftete Tür. Agnes folgte ihr in einen großen, sonnigen Raum, der mit Schränken und Regalen gesäumt war, die verschiedene medizinische Heil- und Hilfsmittel enthielten. Agnes blickte sich interessiert um.

»Hier bewahren wir unsere Ausrüstung auf«, beantwortete Bess Bradshaw die Frage, bevor Agnes sie stellen konnte, und griff nach einem breiten Handkoffer aus steifem, schwarzem Leder, stellte ihn auf die hölzerne Arbeitsfläche und öffnete den Schnappverschluss. »Bevor Sie zu Ihrem Hausbesuchsdienst aufbrechen, müssen Sie Ihre Schwesterntasche überprüfen, um sicherzugehen, dass Sie alles dabeihaben, was Sie brauchen.« Ihr Yorkshire-Akzent war nicht ganz so ausgeprägt wie der des Hausmädchens, aber auch er war nicht zu überhören.

Als Agnes sah, wie Mrs. Bradshaw eine Flasche ins Licht hielt, um ihren Inhalt zu überprüfen, dämmerte ihr langsam etwas.

»Wir werden jetzt doch wohl keinen Patientenbesuch machen?«, fragte sie.

Bess erwiderte Agnes’ Blick mit dem gleichen amüsierten Funkeln in ihren Augen wie schon zuvor. »Was dachten Sie denn, wohin wir gehen – in den Park zum Entenfüttern? Geben Sie mir das Boraxpulver, ja? Es steht dort drüben ganz oben im Regal.«

Agnes griff nach der Glasflasche und legte sie in Bess’ ausgestreckte Hand, aber ihre Gedanken rasten.

Das ist nicht korrekt, dachte sie. In ihrem alten Krankenhaus würde eine neue Krankenschwester sich zunächst einer gründlichen Befragung durch die Oberin unterziehen müssen und ihr würde ihre Schwesterntracht angepasst, bevor man sie in die Nähe der Stationen ließ. Hier dagegen hatte sie kaum die Türschwelle überschritten, als man sie auch schon auf die Patienten losließ. Das sah Agnes nach einem sehr planlosen Umgang mit den Dingen aus.

Oder war das vielleicht so üblich bei der Gemeindepflege?

»Sollte ich nicht auf die Leiterin warten?«, erlaubte sie sich zu fragen.

»Die Chefin ist in Wakefield bei einer Sitzung des Bergarbeiterfürsorgeausschusses. Sie wird erst nach dem Abendbrot zurück sein, und ich könnte mir denken, dass sie dann nicht in der Stimmung sein wird, mit Ihnen zu sprechen. Die Bergarbeiterfürsorge versetzt sie jedes Mal in schlechte Laune.« Bess Bradshaw überprüfte eine weitere Flasche und stellte sie wieder zurück. »Und da ich mich um Sie kümmern soll, aber einen Patientenbesuch machen muss, werden Sie mich wohl begleiten müssen.«

»Aber …«

»Sie sind doch hergekommen, um sich in unserem Haus zu einer Gemeindeschwester zu qualifizieren?«, fiel Bess ihr ins Wort.

»Ja, aber …«

»Sie kennen doch sicher auch das Sprichwort: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen?«

Agnes blickte an sich herab. »Aber ich habe ja nicht mal eine Tracht!«

»Ach, hören Sie doch auf, sich Sorgen zu machen, Mädel! Ich brauche zwei willige Hände, keinen steifen Kragen. Also regen Sie sich ab, und lassen Sie uns gehen.«

Vielleicht ist das ja gar nicht mal so schlecht, versuchte Agnes, sich einzureden, als sie der stellvertretenden Leiterin mit ihrem Gladstone-Koffer aus dem Haus folgte. Assistant Superintendent Bess Bradshaw hatte ganz recht. Schließlich war sie hergekommen, um sich zur Gemeindeschwester ausbilden zu lassen, und je eher sie den ersten Schritt tat, desto besser.

Im Übrigen war es ja auch eher unwahrscheinlich, dass sich die Arbeit in einer Gemeinde als besonders schwierig erweisen würde. Schließlich war sie eine examinierte Krankenschwester, hatte ihre Ausbildung an einem der besten Krankenhäuser des Landes absolviert und abgeschlossen. Da würde sie es ja wohl schaffen, ein paar bettlägerige Patienten in ihren Wohnungen zu waschen und ihnen die Verbände zu wechseln.

Aber ihre Zuversicht ließ sie beinahe im Stich, als Bess um die Hausecke verschwand und gleich darauf mit zwei Fahrrädern zurückkam. Eins lehnte sie an die Wand und deutete mit einer Kopfbewegung darauf. »Bitte sehr, junge Dame. Ihre Kutsche wartet.«

Agnes starrte das Vehikel entsetzt an. »Sie wollen, dass ich damit fahre?«

»Nun ja, Sie könnten auch zu Fuß gehen, aber dann wären Sie eine ganze Weile unterwegs.« Bess entfernte sich bereits und schob ihr Fahrrad Richtung Tor. Dort blieb sie stehen und blickte sich nach Agnes um. »Was ist? Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie wären noch nie Fahrrad gefahren.«

»Doch, das schon, aber …« Agnes betrachtete das Rad argwöhnisch. Es musste mindestens dreißig Jahre alt sein, war ein richtiger »Knochenschüttler« – klapprig und verrostet.

»Dann setzen Sie sich drauf und treten in die Pedale! Wir haben viel zu tun.«

Es war lange her, seit Agnes Fahrrad gefahren war, und damals waren es grüne Landstraßen gewesen, auf denen sie, ihr Bruder und ihre Schwester als Kinder gefahren waren. Nichts hatte sie auf die Gassen von Leeds vorbereitet. Sie hielt sich grimmig fest, als ihr Rad über das Kopfsteinpflaster holperte, war überzeugt, dass es jeden Moment auseinanderfallen würde. Sie konnte spüren, dass ihr Hut ihr über ein Auge rutschte, aber sie wagte nicht, die Lenkstange loszulassen, um den Hut wieder zurechtzurücken.

Sie gab sich alle Mühe, das breite Hinterteil der stellvertretenden Leiterin im Auge zu behalten, während sie gleichzeitig den Pferdekarren auswich, die wie aus dem Nichts auftauchten und auf sie zuzuhalten schienen. Bei allem anderen, was sonst noch um sie herum vorging, war es unmöglich für Agnes, sich zurechtzufinden. Sie schienen in Richtung Süden zu fahren, aber nicht einmal in die Nähe der breiten, geschäftigen Hauptverkehrsstraße mit all den teuren Läden, die sie aus dem Taxifenster gesehen hatte. Nein, die Straßen, die Bess Bradshaw sie hinunterführte, waren trist und ärmlich und hatten höchstens ein paar schäbige kleine Eckläden am Ende jeder Häuserreihe. Es gab einen Geflügelhändler, einen Herrenfriseur, eine verstaubt aussehende Schneiderwerkstatt und einen Laden für »Marine Goods«, Schiffsgegenstände, der aber nichts weiter als Trödel anzubieten schien. Als die Straßen noch schmaler wurden, spürte Agnes, wie ihre Zuversicht sie mehr und mehr verließ. Sie folgte Bess Bradshaw über die Hope Street – was die unzutreffendste Bezeichnung war, die Agnes je gehört hatte – und fand sich in einem Gewirr von dunklen Gassen und Hinterhöfen wieder, wo die Häuser so dicht beieinanderstanden, dass kaum noch Tageslicht zu sehen war.

Ein Grüppchen Frauen stand an einer Straßenecke. Sie nickten Bess kurz zu, als sie vorbeifuhr, und starrten dann Agnes mit ausdruckslosen oder sogar feindseligen Mienen an. Sie konnte spüren, dass ihre Blicke ihr folgten, als sie noch fester in die Pedale trat, um Bess Bradshaw einzuholen.

»Wo sind wir?«, rief Agnes ihr zu.

»In Quarry Hill, einem der ärmsten Viertel der Stadt. Der Stadtrat versucht schon lange, die Häuser abzureißen, aber die Bewohner wollen nicht weg von hier.«

»Und warum in Herrgotts Namen nicht?«

»Weil das hier ihr Zuhause ist.«

Bess bog scharf ab und fuhr eine schmutzige, schmale Gasse hinunter. Während Agnes ihr folgte, entdeckte sie eine Reihe von Öffnungen in der hohen Häuserwand, die zu etwas führten, was wie winzige Hinterhöfe aussah, um die sich Reihenhäuser gruppierten. Der penetrante Gestank von Abwässern vermischte sich mit dem von Schmutz, saurem Schweiß und dem Rauch von den Fabrikschloten, der in der noch immer warmen spätsommerlichen Luft hing.

Agnes erschauderte. »Ich weiß nicht, wie die Leute das ertragen«, murmelte sie vor sich hin. Sie riskierte es, eine Hand zu heben, um eine lästige Fliege aus ihrem Gesicht zu vertreiben, ergriff aber schnell wieder die Lenkstange, als das Fahrrad seitlich ausscherte und beinahe gegen die Mauer fuhr.

Bess warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Haben Sie in London etwa keine armen Leute?«

Agnes antwortete nicht. Natürlich kannte sie auch Armut, und das nur allzu gut. Schließlich hatte sie ihre Ausbildung im Nightingale Hospital in Bethnal Green gemacht, in einer der ärmsten Gegenden der Stadt. Aber wenn die Leute aus dem Viertel im Krankenhaus aufgenommen wurden, waren sie in der Regel schon sauber gewaschen und entlaust, und ihre schmutzigen Sachen waren bereits im Heizofen gelandet. Agnes hatte die Patienten nie zu Hause besuchen müssen oder ihre Armut derart hautnah miterlebt.

»Sie werden sich daran gewöhnen«, meinte Bess. »Auch wenn einige der Dinge, die Sie auf Ihren Hausbesuchen sehen werden, Ihnen unter die Haut gehen werden, nehme ich mal an.«

Agnes nahm sich zusammen. Sie wusste, dass sie einen schlechten Eindruck machte, und wollte nicht, dass die stellvertretende Leiterin glaubte, sie würde hier nicht zurechtkommen.

»Ganz so schlimm wird es bestimmt nicht sein«, erwiderte sie deshalb. »Außerdem habe ich eine hervorragende Ausbildung genossen und glaube, dass ich mit allem fertigwerden kann.«

»Glauben Sie, ja?«

»Selbstverständlich«, erklärte Agnes und fügte rasch hinzu: »Das Nightingale ist eines der besten Ausbildungskrankenhäuser im ganzen Land.«

Sie hatte nicht beabsichtigt, arrogant zu klingen – doch als sie Bess Bradshaws Stirnrunzeln bemerkte, wusste sie, dass sie das Falsche gesagt hatte.

»Ist das so? Dann denken Sie ja womöglich auch, Sie könnten uns noch das eine oder andere beibringen?«, entgegnete Bess mit einem herabsetzenden Naserümpfen.

»So war das nicht gemeint«, murmelte Agnes. Aber Bess war schon weitergeradelt, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr, wenn auch langsamer, zu folgen. Das war nicht das, was sie sich erhofft hatte! Die Tätigkeit als Gemeindeschwester sollte eigentlich ein neuer Anfang für sie sein, und dennoch hatte sie es schon jetzt geschafft, die stellvertretende Leiterin zu verärgern.

Tief in ihrem Innersten hatte Agnes jedoch noch immer das Gefühl, dass sie den anderen Schwestern wahrscheinlich noch etwas beibringen könnte. Auf jeden Fall konnte die Tätigkeit einer Gemeindeschwester unmöglich so schwierig sein wie die einer Krankenschwester auf einer Station in einem Krankenhaus. Verbände zu erneuern oder Patienten zu waschen war die Art von Arbeit, die Lernschwestern im Nightingale erledigten, und wohl kaum etwas, was Agnes als Krankenpflege bezeichnen würde.

Auch wenn es sicher besser für sie war, solche Ansichten für sich zu behalten, wie sie inzwischen einzusehen begann.

Bess bog scharf nach links in einen der Hinterhöfe ab. »So, da wären wir«, sagte sie, als sie von ihrem Fahrrad stieg und es an die weiß gekalkte Mauer einer Außentoilette lehnte. »Von hier aus gehen wir zu Fuß.«

Agnes stieg vorsichtig ab und blieb einen Moment lang stehen, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. »Was soll ich mit dem Fahrrad tun?«, fragte sie.

»Ach, die Räder lassen wir einfach stehen.«

»Aber werden sie dort sicher sein?«

Bess warf ihr einen fast schon mitleidigen Blick zu. »Natürlich sind sie das. Niemand hier in der Gegend würde das Fahrrad einer Gemeindeschwester stehlen.« Sie nahm ihren Gladstone-Koffer aus dem Korb an der Lenkstange und winkte. »Jetzt kommen Sie schon.«

»Wen werden wir besuchen?«, fragte Agnes, als sie ihr durch einen sehr engen Gang zwischen zwei Gebäuden folgte.

»Eine junge Frau namens Maisie Warren. Ihr ist es während der ganzen Schwangerschaft nicht gut gegangen, und da sie keine Familie hat, habe ich sie einmal in der Woche oder so besucht, um ein Auge auf sie zu haben …«

Bess sprach weiter, aber Agnes hörte ihr schon nicht mehr zu. Das Einzige, was sie überhaupt noch hören konnte, war das Dröhnen ihres Bluts in ihren Ohren.

Eine Schwangere. Warum musste ausgerechnet eine Schwangere ihr erster Fall sein?

Am liebsten hätte sie sich umgedreht und die Flucht ergriffen, aber Bess hatte sich schon unter einer schlaffen Leine mit schmuddeliger Wäsche hindurchgeduckt und ging auf eine Eingangstür zu. Die abblätternde Farbe der Tür brachte das morsche Holz darunter zum Vorschein, und in der Luft hing der saure Uringeruch der Klohäuschen auf dem Hinterhof …

Ein schmuddelig aussehendes Kind hockte auf der Eingangsstufe und stocherte mit einem Zweig in einem Riss in dem Zement herum. Das kleine Mädchen, das höchstens fünf Jahre alt war, saß mit bloßen, dreckverkrusteten Füßen da. Hinter ihr, im Haus, schrie ein Kleinkind.

»Hallo, Schätzchen«, begrüßte Bess das Mädchen. »Ich bin gekommen, um nach deiner Mum zu sehen.«

»Sie schläft«, erwiderte die Kleine, ohne aufzuschauen. »Mrs. Pilcher sagt, ihr geht’s nicht gut, und ich darf sie nicht stören, bis sie aufwacht.«

»Mrs. Pilcher?« Agnes sah, wie Bess, deren Hand schon auf der Klinke lag, sich jäh versteifte. »Hat sie deine Mum besucht, mein Schatz?«

Das Mädchen, das noch immer in dem Riss in der Stufe herumstocherte, nickte. Drinnen im Haus wurde das Geschrei des Kleinkindes noch eindringlicher. »Sie hat gesagt, ich soll hier draußen warten. Aber unser Ronnie macht schon die ganze Zeit solch einen Heidenlärm …« Zum ersten Mal hob sie ihr ungewaschenes Gesicht und schaute sie aus großen, ernsten Augen an. Sie war das schmutzigste Kind, das Agnes je gesehen hatte. »Soll ich nicht lieber reingehen und nach ihm sehen? Ich wollte Mum nicht stören, nachdem Mrs. Pilcher es mir verboten hatte.«

»Warum überlässt du das nicht mir, Schätzchen?«, erwiderte Bess. Ihre Stimme war freundlich, aber ihr Lächeln wirkte ein bisschen aufgesetzt. »Du wartest hier noch ein Weilchen, und ich kümmere mich um deinen Bruder, ja?«

»Aber was ist mit Mum? Mrs. Pilcher sagte …«

»Oh, ich bin sicher, dass sie nichts dagegen haben wird. Ich werde leise wie ein Mäuschen sein. Und du sei ein braves Mädchen und warte hier auf uns.«

Das kleine Mädchen reckte das Kinn vor. »Ich bin ein braves Mädchen, hat Mrs. Pilcher gesagt. Sie hat mir sogar einen Karamellbonbon gegeben.«

»Das freut mich, mein Schatz«, erwiderte Bess gedankenverloren und drückte schon mit einer Hand die Türklinke herunter. Aber die Tür klemmte, und sie stemmte sich mit der Schulter dagegen, um sie aufzudrücken. »Helfen Sie mir doch!«, zischte sie Agnes zu, die schnell vortrat, um sie zu unterstützen. Sie drückten mit vereinten Kräften gegen die Tür, bis sie schließlich nachgab.

Im Inneren des kleinen Hauses war es dunkel, weil alle Vorhänge zugezogen waren. Obwohl es ein warmer Septembernachmittag war, brannte ein Feuer im Heizkamin. Die brütende Hitze wie auch der ekelerregende Gestank von Fäulnis, saurem Schweiß und allgemeiner Vernachlässigung, der ihnen entgegenschlug, haute Agnes beinahe um. Schnell legte sie eine Hand auf ihren Mund, als sie spürte, wie ihr die Galle in die Kehle stieg.

Ein schreiender kleiner Junge, der nichts als eine nasse, graue Windel trug, die tief zwischen seinen Beinchen hing, kam aus dem Dunkel zu ihnen herübergewatschelt. Vor Agnes blieb er stehen, und sein tränenüberströmtes Gesicht verzerrte sich, als er flehend seine Ärmchen nach ihr ausstreckte.

»Also bitte, stehen Sie doch nicht bloß rum! Können Sie nicht sehen, dass der arme Kleine auf den Arm genommen werden will?«, sagte Bess.

Agnes bückte sich widerstrebend, hob ihn auf und hielt ihn dann auf Armeslänge von sich ab. Von dem Ammoniakgestank seiner urindurchtränkten Windel tränten ihr die Augen.

»Und was soll ich jetzt mit ihm machen?«, fragte sie mit zusammengepressten Lippen.

»Benutzen Sie Ihren Verstand, Mädchen«, fauchte Bess sie an und stellte ihren Schwesternkoffer auf den Küchentisch. In ihrer Stimme klang Angespanntheit mit, die Agnes bisher nicht gehört hatte. »Jetzt lassen Sie uns diese Vorhänge öffnen, damit wir sehen können, was wir tun.«

Bess zog die dünnen Vorhänge zurück, aber durch die schmutzigen Fensterscheiben fiel nur wenig Licht herein. »Maisie?«, rief sie. »Wo sind Sie, Liebes?«

Agnes blickte sich um. Der Raum schien Küche und Wohnzimmer zugleich zu sein. Ein massiver schwarzer Ofen mit Kochstellen und Backofen und einer Stauschublade stand im Bereich des Heizkamins, und ein steinernes Spülbecken befand sich an der gegenüberliegenden Wand unter dem Fenster. Den Rest der Einrichtung bildeten ein blank gescheuerter Holztisch mit Stühlen und ein abgewetzter kleiner Sessel. Eine Tür auf der anderen Seite führte wahrscheinlich in ein Schlafzimmer, nahm Agnes an.

»Wer ist Mrs. Pilcher?«, fragte sie.

»Das wollen Sie gar nicht wissen«, erwiderte Bess grimmig. »Aber wenn sie hier herumgeschnüffelt hat … Maisie?«, rief sie wieder. »Hier ist die Gemeindeschwester, Liebes. Ich bin nur gekommen, um mich zu vergewissern, dass es Ihnen gut geht.«

Resolut ging sie auf die Schlafzimmertür zu, ohne Agnes, die den Jungen noch immer auf Armeslänge von sich weghielt, weiter zu beachten. Aber zumindest hatte der Kleine vorerst aufgehört zu schreien und starrte sie aus großen, feuchten Augen voller Neugier an. Zwei dünne Rinnsale Schleim liefen aus seiner kleinen Stupsnase …

Agnes blickte sich nach irgendetwas um, wo sie ihn absetzen konnte, als Bess zurückkam. Sie war kreidebleich geworden.

»Miss Sheridan?« Agnes warf einen Blick auf den Gesichtsausdruck der Gemeindeschwester und legte den Jungen schnell auf den Flickenteppich vor dem Kamin. Ohne sein entrüstetes Geschrei zu beachten, lief sie zur Schlafzimmertür hinüber.

»Nein, gehen Sie nicht hinein …« Bess versuchte, ihr den Weg zu verstellen, doch der metallische Geruch von Blut hatte Agnes’ Nase und Mund bereits erreicht. Über Bess’ Schulter sah sie eine junge Frau im Bett liegen, totenblass in einem Durcheinander von Blut durchtränkten Laken. Agnes fuhr zurück und hob die Hand, wie um den furchtbaren Anblick abzuwehren.

»Sie wollten wissen, wer Mrs. Pilcher ist?«, sagte Bess mit leiser, kühler Stimme. »Nun, das hier ist ihr Werk.«

»Ist … ist sie …?«

»Sie ist tot, das arme Ding.« Bess schüttelte den Kopf. »Am besten fahren Sie gleich los und holen den Doktor«, sagte sie. »Seine Praxis liegt an der Vicar Lane, gleich hinter dem Gemeindehaus. Fahren Sie über die Templar Street, das geht schneller … Miss Sheridan? Agnes? Hören Sie mir zu?«

Bess’ Stimme schien vom Ende eines langen Tunnels herzukommen, und kleine, schwarze Flecken tanzten vor Agnes’ Augen. Sie griff nach dem Türrahmen, um sich zu stützen, als sie merkte, dass ihre Knie unter ihr nachgaben, und schloss die Augen – was aber nichts daran änderte, dass alles, was sie sah, der glasige, starre Blick der Toten war.

Zwei Hände legten sich fest um ihre Schultern, um sie von dem grausigen Anblick wegzuführen. Als Agnes jedoch versuchte, einen Schritt zu machen, versagten ihre Beine ihr den Dienst. Das Letzte, was sie hörte, war Bess Bradshaws Stimme, die ihren Namen sagte, bevor sie ohnmächtig zusammensank.

Als sie einen Moment später die Augen aufschlug, fand sie sich in dem abgewetzten Sessel wieder, Bess Bradshaw über sich gebeugt und ein Fläschchen Riechsalz unter ihrer Nase schwenkend. Ein etwas spöttischer Blick lag in ihren wachen Augen.

»Glauben Sie immer noch, Sie könnten mit allem zurechtkommen, Miss Sheridan?«, fragte sie.