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Christina Wagner, vorm. Zieger, Amberg, verfasst als Mitglied einer Schreibwerkstatt seit vielen Jahren hauptsächlich kurze Geschichten für SeniorInnen.

Andreas Ascherl, Amberg, ist Journalist und schreibt auch gerne Geschichten, die zum Nachdenken anregen und alte und junge Menschen gleichermaßen begeistern.

Margit Lammert, Hersbruck, schreibt Geschichten für SeniorInnen im Rahmen einer Schreibwerkstatt.

Von den AutorInnen ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag erschienen: Helga Blum, Christina Zieger: „Und immer wieder lockt das Leben. Kurze Geschichten für Senioren zum Lesen und Vorlesen“

(ISBN 978-3-497-02581-7, 2. Aufl. 2017).

Christina Wagner, Andreas Ascherl: „Die Lieben des Lebens. Kurzgeschichten für Senioren zum Lesen und Vorlesen“

(ISBN 978-3-497-02710-1, 1. Aufl. 2017).

Christina Wagner: „Schmeckt’s? Geschichten für Senioren rund um Essen & Trinken“ (ISBN 978-3-497-02737-8, 1. Aufl. 2018).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02819-1 (Print)

ISBN 978-3-497-61000-6 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61041-9 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv: © iStock.com / Geber86

Satz: Sabine Ufer, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Es geht um Kopf und Kragen

Matthäus und die Glasmacher

Der Eierbaum

Der Etikettenschwindel

Der Seidenschrei

Ausgebremst!

Es ist ein Meister vom Himmel gefallen

Das Geheimrezept

Kalte Füße

Das Experiment

Die Wetterorgel

Ein Heim für Tiere

Eine Saite kommt selten allein

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold

Nicht ohne meinen Sessel!

Der Musikkater

Kronos, der Hüter der Zeit

Es geht um Kopf und Kragen

Wenn möglich vermeide ich es, nach zehn Uhr in den Friseursalon meiner Tochter zu gehen. Ab elf ist der Laden dann gerammelt voll – so war es jedenfalls früher, zu der Zeit, als ich den Salon noch geführt habe. Mit dem Neun-Uhr-Läuten öffne ich die Tür und inhaliere den vertrauten Duft aus Shampoo, Festiger und einem Hauch von Parfüm, der mich fast mein ganzes Leben lang begleitet hat.

„Guten Morgen, Mama. Pünktlich auf den Glockenschlag.“

Während ich meinen Mantel an die Garderobe hänge, stellt Monika bereits meinen Kaffee, ohne Zucker mit einem Schluck Milch, auf die Ablage vor dem Spiegel und rückt den Frisierstuhl vor dem Rückwärtswaschtisch zurecht. Entspannt lege ich mich zurück und Monika wäscht mir wie jede Woche meine Haare, um sie danach fachgerecht auf große Lockenwickler aufzudrehen und unter der Trockenhaube in Form zu bringen. Nach und nach sollte sich der Salon jetzt füllen, aber nur eine einzige Dame im fortgeschrittenen Alter nimmt die Dienste einer der auf Kundschaft wartenden Friseurinnen in Anspruch.

„Was ist denn hier los, Moni? Wo bleibt denn deine Kundschaft?“

Monika seufzt: „Weißt du, Mama, ich bin schon über Fünfzig und die Frauen heutzutage gehen lieber zu jungen, angesagten Stylisten. Das soll jetzt nicht geschmacklos klingen, aber meine Kundschaft, die stirbt langsam aus.“

Schockiert wird mir bewusst, wie schlecht es um die Existenz meiner Tochter steht. Außer dem Friseurhandwerk haben wir Frauen in unserer Familie keinen Beruf erlernt und meine Monika hat noch knapp fünfzehn Jahre bis zur Rente zu überbrücken. Während meine Haare unter der brummenden Haube langsam trocknen, irren viele Gedanken durch meinen Kopf. Der Laden ist also nicht mehr gefragt, der Service nicht mehr zeitgemäß, das Angebot überholt. Es geht mir nicht besser, als ich mich prüfend in den nahezu leeren Räumlichkeiten umsehe. Platz ist mehr als genug. In meiner Jugend waren die Immobilienpreise in der Innenstadt noch durchaus erschwinglich, mein verstorbener Mann und ich haben das geräumige Altstadthaus gekauft und renoviert. Für die heutige Zeit ein absoluter Luxus.

Während Monika mir die Wickler aus dem Haar nimmt, kommt mir plötzlich eine Idee und ich versuche meine Gedanken in Worte zu fassen: „Du, Moni, hast du schon mal darüber nachgedacht, einen ‚Selfie-Service‘ einzurichten?“

Meine Tochter schaut mich entgeistert an. „Was in aller Welt soll das sein, Mama? Ist das wieder einmal eine von deinen verrückten Ideen?“

So ist das mit meiner Monika. Von uns beiden ist sie schon immer die fantasielosere gewesen. Aber nichtsdestotrotz erzähle ich ihr von meiner Idee. „Am Stammtisch mit meinen Klassenkameradinnen haben wir letzte Woche eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet. Und natürlich wollten wir für jede von uns ein Bild hinzufügen.“ Monikas Gesichtsausdruck zeugt nicht gerade von überragender Transferleistung. „Selfie, Moni, nennt man das, weil man selbst ein Bild von sich macht, verstehst du?“ An ihrem stummen Nicken erkenne ich, dass sie über Selfies Bescheid weiß. „Aber keine von uns wollte sich selbst fotografieren oder fotografieren lassen. Jede hatte ein anderes Problem. Keine passende Frisur, kein passender Schmuck, nicht richtig geschminkt und das falsche Oberteil. Jetzt haben alle den gleichen grauen Eierkopf anstelle eines Porträts.“

„Und? Was willst du damit sagen, Mama?“, fragt Monika, um sich anschließend selbst die Antwort zu geben. „Dass ihr in eurem Alter alle noch genauso eitel seid wie früher?“

Ach Monika, denke ich bei mir. Zähl doch einmal eins und eins zusammen. „Du könntest doch eine Aktion rund um ein Handyportrait starten. Zusätzlich zu der Frisur werden deine Mitarbeiterinnen die Damen schminken und mit Modeschmuck, Brillen sowie farblich passenden Schals ausstatten.“

Monika spricht kein Wort, während sie mit einem Toupierkamm meiner Frisur den letzten Schliff gibt.

Erwartungsvoll starrt sie mein Spiegelbild an.

„Die Idee, Mama, ist vielleicht gar nicht so schlecht. Aber wenn ich eine Ankündigung ins Fenster hänge und keiner kommt?“

„Das lass nur meine Sorge sein.“ Voller Tatendrang mache ich mich auf den Weg ins Altstadtcafé zu meinem Damenstammtisch. Vorher aber nutze ich noch schnell die Gelegenheit und besorge günstige Sonnenbrillen, Halsketten, Ohrringe und farbenfrohe Tücher. Mit einem üppig gefüllten Plastikbeutel erscheine ich daraufhin als Letzte im Café und stelle mich den neugierigen Fragen, was ich denn für einen Krimskrams mit mir herumschleppen würde. „In diesem prallen Plastiksack habe ich eine Überraschung. Ich weiß ja am besten, dass das, was wir im Kopf haben, wichtiger ist, als die Frisur die wir darauf tragen. Für ein gutes Foto allerdings hilft uns das reichlich wenig.“ Ich habe die Lacher auf meiner Seite und alle hören mir gespannt zu. „Meine Tochter, die Moni, hat vor, einen Selfie-Service einzurichten. Zusätzlich zum Haaremachen, kann man sich schminken lassen und Accessoires ausleihen, damit man ein ansprechendes Bild bekommt. Und ihr wisst ja: Je mehr Falten kommen, desto wichtiger wird die Gesichtsmöblierung.“ Ein paar Damen lachen wieder, die anderen stimmen mir uneingeschränkt zu. „Und heute also findet ein Probelauf statt. Trinkt euren Kaffee aus, der Stammtisch wird heute zu meiner Tochter verlegt und anschließend machen wir die Fotos für unsere WhatsApp-Gruppe.“ Helle Begeisterung macht sich breit. Im Handumdrehen trinken alle ihren Kaffee aus. Dieses Spektakel möchte niemand versäumen.

Gemeinsam machen wir uns in ausgelassener Stimmung auf den Weg in den Salon und ziehen schon beim Betreten die Blicke der vorbeilaufenden Menschen auf uns. Im Laden sind die Frisierstühle im Nu besetzt und ich beginne damit, erst mich und dann der Reihe nach die Gesichter meiner Freundinnen zu schminken. Das Konturieren von Wangenknochen, Nase, Kinn und Mund habe ich bereits als junge Frau erlernt und früher hauptsächlich bei Bräuten angewandt. Dann beginne ich, jede der Damen mit den gewünschten Utensilien auszustaffieren.

Während wir am Schluss unserer Verschönerungsaktion eine Vielzahl von Handy-Bildern machen, jeder vom anderen, jeder von sich selbst und vom Spiegelbild gemeinsam mit seiner Friseurin, bimmelt mehrmals die Eingangsglocke. Was denn hier los sei und ob man das auch einmal ausprobieren könnte, sind die meistgestellten Fragen von Jung und Alt. „Selbstverständlich, aber nur auf Termin“, sagt meine Tochter Monika und trägt freudestrahlend die neuen Kundinnen in ihren Kalender ein. Zum Abschluss lassen wir uns alle gemeinsam von meiner Moni fotografieren. Dieses Bild kommt ins Schaufenster – als Werbung für den neuen „Selfie-Service“ im Herzen unserer Stadt. Für die Frau von heute – denn in Zeiten der Handy-Fotografie sollte man nach Möglichkeit jederzeit für ein Foto bereit sein.

Matthäus und die Glasmacher

„Aufstehen, schnell! Heute ist dein erster Arbeitstag!“

Matthäus schießt wie von der Tarantel gestochen hoch. Was, aufstehen? Arbeit? So früh?

„Los, die Schicht fängt in einer Stunde an! Raus aus den Federn, vorbei ist das süße Leben eines Nichtsnutzes!“

Mutter ist ja wieder so witzig. Gerade einmal zwei Wochen hat er seine großen Ferien genießen können. Von wegen Nichtsnutz. Das Leben als 16-jähriger Gymnasiast ist anstrengend – vor allem in den Ferien. Schließlich wollen Freundschaften gepflegt, Badeweiher besucht und die netten Mädels aus der Clique beschnuppert werden. Das erfordert die ganze Aufmerksamkeit, zu der ein Bursche in seinem Alter fähig ist. Da passt Arbeit eigentlich so gar nicht in sein aktuelles Weltbild.

„Los jetzt, das Frühstück ist fertig. Ab morgen musst du alleine aufstehen in der Früh“, gibt Mutter keine Ruhe, „dann bleibe ich liegen und du verschläfst, wenn du dir keinen Wecker stellst.“

Missmutig krabbelt Matthäus aus seinem Bett, wäscht sich in Rekordzeit und putzt sich die Zähne. Lustlos kaut er an dem Butterbrot, das er auf seinem Teller findet und spült mit einer Tasse heißem Caro-Kaffee nach. Was für ein scheußliches Zeug! Muckefuck! Schmeckt eher wie geröstete Zehennägel als nach echtem Kaffee.

Matthäus holt sein Fahrrad aus dem Schuppen neben dem Haus, stellt zum wiederholten Male fest, dass das Licht kaputt ist und radelt los. Fast zwei Kilometer ist die Glasfabrik entfernt, die er bisher nur von außen kannte. Heute wird er das Allerheiligste, die Kathedrale der Glasmacher, die Hütte, zum ersten Mal von innen sehen. Angeblich soll sie ein berühmter Architekt entworfen haben, dessen Namen er sich nicht merken kann. Erst vor ein paar Jahren ist sie fertig geworden, ein Koloss aus sehr viel Beton, wie deutlich zu sehen ist.

Zunächst einmal meldet er sich wie vereinbart an der Pforte. Dort drückt ihm ein missmutiger älterer Herr eine Pappkarte in die Hand. „Für die Stechuhr. Einfach nehmen, reinstecken, abstempeln lassen und wieder rausziehen. Dann in das linke Fach neben der Stempeluhr mit der Nummer, die da oben gedruckt steht, stecken. Am Abend dann das Ganze umgekehrt. Zum Schluss gehört die Karte in das Fach mit der richtigen Nummer auf der rechten Seite. Und wehe, du stempelst nicht ordentlich. Dann ziehe ich dir die Löffel lang, dass du sie locker in die Stempeluhr stecken kannst, du Schlawiner! Euch Studentenbürscherl kenne ich schon. Sich auf unsere Kosten ein fettes Leben machen und dann in den Ferien ein bisschen Arbeiterklasse spielen. Und jetzt hau ab!“