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Über das Buch

Joost Zwagermans erster schwarz-satirischer Ausflug in die Welt der Kunst & Künstler, 1989 entstanden, noch vor dem Bestseller Duell.

 

Walter van Raamsdonk lebt in der Welt junger, erfolgreicher Künstler in Amsterdam. Diese beschäftigen sich vornehmlich mit Geld, Sex und Drogen und, auch das, produzieren hin und wieder Kunst. Die Kunst ist Raam jedoch herzlich egal. Er versucht seinen Liebeskummer um die verlorene Freundin Sammie mit Videos (meist Pornos), MTV und Musik zu übertünchen. Nachts läßt er sich in der Diskothek »Gimmick« treiben, dem Treffpunkt der postmodernen Künstler. Schließlich reist er in der Weltgeschichte herum, um seinen Kummer zu betäuben – aber selbst in New York kommt er nicht von seiner alten Liebe los. Wieder daheim, kann er ein hochdotiertes Stipendium bekommen, muß dafür jedoch neue Werke vorweisen; die hat er nicht. Da fällt ihm ein, daß noch drei Arbeiten seines Freundes Alex in einer Ecke seines Ateliers stehen ...

 

»Abstrakte Kunst ist die Biedermeierkultur des zwanzigsten Jahrhunderts.«

 

Über den Autor

Joost Zwagerman (1963–2015) war einer der bedeutendsten niederländischen Autoren, er schrieb Lyrik, Romane und Essays. Es erschienen bereits fünf Romane in deutscher Übersetzung, zuletzt 2016 Duell.

 

Gregor Seferens (*1964) übersetzt seit vielen Jahren aus dem Nieder­ländischen, u. a. Harry Mulisch, Louis Paul Boon, Maarten t’Hart, Geert Mak. Er lebt in Bonn.

Victor Schiferli (*1967) ist ein niederländischer Lyriker, Romanautor und Journalist. Er war mit Joost Zwagerman befreundet.

 

Joost Zwagerman

 

Gimmick!

 

Roman

 

Aus dem Niederländischen
von Gregor Seferens

 

Mit einem Nachwort von
Victor Schiferli

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe, »Gimmick!«, erschien 1989 bei De Arbeiderspers, Amsterdam. © 1989 Joost Zwagerman.

Wir danken der niederländischen Stiftung für Literatur für die Förderung der Übersetzung.

Printausgabe: © Weidle Verlag 2018

Lektorat: Kim Keller

Korrektur: Stefan Weidle

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: November 2018

ISBN 978-3-95988-126-5

 

 

Ebenfalls bei CulturBooks als eBook erhältlich:

 

Joost Zwagerman: »Duell«

 

Eine meisterhafte Satire auf den Kunstbetrieb: Was passiert, wenn die Faust eines Museumsdirektors ein 30 Millionen Euro teures Gemälde durchschlägt?

 

Jelmer Verhooff ist der junge Direktor des »Hollands Museum« in Amsterdam, ein hipper Aufsteiger innerhalb der Kunstwelt. Nun aber muss sein Museum wegen Brandschutzmängeln geschlossen werden. Als letzte Ausstellung vor der Schließung hat er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Junge holländische Künstler sollen sich mit Meisterwerken der Sammlung auseinandersetzen. Der Titel der Schau: »Duel. Dutch Artists Challenged by Modern Masters.«

 

Besonders angetan ist er von einer jungen Malerin, die sich darauf spezialisiert hat, bedeutende Gemälde detailgenau zu kopieren. Diese wählt ein Schlüsselwerk von Mark Rothko und schafft ein verblüffend originalgetreues Abbild. Nach dem Ende der Ausstellung stellt dann allerdings der Restaurator des Museums fest, dass nun die Kopie in der Sammlung ist. Das Original wurde von der Malerin gestohlen.

 

Jelmer Verhooff findet heraus, dass Emma Duiker nicht nur Gemälde kopiert, sondern eine Konzeptkünstlerin ist, deren eigentliches Werk darin besteht, Rothkos Gemälde ohne jeden Hinweis auf dessen Wert und Bedeutung an alltäglichen Orten auf einfache Menschen wirken zu lassen.

 

Verhooff macht sich sofort daran zu recherchieren, wo sich das Original befindet, um es zurückzustehlen. Er lässt Emma Duikers Computer hacken, und als er erfährt, dass der Rothko in der Schule für Lernbehinderte einer slowenischen Kleinstadt gezeigt wird, macht er sich zusammen mit dem Restaurator auf den Weg. Doch er hat Emma Duiker weit unterschätzt …

 

»Lesen Sie deses Buch!« Denis Scheck

Leseprobe: Duell

Verdammt, die Hand, die Faust! Jelmer Verhooff sah auf die zerrissene Leinwand und spürte, daß tief in seinem Inneren ein kleiner Knirps aufzustehen versuchte, der nach seiner Mutter rief. Nun ja, ein kleiner Knirps. Ein Junge. Ein großer Kerl. Ein großer Kerl von neun Jahren, der beim Schulschwimmen endlich den Kopfsprung gelernt hatte und am Ende dieser Schwimmstunde, während der letzten zehn Minuten des »freien Schwimmens« und vor den Augen all seiner Klassenkameraden, furchtlos auf das hohe Sprungbrett stieg. Fast sechs Meter hoch. Er wollte der ganzen Welt zeigen, wer er war.

Der große Kerl stieß sich mit den Fußballen ab – und von dem Moment an, als seine Füße vom Sprungbrett federten und er das Wasser auf sich zukommen sah, wußte er, daß er einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte. Wie ein Versorgungssack, der aus nicht geringer Höhe aus einem Hubschrauber geworfen wird, fiel der große Kerl senkrecht in die Tiefe. Als er mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche landete, brannte seine Haut sofort lichterloh. Sobald er unter Wasser war (immer noch brennend), sah und hörte er nichts mehr, und der große Kerl wünschte, er würde nie wieder auftauchen. Am Beckenrand stand natürlich die ganze Klasse, achtundzwanzig Schüler mit Stielaugen, die nicht wagten zu lachen – das taten sie erst später, im blau-weiß gefliesten Umkleideraum und im Bus zurück zur Schule, und dieses Lachen sollte das ganze Schuljahr anhalten, ein Tornado aus Gejohle und Gekicher.

Doch zuerst waren da die Hände, die er auf dem Rücken und in der Taille spürte. Wie sich zeigte, war der Bademeister ihm mit Kleidern und allem hinterhergesprungen und lotste ihn mit fester Hand zum Beckenrand. Prusten, husten, schlucken, heulen. Der große Kerl mußte auf dem Rücken liegen bleiben, auf den kalten Fliesen. Er wurde beklopft und befingert, der Bademeister in seinem durchweichten Shirt hielt die ganze Zeit mit einer Hand seinen Nacken.

Als er endlich aufstehen durfte und schwankend auf den Beinen stand, sah er, daß seine Lehrerin, die herbeigeeilt war, schreckensbleich auf seine Oberschenkel und den Bauch starrte. »Mensch, Junge ...« Frau Vreugdehil trug blaue Plastiktüten um ihre Schuhe, eine Art Bademütze für Füße.

Sein Bauch war knallrot. Vielleicht, dachte er, geht die Farbe nie wieder weg. Sein Gesicht brannte am stärksten. Die Lehrerin hatte sich über ihn gebeugt und streichelte ihm mit beiden Händen das Haar – auch das noch! Diese Geste war der Gnadenstoß; die Hände von Frau Vreugdehil waren die geschweiften Klammern um seine Erniedrigung.

In den Tagen nachdem seine Hand, halb zur Faust geballt, die Leinwand berührt hatte, mußte Verhooff des öfteren an jenen Nachmittag im Schwimmbad denken. Aber konnte man die beiden Situationen wirklich miteinander vergleichen? Was kostete Chlorwasser eigentlich? Hing ein Preisschild an all den Kubikmetern Wasser im Schwimmbad? Das Wasser hatte ihm Schmerz zugefügt, doch hatte er auch das Wasser beschädigt? Ach, was!

Über den Wert der zerrissenen Leinwand würde niemand Scherze machen. Der betrug – er hatte zur Sicherheit bei Olde Husink nachgefragt – schlappe dreißig Millionen Euro. Das war eine konservative Schätzung. Und dann die komische Figur, die er bei dem Ganzen gemacht hatte. Achtundzwanzig Klassenkameraden hörten, so kam es ihm vor, das ganze Schuljahr nicht auf zu lachen. Haha, da kommt der Ziegelstein Verhooff! Wenn herauskam, daß er eigenhändig Untitled No. 18, 1962 beschädigt hatte, von wem würde er dann bis ans Ende aller Zeiten verspottet und ausgelacht werden? Er mußte Realist sein: von – und auch das war eine konservative Schätzung – der ganzen Weltbevölkerung.

 

Ende der Leseprobe. Joost Zwagerman. Duell. Novelle. Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Gregor Seferens. CulturBooks Maxi, September 2016. Digitale Lizenz. Circa 160 Seiten. 9,99 Euro. ISBN 978-3-9598-805-3.

Kontakt

Jemand ruft mich ständig an, sagt nichts,

undeutlich höre ich ein fernes Atmen,

es kann meins sein, aber auch das

jenes andern, der hartnäckig schweigt.

Ich lege wieder auf. Bin jetzt ein Mann,

der merkwürdige Anrufe bekommt.

 

Das Display zeigt eine Nummer

mit einer Landesvorwahl, die ich nicht kenne.

Ich wähl sofort, eine Mailbox spricht.

»Hallo, hier Gott, Ich bin nicht da.

Hinterlasse weder Name noch Nachricht,

Ich rufe nie zurück. Leb ruhig weiter,

warte notfalls auf den Piep, doch schweige.«

 

Prompt hat der Anrufer mich dennoch angewählt.

Wieder höre ich nichts, höchstens vages Atmen.

Ich bin der Mann, der stumm seinen Herzschlag zählt.

 

Irgendwann ruf ich Ihn zurück und sage dann

doch etwas nach dem Piep. Ich tu’s nicht gleich.

Ich warte, bis ich eine Geheimnummer habe.

 

Der Tag ist heute, Kontakt ist da. Ich tippe

die Nummer ein. Keiner geht ran. Er kam mir

zuvor. Er hat meine Nummer.

 

There were moments when ...
well, there were moments when.
The Shangri-Las, Past, Present and Future

Prolog

Jede Weltstadt hat ihre Art von Peepshows. In London beispielsweise sind sie dermaßen erbärmlich, daß einem die Tränen kommen. Die Kabinen stinken, und außerdem muß man seine Nase regelrecht an ein fettiges Fensterchen pressen, um sehen zu können, was hinter der Scheibe genau passiert. Und es passiert praktisch nichts. Wenn man die Mädchen anstarrt, schauen sie mit mißmutigem Gesicht zurück, wobei sie mechanisch mit den Hüften kreisen. Die Zustände in Paris ähneln noch am ehesten denen in Amsterdam, allerdings werden in Paris die Läden besser gepflegt. Wenn man dort in eine Kabine geht, kann man zumindest sicher sein, nicht in das Sperma eines anderen zu treten. Die Luxus­schuppen in der Rue de Clichy haben sogar Kabinen mit blitzsauberen Kunstledersesseln. Und nicht zu vergessen: Berlin! Berlin ist nicht zu verachten, dort bekommt man für das wenigste Geld am meisten geboten. Zwei Mark für eine Vibratorshow, drei für einen lesbischen Akt, und für zehn Mark bekommt man eine eigene Kabine mit einem eigenen Mädchen, und man darf ungestraft die mannshohe Scheibe beschmutzen, die man hinterher nicht einmal selbst saubermachen muß – etwas, das die Chicks in Amsterdam sehr wohl verlangen; sie zeigen dann herrisch auf eine Küchenkrepprolle, die unübersehbar an einer der Seitenwände hängt.

Doch New York schießt den Vogel ab, wie ich jetzt weiß. Vor zwei Jahren wußte ich das noch nicht. Damals bewohnte ich einen Monat lang ein Hotelzimmer in der ­Lower East Side, wo sogar aus dem Lichtschalter Ungeziefer kroch. Ich fand zwar in der Nähe meines Hotels ein paar Shows, doch das waren eher öffentliche Reservate für Junkie-Girls als die üblichen Live-Acts. Nach dem Einwurf einer Münze, die man für einen Dollar gekauft hatte, konnte man sich dort in einem nach Chlor riechenden, zappendusteren Kabuff einschließen. Und wenn dann die Sichtblende hochging, saß auf der anderen Seite der Scheibe eine ausgemergelte minderjährige Schwarze und starrte breitbeinig ins Nichts, vollkommen high, geistesabwesend und meist regungslos. Im besten Fall fuhrwerkte die Trulla mit einer uninspirierten Hand zwischen ihren mageren Beinen herum. Vielleicht verschaffte der Anblick solch einer ausgezehrten Speedo den gehetzten Büroangestellten, die ich scheu in die Kabinen hinein- und wieder herausflitzen sah, oder den sechzehnjährigen Billys und Bobbys und Joes, die aus Virginia, Kentucky oder Tennessee in die große Stadt gekommen waren, einen Kick – ich habe keine Ahnung, ich hatte damals jedenfalls von dem Ganzen sehr bald die Nase voll.

Als ich Groen von den erbärmlichen Shows von vor zwei Jahren berichtet hatte, sah er mich erstaunt an: »Shit, du mußt auf der Stelle in die 42. Straße, Walter Raam!« sagte er. »Was hast du hier das letzte Mal eigentlich gemacht, Mann? Los, komm!«

Dieser Plan hob die Stimmung wieder ein wenig, denn der erste Tag unseres Besuchs in New York war nicht wirklich ein Erfolg gewesen. Groen hatte in Amsterdam eine ­Liste mit angesagten New Yorker Hotels bekommen, von irgendeinem Deutschen, der kurz zuvor dort gewesen war. Doch abgesehen davon, daß diese Hotels alle mehr als hundertfünfzig Dollar pro Nacht und Person kosteten, lagen sie auch nicht besonders zentral. Und weil wir beide keine Lust hatten, unser Gepäck durch die Gegend zu schleppen, waren wir in einem YMCA in der Nähe von Columbus ­Circle gelandet. Für Groen gab es für vierzig Dollar pro Nacht in diesem YMCA noch ein Zimmer im dritten Stock und für mich, zum anderthalbfachen Preis, eins im zwölften.

Nachdem wir eingecheckt hatten und im Aufzug standen, sagte Groen: »Da sieht man mal wieder, wie tief ein Mensch sinken kann. Jetzt wohnen wir verdammt noch mal in einem YMCA.«

Wir inspizierten die Zimmer, die beide mehr oder weniger gleich ekelerregend waren. Zwei mal drei Meter, schmuddelige Matratzen, gruselige Beleuchtung, braun umkachelte Waschbecken und Gitter vor winzigen Fenstern.

»Tja, only prisoners can swing, sag ich da mal«, murmelte Groen. Und: »Sind diese YMCAs übrigens nicht lauter Schwulenbunker? Wenn du hier nur den Aufzugknopf drückst, hast du dir bereits eine Krankheit gefangen, schätze ich mal.«

Ich hatte über die New Yorker YMCAs auch schon gehört, daß man dort manchmal über Gruppen von fickenden Homos steigen mußte, wenn man den Flur entlang ging. Doch wie sich zeigte, stammte dieses Gerücht aus früheren Zeiten, aus den Jahren vor Aids. Eigentlich sahen wir vor allem zahnlose alte Männlein, die vierundzwanzig Stunden am Tag durch die zahllosen Flure gingen und vor sich hin mümmelten. Und jedesmal, wenn wir in den Aufzug stiegen, trafen wir eine waschechte Shopping-Bag-Lady, die nach angebrannten Bratpfannen und Pisse stank und mit knurriger Stimme fragte, auf welche Etage wir wollten. Der Aufzug war offenbar ihre Unterkunft – jedenfalls hatte sie ihre olfaktorischen Reviermarkierungen dort unverkennbar angebracht.

Groen sagte, zu Fuß seien es nur fünfzehn Minuten bis zur 42. Straße. Kurz vor unserer Ankunft hatte es in New York noch geschneit, und es herrschten bereits seit mehreren Tagen unter minus 10 Grad. Daran mußte man sich erst gewöhnen, nach den Wochen auf Teneriffa. Aber wir fielen nicht auf mit unseren in den Subtropen gebräunten Gesichtern. Die meisten New Yorker hatten sich gut eingepackt, vor allem in schwarze Parkas mit gefütterten Kapuzen. Viele Schwarze trugen gewaltige Bomberjacken, und sie hatten immer noch ihre Baseballkappen auf dem Kopf, jetzt allerdings mit grellbunten Ohrwärmern darüber. Wir gingen Richtung Times Square, kamen an drei riesigen Kinos, an einigen abgefahrenen Modeläden und vor allem an jeder Menge Fast-Food-Restaurants vorüber: Burger King, Wendy’s, Kentucky Fried Chicken und einem vier Etagen in Beschlag nehmenden McDonald’s. Es ging auf fünf Uhr zu, und es war bereits dunkel. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Der Lärm der hupenden Taxis nervte gewaltig. Hier sah New York so aus, wie Touristen es sich wünschen: Skyscrapers, ein vibrierendes Band aus Yellow Cabs in den Straßen, ein Dschungel von blinkenden Neonreklamen. Groen hatte vergessen, einen Wintermantel einzupacken, hatte deshalb einfach vier Pullover übereinander angezogen und ging nun, in die hohlen Hände pustend, noch schneller die Straße entlang als die meisten New Yorker.

Inzwischen waren wir an den ersten Pornokinos vorbeigekommen. Sie sahen nicht wirklich einladend aus, aber vielleicht lag das an den Religions-Fanatikern, die sich in Gruppen vor den jeweiligen Eingängen postiert hatten und fröstelnd irgendwas von Erlösung riefen. Die erste Live-Show hieß »Paradise« – und danach die übliche Neon­anzeige: Girls, girls, girls! x rated movies! Pussy show! $ 1: Try us! Hot cunts! Pleasure dome, free entrance!

Kurzum, man konnte kaum einen Unterschied zu den Werbesprüchen entdecken, die man in jeder anderen Stadt auch sieht. Bis wir einen der Schuppen betraten: »Girls Island«.

Drinnen sah es aus wie in einer Diskothek. Vielfarbige Lightshows, inklusive herumwirbelnde Laserstrahlen. Ohrenbetäubende Diskomusik. Und: Endlose Reihen von Videokabinen, in denen es jeweils eine an der Wand befestigte Bank und einen Bildschirm gab, unter dem sich mehr als dreißig Programmtasten befanden. Spezielle Kabuffs für anal, Lolita, Tiere, homo, lesbisch, SM, whatever. Der Laden war also irre groß, allerdings herrschte darin auch eine brüllende Hitze, mindestens 25 Grad. Hunderte von Männern streunten in einem Saal herum, der mindestens so groß war wie das Hauptpostamt von Amsterdam. In der Mitte eine breite steile Treppe, auf jeder Stufe blinkende rosarote Lämpchen. Die Treppe war gesäumt von phosphoreszierenden Pfeilen und Werbebotschaften: Horny Show! Live Sex! Pussy Pussy!

Bei einem superfetten Schwarzen mit Dreifachkinn und Hawaiihemd tauschten wir Dollars gegen die benötigten Chips. Groen zog zwei Pullover aus, ich öffnete den Reißverschluß meiner Jacke.

Groen war in seinem Element. Er war schließlich nicht zum ersten Mal hier und hielt damit auch nicht hinterm Berg. »Schau nur!« sagte er. Wir standen inzwischen oben an der Treppe, und Groen machte eine majestätische Armbewegung, als wäre er der alleinige Besitzer des Schuppens. Auf dieser Etage gab es nicht nur Kabinen, sondern auch Dutzende schlanke Farbige in Strapsen und Panther-Outfit, die lächelnd Männer ansprachen, auf sich und die Kabinen deutend.

»Vertu dich nicht«, sagte Groen strahlend. »Hier wird nicht gefickt. Das sind die Frauen, die dich in ihre Kabine locken und dir dann hinter kugelsicherem Glas eine Runde Fake-Ekstase vorführen. So wie überall also. Nein, wir müssen nach dort hinten, wo mehr Kreativität geboten wird.«

»Girls Island« schien kein Ende zu nehmen. All die scharfen schwarzen Frauen, die wahnsinnig großen Pornoplakate an der Wand: Fotos von weit aufgespreizten Mösen, so furchteinflößend wie Handgranaten. Dutzende von Luxuskabinen mit Telefon und Klopapierrolle. Und noch immer die Kakophonie der Lichteffekte, die aufleuchtenden Verheißungen: Couple sex, 69 Show, Big tits! Schräg hinter den zahllosen Kabinen befand sich noch ein weiterer Raum, in dessen Mitte ein jahrmarktartiges Glitzerhäuschen stand, umgeben von kreisförmig angebrachten orangefarbenen Türen.

»Aha!« sagte Groen fest entschlossen, und danach öffnete er kommentarlos eine der Türen und verschwand. Auch ich suchte mir eine freie Kabine.

Es war finster hinter der orangefarbenen Tür. Ich nahm einen Chip aus der Jackentasche und verriegelte die Tür. Tastend versuchte ich herauszufinden, wo der Chip eingeworfen werden mußte. In dem engen Kabuff roch es nach Bubble Gum. Nachdem der Chip in dem entsprechenden Schlitz verschwunden war, leuchtete ein grellgelbes Lämpchen auf. Vor meinen Füßen lagen mindestens zehn zerknüllte Papiertaschentücher. Die Sichtblende fuhr runter, und ich schaute in eine Art Zirkusmanege, in der zehn, zwanzig schlanke nackte Frauen umhergingen. Das heißt, ich sah nur Beine und straffe runde Pobacken. Und weiße Pumps. Und Strapse. Die Manege lag erhöht, und auch als ich mich vorbeugte und nach oben schaute, waren die Gesichter der Frauen kaum zu sehen. Aufgrund der Kreisform der Manege sah ich nicht nur die Beine, sondern auch fast alle anderen Luken. Aus nahezu jeder staken grapschende Arme. »Tipping! Tipping!« – die Frauen in der Manege riefen nichts anderes. Sie gingen tänzelnd von Luke zu Luke. Keine Glasscheibe! Es gibt keine Glasscheibe in den Luken! Wie eine Art Werbeslogan blitzte mir der Satz durchs Hirn. Fast alle Männer, die ihre Arme durch die Luken gestreckt hatten, wedelten wie wild mit Dollarnoten.

Zwei dunkelbraune Beine bewegten sich in Richtung meines Kabuffs, beugten sich, und vor mir hockte eine feuchtschimmernde junge Farbige. Sie hatte ein lächelndes Whitney-Houston-Gesicht. »Tipping?« Natürlich. Tipping. Trinkgeld. Ich schüttelte den Kopf. Das Gesicht der Schwarzen erstarrte, sie erhob sich rasch. Kurz huschten vor meinen Augen ihre Brüste vorüber, ihr Bauch, ihr schwarzglänzendes Schamhaar. Und weg war sie, in Richtung der nächsten Luke trippelnd.

Nach etwas weniger als einer Minute erlosch das Licht in der Kabine. Ein zweiter Chip, ein dritter. Allmählich blickte ich durch: Die Frauen gingen zielstrebig von Luke zu Luke, nahmen die Scheine aus den winkenden, grapschenden Händen und hockten sich hin, woraufhin dann ein oder zwei mit Adern bedeckte Hände zwischen den Schenkeln der vor der Luke knienden Frau verschwanden, die währenddessen meist ihr Gesicht hinter ihren Armen verbarg. All die Männer in den Dutzenden von Kabinen, von denen nur die Arme zu sehen waren ... sie alle waren ein einziger riesiger Krake. Ihre Arme waren seine Tentakel. Ich meine, genau danach sah es aus. Von Tentakeln gehaltene Dollarscheine.

Links von mir hatte eine blonde Frau ihren Hintern einer der Luken zugewandt. Mit raschen Bewegungen fuhr eine breite weiße Hand über ihre Pobacken, zwischen ihre Schenkel. Hinein. Er steckte zwei Finger hinein. Shit! Ein weiterer Chip, der vierte. Das farbige Mädchen von vorhin kam auf mich zu. Ich erkannte sie an ihren Pumps. An dem Kettchen um das Fußgelenk. Erneut beugte sie sich zu mir herab. Erneut das strahlende Lachen, das in dem Moment verschwand, als sie zum zweiten Mal mein Gesicht erblickte.

»Okay«, sagte sie, »whadda ya want? Y’have to pay here, ya know.«

Schweigen.

Die Frau seufzte.

»I don’t understand«, sagte ich. Meine Stimme klang lächerlich, als wäre ich ein Kastrat. I don’t understand. Ich begriff es nur allzu gut, aber aus irgendeinem Grund hatte ich nicht das Gefühl zu lügen.

»Okay«, sagte sie wieder, »for one buck y’can touch m’here« – sie streichelte über ihre Brustwarzen – »for two it’s my pussy and for three I tunnaround. Right?«

Es war alles andere als right. Mir fehlten die Worte.

»Well?« sagte sie schnippisch.

»What’s your name?« fragte ich stumpfsinnig, benahm mich jetzt schon minutenlang wie ein totaler Idiot. Sie hatte sich bereits wieder erhoben, erwiderte aber noch: »Names? Yours is Jack, mine is Jill, take a ride along the hill.«

Und das war’s. Wieder schloß sich die Luke. Das gelbe Licht in der Kabine war erneut erloschen. Ich entriegelte die Tür, ging hinaus und stieß auf Groen.

»Und?«

Ich sagte nichts und schaute nur auf die hinein- und hinausgehenden Männer. Sie hatten es eilig, in die Kabine hineinzukommen. Und sie hatten es noch eiliger, wenn sie die Kabine wieder verließen. Groen hantierte umständlich mit den Pullovern, die er sich um die Schultern gelegt hatte. Er hatte sich eine Dose Pepsi light aus einem Automaten gezogen.

»Was stehst du da rum, Raam?« fragte er. »Du hyperventilierst ja regelrecht, du Hirni!«

»Groen, das kann einfach nicht sein. Ich meine, die Frauen dort, sie sind alle schön!«

»Ach, ja? Raam, wir sind hier in New York und nicht in der holländischen Provinz, in Appelscha oder so. Nur damit du’s weißt. Krieg dich wieder ein, Mann. If you can’t take it, fake it. Verstehst du?«

Um uns gingen Männer herum. Schlendernd, eilig. Burschen von sechzehn, siebzehn, Junkies, speedy, geil. Alte Männer, routiniert. Schwarze. Puertoricaner. Chinesen, viele Chinesen. Vor allem aber viele weiße Angeber mit Aktentaschen, die Middle class in gefütterten Mänteln, auf quietschenden Lackschuhen vorwärts hastend.

»Ich besorg mir noch ein paar Chips.«

»Aha! Unser lieber, guter Raam findet es also doch spannend«, sang Groen vor sich hin. Er setzte die Dose an seine Lippen.

»Spannend?« sagte ich. »Spannend?«

Ich lachte viel zu laut, man drehte sich zu mir um.

 

Ich habe eine Handvoll Chips in der Tasche. Ich checke die Beine, suche das Whitney-Houston-Mädchen.

»Tipping?«

Ich gebe ihr drei Dollar. Das farbige Mädchen dreht sich um, beugt sich hinunter, bewegt die Hüften, schwenkt ihren Hintern vor meinem Gesicht. Die Beine gespreizt. Und beugt sich noch ein wenig weiter vor. Eine kleine, kerzengerade Möse, alles proportioniert, keine offenstehenden Saloontüren also, die Haare ordentlich und beruhigend darum drapiert – eine Möse wie ein kleines Tier, ein Biber, der Rücken eines Bibers. Ich strecke meinen Arm aus und lege meine Hand zwischen ihre Schenkel, als würde ich ein Schüsselchen halten. Bis ich an meinem Handgelenk spüre, wie die Luke sich schließt und gegen meinen Arm drückt. Und wieder einen Chip, wieder drei Dollar. Das Mädchen nimmt die Scheine, sie hat einen ganzen Stapel in der Hand.

Ich berühre sie nicht mehr. Es ist nichts zu sehen, nur ihre Pobacken, ihre Schenkel, ihre nahezu symmetrische, vertrauenerweckende Möse. Immer nur diese Wölbung vor meinen Augen, fest, trocken, formell.

»Ya pay for it, y’can touch me, hunney«, sagte sie noch. Ich erwiderte, das müsse nicht sein. Mein Gesicht, ich wünschte, ich könnte mein Gesicht hineinlegen. Ich wünschte ... ich wünschte ... Ich wünschte, ich wäre klein, viel kleiner als das farbige Mädchen, ich wünschte, ich wäre so klein, daß ich durch die Luke klettern könnte, ich wäre ebenso klein wie die Möse des Mädchens. Dann könnte ich mich zusammenrollen, die winzig kleinen Knie an den winzig kleinen Brustkorb gezogen, ich würde das farbige Mädchen fragen, ob sie mich nach der Arbeit in ihrer Manteltasche oder ihrer Handtasche mitnimmt, in ihr Apartment, in ihr Schlafzimmer. Dann würden wir uns schlafen legen, sie in ihrem Bett und ich, immer noch winzig klein, zwischen ihren Schenkeln. Ihre gerade, feste Möse wie ein Bett, die Schamlippen würden Decke und Laken sein. Anschließend müßte sie mich zudecken und mich und sich selbst streicheln, in den Schlaf wiegen, bis ich ganz weg wäre, aufgelöst, in ihrer Wärme verschwunden. Nie mehr aufwachen, für immer zu Hause.

Nach etwa einer halben Minute oder so stand ich in der nun wieder dunklen Kabine, die Schulter an die geschlossene Luke gelehnt.

Groen wartete an der Treppe auf mich.

»Soso. Du hast aber lange gebraucht. Und du hast sogar die Jacke dafür ausgezogen.« Groen schaute mich an, etwas zu lange für mein Empfinden. Er sagte: »Du bist leichenblaß, Mann, du siehst aus wie ein Zombie. Was hast du da drinnen angestellt?«

»Absolut nichts, Groen, ab-so-lut nichts.«

Wir gingen die Treppe hinunter. Horny show! Tits! Pussy Pussy!

»Ja, ja«, erwiderte Groen, »das sagen alle. Hauptsache, du hast dir die Hände gründlich abgewischt.«

Groen zog seine Pullover an, ich meine Lederjacke. Draußen erneut diese fuckin’ Eiseskälte, die mich wie Kokain durchschnitt, als hätte ich mich inzwischen in ein riesiges Nasenloch verwandelt, das nur dazu diente, die ganze Kälte aufzusaugen.

»So«, sagte Groen, »das war der erste Schuppen. Jetzt gehen wir nach nebenan, ins ›Lafayette‹. Dort gibt es etwas mehr zu sehen, härtere Shows. Los komm, laß uns den Laden kurz inspizieren.«

Ich sagte Groen, er müsse erstmal ohne mich auskommen.

»Was?«

Nur ein krummgewachsener alter Puertoricaner mit einer riesigen Pelzmütze auf dem Kopf schaute kurz zu uns auf.

Groen blieb stehen.

»Aber ... die besten Acts hast du noch gar nicht gesehen«, sagte er beleidigt.

»Das mach ich dann morgen.«

»Morgen, tomorrow, mañana, was ist das für eine Einstellung?«

Ich hatte keine Lust auf noch mehr Gelaber und sagte deshalb, ich hätte Hunger und Durst, ob wir nicht ein Steak oder so essen gehen könnten. Wir standen an der Ecke 42. Straße und 10. Avenue. Hier gab es weniger Straßenbeleuchtung, mehr alte Neonreklamen, eine ziemlich heavy Atmosphäre. Viele schreiende Farbige in langen schwarzen Ledermänteln, auf der anderen Straßenseite zwei brennende Mülltonnen, um die ein knappes Dutzend Schatten standen, die ihre Hände wärmten. Mitten auf der Kreuzung zwei blauweiße Polizeiwagen. Das Ganze sah aus wie eine Fernsehserie aus den siebziger Jahren.

Mondrian-Schmetterlinge

Als ich sie frage, wie spät es ist, sagt das Mädchen mit der Sonnenbrille, daß sie schrecklich, schreck-lich glücklich sei und daß sie alles wissen wolle, außer ob es jetzt früh oder spät oder vielleicht sogar zu spät ist.

Es ist also wahrscheinlich zu spät. Auf der Tanzfläche hotten nur noch ein paar alberne Studenten und eine Handvoll hyperaktive Schwuchteln ab. Ein Stück weiter entfernt stehen Eckhardt und Groen an der Bar und unterhalten sich über Computerkunst und über Steuern. Und vor allem über die neueste Droge ... denn was das angeht, kommt man heute kaum noch hinterher.

Vor rund drei Jahren habe ich beschlossen, in Momenten wie diesen in Diskotheken nicht länger darüber nachzugrübeln, was ich hier mache und warum und bis wann und wie ich in Gottes Namen nach Hause komme, wenn niemand mehr da ist, um das Taxi zu bezahlen. Was ich damit sagen will, ist, ich bin einfach dort. Und ich warte noch kurz, bis nicht das Mädchen mit der Sonnenbrille, sondern ein schwarzhaariger, ungeschminkter und hochhackiger Weekend-Vamp vom Klo wiederkommt und auf der anderen Seite der Tanzfläche wieder an ihrem Whisky-Cola nippt. Dann habe ich wenigstens was zum Glotzen.

Ich habe vergessen, nach wem ich heute abend sonst noch geglotzt habe. Es müssen auf jeden Fall viele gewesen sein, sehr viele, denn das Mädchen mit der Sonnenbrille hat mir früher am Abend minutenlang erläutert und gezeigt, wer alles mit wem fickt. Und wer mit wem gefickt hat.

»Kannst du dir das alles merken, was ich dir erzähle?« fragte sie. Ich erwiderte, ich würde mir alle Mühe geben. Doch sie hörte nicht auf, darüber zu sülzen, daß ich mir all das merken müsse. Sie bestellte einen Bessen Genever (für sich) und Glenfiddich (für mich). Mit Eis.

Abgesehen von der Sonnenbrille hat sie durchaus was. Als sie mir zum soundsovielten Male aufgetragen hatte, alles zu behalten, erwiderte ich, daß ich all die Leute, die sie mir gezeigt hatte, überhaupt nicht kannte und auch nicht wußte, wie sie hießen. Sie sah mich ungläubig an. Ließ ihre Sonnenbrille sinken.

»Sag bloß, kennst du all diese Leute wirklich nicht?« fragte sie bestürzt.

Ich deutete auf Eckhardt und Groen und sagte, die beiden würde ich kennen. Sie wiederum kannte Eckhardt und Groen nicht, aber sie war enttäuscht, als ich erzählte, die beiden würden über Drogen schwafeln.

»Ääähhh, wie altmodisch, Dope, wie banal. Jeder Jurastudent im dritten Semester hat heute ein Röhrchen und ein halbes Gramm Koks in der Tasche. Absolut öde. Wenn ich zum Beispiel irgendeinen blutjungen Burschen mit nach Hause nehme, einen witzigen Gymnasiasten, dann muß er sich unbedingt eine Line reinziehen, bevor wir ficken. Nein, nein, ich steh mehr auf Natur pur. Ohne Drogen und ohne Kondom. Und ansonsten trinke ich nur hin und wieder einen Schnaps. Ganz solide.«

Der ungeschminkte Weekend-Vamp mit den hohen Absätzen ist wieder auf die Toilette zurückgekehrt und hat sich geschminkt. Und die Haare hochgesteckt. Mitten auf der Tanzfläche unterhält sie sich mit einem stark transpirierenden Homo mit Bizeps. Der Homo mit Bizeps legt seine Hand in ihren Nacken, und als Run-DMC durch den Raum dröhnt, beginnen sie zu tanzen. Der Homo abgehackt und konzentriert, der Weekend-Vamp mit geradem Rücken und schnellen Schrittchen.

Gimmick, keine Sperrstunde. Ein großer Schuppen, für Amsterdamer Verhältnisse jedenfalls. Zwei Etagen und eine Cocktailbar, Art Déco, High-Tech, Minimal-Barock – eine Diskothek mit einem Mischmasch an Stilen.

Der Barkeeper bringt mir einen Glenfiddich. Eine Runde von Eckhardt. Groen schaut in meine Richtung. Is it tears or is it cheers? Ich nicke einfach nur und mache danach einen fragenden Schwenk mit dem Kopf in Richtung Mädchen mit der Sonnenbrille, das sich inzwischen mit einem vollkommen kahlen Farbigen mit vorstehenden Augen unterhält, der beide Hände auf ihren Hintern gelegt hat. Groen zuckt die Achseln. Kennt sie nicht. Also weiß niemand, wer sie ist, doch sie kennt mehr oder weniger alle und weiß, wer es mit wem treibt, und zur Not auch, wie oft.

Die Tanzfläche leert sich allmählich, aber der muskulöse Homo und das hochhackige Mädchen geben immer noch ihr Bestes – zu einem Klassiker von Smokey Robinson jetzt. The Tracks of My Tears. »My smile is my make-up I wear since my break-up with you.« Singt Smokey mit gequetschtem Stimmchen. Groen gestikuliert irgendwas wie »gute Mittelklasse«, nachdem ich ihn, auch mit einer Handbewegung, gebeten habe, das Mädchen mit der Sonnenbrille zu taxieren. Als sie auf mich zukommt, fällt mir wieder ein, daß ich wissen wollte, wie spät es ist. Und ich weiß nicht, wieso, aber plötzlich juckt es in meinen Kniekehlen.

»Mit wem fickt der kahle Schwarze eigentlich?« frage ich sie. Die Musik dröhnt, ich schreie.

»Quatsch nicht!« ruft sie zurück und fragt mich, was ich trinken möchte.

»Und du, mit wem fickst du?« schreie ich ihr ins Ohr. Und sind das tatsächlich zwei zerknitterte Zweihundertfünfzig-Gulden-Scheine in ihrem Portemonnaie?

»Na ja, ich dachte mit dir, du Idiot«, sagt sie, schreit sie. Und geht mit zwei Bessen Genever mit Eis zu dem Farbigen, der ihr die ganze Zeit auf die Beine gestarrt hat.

Über der Tanzfläche gehen die Saallampen an. Es ist also sechs Uhr, der Laden schließt. Aus den Lautsprechern kommt noch ein Rap von LL Cool J, Going Back to Cali. Die letzten Besucher gehen unwillig in Richtung Garderobe, nur ein paar Studenten tanzen weiter. Der Weekend-Vamp schlingt die Arme um den Homo mit Bizeps, der vielleicht kein Homo ist oder vielleicht gerade doch, denn viele hübsche Mädchen stehen auf Homos, die dann einmal so tun, als wären sie keine Homos, und die dann aus lauter Bockigkeit mit jemandem ins Bett gehen, auf den sie überhaupt nicht stehen. Es gefällt mir ganz und gar nicht, daß das Neonlicht angegangen ist. Ich habe es eilig. Das heißt, ich finde, ich sollte es eilig haben.

Das Mädchen hat wahrscheinlich auf das Neonlicht gewartet, um dann ihre Brille abzunehmen. Der kahle Schwarze sieht ihre Augen und macht umgehend die Biege.

»So«, sagt sie zu mir, »was hab ich wieder viel erlebt!«

Ihre Augen sind matt und angeturnt zugleich, und sie hat Ringe unter den Augen, sie ist alt, zu alt, vielleicht dreißig oder so. Die Musik verebbt. Ich betrachte ihre Beine. Schwarze Netzstrümpfe. Turnschuhe (Haarlem Stars), schwarzer Wickelrock, Baseballjacke und darunter ein T-Shirt, auf das der freakige Kopf von Albert Einstein gedruckt ist.

»Tja, komm einfach mit zu mir nach Hause«, sagt das Mädchen und steckt die Sonnenbrille ein. Überall ist jetzt das Anzug tragende Personal der Disko eifrig damit beschäftigt, Gläser einzusammeln.

Draußen steht der Weekend-Vamp – Jackett von Mexx, Wrangler-Jeans, schwarze Pumps, orangefarbene Schleife im Haar – und streitet sich mit dem Homo.

»Wieso bist du eigentlich so schrecklich glücklich?« frage ich das Mädchen mit der Sonnenbrille. Sie hat mir ihr Fahrrad in die Hände gedrückt.

»Fahr du«, sagt sie. Weil sie hintendrauf so zappelt, stoßen wir beinahe mit einem vorbeiwankenden und jammernden alten Kerl zusammen.

»Was hast du vorhin gesagt?« ruft sie.

Es wird bereits ein wenig hell, und sie reicht mir ihre Sonnenbrille. Sie kneift mich kurz in die Seite. Sie dirigiert mich zu ihrer Wohnung, und als wir vor der Haustür stehen, weiß ich nicht, was ich sagen soll, und sie auch nicht. Ihr Mascara ist zerlaufen, und sie sucht umständlich nach den drei Schlüsseln ihrer Fahrradschlösser, und daher frage ich sie schließlich eben noch einmal, warum sie so schrecklich glücklich ist. Ich bin wieder mal nicht betrunken. Das Mädchen wird mit einem Mal sehr ernst. Sie sieht schlecht aus, sie legt die Hand auf meine Wange und schwankt kurz, als sie sagt: »Heute abend haben zwei Leute zu mir gesagt, daß sie neidisch auf mich sind, weil ich so glücklich aussah. Das kriegt man nicht oft zu hören.«

Sie küßt mich und knallt mir mehr oder weniger ihre ganze Zunge in den Mund. Ich lasse das Fahrrad fallen.

 

»Ich habe eine Dreizimmerwohnung, und alles hier ist neu. Ich hoffe also, daß du nicht ins Waschbecken pißt, sondern ganz normal in die Toilette. Okay? Okay.«

Aber ich muß gar nicht pissen. Ich schaue mir ihr Wohnzimmer ein wenig an. Aluminiumstühle von Philippe ­Starck, ein etwas zu protziger Dreisitzer aus schwarzem Leder, Glastischchen hier und da, Halogenlampen – design or not design, that’s the question. Sie besitzt rund zweihundert CDs und ein paar Reihen Videokassetten. Ansonsten zwei Reproduktionen von Matisse über der Couch, was die Einrichtung wiederum ein bißchen nach Ikea aussehen läßt. Ich gehe in die Küche und nehme mir zwei Marshmallows, die auf dem Kühlschrank liegen. Stecke beide zugleich in den Mund. Die Fahrt mit dem Rad hat mich erfrischt. Ich bin hellwach.

»Hey, Walter.«

Sie steht in der Türöffnung und hat die Sonnenbrille wieder aufgesetzt. Sie ist betrunken. Sie hat die Kleider ausgezogen. Trägt nur noch ein bodystockingartiges Etwas.

»Hey, Walter. Ich finde, du solltest mich jetzt ins Bett bringen.« Ein dritter Marshmallow liegt neben dem Herd, zwischen zwei schmutzigen Töpfen und einem Standmixer.

Als sie auf ihr Doppelbett gesunken und halb unter die Decke gekrochen ist, dreht sich das Mädchen zu mir um.

»Eins mußt du wissen, Walter. Ich werde nicht mit dir ficken. Ich ficke nämlich nicht mit betrunkenen Männern.«

Sie hat die Knie hochgezogen und sich jetzt vollständig unter die Decke gewunden. Ich mache eine zweite Runde durch die Wohnung und schaue in ihren Terminkalender, der neben dem Bang & Olufsen-Fernseher liegt.

Dann gehe ich zurück ins Schlafzimmer und tippe auf die Stelle, von der ich annehme, daß sich dort die Schulter des Mädchens befindet.

»Hast du auch einen Videorekorder?«

Gemurmel unter der Decke.

»Habe ich weggestellt. In den Schrank neben dem Bett. Hauptsache, du machst keinen Lärm. Ich stehe nämlich nicht auf betrunkene Männer, die Lärm machen.«

Ich schleppe den Sony VHS ins Wohnzimmer. Kann wählen zwischen Die Terrasse, 8 ½, Storia di Piera, Doktor Schiwago, Der Stand der Dinge und, mal sehen, Der letzte Tango in Paris, Kaos, Wie ein wilder Stier und außerdem noch aus vielen Filmen, sehr vielen Filmen aus Spanien und Italien, Italien und Spanien. Meine Wahl fällt auf – ich habe den Film zwar schon dreimal oder so gesehen, aber für irgendwas muß man sich ja entscheiden – Der letzte Tango in ­Paris.

Marlon Brando rennt hinter Maria Schneider her. Maria Schneiders Titten, La dee da. Ich erinnere mich daran, daß Marlon Brando irgendwann so etwas sagt wie »Es ist aus, nun fängt es eben wieder neu an« – aber wann sagt er es, in der Mitte, am Ende? Ich spule das Band vorwärts und wieder zurück und wieder vorwärts und entscheide mich schließlich für ein paar Clips auf MTV.

Wenn man eine Stunde lang Videoclips schaut, dann sind immer zwei oder drei darunter, die einem gefallen. An diesem Morgen gibt es viele alte Clips. Robert Palmer mit lauter Frauen um sich herum. Bryan Ferry mit noch mehr Frauen um sich herum. Ich stelle den Fernseher leiser und rufe ein paar 0190-Nummern an. Rauche wie blöd Gauloises Blondes, die ich in der Küche gefunden habe. Trinke eine halbe Packung Yogi-Drink, Pfirsichgeschmack. Das Mädchen mit der Sonnenbrille wohnt im dritten Stock, und im Treppenhaus ist nun schon seit einer halben Stunde das Geschrei und Gekicher von zwei Jungen zu hören, was mich ziemlich nervt. Schaue mir dann doch noch mal den Schluß von Der letzte Tango in Paris an: Wieder liegt Brando da und verblutet.

Als ich mich neben sie lege, ist es zehn Uhr. Ein Zeitpunkt, um ... ja, um was zu tun? Um zum Zahnarzt zu gehen oder so.

Das Mädchen wacht auf. Seufzt. Und sagt: »Ich fand es sehr schön mit dir heute nacht. Gott, bist du gut, Mann ... du bist wirklich sehr süß.«

Eine Viertelstunde später ist sie hellwach. Die Jungen im Treppenhaus kreischen jetzt. Surinamischer Akzent. Und noch einmal sagt sie, daß sie es »sehr schön« fand.

»Und ich habe nullkommanull Kater!« ruft sie strahlend. Sie sitzt aufrecht im Bett. Sie hat fahlweiße Brüste mit großen dunklen Brustwarzen. »Aber ich muß los, du. Ins Studio.«

Ich stehe durchaus auf Mädchen, die morgens früh in Studios müssen. Ich will ihr sagen, daß ich auch irgendwohin muß, zu Groen, zu Eckhardt, in mein Atelier – aber letzteres kriege ich sowieso nicht über die Lippen. Sie ist aufgestanden und zieht sich an. Warhol-T-Shirt und eine enge schwarze Hose, dazu flache Schuhe mit einem Tigermotiv auf den Spitzen. Sie nimmt eine neue Sonnenbrille aus einem weißen Schubladenschrank, eine Schmetterlingsbrille diesmal. Sie setzt das Ding nicht auf die eigene Nase, sondern – ziemlich grob – auf meine und drückt mich anschließend unter die Decke zurück.

»Schlaf noch ein Weilchen. Das hast du dir verdient.« Und ehe sie zur Tür hinausgeht, sagt sie kichernd: »Und vergiß bitte nicht, die Blumen zu gießen.«

Schlafen will ich erst, nachdem ich Sammie angerufen habe.

Doch Sammie hat ihre Morgenmuffelstimme. Sie hat noch geschlafen.

»Sam, stell dich nicht so an. Ist es zu früh, um dich anzurufen, oder zu spät?«

Sam hat ein Doppelbett und Bezüge mit komischen rechteckigen Schmetterlingen darauf. Rote, blaue und gelbe Schmetterlinge. Eine Art Mondrian-Schmetterlinge.

»Es ist zu früh und zu spät.« Sie knurrt.

»Was machst du gerade?« Ma-hachst, jammere ich.

»Ich denke nach und möchte schlafen.«

Ich will darauf noch etwas erwidern, doch sie hat bereits aufgelegt.

Natürlich ist es jetzt am besten, nach Hause zu gehen. Aber vorher suche ich noch ein paar CDs aus, um sie mitzunehmen. Ich stecke zwei von Billie Holiday aus ihrer Sammlung in die Tasche. Bleibt mir nur noch, einen Höflichkeitsbrief zu schreiben – aber das Mädchen mit der Sonnenbrille hat ihre Sonnenbrille mitgenommen, und daher muß ich etwas anderes finden, auf dem ihr Name steht. Unten, unten an der Haustür gibt es ein Namensschild.

»Motherfucker«, sagt einer der surinamischen Jungen, als ich die Treppe hinuntergehe. In dem Moment, als ich unten die Tür öffne, höre ich oben eine andere zuschlagen. Ich renne wieder nach oben. Ist es vielleicht die Tür der Nachbarn, die Tür der surinamischen Jungen?

Es ist nicht die Tür der surinamischen Jungen.

»You son of a bitch (sanoffabits)«, sagt der andere surinamische Junge.

Okay. Ihre Tür ist zugeschlagen. Und: In ihrer Wohnung liegt meine Jacke, und darin sind meine Hausschlüssel und die Schlüssel zu meinem Atelier.

Der eine Junge hat ein zu kleines Streifen-T-Shirt an und trommelt fröhlich auf dem unbedeckten Stück Bauch herum. Der andere hat sich breit auf die Treppe gesetzt.

»Mußt du schon wieder vorbei, du Hirni?« Der Junge, der auf den Stufen sitzt, hat inzwischen sein Taschenmesser hervorgeholt und prokelt damit das Holz vom Geländer.

»Geht ihr lieber mal los und nehmt mit dem Messer eine alte Frau aus, ja.«

Die beiden Burschen kugeln vor Lachen beinahe die Treppe hinunter. Als ich die Haustür hinter mir zuziehe, rufen sie mit sich überschlagender Stimme: »Laß dich mal untersuchen, Motherfucker, laß dich mal untersuchen!«