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Table of Contents

Titel

Impressum

Einleitung

Am Saufang

Bienen auf dem Heuwagen

Vorsicht

Blasebalg, Orgelspiel und keine Luft

Der Baas, der Gustav und die Bienen

Die Buchecker und die blöde Milchkanne

Leer oder voll?

Menschenknochen in der Kammerbacher Höhle

Onkel Horst und sein Waldi

Wespenjagd

Über den Autor Dieter Schedy

 

 

 

 

 

Dieter Schedy

 

 

 

Überall ist Kammerbach

Lausbubengeschichten der

Nachkriegszeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Dieter Schedy

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2018

ISBN: 9783957535931

Grafiken Copyright by Kira Alea Grau, Sersheim,

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia by vdolgov, fiore26

 

Einleitung

Weiß jemand von Euch, wo Kammerbach liegt? Ich weiß es und ihr auch. Es liegt überall. Kammerbach ist überall da, wo Kinder eine wunderschöne Kindheit verbringen oder verbracht haben. So wie ich. Dort ist nämlich Kammerbach.

Vielleicht war es ein kleines, nettes Dörfchen da irgendwo im Hessischen, ganz weit abgelegen, doch herrlich, mit nichts zu vergleichen.

Um das Dörfchen zu finden, musste man schon ein Stück reisen, egal, von wo du kamst, und dann am besten mit dem Zug. Man kam immer an. Kam man dann mit dem Zug an, ging es zum Bahnhof damals gleich links hinaus, vielleicht auch heute noch, eine Schotterstraße drei Kilometer durch einen Buchenwald bergauf. In der Hälfte des Wegs floss damals eine Quelle rechts aus dem Berg. Wer vom Bergaufgehen Durst hatte, konnte dort schon mal trinken. Oben angekommen trat man aus dem Wald heraus, und schon hatte man einen Blick auf Kammerbach. Das Dörfchen lag in einer größeren Mulde am Fuße eines bekannten Berges, der wie eine große, dunkle Kuppe den Westen abgrenzte. Es war der Hohe Meißner. Im Norden war Kammerbach auch von Hügeln mit Wäldern umgeben, nicht ganz so hoch wie der im Westen. Es ist der Roßkopf mit einem Aussichtsturm obenauf. Ansonsten begleiteten den Fußgänger bergab auf der linken Seite viele Felder und Wiesen, auf der rechten Seite ein kleiner, langsam aufsteigender Hügel mit Wacholderbüschen bewachsen, der kurz vor Kammerbach zum Wolper anstieg. Diesen krönte obenauf ein großes Holzkreuz.

Nun stand man schon an den ersten Häusern des Dorfes. Im Dorf selbst gab es fast nur Bauernhöfe, dazu einen Kaufmannsladen, ein Backhaus, ein Spritzenhaus, in dem der Feuerwehrwagen stand, den Spritzenteich und den Dorfanger, ach ja, auch ein Bach floss durch Kammerbach – wo der herkam, weiß ich nicht. Es war der Kammerbach. Dann waren da noch die Kirche und natürlich auch die Schule. In der Schule gab’s den Lehrer Baas, ein Mordskerl mit einer Mordsglatze – er hatte meist einen braunen Anzug an. Doch davon später. In der Kirche gab’s die Glocken, die wir oft läuten durften und eine Orgel, die wir auch, aber nur einmal, treten durften. Doch von alldem später mehr.

 

 

Am Saufang

Wie schon gesagt, Kammerbach war damals und ist heute noch von Feldern umgeben. Hier bauten die Bauern alle Sorten von Getreide an, dazu auch Futterrüben und Kartoffeln. Zuckerrüben gab’s keine. Dafür war das Klima zu kühl.

An Obstbäumen gab es hier nur sehr wenige, ein paar martelalte Apfelbäume, an denen kaum etwas wuchs, ein paar Kirschbäume, an denen kaum etwas hing, ab und zu mal war ein Zwetschgenbaum zu sehen, an dem aber auch kaum etwas wuchs. An den Obstbäumen wuchs deswegen nichts, weil sie einerseits zu alt waren, oder, wenn sie blühen wollten, war das Wetter zu kühl und die Bienen flogen nicht, um die Blüten zu bestäuben. Die fror es dann am Hintern. So blieben sie lieber in ihren Bienenstöcken. Das vorerst zum Obst.

Die Körner im Getreide wurden letztlich zu Mehl, die Getreidehalme zu Stroh, die Kartoffeln wurden zu Schweinefutter oder die Leute aßen sie selbst. Die Rüben wurden alle verfüttert.

Doch manchmal kamen die Wildschweine aus den Wäldern, fielen über die Rüben- und Kartoffeläcker her, fraßen sich die Bäuche voll und hinterließen die Äcker als totale Wüste, dass den Bauern vor Wut die Tränen in die Augen stiegen. So ein Acker war sehenswert. Wie mit einem Pflug war alles umgegraben worden, das Rüben- oder Kartoffelkraut zertrampelt, die Kartoffeln und die Rüben aus dem Boden gewühlt, zum Teil aufgefressen, zum Teil nur angefressen. Und dann schien es, als ob sich die Wildschweine mit ihren dick gefressenen Bäuchen auch noch in den Äckern gewälzt hätten.

Abends saßen dann die Bauern mit tränennassen Augen und vor Wut hochroten Gesichtern im „Gasthaus Krug“ in der Wirtsstube und klagten und jammerten: „Haben diese Biester deinen Acker auch verwüstet?“, fragte Bauer Helmut Helmes seinen Nachbarn. Er war so aufgeregt, dass er sich an seinem Bier verschluckte.

„Du fragst wieder mal blöd, du Balles. Na klar“, schimpfte der so heftig, dass ihm bei jedem Wort ein Brocken Brot aus dem Mund sauste.

„Mann, schimpf doch nicht so herum, wenn du deinen Mund vollgepackt hast“, unterbrach ihn Willy Kolb.

„Wird ja auch nicht besser.“

„Ach, halt doch du die Klappe. Ich muss mich aufregen, wegen den Wildsäuen“, erwiderte darauf Helmut Helmes. „Mein Acker sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Dazu haben die Wildsäue nur die kleinen, schmackhaften Kartoffeln gefressen, die wir selbst am liebsten haben.“
An diesem Abend ging es beim „Krug“ hoch her.

Jeder der Bauern wusste etwas, war aufgebracht und voll des Zornes über die Schwarzkittel.

Überall, ob beim Backhaus, beim Spritzenteich oder am Anger, wo wir Kinder am nächsten Tag unterwegs waren, hörten wir die wütenden Worte der aufgebrachten Bauern.

„Denen sollte man das Fell abrasieren!“

„Denen sollte man die Hauer rausreißen!“

„Die sollte man mit Prügeln davonjagen!“

„Wenn ich bloß eine Flinte hätte, denen tät ich eins aufs Fell brennen!“

All das und noch mehr war zu hören.

Gewehre durften die Bauern ja damals keine haben, um die Wüstlinge zu erschießen. Schade, denn so ein Wildsaubraten wäre natürlich etwas Besonderes gewesen.

Nicht lange danach erzählte mir Franz, dass die Bauern beschlossen hätten, einen Saufang zu bauen. Darin wollten sie die Übeltäter, die ihnen die Kartoffeln und Rüben wegfraßen, fangen.

Franz war darüber wieder einmal bestens informiert. Er wusste eigentlich immer alles, bevor wir Klassenkameraden davon erfuhren. Dieses Mal brachte er die Neuigkeit vom „Krug“ mit.

Er musste nämlich jeden Tag zum Krug in die Wirtschaft gehen, um eine Milchkanne voll Bier für seinen Vater zu holen.

 “Der braucht das Bier zum Nachdenken“, hat Franz einmal gesagt.

Zudem war sein Vater Schlosser, der bei den Bauern alles Mögliche zu reparieren hatte.

Franz wusste eigentlich immer alles; denn auch seine Mutter kam mit vielen Frauen im Dorf zusammen. Sie kochte mit diesen in der Schulküche die Schulspeisung. Da wurde viel rumgeratscht.

Und da hat er gehört, wie sie im Gasthaus „Krug“ den Entschluss mit dem Saufang gefasst hatten.

Da wir Buben nicht wussten, was ein Saufang ist, wollten wir natürlich dabei sein, wenn er gebaut wurde.

Franz wusste das aber auch schon längst.

In der großen Pause meinte der Roderich: „Mensch, Franz, erzähl’ – was ist das mit dem Saufang?“

Nebenbei bemerkt, der Roderich hieß auch Franz. Damit wir die beiden nicht verwechselten, war er halt der Roderich.

Jetzt kam sich Franz natürlich ganz wichtig vor. Er plusterte sich ordentlich auf, reckte und streckte sich, obwohl er der Kleinste von uns war und meinte, wichtig dreinblickend: „Ich glaube, es ist so etwas wie eine Grube, in die die Wildschweine hineingelockt werden sollen. Mein Vater soll da einen Schnapper dazu bauen.“

„Und dann, wenn die da hineinfallen?“, fragte der Wippel.

„Dann gibt es Wildschweinbraten“, antwortete Franz, „was denn sonst?“

“Das ist bös’, die armen Schweine“, jammerte der Wippel. „Ich sag’s meiner Mutter“, und rannte davon.

Nun hieß es aufpassen auf das, was kommen würde.

Nach zwei Tagen sagte uns Franz, dass sein Vater gestern Abend den Schnapper für den Saufang fertiggemacht habe. Also müsste nun bald mit dem Bau des Saufangs angefangen werden.

Nach dem Mittagessen lungerten wir alle von der vierten Klasse um den „Krug“ herum und tatsächlich, da kamen die Bauern und versammelten sich vor der Wirtschaft.

Kurz darauf zogen sie, mit schwerem Material ausgerüstet, mit Spaten, Spitzhacken, Schaufeln, Eimern, wild gestikulierend, in Richtung Rosskopf los. Der Kilian trug einige Flaschen Bier.

Anführer war Bauer Faßbender. Er hatte immer das Sagen, weil er der Einzige im Dorf mit zwei Pferden war.

Mein Vater war Gott sei Dank nicht dabei. Ich hätte mich sonst geniert; denn die Bauern machten schon ein ordentlich wildes Geschrei.

Mein Vater arbeitete damals als Maschinist im Bergwerk auf dem Hohen Meißner. Doch ich, der Franz, der Roderich, Erich, Harry und noch ein paar andere aus meiner Klasse, waren von den wilden Tönen tief beeindruckt.

„Dreht euch mal um“, forderte uns Harry auf. Da staunten wir nicht schlecht – der Wippel kam hinter uns her. Was der da wollte, wussten wir nicht.

„Wippel, was willst du denn da?“, fragte der Harry.

„Einen Saufang zu bauen ist nichts für so ein Mamakindchen wie du“, fügte er spöttisch hinzu.

„Lass ihn“, mischte sich der Roderich ein. „Der will doch nur mit, um etwas bei seiner Mama zum Petzen zu haben. Wir werden schon was für ihn finden.“

Wippel war was Besonderes. Immer ordentlich gekämmt, als ob er die Haare mit Spucke angeklebt hätte. Er war auch immer ganz fein angezogen, nicht so wie wir mit unsern Lederhosen. Er hatte immer eine schicke Stoffhose an, und wenn er da einen Fleck darauf bekam, fing er an zu weinen. Bei unseren Lederhosen war das egal.

Na ja, wir haben ihn halt mitgenommen. Er musste aber hinter uns bleiben, was er auch gern tat; denn er hatte Angst, dass die Wildschweine kämen.

Nun ging es durch die Felder in Richtung Roßkopf etwas bergan, dann hinunter in ein kleines Wiesental, wo der kleine Brückenbach floss, dann wenige Meter diesem entlang und hinein in den lichten Buchenwald. Bauer Kilian mit seinen O-Beinen schrie und fuchtelte am wildesten. Das durfte der, weil er auch das Bier zum Mitnehmen gespendet hatte.

Nur wenige Meter im Wald war der Platz, an dem der Saufang gebaut werden sollte.

Schnell war ein Quadrat von zwei auf zwei Metern mit Hölzchen abgesteckt und die Bauern begannen, eine Grube zu graben. Je tiefer sie gruben, umso ruhiger wurden sie, einerseits, weil die Kräfte trotz des Bieres schwanden, andererseits weil sie selbst immer tiefer im Waldboden verschwanden. Schließlich war keiner mehr zu sehen, so tief war schon die Grube.

Nur Erde kam immer wieder nach oben geflogen.

„Du, Wippel“, sagte der Roderich. „Rutsch doch mal auf den Knien noch vorne und schau, wie tief die Grube ist.“