Ruth Ware

Wie tief ist deine Schuld

Thriller

Deutsch von Stefanie Ochel

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Ruth Ware

Ruth Ware wuchs im südenglischen Lewes auf und hat nach ihrem Studium an der Manchester University als Kellnerin, Buchhändlerin, Englischlehrerin und Pressereferentin für einen großen Verlag gearbeitet. Mit ihren ersten beiden Thrillern ›Im dunklen, dunklen Wald‹ und ›Woman in Cabin 10‹ wurde sie zur internationalen Bestsellerautorin. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton.

 

Mehr unter www.ruthware.com

Über das Buch

»So viele Rätsel … bis zur allerletzten Seite! Ich konnte das Buch einfach nicht mehr weglegen.« (Reese Witherspoon)

 

»Ich brauche deine Hilfe.« Mehr steht nicht in der Nachricht, die Isa von ihrer alten Schulfreundin Kate bekommt. Aber die wenigen Worte genügen. Isa lässt alles stehen und liegen und fährt nach Salten – dem Ort, wo sie einst mit ihren drei Freundinnen Kate, Thea und Fatima das glücklichste und zugleich grauenvollste Jahr ihres Lebens verbracht hat. Sie waren damals fünfzehn und eine eingeschworene Clique mit dem Ruf, unberechenbar, wild und gefährlich zu sein, nicht zuletzt wegen des »Lügenspiels«, das sie mit ihrer Umgebung spielten. Was am Ende jenes Jahres geschah, wird keine von ihnen je vergessen. Nun ist an der Küste allerdings eine Leiche gefunden worden. Sie alle wissen, wer es ist. Und sie wissen auch, wie die Leiche dort hingekommen ist, vor siebzehn Jahren …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2019

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2017 Ruth Ware

Titel der englischen Originalausgabe:

›The Lying Game‹ (Harvill Secker/Vintage Publishing/Penguin Random House, London 2017)

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH unter Verwendung von Fotos von Arcangel Images/Sally Mundy, Martin Klepacki, Getty Images/John Short

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.

 

eBook 978-3-423-43436-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21814-6

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website http://www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434362

Regenpfeifer und Seeschwalben fliegen erschreckt auf, als der Hund ausgelassen die wellige Düne hinabspringt, über spitze Gräser bis zum schilfbewachsenen Schlickboden des Ufers, dort, wo sich Süß- und Meerwasser durchmischen.

In der Ferne ragt schwarz und marode die Gezeitenmühle in den kühlen Morgenhimmel, als einziges menschengemachtes Gebilde in einer bröckelnden Landschaft, die Stück für Stück wieder vom Meer verschlungen wird.

»Bob!«, schallt die Stimme der Frau durch das wilde Gebell, als sie keuchend zu ihm aufschließt. »Bob, du Rabauke! Aus! Aus! Lass los! Was hast du da?«

Der Hund zerrt wieder, und beim Näherkommen sieht sie einen Gegenstand im Schlamm stecken. Ungeduldig versucht der Hund, ihn herauszuziehen.

»Bob, du versifftes Viech, guck dich mal an. Lass los. Aus! O Gott, nicht schon wieder ein totes Schaf.«

Ein letzter entschiedener Ruck, dann taumelt der Hund ein paar Schritte zurück, er hat etwas im Maul. Triumphierend trägt er den Gegenstand das Ufer hinauf und legt ihn vor seiner Besitzerin ab.

Und als sie da steht, sprachlos, mit dem hechelnden Hund zu ihren Füßen, kehrt die Stille in die Bucht zurück, wie die einlaufende Flut.


Verbreite eine Lüge

Ich stutze einen Moment – was kann das sein? Wer schreibt mitten in der Nacht? Von meinen Freundinnen ist um diese Zeit keine wach … es sei denn, Milly liegt schon in den Wehen … Gott, hoffentlich ist es nicht Milly! Ich hatte ihr versprochen, mich um Noah zu kümmern, falls ihre Eltern es aus Devon nicht rechtzeitig hierher schaffen würden, um ihn zu nehmen, aber ich hatte nicht geglaubt …

Aus meiner Sitzposition komme ich nicht ganz an das Telefon ran, also schiebe ich Freya einen Finger in den Mundwinkel, um sie von meiner Brust zu lösen. Sanft wiegend lege ich sie auf den Rücken, woraufhin sie milchsatt gluckst und die Augen nach hinten rollen lässt wie auf Droge. Ich betrachte sie noch einen Moment, lege meine Hand sachte auf ihren kleinen festen Körper, fühle ihr winziges Herz hinter den Rippen flattern wie ein Vogel im Käfig.

Allmählich dämmert sie weg. Ich greife zum Telefon, spüre, wie mein eigenes Herz schneller wird, ein schwaches Echo des ihren.

Ich tippe meine PIN ein, kneife die Augen zu gegen das grelle Leuchten des Bildschirms und mahne mich zur Ruhe – es sind noch vier Wochen bis zu Millys errechnetem Termin,

Aber dann ist der Bildschirm entsperrt, und die Nachricht ist nicht von Milly. Und sie besteht aus nur drei Wörtern.

Ich brauche euch.

 

Es ist halb vier Uhr morgens, doch ich fühle mich mit einem Mal sehr, sehr wach, haste auf den kalten Küchenfliesen auf und ab und kaue an meinen Fingernägeln, um das plötzliche Verlangen nach einer Zigarette zu stillen. Fast zehn Jahre habe ich nicht mehr geraucht, aber in Stress- und Angstmomenten wie diesem fällt es mir immer noch schwer.

Ich brauche euch.

Ich frage mich nicht, was die Nachricht bedeuten soll – ich weiß es, ebenso wie ich weiß, von wem sie stammt, auch wenn ich die Nummer nicht kenne.

Kate.

Kate Atagon.

Schon der Name genügt, damit die Erinnerung mich einholt wie ein Sinnesrausch: der Duft ihres Shampoos, die Sommersprossen auf ihrer Nase, Zimtbraun auf Olivenhaut. Kate. Fatima. Thea. Und ich.

Mit geschlossenen Augen stehe ich da und stelle sie mir alle vor, während ich das Handy in der Tasche meiner Pyjamahose fest umschließe, auf ihre Antworten warte.

Fatima wird schlafen, sich an Alis Rücken gekuschelt haben. Ihre Antwort wird gegen sechs eintreffen, wenn sie aufsteht, um Nadia und Samir vor der Schule Frühstück zu machen.

Thea – Thea kann ich mir schwerer vorstellen. Falls sie Nachtschicht macht, wird sie im Casino sein, wo Handys für die Mitarbeiter verboten sind und in Schließfächern verstaut werden. Gegen acht wird sie Schluss machen. Und dann? Vielleicht geht sie mit den Kolleginnen noch etwas trinken, noch

Und Kate. Kate ist wach – sie hat die Nachricht schließlich geschickt. Sie wird am Arbeitstisch ihres Vaters sitzen, der inzwischen ihr eigener ist, vor dem Fenster mit Ausblick auf den Reach, der im Licht der frühen Dämmerung hellgrau schimmert und auf dem sich die Wolken und der dunkle Rumpf der Mühle spiegeln. Sie wird eine Zigarette rauchen. Sie wird die Gezeiten beobachten, die ständig wechselnden, strömenden Gezeiten auf diesem Landstrich, der sich nie ändert, und doch von einem Moment zum nächsten nie der Gleiche ist – genau wie Kate selbst.

Ihre langen Haare hat sie zurückgebunden, sodass sie den Blick freigeben auf ihre feinen Züge und die Fältchen, die zweiunddreißig Jahre Küstenwinde um ihre Augen gezeichnet haben. Ihre Finger sind mit Ölfarbe befleckt, die in die Nagelhaut und bis unter die Nägel gedrungen ist, und ihre Augen funkeln in einem dunklen Schieferblau, tief und unergründlich. Sie wartet auf unsere Antworten. Aber sie weiß bereits, was wir sagen werden – was wir immer gesagt haben, immer wenn diese Nachricht kam, diese drei Wörter.

Ich komme.

Ich komme.

Ich komme.

Als ich ins Schlafzimmer komme, läuft er mit ihr im Arm auf und ab, sein Gesicht noch gerötet und zerknautscht von den Kissen.

»Sorry«, sagt er mit einem unterdrückten Gähnen. »Ich wollte sie beruhigen, aber keine Chance. Du weißt, wie sie ist, wenn sie Hunger hat.«

Ich lasse mich aufs Bett sinken, rutsche rückwärts gegen die Kissen bis zum Kopfteil und nehme Owen Freya ab, die mir aus ihrem rot angelaufenen Gesicht einen beleidigten Blick zuwirft, bevor sie sich mit einem zufriedenen Grunzer an meiner Brust zu schaffen macht.

Bis auf ihr gieriges Schmatzen ist es still im Raum. Owen gähnt erneut, wuschelt sich durch die Haare und nach einem kurzen Blick auf die Uhr schlüpft er in seine Unterwäsche.

»Stehst du schon auf?«, frage ich verwundert.

»Macht keinen Unterschied mehr. Um sieben muss ich sowieso raus. Scheiß Montag.«

Ich sehe auf die Uhr. Schon sechs. Ich muss länger durch die Küche gewuselt sein als gedacht.

»Warum bist du überhaupt auf?«, fragt er. »Hat die Müllabfuhr dich geweckt?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein, ich konnte einfach nicht mehr schlafen.«

»Ach so.« Er unterdrückt ein weiteres Gähnen und knöpft sich das Hemd zu. »Ich mach Kaffee – möchtest du auch einen?«

»Ja, gern«, sage ich. Dann, gerade als er das Zimmer verlässt: »Owen …«

Aber da ist er schon außer Hörweite.

Zehn Minuten später kommt er mit dem Kaffee zurück, genug Zeit, um mir die Worte zurechtzulegen und darüber nachzudenken, wie ich sie möglichst lässig über die Lippen bringen kann. Trotzdem muss ich schlucken, mein Mund ist vor Anspannung staubtrocken.

»Owen, gestern hat Kate mir geschrieben.«

»Kate von der Arbeit?« Mit einem dumpfen Geräusch setzt er die Tasse vor mir ab, ein wenig Kaffee schwappt über, den ich mit dem Ärmel aufwische und so mein Buch schütze. Die Panne gibt mir Zeit, meine Antwort zu formulieren.

»Nein, Kate Atagon. Von meiner Schule, erinnerst du dich?«

»Ach, die Kate. Die ihren Hund mit zu dieser Hochzeit genommen hat?«

»Genau. Shadow war das.«

Ich sehe ihn vor mir. Shadow – der weiße deutsche Schäferhund mit der schwarzen Schnauze und dem rußgesprenkelten Rücken. Der in der Tür steht und jeden Fremden anknurrt, aber denen, die er mag, voller Begeisterung einen schneeweißen Bauch zum Kraulen entgegenstreckt.

»Also?«, hakt Owen nach, und ich merke, dass ich den Faden verloren habe.

»Ach ja. Sie hat mich eingeladen, sie zu besuchen, und eigentlich hätte ich Lust.«

»Klingt nach ’ner guten Idee. Wann würdest du denn hinfahren?«

»Und Freya?«

»Die würde ich mitnehmen.«

Was denn sonst, würde ich am liebsten hinzufügen, aber halte mich zurück. Freya hat die Flasche noch nie angenommen, trotz unserer unermüdlichen Versuche. An einem Abend, als ich auf einer Party war, brüllte sie von 19 Uhr 30 bis Punkt 23 Uhr 58 unbeirrt durch, genau bis zu dem Moment, als ich zur Tür hereinstürmte und sie aus Owens schlaffen, erschöpften Armen an mich riss.

Wieder entsteht eine Pause. Freya lässt den Kopf zurückkippen und betrachtet mich einen Moment lang mit leicht gerunzelter Stirn, bevor sie einen kleinen Rülpser von sich gibt und sich wieder der ernsten Aufgabe des Gestilltwerdens zuwendet. Ich sehe Owen an, was ihm durch den Kopf geht … dass er uns vermissen wird, aber auch, dass er das Bett für sich allein haben wird, ausschlafen kann …

»Ich könnte dann mit dem Kinderzimmer weitermachen«, sagt er schließlich. Ich nicke, auch wenn wir schon seit Ewigkeiten über dieses Thema diskutieren – Owen hätte am liebsten das Schlafzimmer – und mich – wieder für sich und glaubt, dass Freya mit sechs Monaten so weit ist, in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen. Ich glaube das nicht. Das ist ein Grund, warum ich bis jetzt noch nicht die Zeit gefunden habe, das Gästezimmer zu entrümpeln und in babyfreundlichen Farben zu streichen.

»Klar«, sage ich.

»Also, von meiner Seite aus steht deinem Trip nichts im Wege«, sagt Owen schließlich. Er dreht sich um und beginnt, seine Krawatten zu durchsuchen. »Willst du das Auto nehmen?«, fragt er über die Schulter.

»Nein, nicht nötig. Wir fahren mit dem Zug. Kate holt mich vom Bahnhof ab.«

»Was?« Ich stutze kurz, aber dann begreife ich – er meint die Krawatte. »Ach so, ja, kerzengerade. Und nein, das mit dem Zug ist kein Problem. Es ist sogar einfacher, so kann ich sie stillen, wenn sie wach wird. Ich stopfe einfach all ihre Sachen unten in den Kinderwagen.« Er antwortet gar nicht, wahrscheinlich geht er in Gedanken schon die Tagesplanung durch, hakt eine Aufgabe nach der anderen von der Liste ab, wie ich es selbst vor ein paar Monaten noch tat – heute fühlt es sich wie ein fremdes Leben an. »Dann würde ich also heute noch fahren, wenn das okay für dich ist.«

»Heute?« Er nimmt seine Münzen von der Kommode, steckt sie sich in die Hosentasche und kommt auf mich zu, um sich mit einem Kuss auf die Stirn zu verabschieden. »Warum die Eile?«

»Gar keine Eile«, sage ich. Ich spüre, wie ich rot anlaufe. Ich hasse Lügen. Einst war es ein Spaß – bis zu dem Moment, als ich keine Wahl mehr hatte. Ich denke kaum noch darüber nach, vielleicht, weil ich es schon so lange tue, aber im Hintergrund ist es immer irgendwie da, wie ein Zahnschmerz, an den man sich gewöhnt hat, der sich aber hin und wieder mit einem jähen, heftigen Stich in Erinnerung ruft.

Vor allem aber hasse ich es, Owen zu belügen. Irgendwie ist es mir bisher gelungen, ihn aus den Verstrickungen herauszuhalten, und jetzt wird er doch hineingezogen. Es ist, als ob das Gift aus Kates Nachricht heraussickert und ins Zimmer strömt – und alles zu zerstören droht.

»Für Kate passt es gerade gut, weil sie im Moment keinen Auftrag hat … und ich muss ja in ein paar Monaten schon wieder arbeiten, also ist der Zeitpunkt eigentlich ideal.«

»Okay«, sagt er und scheint zwar verwundert, aber nicht misstrauisch. »Dann gebe ich dir wohl besser einen richtigen Kuss.«

»Ich liebe dich auch, kleiner Vampir«, sagt Owen zärtlich. Und dann, zu mir: »Wie lang dauert die Fahrt?«

»Vier Stunden ungefähr. Kommt auf die Verbindung an.«

»Na, dann habt auf jeden Fall eine gute Zeit, und melde dich, wenn ihr angekommen seid. Was meinst du, wie lang du bleiben wirst?«

»Ein paar Tage«, werfe ich in den Raum. »Vor dem Wochenende bin ich zurück.« Noch eine Lüge. Ich weiß es einfach nicht. Habe nicht die geringste Ahnung. So lange eben, wie Kate mich braucht. »Mal sehen, heute Abend weiß ich mehr.«

»Okay«, sagt er noch einmal. »Lieb dich.«

»Ich dich auch.« Endlich etwas, das der Wahrheit entspricht.

»Entschuldigung!«, rief ich nervös und mit heiserer Stimme über den Bahnsteig. Das Mädchen vor mir drehte sich um. Sie war hochgewachsen und wunderschön, mit leicht hochmütigem Ausdruck, der an ein Modigliani-Porträt erinnerte. Ihr hüftlanges schwarzes Haar war an den Spitzen blondiert, der Übergang von Gold zu Schwarz fließend, und sie trug Jeans mit Rissen an den Oberschenkeln.

»Ja?«

»Entschuldigung, ist das der Zug nach Salten?«, rief ich keuchend.

Sie musterte mich abschätzig von oben bis unten, registrierte meine Salten-Uniform, den noch steifen Stoff des marineblauen Hemds und den funkelnagelneuen Blazer, den ich an diesem Morgen zum ersten Mal aus dem Schrank geholt hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, worauf sie sich ihrer Begleiterin zuwandte. »Kate, ist das der Zug nach Salten?«

»Sei kein Arsch, Thee«, antwortete das Mädchen. Ihre rauchige Stimme ließ sie älter klingen, als sie vermutlich war – sie konnte höchstens sechzehn oder siebzehn sein. Sie trug ihr hellbraunes Haar kurz geschnitten, sodass es ihr Gesicht

Dann drehten sie sich um und waren schon fast am Ende des Gleises angekommen, bevor mir einfiel zu fragen, welche Hälfte die richtige war.

Ich blickte hoch zur Anzeigetafel.

Vorderer Zugteil zur Weiterfahrt Richtung Salten, stand dort, aber welcher war der vordere? Wie war die Fahrtrichtung?

Es war weit und breit kein Mitarbeiter zu sehen, den ich hätte fragen können, aber da mir nur noch eine Minute bis zur Abfahrt blieb, zerrte ich meinen schweren Koffer bis zum anderen Ende und stieg ein, wo die beiden Mädchen hineingegangen waren.

Kurz darauf fand ich mich in einem Abteil mit nur sechs Sitzen wieder. Kaum hatte ich die Tür zugezogen, war auch schon die Pfeife des Schaffners zu hören, und mit der furchtbaren Ahnung, doch im falschen Zugteil gelandet zu sein, ließ ich mich auf den Sitz sinken. Ich weiß noch, wie der Wollbezug an meinen Beinen kratzte.

Mit Scheppern und metallischem Quietschen setzte sich der Zug in Bewegung, und kaum hatten wir das Dunkel des Bahnhofsgewölbes verlassen, flutete grelles Sonnenlicht das Abteil. Ich legte den Kopf zurück, schloss die Augen gegen die gleißenden Strahlen und fragte mich, während der Zug Fahrt aufnahm, was wäre, wenn ich gar nicht in Salten einträfe, wo mich die Hausleiterin schon erwarten würde. Was, wenn ich in Brighton, Canterbury oder ganz woanders landen würde? Oder noch schlimmer – wenn ich bei der Zugteilung in zwei Hälften gerissen würde und fortan zwei halbe, in entgegengesetzter Richtung verlaufende Leben führen müsste, die sich immer weiter von dem Ich, das ich hätte sein sollen, entfernen würden.

Es war das große Mädchen, zu dem das andere Thee gesagt hatte. Sie stand lässig an den Türrahmen meines Abteils gelehnt und spielte mit einer noch nicht angezündeten Zigarette in ihren Fingern.

»Ja«, antwortete ich etwas mürrisch. Ich nahm es ihnen übel, dass sie mir nicht gesagt hatten, welche Zughälfte die richtige war. »Hoffe ich zumindest. Das hier ist das richtige Ende für Salten?«

»Ist es«, sagte das Mädchen knapp. Wieder musterte sie mich von oben bis unten, klopfte dabei mit der Zigarettenspitze gegen den Holzrahmen und sagte dann mit etwas gönnerhaftem Ausdruck: »Nimm’s mir nicht übel, aber du solltest wissen, dass man die Uniform nicht im Zug trägt.«

»Was?«

»Man zieht sich in Hampton’s Lee um. Es ist … ich weiß nicht. Es ist halt so. Ich dachte, ich sag’s dir besser. Nur die im ersten Jahr und die ganz Neuen tragen sie während der ganzen Fahrt. Damit fällst du einfach auf.«

»Das heißt … du bist auch in Salten?«

»Jepp. Zu meiner Schande.«

»Thea sammelt Schulverweise«, sagte eine Stimme hinter ihr, und ich sah das andere, kurzhaarige Mädchen mit zwei Kaffeebechern in der Hand im Korridor stehen. »Von drei anderen Schulen ist sie geflogen. Salten ist ihre letzte Chance. Keiner wollte sie mehr aufnehmen.«

»Wenigstens bin ich keine Almosenempfängerin«, konterte Thea, aber die Art, wie sie es sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass die beiden Freundinnen waren und dieses Geplänkel Teil ihrer Show. »Kates Vater ist der Kunstlehrer«, erklärte sie. »Da ist ein kostenloser Platz fürs Töchterchen inbegriffen.«

»Thea jedenfalls dürfte für Almosen nicht infrage

Kate und Thea warfen sich einen Blick zu, und es kam mir vor, als würden sie stumm Frage und Antwort austauschen, bevor Thea wieder das Wort ergriff.

»Wie heißt du?«

»Isa«, sagte ich.

»Also, Isa.« Sie blickte mich herausfordernd an. »Warum setzt du dich nicht zu uns? Unser Abteil ist da hinten.«

Ich holte tief Luft und mit einem Gefühl wie vor dem Sprung vom Dreimeterbrett nickte ich wortlos. Als ich meinen Koffer nahm und Thea und Kate schweigend folgte, ahnte ich nicht, dass dieser kurze Moment mein Leben für immer verändern würde.

Mit einem Kaffee in der Hand hieve ich Freyas Kinderwagen in einem gewagten Manöver in den Zug. Drinnen angekommen stelle ich den Becher auf einen freien Tisch und beginne den langen, immergleichen Kampf beim Versuch, den Babykorb vom Gestell zu lösen – ein umständliches Herumnesteln an Schnallen und Klippverschlüssen, die einfach nicht aufgehen wollen. Da fast nichts los ist im Waggon, bleibt mir zumindest die peinliche Situation erspart, dass vor und hinter mir Leute Schlange stehen müssen, und Drängler sind zum Glück auch keine zu befürchten. Endlich, gerade als der Schaffner pfeift und der Zug sich ächzend und wankend in Bewegung setzt, löst sich der letzte Klipp. Ich hebe den leichten Korb mit der immer noch schlafenden Freya heraus und lege ihn sicher auf einer Sitzbank ab.

Als ich zurückgehe, um mich um die Taschen zu kümmern, nehme ich den Becher mit. Ich habe Schreckensszenarien im Kopf – dass der Zug plötzlich ruckelt und sich der heiße Kaffee

Endlich haben wir es beide bequem, ich mit meinem Buch und meinem Kaffee, Freya im Tiefschlaf, die Schmusedecke fest an ihre Wange gepresst. In der hellen Junisonne sieht sie aus wie ein Engel, ihre Haut ist so klar und zart – und plötzlich werde ich von einer Welle der Liebe erfasst, so glühend heiß, als hätte sich der brühende Kaffee über mein Herz ergossen. Hier im Zug, in diesem Moment, bin ich nichts als die Mutter dieses Babys, und auf der ganzen Welt gibt es niemanden außer uns beiden in dieser Blase aus Glück und Sonnenschein.

Und dann merke ich, dass mein Handy vibriert.

Fatima Chaudhry steht auf dem Bildschirm. Mein Herz macht einen kleinen Sprung.

Mit zitternden Fingern öffne ich die Nachricht.

Ich komme, steht da. Fahre heute Abend los, sobald die Kinder im Bett sind. Bin zwischen neun und zehn bei euch.

Es hat begonnen. Noch keine Nachricht von Thea, aber sie wird noch kommen. Der Zauber ist vorbei, die Illusion – Freya und ich allein auf dem Weg zu einem Urlaub an der Küste – ist zerstört. Ich erinnere mich an den wahren Grund meiner Reise. Ich erinnere mich an das, was wir getan haben.

Habe den Zug 12.05 von Victoria genommen, schreibe ich an alle. Kate, holst du mich in Salten ab?

Keine Antwort, aber ich weiß, sie wird mich nicht im Stich lassen.

Ich schließe die Augen und lege eine Hand auf Freyas Brust, damit ich weiß, dass sie da ist. Und dann versuche ich zu schlafen.

 

Freya windet sich missmutig in ihrem Korb, mit etwas Glück wird sie vielleicht wieder einschlafen – doch als es erneut knallt, heftiger als beim ersten Mal, schlägt sie erschrocken die Augen auf und schreit mit wut- und hungerverzerrtem Gesicht drauflos.

»Sch …«, säusle ich und hebe ihren warmen, strampelnden kleinen Körper aus dem Kokon aus Decken und Stofftieren. Ihre dunklen Augen funkeln empört. »Sch … ist doch gut, Mäuschen, alles in Ordnung, mein Spatz. Alles ist gut.«

Während ich mein Hemd aufknöpfe, drückt sie ihr kleines Motzgesicht forsch gegen meine Brust, und schon spüre ich die Milch einströmen, ein inzwischen bekanntes, doch immer noch fremdartiges Gefühl.

Sie beginnt zu trinken, und als es kurz darauf ein weiteres Mal rumst und quietscht und die Pfeife ertönt, setzen wir uns in Bewegung, hinaus aus dem Bahnhof, vorbei an den Nebengleisen, Häuserreihen, schließlich an Feldern mit Leitungsmasten.

Das alles kommt mir so erschütternd vertraut vor. London hat sich in den Jahren, seit ich dort lebe, ständig verändert. Die Stadt ist wie Freya, jeder Tag bringt etwas Neues. Hier eröffnet ein Laden, dort schließt ein Pub. Neue Gebäude wie das Gherkin oder The Shard sprießen aus dem Boden, aus Industriebrachen werden Supermärkte, und Bürotürme scheinen sich wie Pilze zu vermehren, schießen aus feuchter Erde und Betonschutt über Nacht in die Höhe.

Aber diese Zugfahrt, diese Strecke – nichts hat sich verändert.

Da steht die ausgebrannte Ulme.

Dieselbe klapprige Brücke, das hohle Geräusch der Räder, als der Zug sie überquert.

Ich schließe die Augen und bin zurück in jenem Abteil mit Kate und Thea, höre sie lachen, als sie sich die Röcke ihrer Uniform über die Jeans ziehen und sich die Hemden über ihren sommerlichen Trägertops zuknöpfen. Ich sehe Thea vor mir, wie sie Nylonstrümpfe über ihre sagenhaft schlanken Beine hochrollt und mit einem geübten Griff unter dem vorschriftskonformen Rock die Strapse befestigt. Ich weiß noch, wie ich rot wurde, als ich einen kurzen Blick auf ihren nackten Schenkel erhaschte, und wie ich den Blick abwandte, mit klopfendem Herzen aus dem Fenster auf die herbstlichen Weizenfelder blickte und dann hörte, wie sie über meine Verklemmtheit lachte.

»Du solltest dich beeilen«, raunte Kate Thea zu. Sie war schon umgezogen und hatte Jeans und Stiefel bereits in ihrem Koffer verstaut. »Gleich kommt Westridge, wo die Strandfanatiker zusteigen – du willst doch den Touris keinen Herzinfarkt bescheren.«

Thea streckte ihr die Zunge heraus, beeilte sich aber, die Strumpfbänder einzuhaken, und sie strich sich den Rock genau in dem Moment glatt, als wir in den Bahnhof Westridge einfuhren.

Wie Kate vorausgesagt hatte, hatte sich eine Gruppe Strandtouristen am Bahnsteig versammelt, und Thea stöhnte auf. Unser Abteil hielt auf gleicher Höhe mit einem Elternpaar und ihrem etwa sechsjährigen Sohn, der Schaufel und Eimer in der einen und ein tropfendes Schokoladeneis in der anderen Hand hielt.

»Noch Platz für drei?«, fragte der Vater kumpelhaft, bevor sie in unser Abteil einfielen und die Tür lautstark zuzogen. Das Abteil fühlte sich auf einmal heillos überfüllt an.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Thea, und es klang, als täte es

Der Mann sah uns etwas irritiert an, seine Frau kicherte nervös. Der Junge hörte gar nicht zu, sondern war damit beschäftigt, Schokoladensplitter von seinem T-Shirt zu picken.

»Es geht mir nur um das Wohl Ihres Kindes«, sagte Thea mit ernster Miene. »Außerdem will Ariadne wirklich nicht zurück in die Jugendstrafanstalt.«

»Das Abteil nebenan ist frei«, sagte Kate, die sich sichtbar das Lachen verkneifen musste. Sie stand auf und zog die Abteiltür auf. »Es tut mir außerordentlich leid. Wir wollen Ihnen keine Umstände machen, aber ich glaube, es ist für die Sicherheit aller Beteiligten das Beste.«

Der Mann warf uns einen letzten misstrauischen Blick zu und trat dann mit seiner Frau und seinem Sohn hinaus auf den Korridor.

Kaum waren sie weg und die Tür noch nicht ganz zu, prustete Thea schon los, aber Kate schüttelte den Kopf.

»Dafür gibt’s keinen Punkt«, sagte sie. Ihr Gesicht zuckte vor unterdrücktem Lachen. »Die haben dir nicht geglaubt.«

»Ach, komm!« Thea zog eine Zigarette aus der Schachtel in ihrer Manteltasche, zündete sie an und nahm dem Rauchverbotsschild auf dem Fenster zum Trotz einen tiefen Zug. »Sie sind doch gegangen, oder?«

»Ja, aber bloß, weil sie dachten, dass du wahnsinnig bist. Das zählt nicht!«

»Ist das … ein Spiel?«, fragte ich verunsichert.

Ein langes Schweigen folgte.

Thea und Kate sahen einander an, und wieder beobachtete ich ihr stummes Zwiegespräch, es war, als läge ein elektrisches Knistern in der Luft. Sie schienen sich auf eine Antwort

»Es ist nicht ein Spiel«, antwortete sie. »Es ist das Spiel. Das Lügenspiel.«

 

Das Lügenspiel.

Die Erinnerung holt mich ein, so scharf und lebendig wie der Geruch des Meeres und die Schreie der Möwen über dem Reach, und ich begreife nicht, wie ich das alles fast vergessen konnte – die Strichliste über Kates Bett, übersät mit den kryptischen Zeichen ihres ausgefeilten Punktesystems. So viel für ein neues Opfer. So viel, wenn jemand dir die Geschichte wirklich abkauft. Bonuspunkte für besonders ausgeschmückte Details oder dafür, jemanden wieder an die Angel zu bekommen, der den Bluff eigentlich schon durchschaut hatte. Ich habe eine halbe Ewigkeit nicht mehr daran gedacht, doch auf eine Art habe ich es über all die Jahre weitergespielt.

Ich seufze, als ich Freyas friedliches Gesicht betrachte, während sie an meiner Brust liegt, voll und ganz in den Moment vertieft. Und ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich weiß nicht, ob ich zurückgehen kann.

Was ist passiert, dass Kate uns alle mitten in der Nacht so plötzlich und so dringend ruft?

Mir fällt nur ein einziger Grund ein … und ich kann den Gedanken nicht ertragen.

Als mein Handy zum letzten Mal piept, fahren wir gerade in Salten ein. Ich rechne damit, dass es Kate ist, die bestätigt, dass sie zum Bahnhof kommt. Aber sie ist es nicht. Es ist Thea.

Ich komme.

Mit der schweren Tasche über der Schulter schiebe ich den Kinderwagen zum Ausgang und überlege, was ich tun könnte. Kate anrufen? Ich habe zwar nichts von ihr gehört, aber ich gehe davon aus, dass sie meine Nachricht bekommen hat. Vielleicht ist ja ihr Akku leer. Die Mühle hat kein Festnetz, eine andere Nummer habe ich nicht.

Ich stelle die Bremse am Kinderwagen fest und will gerade mein Telefon hervorkramen, als ich ein Motorengeräusch höre, das durch den schmalen Hohlweg weiter anschwillt. Ich drehe mich um und sehe ein Auto auf den Parkplatz einbiegen. Eigentlich habe ich mit dem riesigen verdreckten Landrover gerechnet, mit dem Kate vor sieben Jahren bei Fatimas Hochzeit aufgekreuzt war; ich habe noch die langen Sitzbänke vor Augen und Shadow, der hechelnd den Kopf aus dem Fenster steckte. Stattdessen fährt ein Taxi vor. Erst bin ich nicht sicher, ob sie es wirklich ist, doch dann sehe ich sie hektisch von innen an der Klinke hantieren, und mein Herz macht einen

»Kate!«

Sie hat sich nicht verändert. Dieselben schmalen, knochigen Handgelenke, ihr nussbraunes Haar und honigfarbenes Gesicht, die Stupsnase mit den Sommersprossen, genau wie früher. Die Haare trägt sie zwar länger, mit einem Gummi zusammengebunden, und in der feinen Haut um ihre Augen und ihren Mund sind kleine Fältchen zu sehen, aber ansonsten ist sie einfach Kate, meine Kate. Als wir uns umarmen, atme ich ihren Geruch ein, der immer noch der gleiche ist, die unverwechselbare Mischung aus Zigarettenrauch, Terpentin und Shampoo. Ich fasse sie an den Armen und merke, wie ich, den Umständen zum Trotz, über beide Ohren grinse.

»Kate«, wiederhole ich in meiner albernen Stimmung, und sie zieht mich wieder an sich, drückt ihr Gesicht in meine Haare und hält mich so fest, dass ich ihre Knochen spüren kann.

Und dann höre ich ein Wimmern aus dem Kinderwagen und erinnere mich daran, wer ich bin, die Person, die ich geworden bin – und an alles, was passiert ist, seit Kate und ich uns zum letzten Mal gesehen haben.

»Kate«, sage ich noch einmal, genieße den Klang ihres Namens auf meiner Zunge, »Kate, darf ich dir meine Tochter vorstellen?«

Ich schiebe den Sonnenschirm zurück, hebe das strampelnde, quengelnde Etwas aus dem Wagen und halte es Kate entgegen.

Kate nimmt sie an, etwas zögerlich zwar, doch kurz darauf legt sich ein Lächeln auf ihr schmales, bewegtes Gesicht.

»Du bist ja eine Schöne«, sagt sie zu Freya, ihre Stimme genau so sanft und rauchig, wie ich sie in Erinnerung habe. »Genau wie deine Mama. Sie ist wahnsinnig süß, Isa.«

»Na dann, komm«, sagt Kate schließlich, aber zu Freya, nicht zu mir. Sie nimmt Freyas Hand in ihre, streichelt über die zarten, rundlichen Babyfinger, die Grübchen auf den Fingerknöcheln. »Fahren wir los.«

 

»Was ist mit deinem Wagen?«, frage ich, als wir zusammen zum Taxi gehen, Kate mit Freya im Arm, ich mit dem Kinderwagen, in dem ich die Tasche abgelegt habe.

»Ach, der ist schon wieder kaputt. Ich will ihn noch in die Werkstatt bringen, bin aber wie immer pleite.«

»Ach, Kate.«

Ach Kate, wann suchst du dir endlich einen richtigen Job?, könnte ich fragen. Wann wirst du die Mühle verkaufen und irgendwohin ziehen, wo man deine Arbeit schätzt, anstatt dich auf den schwindenden Touristenstrom nach Salten zu verlassen? Doch ich kenne die Antwort. Niemals. Kate wird die Gezeitenmühle nie verlassen. Sie wird Salten nie verlassen.

»Zurück zur Mühle, meine Damen?«, ruft der Taxifahrer durchs Fenster, und Kate nickt.

»Danke, Rick.«

»Den Kinderwagen packe ich in den Kofferraum. Er lässt sich doch zusammenklappen?«

»Ja.« Wieder kämpfe ich mit den Schnallen, als es mir mit einem Schreck einfällt: »Verdammt. Ich hab die Autoschale vergessen. Ich habe nur den Babykorb mitgenommen, weil ich dachte, sie kann darin schlafen.«

»Ach, hier kommt sowieso keine Polizei vorbei«, will Rick mich beruhigen, während er den zusammengeklappten Wagen

Um die Polizei geht es mir gar nicht, will ich erwidern, doch der Name lässt mich aufhorchen.

»Marys Sohn?« Ich sehe Kate fragend an. »Doch nicht Mark Wren?«

»Genau der«, sagt Kate und verzieht den Mund zu einem trockenen Lächeln. »Sergeant Wren inzwischen.«

»Ist der nicht viel zu jung?«

»Er ist doch nur ein paar Jahre jünger als wir«, widerspricht Kate, und mir wird klar, dass sie recht hat. Dreißig ist mehr als alt genug, um Polizist zu sein. Aber ich kann mir Mark Wren einfach nicht als Dreißigjährigen vorstellen – für mich ist er ein vierzehnjähriger Junge mit Pickeln und Oberlippenflaum, der immer etwas gebückt ging, um seine fast eins neunzig große Statur zu verstecken. Ob er sich noch an uns erinnert? An das Spiel?

»Sorry«, sagt Kate, als wir uns anschnallen. »Du musst sie wohl auf den Schoß nehmen – es ist nicht ideal, ich weiß.«

»Ich fahr vorsichtig«, sagt Rick, und schon holpern wir über den zerfurchten Boden des Parkplatzes auf den Hohlweg zu. »Und es sind ja nur ein paar Kilometer.«

»Über die Marsch noch weniger«, sagt Kate. Sie drückt meine Hand und ich weiß, sie denkt an all die Tage, an denen sie und ich diesen Weg genommen haben, uns einen Weg über die Salzwiesen zur Schule und zurück bahnten. »Aber mit dem Kinderwagen ist das keine Option.«

»Ganz schön heiß für Juni, oder?«, fragt Rick, als wir um die Kurve biegen, wo sich die Baumkronen lichten und gleißende Sonnenstrahlen zwischen den Blättern flirren, die auf meinem Gesicht brennen. Ich muss blinzeln und frage mich, ob ich meine Sonnenbrille eingepackt habe.

»Brüllend«, sage ich. »In London war es nicht annähernd so heiß.«

»Genau«, sage ich und stocke. Was treibt mich eigentlich zurück? Eine SMS? Drei Wörter? Ich sehe Kate an. Als sich unsere Blicke treffen, ist klar, dass sie jetzt nichts sagen kann, nicht vor Rick.

»Isa ist für das Ehemaligentreffen hier«, sagt Kate unerwartet. »In Salten House.«

Wahrscheinlich gucke ich irritiert, denn sie drückt mahnend meine Hand, doch als wir über die Bahnschienen fahren und das Taxi ruckelt und holpert, muss ich meine Hand wegziehen, um Freya mit beiden Händen festzuhalten.

»Ganz schön nobel, diese Dinner in Salten House, wie man hört«, sagt Rick. »Meine Jüngste kellnert da manchmal für ein bisschen Extrataschengeld, die erzählt Sachen: Pavillons, Champagner, das volle Programm.«

»Ich war noch nie dabei«, sagt Kate. »Aber unsere Klasse hat vor fünfzehn Jahren den Abschluss gemacht, und da dachte ich, dieses Jahr sollten wir es versuchen.«

Fünfzehn? Kurz denke ich, sie hat sich verrechnet, aber dann fällt der Groschen. Für uns sind es zwar siebzehn Jahre, aber wir sind vorzeitig von der Schule abgegangen. Hätten wir die Oberstufe gemacht, würde es stimmen. Für den Rest der Klasse wird es das fünfzehnjährige Jubiläum.

Wir nehmen eine weitere Kurve, und ich denke mit klopfendem Herzen an den fehlender Kindersitz und drücke Freya noch fester an mich. Wie idiotisch von mir, ihn zu vergessen.

Rick blickt mich im Rückspiegel an. »Kommen Sie noch oft hierher?«

»Nein«, sage ich. »Ich … ich war schon lange nicht mehr hier. Wie es eben so ist.« Nervös rutsche ich auf dem Sitz herum und weiß, dass ich Freya zu fest halte, doch fühle mich

»Ist ’ne wunderschöne Gegend«, erwidert Rick, ohne auf mich einzugehen. »Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, irgendwoanders zu wohnen, aber vielleicht ist das anders, wenn man nicht hier aufgewachsen ist. Woher kommen Ihre Eltern?«

»Sie sind – waren …« Ich stocke plötzlich, doch dann spüre ich Kates Halt an meiner Seite und atme durch. »Mein Vater lebt heute in Schottland, aber ich bin in London aufgewachsen.«

Wir ruckeln über ein Viehgitter, die Reihen der Bäume lichten sich, und wir fahren hinaus auf die Marsch.

Und da ist er. The Reach. Weit und grau und schilfbewachsen erstreckt er sich vor uns, Wolkenschlieren spiegeln sich auf der vom Wind gekräuselten Wasseroberfläche. Das Licht, die Klarheit und die Weite dieses Anblicks schnüren mir die Kehle zu.

Kate beobachtet mich von der Seite, und aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie lächelt.

»Du hattest vergessen, wie es ist?«, fragt sie sanft. Ich schüttle den Kopf.

»Nie.« Es ist nicht wahr – ich hatte es vergessen. Ich hatte vergessen, wie es sich anfühlt, hier zu sein. Es gibt keinen anderen Ort wie den Reach. Ich habe viele Flüsse und Flussmündungen gesehen. Nirgendwo war es so atemberaubend schön wie in dieser Landschaft hier, wo Land und Himmel und Meer verschmelzen, ineinander sickern, sich durchmengen und vermischen, bis man kaum sagen kann, wo die Wolken enden und wo das Wasser beginnt.

Hier verengt sich die Straße auf eine einzige Fahrspur und wird schließlich zu einem Schotterweg mit Grasbüscheln zwischen den Spurrillen.

Und da steht sie – die Gezeitenmühle; schwarz zeichnet

Thea, wie sie nackt im Sonnenuntergang im Reach schwamm, ihre Haut, die im Abendrot golden schimmerte, die langen Schatten der sturmschiefen Bäume auf dem feuerroten Wasser des Reach, die an das Fell eines prächtigen Tigers erinnerten.

Kate, wie sie sich an einem Wintermorgen, als der klirrende Frost Eisblumen auf die Scheibe gemalt und sich wie Pelz über das Schilfrohr und die Strandsimse gelegt hatte, aus dem Fenster lehnte, ihre Arme weit ausbreitete und eine weiße Atemwolke in die Luft blies.

Fatima, wie sie sich in ihrem winzigen Badeanzug auf dem Holzsteg in der Sonne aalte, ihre Haut schon mahagonifarben wie immer im Sommer, und die riesige Sonnenbrille im Gesicht, die das flirrende Licht der Wellen reflektierte.

Und Luc – und hier verkrampft sich mein Herz, ich muss den Gedanken verdrängen.

Wir erreichen ein verriegeltes Gatter auf dem Fahrweg.

»Lass uns am besten hier raus«, bittet Kate Rick. »Gestern Nacht war Flut, der Boden ist immer noch sehr weich.«

»Ganz sicher?« Er dreht sich zu ihr um. »Ich kann auch einen Versuch wagen.«

»Nein, wir gehen zu Fuß.« Sie öffnet die Tür und hält ihm einen Zehner hin, doch er winkt ab.

»Behalt das Geld, Schätzchen.«

»Rick, bitte.«

»Nichts Rick, bitte. Dein Vater war ein anständiger Kerl,

Kate schluckt, und ich sehe, dass sie nach Worten sucht, also springe ich ein.

»Vielen Dank, Rick«, sage ich. »Aber ich möchte gern bezahlen. Bitte.«

Und ich halte ihm meinen Zehnpfundschein hin.

Er zögert, doch ich lege den Schein in den Aschenbecher und steige mit Freya im Arm aus, während Kate meine Tasche und den Buggy aus dem Kofferraum holt. Endlich, gerade als ich Freya sicher verschnallt habe, nickt er.

»Na gut. Aber hört zu, falls die Damen irgendwohin müssen, ruft ihr mich bitte an, in Ordnung? Tag und Nacht. Die Vorstellung, dass ihr hier draußen ohne Auto seid, gefällt mir gar nicht. Dieses Teil …«, und er deutet mit dem Kopf auf die Mühle, »wird früher oder später zusammenbrechen, und wenn ihr irgendwo hingefahren werden wollt, meldet ihr euch, egal, ob ihr ’nen Zehner habt. Verstanden?«

»Verstanden«, antworte ich und nicke bekräftigend.

Der Gedanke hat durchaus etwas Beruhigendes.

Bevor ich die Sprache wiedergefunden habe, dreht Kate sich um, öffnet das Tor und schließt es hinter uns wieder. Gemeinsam laufen wir den Rest des Weges bis zu dem kurzen Holzsteg, der die Gezeitenmühle mit dem Ufer verbindet.

Die Mühle selbst steht auf einer kleinen Sandfläche, die kaum breiter ist als das Gebäude selbst und einst Teil des Ufers war. Beim Bau der Mühle wurde ein schmaler Kanal gegraben, der die Mühle vom Land abschnitt und das steigende und fallende Wasser durch das Mühlrad leitete, das sich damals in diesem Graben befand. Das Rad gibt es schon lange nicht mehr, das Einzige, was daran erinnert, ist ein geschwärzter Holzpfahl, der im rechten Winkel aus der Wand ragt. An seiner Stelle führt nun der hölzerne Steg über den etwa drei Meter breiten Graben. Ich weiß noch, wie wir manchmal gleichzeitig zu viert darüber rannten, und kann heute kaum fassen, wie wir darauf vertrauen konnten, dass er uns halten würde.

Die kleine Brücke ist schmaler, als ich sie in Erinnerung habe, die Bretter vom Salzwasser gebleicht und an einigen Stellen morsch, und ein Geländer gibt es immer noch nicht, doch Kate schreitet trittsicher und unerschrocken mit meiner Reisetasche voran. Mit angehaltenem Atem und klopfendem

Wie immer ist die Tür nicht abgeschlossen, Kate drückt die Klinke und hält sie mir auf, damit ich Freya über die Holzstufe hineinschieben kann.