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Jürgen Kasten

Wuppertod

Kriminalroman

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Zum Buch

Eine Stadt in Angst Der griesgrämige Chefermittler Fiebig hat noch schlechtere Laune als üblich. Erst wird er seinen Führerschein los, dann will eine junge, unerfahrene Staatsanwältin bei ihm hospitieren und zu guter Letzt treibt eine Leiche in der Wupper, deren Todesursache zunächst unklar ist. Die tote Frau sollte eine tragende Rolle im neuen Stück des Tanztheaters übernehmen. Doch nicht jeder war darüber erfreut. Fiebig sieht darin das Mordmotiv. Lokalreporter Lars Lombardi mischt sich ungefragt ein und will Fiebig auf eine andere Spur leiten. Als es zu Anschlägen auf alternative Kultureinrichtungen Wuppertals sowie zu direkten Angriffen auf deren Besucher kommt und noch eine weitere Leiche gefunden wird, scheint klar zu sein, dass die Taten miteinander zusammenhängen. Alle Spuren weisen auf ein und denselben Täter hin. Doch wer ist der Unbekannte? Als man ihn schließlich identifiziert hat, gelingt es ihm immer wieder, sich der Festnahme zu entziehen. Eine rasante Hetzjagd durch Wuppertal beginnt …

Jürgen Kasten wurde in Berlin geboren, wuchs im Ruhrgebiet auf und lebt nun bereits lange Jahre in Wuppertal. Während seiner beruflichen Laufbahn als Polizist hat er Umwelt- und Korruptionsdelikte bearbeitet, war Leiter von Mordkommissionen und zuletzt Chef des Kommissariats für Tötungs- und andere Gewaltdelikte. Seit 2007 ist Kasten Mitautor eines Kulturmagazins. Der Autor ist im Schriftstellerverband Bergisches Land aktiv und Mitglied des »Syndikat«. »Wuppertod« ist sein erster Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jürgen Kasten

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN978-3-8392-5952-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

Franz Fiebig konnte nichts für seinen Namen. Den lastete er seinen Eltern an. Gott hab sie selig. Er fuhr auch nicht freiwillig mit der Schwebebahn.

Es heißt ja, dass Jean Cocteau beim Anblick einer solchen Bahn ausgerufen haben soll: »Aber das ist ja ein Engel.« Für Fiebig war das eine missglückte Straßenbahn, die, anstatt auf Schienen zu fahren, in luftiger Höhe an solchen hing. Überdies schaukelte sie und legte sich in den Kurven quer. Das konnte einem schon Bange machen. Es war kaum zu glauben, Fiebig war bisher noch nie mit der Schwebebahn gefahren. Nun gut, er war zugereister Wuppertaler; aber immerhin seit etlichen Jahren hier beheimatet. Umso erstaunlicher, dass er schon seit Tagen dieses Verkehrsmittel bevorzugte.

»Es ist halt die schnellste Art, durchs Tal zu fahren«, erklärte er jedem, der ihn darauf ansprach.

In Wirklichkeit blieb ihm allerdings kaum eine andere Alternative.

Ein unliebsamer Kollege hatte ihm nicht glauben wollen, dass er keinen Alkohol getrunken hatte, und ließ ihn ins Röhrchen pusten. Mit einem schmutzigen Grinsen nahm er ihm dann den Führerschein ab, und das gezischte »Arschloch«, das ihm dabei nicht entging, fand sich Tage später in der Beleidigungsanzeige wieder, die Fiebigs Abteilungsleiter wütend auf den Schreibtisch knallte.

Der Schreibtisch stand im größten Büro des Kommissariats, das gleichzeitig als Kaffeebude und Besprechungsraum fungierte sowie als illegaler Rauchsalon. Natürlich war Rauchen im gesamten Polizeipräsidium verboten, wie in jedem öffentlichen Gebäude auch. Aber Fiebig wäre nicht der Tintenpisser, für den ihn etliche hielten, wenn er nicht ein Argument gefunden hätte, das dieses »natürlich« ad absurdum führte.

»Der Duden«, so dozierte er vor dem Gebäudemanager, »weist dem Adjektiv ›natürlich‹ folgende Bedeutung zu: dem Vorbild in der Wirklichkeit entsprechend.

Ein Rauchverbot in diesem Büro entspricht aber nicht der Wirklichkeit, denn hier werden Zeugen und Beschuldigte vernommen. Die sitzen hier unter extremem Stress, weil möglicherweise von dem, was sie sagen oder nicht sagen, ihr weiteres Leben abhängt. Wenn ich denen das Rauchen untersage, dann kommt das einer verbotenen Vernehmungsmethode gleich, wenn nicht sogar einem Foltervorwurf nahe.«

Der Gebäudemanager, der früher Hausmeister hieß, schaute sein Gegenüber mit offenem Mund an.

»Und deshalb wird hier weiterhin geraucht«, schloss Fiebig seinen kleinen Vortrag.

»Sie übertreiben es ein wenig zu oft«, zischte sein Abteilungsleiter später; aber gegen die Strafprozessordnung wollte auch er nicht anstinken.

Jetzt saß Fiebig hinter dem mit Papieren und Akten übersäten Schreibtisch, denn hier war er der Chef, und sein Abteilungsleiter stand wieder einmal breitbeinig davor und zeigte anklagend auf die Anzeige.

»Wenn Sie so weitermachen, sind Sie die längste Zeit Leiter des KK 11 gewesen!«, donnerte er dem massigen Mann entgegen, der im Sitzen fast größer erschien als er im Stehen.

Fiebig lächelte nur süffisant, wusste er doch, dass diese Drohung ins Leere lief.

Niemand im Präsidium konnte auf ihn verzichten, denn er war der absolute Fachmann, wenn es um die Aufklärung von Kapitaldelikten ging. Unumstritten war er nicht. Das war auch ihm klar. An seine Kompetenz, seine Fähigkeit zum analytischen Denken und vor allem seine Aufklärungsquoten langte allerdings niemand heran. Das Donnerwetter nahm er deshalb gelassen entgegen, runzelte nur die hohe Stirn, die ansatzlos in eine spiegelnde Glatze überging, als ihm verkündet wurde, dass eine junge Staatsanwältin bei ihm für einige Zeit hospitieren wolle.

Das war letzte Woche gewesen. Schwebebahnfahren war ihm inzwischen fast zur Gewohnheit geworden, denn er benutzte sie jeden Tag. Was blieb ihm auch anderes übrig. Laufen war keine Fortbewegungsmethode, die ihm auf den Leib geschrieben war.

Fiebig hatte auch eine Schwester, die leider verwitwet war. Das »leider« bezog er auf sich, denn nun konzentrierte sich ihre gesamte Fürsorge auf ihn, den alternden Griesgram, der wohl nie mehr im Leben eine Frau abbekommen würde.

Sein ganzes Gerede vom »geborenen Junggesellen« half ihm da wenig. Er musste sie ertragen. Immerhin hatte sie ihm den Tipp gegeben, dass Polizeibeamte den öffentlichen Nahverkehr, also auch die Schwebebahn, kostenlos nutzen durften. Ihr verstorbener Mann war nämlich auch Polizist gewesen und überdies Fiebigs Freund. Seinen frühen Tod bedauerte er sehr. Damit stand er allerdings ziemlich alleine da, denn Koslowski pflegte einen sehr autoritären Führungsstil, der ihn unbeliebt gemacht hatte. Darüber hinaus war er auch besonders in Kreisen der Obdachlosen gefürchtet. In Zeiten, in denen sich die Elberfelder Polizeiwache noch im alten Rathaus befunden hatte, war er dort einer der Wachführer gewesen.

Das im Stil der Neugotik um 1900 errichtete Verwaltungsgebäude, eingebunden von hässlichen Betonbauten der 60er-Jahre, bot vom gegenüberliegenden Marktplatz aus gesehen einen prächtigen Anblick. Ausgetretene Stufen führten zum Portal hinauf, in dem linker Hand ein knallgelber Briefkasten montiert worden war. Dieser Postkasten war es, vor dem sich die Obdachlosen fürchteten.

Koslowski machte sich nämlich einen Spaß daraus, gelegentlich Obdachlose zu kontrollieren, die in den seltensten Fällen einen Ausweis bei sich trugen. Also nahm er sie zur Personalienfeststellung mit zur Wache, schubste sie die Treppe hinauf und gab den Festgenommenen kurz vor Erreichen der Tür einen harten Stoß, der sie gegen den Briefkasten warf und meist eine klaffende Kopfwunde nach sich zog.

»Der arme Tropf ist doch glatt gestrauchelt und gegen das eiserne Ding gelaufen«, lachte er meckernd, während die Kollegen den Verletzten verarzteten und schwiegen.

Das ging ungesühnt so weiter, bis Koslowski auf Kralle traf.

Eines frühen Abends absolvierte Koslowski wieder einmal eine kleine Runde über den Marktplatz, um zu rauchen und frische Luft zu schnappen. Die Marktstände hatten bereits geschlossen. Sie waren mit Markisen verhangen, Kisten mit Abfall und altem Obst standen für die Müllabfuhr bereit. Koslowski lehnte am Neptunbrunnen und betrachtete die beleuchtete Fassade des Rathausturms, als hinter ihm eine Kiste umfiel und Äpfel zwischen seine Beine kullerten.

Er wirbelte herum. Kralle bückte sich gerade, um einen der Früchte aufzuheben.

»Lass das liegen!«, herrschte Koslowski ihn an.

»Warum denn? Dat is doch Abfall.«

»Das ist Diebstahl.«

»Nee, dat is Mundraub. Dat darf man.«

Koslowski kriegte den armen Mann am Kragen zu fassen und schleifte ihn in Richtung Wache.

Nun war Kralle einer der Bedauernswerten, der bereits schmerzhafte Erfahrung mit dem Briefkasten gemacht hatte. Entsprechend widerwillig ließ er sich die Treppe zum Portal hinaufschieben. Dass er um diese Tageszeit nicht mehr ganz nüchtern sein konnte, durfte man ihm nicht anlasten.

Dass es auch mit seinen ausgetretenen Schuhen nicht zum Besten stand und überdies die Sohlen am sprichwörtlichen seidenen Faden hingen, ebenso wenig. Den Blick fest auf den in drohender Nähe befindlichen Briefkasten geheftet, blieb er an der letzten Treppenstufe hängen, strauchelte, warf Halt suchend seine Arme um sich und traf Koslowski unglücklich mitten ins Gesicht.

Erschrocken drehte er sich um, einen wutschnaubenden Koslowski erwartend, der gleich zuschlagen würde.

Der aber lag mit verdrehtem Hals unten an der Treppe. Seine trüben Augen sahen seiner Dienstmütze nach, die die Straße hinunterkullerte.

Die Beerdigung fand im engsten Familienkreis statt. Ein Pfarrer war nicht anwesend. Fiebig sprach ein paar gesalbte Worte, bevor trockene bergische Erde auf den Sarg prasselte.

Kralle wurde vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, stand aber zeitlebens in Fiebigs Schuld. Fortan wurde er Fiebigs V-Mann, wenn der Informationen aus der Szene benötigte.

Das alles ging Fiebig durch den Kopf, als er entspannt und guten Gewissens, aber ohne Fahrkarte in der Schwebebahn saß. Koslowski hatte gewusst, an welchen Stellen man als Polizist sparen konnte.

Es war Sonntag. Ein kalter Wind pfiff durch die Straßen, aber die Sonne schien. Fiebig kam es in den Sinn, dass er bisher noch nicht die gesamte Streckenlänge der Schwebebahn abgefahren war. Inzwischen fühlte er sich zwar als Wuppertaler, kannte die Stadt allerdings immer noch nicht in all ihren Facetten, Winkeln, Gassen und malerischen Hinterhöfen. Eine Fahrt mit der Schwebebahn würde neue Blickwinkel eröffnen, sagte er sich und dachte dabei an einen frühen Film Wim Wenders. Mit »Alice in den Städten« hatte Wenders die Stadt gewürdigt. Er ließ eine Schwebebahn durch Sonnborn gleiten, einem alten Stadtteil, in der die Bahn über die enge Straße schwebte und dabei Einblicke in die oberen Etagen der Wohnhäuser bot. Das wollte auch Fiebig sehen.

An der Station Hammerstein stiegen zwei Kontrolleure zu und arbeiteten sich durch das mäßig besetzte Abteil. Als sie bei Fiebig anlangten und ein Ticket zu sehen wünschten, zeigte der ihnen seinen Dienstausweis.

»Was soll ich damit?«, fragte einer der Männer mit amüsiertem Gesichtsausdruck.

»Polizei«, knurrte Fiebig, »wir zahlen nicht.«

»Das gilt nur für Uniformierte, damit sie die Schwarzfahrer abschrecken und uns bei Schwierigkeiten unterstützen.«

Fiebigs Mimik verzog sich zu einem dämlichen Grinsen.

Der Kontrolleur lachte, erhob seine Stimme, wies mit dem Finger auf Fiebig und röhrte durch den Waggon: »Achtung, Leute, hier sitzt ein Polizist. Dass mir niemand auf dumme Gedanken kommt oder Randale macht.«

Alle Augen drehten sich Fiebig zu, der seinen kugelrunden Glatzkopf sich röten fühlte und nicht wusste, was er sagen sollte.

Der Kontrolleur lachte noch immer. »Das nächste Mal fahren Sie bitte mit gültigem Ticket.«

Am Zoo, der nächsten Station, stieg Fiebig aus. Gleich morgen früh würde er sich ein Monatsticket kaufen. Er hoffte nur, dass die neue Woche angenehmer anfinge, als sie aufhörte.

2. Kapitel

Der Herbst kündigte sich mit ersten kühlen Nächten an. Die jetzige ging gerade in einen freundlichen Morgen über. Ohne von Wolken belästigt zu werden, stieg die Sonne über den Horizont und warf erste reflektierende Strahlen auf den Fluss, der sich durch die Stadt schlängelte.

Der Mann, der an diesem Montagmorgen unsanft aus der Tür einer Nachtbar gestoßen wurde, schaute mit zusammengekniffenen Augen verwundert ins Licht. Sein von Alkohol umnebeltes Hirn hatte den Verstand eingeschläfert.

Die Lichtreflexe auf der träge dahinfließenden Wupper blendeten ihn. Schützend hielt er eine Hand über die Augen, die andere umklammerte das kühle Eisen vor ihm. Auf unsicheren Beinen war er die paar Schritte bis zum Ufergitter der Wupper getorkelt, wollte sich an ihm bis zur Schwebebahnstation Alter Markt entlanghangeln.

Dann sah er sie.

Sieht schön aus, vermeldete der noch intakte Teil seines Hirns. Mit glasigen Augen schaute er aufs Wasser hinunter.

In der Zeitung hatte er des Öfteren Fotos von Kunstaktionen gesehen, die an ungewöhnlichen Orten der Stadt stattfanden. Jetzt wurde er endlich einmal Augenzeuge einer solchen Performance. Dass er der einzige Zuschauer war, wunderte ihn nicht. Er wunderte sich über gar nichts, stierte nur nach unten.

Die Frau schwamm auf dem Rücken. Ihre langen Haare breiteten sich fächerartig auf dem Wasser aus. Zwischen den Karpfen glitt sie langsam umher. Von leichten Strudeln hin und her gedreht, bauschte sich ihr leuchtend buntes Kleid auf.

Die Karpfen hatte er sich schon öfter angeschaut. Große dicke Biester waren das. Sie versammelten sich hier vor dem Auslauf des Heizkraftwerkes. Das warme Wasser und die darin wuselnde Beute zogen sie an. Wie er blieben hier oft Passanten stehen und schauten dem Schauspiel zu. Was dort jetzt geboten wurde, war allerdings etwas ganz Besonderes.

Das Kleid der Frau verfing sich gerade an einem Stein. Ihr Körper stand einen Augenblick still, drehte sich dann um seine Achse und zog bäuchlings, die Füße voran, langsam flussabwärts. Das dünne lange Kleid rutschte hoch bis über ihren Kopf. Die Haare zog sie wie einen langen Schleier hinter sich her. Mit dem Gesicht nach unten, schwamm sie weiter.

Langsam nahm er wahr, dass etwas nicht stimmte. Erst als der treibende Körper bereits unter der Schwebebahnstation seinen Blicken entschwand, griff er nach seinem Handy, wählte die Notrufnummer und brabbelte »Frau in Wupper, taucht nicht mehr auf« in das Gerät.

Der Anruf seiner Leitstelle erreichte Fiebig noch vor Dienstbeginn. Er beschloss, selber zum Fundort hinauszufahren. Mit dem Aufzug glitt er in die Tiefgarage, wollte gerade in seinen Wagen einsteigen, als ihm bewusst wurde, dass er derzeit keinen Führerschein besaß.

Sich von einem Streifenwagen abholen zu lassen, diese Blöße wollte er sich nicht geben. Also rief er eine Taxe.

Am Opernhaus hatte die Feuerwehr die Leiche aus dem Fluss geborgen. Als Fiebig eintraf, war außer dem beginnenden Berufsverkehr nichts weiter zu besichtigen. Jedenfalls nichts, was ihn interessierte. Die große, auf dem Mittelstreifen der Straße stehende Plastik, deren glänzendes Metall den Morgen spiegelte, streifte sein Blick nur flüchtig. Kunst und was man dafür hielt, entsprach nicht seinem Interesse.

Überdies suchten seine Augen nach etwas anderem.

Wird ein ganzes Stück abgetrieben worden sein, dachte er sich und ging langsam flussaufwärts, aufmerksam das Ufer der Wupper betrachtend. Er fand nichts, was darauf hindeutete, wo die Frau ins Wasser gelangt sein könnte. Am Alten Markt unterquerte der Fluss die Kreuzung. Auf der anderen Seite sah er erste Berufspendler der Schwebebahnstation zustreben. Er ging hinüber, stand jetzt in der schmalen Straße neben dem McDonald’s und schaute zur Station hinauf.

Vielleicht ist sie hier runtergesprungen oder gefallen, überlegte er, während er die Begrenzung oben am Schwebebahnhof betrachtete.

»Wat suchste?«

Am Wuppergeländer sah er Kralle lehnen. Der zauselige Obdachlose kramte ein erstes Morgenfläschchen aus seinem Seesack und schaute zum Polizisten hinüber. Beide kannten sich seit Jahren.

»Komm mir nicht zu nahe.« Fiebig fürchtete um sein sensibles Riechorgan.

»Dat Mädel is weggepaddelt. Wirste hier nich mehr finden.«

Fiebig ging ein paar Schritte auf ihn zu, hielt aber Abstand.

»Hast du was gesehen? Erzähl.«

Kralle nahm erst einen tiefen Schluck, bevor er mit einem Grinsen seine schiefen Zähne offenbarte.

»Wat zahlste?«

Fiebig bot ihm fünf Euro an. Mehr gab er nie, wenn er von Kralle einen Hinweis aus dem Milieu benötigte. Kralle witterte hier aber ein größeres Geschäft.

»Nee, nee, dat is mehr wert.«

Fiebig wedelte mit einem Zehn-Euro-Schein.

»Dat war mitten in der Nacht«, begann Kralle. »Ich penn doch immer da vorne unter der alten Fußgängerbrücke. Is muckelich warm.«

Fiebig kannte Kralles Schlafplatz unter der Brücke, direkt neben den Rohren der Fernheizung. Hatte ihn da schon oft genug aufgestöbert, wenn er ihn brauchte. Jetzt ging ihm das Ganze aber zu langsam voran.

»Bieg endlich deine Zähne auseinander und sag, was du gesehen hast.«

»Gesehen hab ich nix, nur gehört.«

»Was denn?«

Fiebig steckte den Geldschein wieder weg.

»Warte«, sprudelte Kralle jetzt los. »Die Brücke is ja gesperrt, wegen baufällig oder so. Bin wach geworden, weil jemand angerannt kam und das Gitter wegschob und auf die Brücke lief. War ’ne Frau. Die schrie irgendwas, ›Hälpmi‹ oder so. Irgendjemand kam hinterhergetrampelt. Die Frau schrie immer wieder ›Hälpmi, hälpmi‹, und dann hörte ich ein Platschen, als ob was inne Wupper gefallen wär. Danach war Ruhe und ich bin wieder eingepennt.«

»Gesehen hast du also nichts?«

»Nee, erst als die Sonne mich kitzelte. Da dümpelte so ’ne Frauengestalt mit buntem Kleid gerade die Wupper runter. Die war tot. So wat seh ich sofort. Die schwamm auf’m Bauch, den Hintern rausgestreckt.«

»Warum hast du nicht die Polizei gerufen?«

»Hä, womit denn? Außerdem brabbelte über mir so ’n Besoffener. Der hat die Bullen gerufen.«

Fiebig hielt ihm mit weit vorgestrecktem Arm die zehn Euro hin.

»Sag mir Bescheid, wenn du noch irgendwas hörst.«

Für eine Antwort hatte Kralle keine Zeit mehr. Er schlurfte los. Die Brückenschenke machte gerade auf.

Fiebig ging in die andere Richtung. Auf der maroden Fußgängerbrücke inspizierte er jeden Quadratzentimeter, fand am Geländer einen Fetzen Stoff, griff schließlich nach seinem Handy und bestellte die Spurensicherung.

3. Kapitel

Bayerischer Abend im Brauhaus. Da er neu in der Redaktion war, konnte er sich nicht gleich zu Beginn ausschließen; obwohl es ihm ein Graus war. Bayerischer Abend, dabei dachte er an Sauerkraut und Weißwürste, an Ledertrachten und Dirndl. An die dazugehörende Musik zu denken, wagte er erst gar nicht. Es würde schwer genug werden, das zu ertragen.

Sich dem Abend kleidungsmäßig anzupassen, war ihm dann aber doch zu viel. Da blieb er standhaft.

So erschien Lars Lombardi im Kreis seiner Kollegen, wie er immer erschien: Jeans, schwarze Lederjacke, weißes T-Shirt. Das kontrastierte gut zu seinen schwarzen Haaren, lang nach hinten gekämmt, mit einem Gummi locker zum Pferdeschwanz gebunden. Die dunkel getönte Brille trug er nur, damit man ihm nicht an den Augen seinen Widerwillen ablesen konnte.

Das Brauhaus, direkt neben dem Rathaus gelegen, war vor langer Zeit mal ein Hallenbad gewesen. Er erinnerte sich gut, denn dort hatte er seinen Freischwimmer gemacht. Seit der Umwidmung zum Bier- und Eventtempel hatte er es nicht mehr betreten. Nach einem ersten Umschauen musste er eingestehen, dass der Umbau gelungen war. Im Hintergrund sah er einen riesigen Braukessel, der aus dem Tiefgeschoss hinaufragte. Seine Redaktion hatte einen Tisch auf der Galerie reserviert. Von dort aus sah man aufs Volk hinunter, das die Halle an diesem Sonntagabend gut füllte. Man wartete auf Peter A. Sänger. Unter frenetischem Beifall des bereits angeheiterten Publikums erschien ein kleiner, dicklicher Mann mit auffallend blondem Lockenkopf auf der Bühne.

»I sing a Liad für di und dann fragst du mi, magst mit mir daunzn gehen …«, begann er. Lars verstand diesen Dialekt nicht. Bayerisch konnte das jedenfalls nicht sein, da war er sich sicher. Es folgte »Fassi voll Bier« und nach dem dritten Lied gab Lars auf. Er verkündete, dringend seinen Nikotinspiegel auf Normallevel hieven zu müssen, und drängelte sich durch die Massen der begeisterten Menge an die frische Luft. Er hatte den Eindruck, als ob der frenetische Beifall nicht dem Vortrag des Künstlers galt, sondern sie sich vielmehr über ihn lustig machten.

Draußen wurde ihm erstmals bewusst, dass der Herbst langsam Einzug hielt. Es war verdammt frisch. Fröstelnd klappte er seinen Kragen hoch, kramte seine Zigaretten hervor und suchte einen windstillen Platz im Winkel neben dem Eingang.

Dort stand bereits jemand, der ebenfalls rauchte.

Eine Frau mit langen schwarzen Haaren und anmutigem Gesicht. Von der Figur sah er nicht viel. Sie war von einem dicken Mantel umhüllt. Sie lächelte ihm entgegen und rückte etwas zur Seite.

»Verkehrte Kleidung?«, zeigte sie auf seine kurze Jacke. Sie hatte eine tiefe, rauchige Stimme, die in ihm ein Kribbeln verursachte.

»Nee, verkehrte Veranstaltung«, sagte Lars.

»Warum sind Sie dann hier?« Ihr Lächeln verschwand nicht aus ihrem Gesicht.

»Ich musste, meine Redaktion ließ keine Ausnahmen zu.«

Sie nickte, fragte nicht nach.

»Kennen Sie den Schlagerfuzzi?«, fragte Lars. »Peter A. Sänger klingt so künstlich, und die Maske, die er trägt, ist ja wohl albern.«

»Scheint mir ein Pseudonym zu sein. Wie der richtig heißt, weiß ich auch nicht. Die Maske hat er sich wahrscheinlich bei Cro abgeguckt. Und der Lockenkopf ist auch nicht echt.«

Ihr Lachen klang heller als ihr Sprachtimbre. Lars registrierte, dass das Lachen dem Schlagerfuzzi galt. Also war seine Wortwahl nicht ganz falsch gewesen.

»Cro ist ja ein ganz anderes Kaliber. Für mich sieht der wie die Parodie eines Clowns aus.«

Sie lächelte noch immer, ließ nun ein Feuerzeug aufschnappen und gab Lars Feuer. Für einen kurzen Augenblick sah er im Schein der kleinen Flamme ihre dunklen Augen, die ihn interessiert betrachteten. Nach einem ersten Zug an seiner Zigarette fragte er, warum sie hier sei.

»Ich wollte auch rauchen«, antwortete sie.

»Nein, ich meine, warum sind Sie hier, auf diesem Bayerischen Abend?«

»Gruppenzwang, Freundinnen.«

Er verstand, dass auch sie aus dem Saal geflüchtet war.

Jetzt zauberte auch er ein Lächeln in sein Gesicht, nahm endlich seine Brille ab und schaute sie offen an.

»Warum sind wir dann noch hier? Lassen Sie uns woanders hingehen.«

Beide schauten sich in die Augen, dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen. »Laura«, sagte sie, und er: »Lars«. Gleichzeitig mussten sie lachen.

»LaLa, Laura und Lars, das muss begossen werden.«

Er hielt ihre Hand fest und zog sie mit. »Mein Wagen steht da vorne auf dem Marktplatz.«

4. Kapitel

Vor einer Woche war Fiebig eine junge Staatsanwältin angekündigt worden, die in seinem Kommissariat hospitieren wollte. Jetzt war es so weit.

Die morgendliche Besprechungsrunde des Kommissariats ging gerade dem Ende zu. Sie war obligatorisch. Fiebig hatte kurz von der Wupperleiche berichtet und ging dann zum normalen Tagesgeschäft über.