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Paul Weiler

Tödliche neue Welt

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hpgruesen / pixabay.com

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6018-0

Vorbemerkung

Sämtliche in diesem Roman beschriebenen Technologien existieren bereits heute. Viele von ihnen sind längst Bestandteil unseres Alltags, andere noch Kuriositäten in den Werkstätten von Universitäten und Forschungslaboren. Aber sie existieren.

Die Schauplätze der Handlung entsprechen durchgängig realen Orten und Einrichtungen. Selbst das EU Intelligence Centre (INTCEN), mit dem sich unser Romanheld herumschlagen muss, existiert wirklich. Es wurde am 01. Januar 2003 unter dem Namen »Joint Situation Center« (SitCen) gegründet und erhielt 2012 seinen heutigen Namen. Kritiker sehen im INTCEN die Keimzelle eines europäischen Geheimdienstes. Es entzieht sich bis heute jeder parlamentarischen Kontrolle. Bei der Machtposition, die dem INTCEN im Roman zugeschrieben wurde, handelt es sich hingegen (hoffentlich) um reine Fiktion.

Schließlich bleibt zu erwähnen, dass die von unserem Romanheld bekämpfte Gefahr nach Meinung des Autors ebenfalls höchst real ist. Alles, was technisch machbar ist, erblickt eines Tages das Licht der Welt – im Guten wie im Schlechten.

Man sollte also vorsichtig sein, was man sich in die eigene Wohnung holt …

Prolog

Wolfsspinnen spinnen keine Netze. Sie verharren gut getarnt in ihrem Versteck und lauern ihrer Beute auf. Kommt ein Insekt in ihre Reichweite, schnellt die Wolfsspinne vor und ergreift ihr ahnungsloses Opfer.

Baldy war zwar keine Wolfsspinne, aber seine vernarbte Gesichtshaut wirkte auf viele Menschen genauso abstoßend wie der Anblick eines dieser unliebsamen Krabbeltiere. Aus diesem Grund arbeitete Baldy hauptsächlich von zu Hause aus. Seine Ein-Mann-Firma betreute Computernetzwerke für lokal ansässige Hotels, und da sich die meisten Fehler in diesen Netzwerken bequem per Fernwartung beheben ließen, war ein persönliches Erscheinen vor Ort selten erforderlich. Ein Umstand, der ihm und seinen Kunden sehr entgegenkam.

Sein Arbeitszimmer befand sich in einem Reihenhaus außerhalb des Münsteraner Stadtzentrums. Er bewohnte die über 100 Quadratmeter des zweistöckigen Gebäudes allein, was bei seinem Einzug anders geplant war, sich aber mittlerweile nicht mehr ändern ließ. Neben einem ungenutzten zweiten Schlafzimmer und dem für einen Singlehaushalt viel zu großen Wohnbereich erinnerten nur wenige Fotos auf einem verstaubten Bücherregal an sein längst verlorenes Leben.

Baldy saß an seinem Schreibtisch und starrte gedankenverloren durch das Fenster in den Nachthimmel. Dann rief er sich zur Ordnung. Es war Jagdzeit. Während der Jagdzeit durften seine von Wut, Verzweiflung und Trauer erfüllten Erinnerungen keinen Platz in seinem Denken einnehmen. Er musste sein Augenmerk auf die Zukunft richten, um mit der Vergangenheit abzurechnen. Zweimal hatte er das in den vergangenen Wochen bereits getan, und heute Nacht würde er es wieder tun.

Wolfsspinnen sind Nutztiere – sie jagen Ungeziefer. Genau wie Baldy. Aber im Gegensatz zu Wolfsspinnen nutzte er für seine Jagd ein Netz, das andere für ihn gesponnen hatten.

1. Kapitel
Tag 1 – Münster, 14. Mai, 09.03 Uhr

1

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit grüßte Alexander Ivens zurück. Dieser Gruß war der erste Fehler des Tages – oder die erste glückliche Fügung, je nachdem, wie man es betrachtete. Die zweite Wendung des Tages, die ebenfalls je nach Standpunkt als Missgeschick oder Glücksfall angesehen werden konnte, folgte am frühen Nachmittag in Form eines unerwarteten Anrufes.

Doch bis dahin waren es noch knapp sieben Stunden. Jetzt zeigte die Uhr kurz nach neun, und Ivens war spät dran. Obwohl heute sein erster dienstfreier Tag seit Wochen war, stand ein wichtiger Termin auf der Agenda – zumindest hatte sein knurrender Magen entschieden, dass dieser Termin unaufschiebbar war. Er hatte einen Tisch in seinem Lieblingscafé reserviert, und von seinen zahlreichen vorherigen Besuchen dort wusste er, dass ein exzellentes Frühstücksbüfett auf ihn wartete.

Gerade hatte er die Wohnungstür hinter sich zugezogen und die ersten Stufen im Treppenhaus genommen, als ihm eine junge Frau über den Weg lief und ihm ein überschwängliches »Guten Morgen« entgegenschleuderte.

Normalerweise vermied Ivens jedes unnötige Wort in den frühen Morgenstunden, und an jedem anderen Tag wäre der Gruß unbeachtet verhallt wie das Dröhnen der ständig an seiner Innenstadtwohnung vorbeifahrenden Busse. Dabei war Ivens keineswegs ein unhöflicher Mensch. Es lag schlicht an der Uhrzeit – Ivens war ein absoluter Morgenmuffel. Heute jedoch hatte er ausgesprochen gute Laune, und daher grüßte er zurück.

Prompt nahm die junge Dame seine Freundlichkeit als Anlass zu einem kurzen Small Talk.

»Das müssen Sie sehen. Es ist einfach unglaublich!«

Ivens hob die Augenbrauen. »Was ist unglaublich?«

»Ach, kommen Sie! Raten Sie einfach, was er gemacht hat.«

»Was wer gemacht hat?« Ivens begann, an dem Verstand der Frau zu zweifeln. Kurz überlegte er, wo er die etwas pummelige Blondine mit den rosa gefärbten Haarsträhnen und den waghalsig hohen Stöckelschuhen einordnen sollte. Wohnte sie hier? Er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal im Haus gesehen zu haben. Vermutlich eine Freundin des Studenten von oben, spekulierte Ivens.

»Sie haben wohl nicht auf dem Schirm, was heute abgeht, oder?«, durchbrach sie seine Gedankengänge. »Mensch, heute ist CD! Komohoto übertrifft einfach alles, was bisher dagewesen ist.«

Augenblicklich wich Ivens’ gute Laune, als hätte ihm jemand eine schallende Ohrfeige verpasst. Wortlos drehte er sich um und nahm die Treppenstufen zurück in seine Wohnung. Dort kramte er eilig seine alte Sonnenbrille aus dem Schlafzimmerschrank.

Als Ivens auf die Straße trat, tobte in der Innenstadt bereits der Mob. Die Touristen tummelten sich wie Ameisen um einen saftigen Leckerbissen, zahllose menschliche Körper, dicht aneinandergedrängt, so weit das Auge reichte. Unzählige Minidrohnen, ausgestattet mit winzigen hochauflösenden Kameras, erfüllten die Luft mit einem lautstarken Brummen. Mehrere Fernsehsender hatten Gerüste aufgebaut, die meterhoch aufragten wie Flutlichtmasten. Oben auf den Plattformen sammelten riesige Objektive unablässig die Farben, Formen und Bewegungen der Szenerie und schickten sie hinaus in die ganze Welt. Weiter unten angebrachte Richtmikrofone selektierten aus dem Stimmengewirr der Massen die spontanen Meinungsäußerungen, um daraus das allgemeine Stimmungsbild wiedergeben zu können.

Ivens war sich sicher, wie dieses Meinungsbild ausfallen würde – nämlich so wie immer: ein Jahrhundertwerk; ein Fest für die Sinne; unbändige Kreativität im gekonnten Spiel zwischen Moderne und Geschichte.

Zum Glück filterten die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille das Schlimmste dieser »unbändigen Kreativität« heraus.

Ivens drängte sich durch die Menschentrauben, die die Fassaden der mittelalterlichen Giebelgebäude und Kirchen der Innenstadt bestaunten. Doch weit kam er nicht. Gerade als er neben dem Rathaus eine schmale, fast menschenleere Gasse erspäht hatte, die aufgrund der eng stehenden Mauern nicht als Aussichtspunkt für die Touristen geeignet war, spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

»Hauptkommissar Ivens. So ein Zufall. Kommen Sie – Sie können natürlich mit auf den Ehrenbalkon.«

Ivens sackte förmlich in sich zusammen. Auch das noch, dachte er. Wenn die Frau im Treppenhaus ihn doch nur nicht aufgehalten hätte. Jetzt stand der Totengräber seines gemütlichen Frühstücks ausgerechnet in Gestalt von Oscar Emmerich vor ihm.

Emmerich war stellvertretender Oberbürgermeister der Stadt und Vorsitzender des Polizeiausschusses, was ihn quasi zu seinem ranghöchsten Vorgesetzten innerhalb der Stadtmauern machte. Wie immer unterstrich Emmerich an diesem Morgen seinen hohen Amtsstatus durch einen vorbildlich sitzenden Anzug in Kombination mit einem blütenreinen weißen Hemd. Nur die Krawatte sprang mit einem kräftigen Farbmuster mehr ins Auge als gewohnt.

Ivens verspürte nicht die geringste Lust, Emmerichs spontaner Einladung zu folgen. Die Aussicht, in wenigen Minuten neben lauter Anzugträgern auf dem Ehrenbalkon des Rathauses zu stehen und Konversation betreiben zu müssen, ließ ihn schaudern. Verzweifelt startete er einen letzten Versuch, seine Vormittagspläne zu retten.

»Vielen Dank für die Einladung. Aber ich habe noch nicht gefrühstückt und wollte gerade …«

»Nur keine falsche Bescheidenheit«, unterbrach Emmerich und zog ihn in Richtung Rathaus. »Und nehmen Sie um Himmels willen diese alberne Sonnenbrille ab. Sie verpassen ja das Beste!«

Ivens seufzte und fügte sich seinem Schicksal. Statt die enge Gasse in Richtung seines Stammcafés zu nehmen, trottete er hinter Oscar Emmerich direkt in das Rathaus hinein. Auf dem Weg die Treppen hinauf zum Sitzungssaal, an den sich der große Balkon des Rathauses mit Panoramablick auf das Herz der Innenstadt anschloss, steckte er resigniert die Sonnenbrille in seine Jackentasche.

Sie hatten den Balkon soeben erreicht, als der Oberbürgermeister zur Eröffnungsrede der Feierlichkeiten ansetzte. Gleichzeitig mit seinen ersten Worten wichen die Gäste auf dem Balkon ein paar Schritte zurück, um dem Stadtoberhaupt seine gewohnte exponierte Stellung zukommen zu lassen. Durch diese Aktion befanden sich Ivens und Emmerich plötzlich in der vordersten Reihe direkt hinter dem Bürgermeister mit freiem Blick auf den Prinzipalmarkt, der das Zentrum der Stadt markierte. Das Tonsignal des Headsets, das der Bürgermeister trug, wurde von den überall in der Innenstadt postierten Funklautsprechern aufgefangen und in jeden Winkel und jede Gasse getragen.

»Es ist einfach fantastisch«, begann der Bürgermeister seine Rede.

Mein Gott! Fassungslos schüttelte Ivens den Kopf. Es war weit schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Vom warmen Naturton des altehrwürdigen Baumberger Sandsteins, aus dem die eng aneinandergereihten Giebelhäuser des Prinzipalmarktes mit den großen Bogengängen erbaut waren, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen erreichte ein Kaleidoskop von Farben seine ungeschützten Augen, brannte sich durch die Pupillen auf seine Netzhaut und verursachte dort wahre Explosionen von Sinnesreizen in den Sehnerven.

»Dies ist wohl einer der bedeutendsten Colour-Days, die wir je hatten«, fuhr der Bürgermeister fort.

Ivens’ Augen begannen zu schmerzen: Neongelb neben Giftgrün; ein knalliges Türkis, durchmischt mit leuchtendem Hellblau; helles Violett in allen erdenklichen Schattierungen; das Ganze dominiert von einem allgegenwärtigen schreienden Pink, so weit er sehen konnte. Es war, als habe jemand einen gigantischen funkelnden Regenbogen in Millionen Einzelteile zersplittert, einmal grob durchgemischt und dann mit einem wilden Sturmschrei sämtliche Straßen und Häuser der Innenstadt damit beworfen.

»Alle fünf Jahre feiern wir dieses Farbenfest, und lassen Sie mich eins sagen …« Dem Bürgermeister stockten vor Begeisterung die Worte. »Noch nie durfte unsere Stadt so etwas Wunderbares und Grandioses erleben.«

Ivens überkam ein leichter Brechreiz. Seine Hand glitt unwillkürlich in seine Jackentasche, wo die schützende Sonnenbrille ihr erzwungenes Schattendasein fristete. Er hatte in dem Moment geahnt, was auf ihn zukommen würde, als die Frau im Hausflur ihr »einfach unglaublich« und den Namen »Komohoto« zum Besten gab.

Akio Komohoto. Dieser junge japanische Künstler war bekannt für seine Farbexplosionen – oder besser für seine Farbverirrungen, wie Ivens fand. Er hatte schon einige Arbeiten von ihm gesehen. Aber diese hier übertraf alles. Der Kerl hatte nicht nur einzelne freie Fassadenflächen der Stadt für seine Kunst missbraucht, wie es bei den bisherigen Colour-Days üblich war. Stattdessen hatte er den gesamten zen­tralen Straßenzug der Innenstadt, jedes Gebäude über eine Strecke von mehr als einem halben Kilometer samt Giebeln und Bogengängen und selbst das zwischenliegende Kopfsteinpflaster mit seinen Farbexzessen überzogen. Der Prinzipalmarkt sah aus wie nach einem indischen Holi-Farbenfest – nur dass nicht Menschen, sondern wehrlose Bauwerke Opfer der ungezügelten Farbbeutelschlacht geworden waren.

Ivens beugte sich ein Stück vor, um einen Blick hinunter auf Sankt Lamberti erhaschen zu können. Sofort bereute er es. Die spätgotische Kirche, die den Prinzipalmarkt zur nördlichen Seite abschloss, war nicht wiederzuerkennen. Komohoto hatte dem Sakralbau breite Farbringe verpasst, die denen eines Leuchtturms ähnelten. Allerdings erinnerten die Farben eher an eine Stapelpyramide für Kleinkinder. Aber auch dieser Vergleich war noch geschönt. Die Farben, allesamt Rosa- und Rottöne, brannten förmlich in der Morgensonne. Jedes Kleinkind hätte sofort einen Schreianfall bekommen, da war sich Ivens sicher.

»Monate der Planung lagen vor diesem Ereignis.« Der Bürgermeister hatte erneut das Wort an die Touristenschwärme unten auf der Straße gerichtet. »Und dann, in der vergangenen Nacht, haben knapp 10.000 Fassaden-Robots ihren stummen Dienst nach den genialen Plänen des Künstlers verrichtet.«

Fassaden-Robots. Ivens durchfuhr ein unangenehmer Schauer. Seit diese Dinger vor wenigen Jahren auf den Markt gekommen waren, hatten die Kollegen aus dem Kommissariat für Sachdelikte nur Scherereien mit ihnen.

Eigentlich erfüllten Fassaden-Robots einen ganz praktischen Zweck: Man fertigte eine 3D-Aufnahme von einem Gebäude an, programmierte das gewünschte Ergebnis, und schon flitzten die etwa schuhschachtelgroßen Robots mit Bionik-Technologie wie Geckos die Hauswände entlang und reinigten oder strichen die Hauswand nach Wunsch.

Wie bei jeder neuen Technologie hatte es allerdings nicht lange gedauert, bis die ersten Zweckentfremdungen aufkamen. Kollegen aus dem Rheinland berichteten, dass statt Maibäumen seit Neuestem vermehrt riesige rosa Herzen die Hauswände der Auserwählten schmückten – leider allzu oft aufgetragen mit ultrawetterfester Lackfarbe als Zeichen der dauerhaften Absichten des Täters. Die Eltern, in deren Häuser die angebeteten Töchter wohnten, fanden das nur bedingt romantisch.

Im maibaumtraditionslosen Westfalen kämpfte die Polizei eher mit dem klassischen Graffiti-Unwesen. Diese Schmierereien zeichneten sich zwar nun, dank der neuen technischen Möglichkeiten, durch wesentlich ansprechendere und perfekt ausgeführte Motive aus. Trotzdem missfielen den Hausbesitzern die Ergebnisse genauso wie den Rheinländern die rosa Herzen.

»Und ich habe noch eine gute Nachricht«, unterbrach die Stimme des Bürgermeisters Ivens’ Gedankengänge. »Aufgrund der stabilen Wetterlage konnten für den diesjährigen Colour-Day ausschließlich umweltfreundliche Lebensmittelfarben verwendet werden. Bis der erste Regen kommt und alles wieder davonspülen wird, werden mindestens drei Tage vergehen. Sie haben also Zeit genug, sich in Ruhe umzusehen und unsere schöne Stadt ausgiebig kennenzulernen.«

Donnernder Applaus erreichte den Balkon des Rathauses, während Ivens’ rechtes Auge nervös zu zucken begann.

Mindestens drei Tage. Auch das noch.

»Meine Damen und Herren, kommen wir nun zum Höhepunkt des heutigen Tages. Bitte begrüßen Sie mit mir den Mann, der das alles hier erschaffen hat: Akio Komohoto.«

Erst jetzt bemerkte Ivens den verschüchtert wirkenden Japaner, dessen blasse Gesichtsfarbe in starkem Kontrast zu seinem Kunstwerk stand. Komohoto wirkte neben dem bulligen, übergewichtigen Bürgermeister wie ein zu kurz geratener Fahnenmast. Der Mann bestand nur aus Haut und Knochen. Ein fast quadratisches Gesicht thronte auf einem armdicken Hals, der viel zu schwach für diese Last wirkte. Dieser scheinbaren Instabilität hatte Komohoto eine völlig überdimensionierte Brille hinzugefügt, die fast die Hälfte seines Gesichts umfasste. Das Brillengestell bestand aus aneinandergereihten stilisierten Giebelformationen in allen erdenklichen Farbtönen. Ivens ahnte, dass die Souvenirläden der Stadt bis unter die Decke mit diesen Ungetümen vollgestopft waren und er sie auch nach Komohotos Abreise wohl öfter zu Gesicht bekommen würde.

Komohoto trat einen Schritt nach vorn und spähte vorsichtig vom Balkon hinunter auf die Menschenmassen. Ivens sah, wie seine Beine nervös zitterten. Einige Augenblicke lang stand Komohoto regungslos da, vom anhaltenden Schlackern seiner Gliedmaßen abgesehen. Dann winkte er verlegen seinem Publikum auf der Straße und verteilte Kusshände.

2

Jeder gierte danach, dem berühmten japanischen Künstler die Hand zu schütteln. Um Akio Komohoto bildete sich innerhalb weniger Sekunden eine dichte Menschentraube, und auch Oscar Emmerich drängte in Komohotos Richtung.

Ivens sah seine Chance gekommen, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie hier treffe. Ist heute nicht Ihr freier Tag?«

Überrascht fuhr Ivens herum. Vor ihm stand Holger Baumann, Amtskollege und Leiter des Personaldezernats der örtlichen Polizeidienststelle. Baumann war ein zäher, drahtiger Kerl, der eigentlich in den Außendienst der Polizei gehörte. Aber irgendetwas hatte ihn in den Verwaltungsdienst getrieben. Vielleicht eine Frau, bei der Männer mit Schichtdienst und Nachteinsätzen nicht landen konnten? Ivens konnte nur spekulieren. Er hatte keinen privaten Kontakt zu Baumann, und der Behördentratsch gab nichts über ihn her.

Baumann wies mit dem Kopf in Richtung Sitzungssaal. »Drinnen wird gerade ein Büfett aufgebaut. Es gibt bestimmt schon was abzustauben.«

Immerhin ein halbes Entkommen, dachte Ivens und folgte Baumann. Der Essensduft, der sich langsam im Rathaus ausbreitete, ließ ihn deutlich seinen Hunger spüren. Er nahm sich vor, die Stadtkasse für sein verpatztes Frühstück bluten zu lassen und sich ausgiebig zu bedienen.

»Was halten Sie davon?«, fragte Baumann und deutete durch ein Fenster hindurch auf eine giftgrün leuchtende Giebeldachreihe.

»Ich lasse mich von meinem Augenarzt für die nächsten Tage krankschreiben.«

Baumann lachte. »Kein Freund der Kunst?«

»Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Allerdings …« Ivens begutachtete ein Stück Fingerfood, von dem er gerade einen Bissen genommen hatte. »Das hier ist wirklich gut.«

Baumann gönnte sich ebenfalls ein Stück von dem Snack, der wie grüner Spargel aussah, und nickte bestätigend. Dann sagte er beifällig: »Ich habe übrigens eine gute und eine gute Nachricht für Sie. Welche möchten Sie zuerst hören?«

»Die Schlechte.«

Baumann schwieg.

»Also gut, die schlechtere der guten Nachrichten.«

»Die Nachbesetzung Ihrer freien Stelle ist genehmigt worden.«

Ivens glaubte, sich verhört zu haben. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wann er das entsprechende Antragsformular in die Mühlen der Bürokratie gegeben hatte. Vor sechs Monaten? Fast einem Jahr? So lange war es her, dass sein letzter Assistent Hals über Kopf gekündigt hatte.

Steffen Hengster, ein junger, engagierter Kriminalkommissar, war ihm vor etwas mehr als drei Jahren als Unterstützung zugeteilt worden. Ivens hatte ihn gemocht. Hengster war zuverlässig und fähig gewesen – zumindest im Rahmen dessen, was man von einem Grünschnabel, der frisch von der Polizeihochschule kam, erwarten durfte. Allerdings hatte Hengster ein Problem, und dieses Problem hatte zu der völlig überraschenden Kündigung geführt.

Hengster und seine charmante Freundin wohnten in einem modernisierten Altbau mit Blick auf einen großen, begrünten Innenhof. Zu der Etagenwohnung gehörte eine weitläufige Dachterrasse, der das junge Paar nach dem Einzug seine ganze Gestaltungsleidenschaft widmete. Ivens war ein paarmal zum Grillen eingeladen und durfte die akkurat angeordneten Sitzgruppen, Kübelpflanzen und Beleuchtungselemente bewundern, die er sonst nur aus Architekturzeitschriften kannte. Alles wäre perfekt gewesen – wenn nicht die Tauben gewesen wären. Die Tauben fanden die Dachterrasse ebenfalls sehr ansprechend, fühlten sich allerdings genötigt, eigene Gestaltungselemente in Form ätzender und stinkender Körperausscheidungen hinzuzufügen.

Hengster nahm es sportlich und eröffnete den Krieg. Auf Basis seiner waffenkundlichen Ausbildung im Polizeidienst und mit Unterstützung eines technikbegeisterten Freundes tüftelte er an einer Lösung, die effizient und schlagkräftig war, aber in Übereinstimmung mit dem Tierschutzgesetz stand. Das Ergebnis war eine schlanke, etwa einen Meter hohe Säule aus gebürstetem Edelstahl. Auf den ersten Blick hielt man sie für ein Designerobjekt, einzig dazu bestimmt, einen edlen Akzent in Gärten und auf Balkonen zu setzen. Ihr wahrer Zweck erschloss sich erst, wenn man die kleinen, verborgenen Öffnungen der Säule näher inspizierte und die Baupläne studierte: vier um 180 Grad schwenkbare Hochdruckdüsen, deren sekundenschnelle Ausrichtung von einem automatischen Zielverfolgungssystem mit Radar gesteuert wurde; ein im Innern der Säule verborgener Zehn-Liter-Wassertank sowie ein Zusatztank mit einer umweltverträglichen Chemikalie, die die Oberflächenspannung des Wassers erhöhte; ein leistungsfähiger Kompressor für einen kräftigen Wasserstrahl mit mehr als 20 Metern Reichweite, der dank der erhöhten Oberflächenspannung auch in dieser Entfernung dicht gebündelt war; vier Infrarotkameras, die ihre Daten permanent an einen Hochleistungschip mit stereoskopischer Bilderkennungssoftware schickten. Hengster hatte die Software bald auf Vögel aller Art trainiert – schließlich schissen nicht nur Tauben.

Der Erfolg war durchschlagend, und das im doppelten Sinne. Spätestens nach einem halben Tag unter Dauerbeschuss nahmen die Tiere für immer Reißaus. Eine einzige dieser Säulen genügte, um bei geschickter Platzierung eine Fläche von über 1.000 Quadratmetern dauerhaft vogelkotfrei zu halten. Es kam, wie es kommen musste: erste Anfragen aus dem Bekanntenkreis, Presseartikel, noch mehr Anfragen, die Anmietung einer Produktionshalle, die Kündigung des erbärmlich bezahlten Kommissar-Jobs.

Ivens konnte es Hengster nicht verübeln. Während dieser nun das Geld eimerweise scheffelte, musste Ivens seitdem ohne Assistent auskommen.

Aber jetzt schien sich das Blatt zu wenden.

»Genehmigt also«, sagte Ivens, wobei er Baumanns Gesicht nach Anzeichen von Ironie absuchte.

Baumann nickte bestätigend.

»Und die zweite Nachricht?«

»Sie fängt bereits morgen an.«

»Sie?«, entfuhr es Ivens überrascht.

»Haben Sie etwas gegen Frauen?«, reagierte Baumann prompt. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er in diesem Punkt überhaupt keinen Spaß verstand.

Bevor Ivens etwas entgegnen konnte, hörte er vom Balkon das Klirren von Glas, als ob Sektkelche zu Boden fielen und dort zerbarsten. Eine laute Stimme durchdrang den dichten Menschenring, der den Balkon vom inneren Sitzungsaal abschirmte.

»Ein Arzt! Ist hier ein Arzt!?«

Ivens stürmte in Richtung Balkon. Er schob einige Leute unsanft beiseite und kämpfte sich bis zur vordersten Reihe durch. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Schwarm von Minidrohnen, die wie lästige Mücken vor dem Balkon auf und ab tanzten und ihre Kameras auf einen Punkt fokussierten. Dort, im Brennpunkt der fliegenden Objektive, knieten der Oberbürgermeister und Oscar Emmerich neben einem schlaffen Körper, der bäuchlings auf dem kalten, orange-grünen Steinboden lag. Ivens erkannte sofort, wer der offensichtlich Bewusstlose war: Akio Komohoto.

»Machen Sie Platz!«, raunzte Ivens ein paar der umstehenden Ehrengäste an.

Statt der Aufforderung zu folgen, drängten sich einige noch enger um den am Boden liegenden Künstler und fummelten am Gestell ihrer Brillen. Kleine rote Lämpchen an den oberen Brillenrändern begannen zu blinken: Smartphoneglasses mit integrierter Kamera.

Es war seit Jahren Vorschrift, dass die Einschaltung der Aufnahmefunktion an Kamerabrillen über ein Leuchtsignal für alle sichtbar sein musste. Es war allerdings auch Vorschrift, dass Unfälle und Katastrophen mit direktem Personenbezug nicht gefilmt werden durften. Aber selbst hier oben, im Kreis der honorigen Gäste der Stadt, galt dieses Verbot so viel wie einem Fahrradfahrer eine rote Verkehrsampel.

Ivens drehte den zerbrechlichen Körper des Japaners vorsichtig zur Seite. Komohotos Gesicht, dessen extreme Blässe ihm zuvor schon aufgefallen war, glänzte nun gänzlich farblos unter einem Film kalten Schweißes.

»Hören Sie mich?« Ivens rüttelte den Asiaten an der Schulter.

Akio Komohoto gab keine Antwort. Die Augen des Künstlers waren leer und ausdruckslos.

»Wir müssen ihn auf den Rücken drehen«, kommandierte Ivens, ohne auf irgendwelche Rangstellungen der Anwesenden Rücksicht zu nehmen.

Emmerich und Ivens rollten den schmächtigen Körper des Japaners in die Rückenlage, während der Bürgermeister sein Jackett auszog und es stützend unter Komohotos Kopf schob. Ivens legte Wange und Ohr über den Mund des Bewusstlosen und beobachtete aufmerksam den Brustkorb. Dann riss er dem Künstler die obersten Hemdknöpfe auf und überstreckte den Kopf in den Nacken, um die Atemwege frei zu machen.

»Was ist passiert?« Ivens sah den Bürgermeister und Emmerich fragend an.

Emmerich hob die Schultern. »Er ist einfach umgekippt.«

»Rufen Sie einen Krankenwagen!«

Ivens legte seine Hände auf den Brustkorb des Japaners und drückte die Arme durch. Für einen Moment zögerte er. Durch das Hemd hindurch fühlte er nur zerbrechliche Knochen. Er zwang sich, sich die Anweisungen aus den Erste-Hilfe-Trainings in Erinnerung zu rufen: »Besser ein paar gebrochene Rippen als eine anhaltende Sauerstoffunterversorgung des Gehirns.«

Ivens verlagerte sein Körpergewicht auf die Arme und drückte kräftig zu. Sofort ergoss sich ein Schwall Blut aus dem Mund des regungslosen Asiaten.

Entsetzt wich Ivens zurück. Jede Beatmung war aussichtslos.

Akio Komohoto war tot.

3

Zwei Stunden nachdem Akio Komohoto seinen letzten Atemzug getan hatte, knallte Ivens die Tür seiner Wohnung hinter sich zu und warf sich erschöpft auf die Couch.

Was für ein beschissener Tag, dachte er frustriert. Seine Pläne für einen entspannten Vormittag bei einem gemütlichen Frühstück waren den Bach runtergegangen. Und das Erlebnis mit dem unter seinen Händen verstorbenen Ehrengast der Stadt hatte ihm die Lust geraubt, ein unbeschwertes Alternativprogramm für den Rest des Tages zu beginnen. Einzig Baumanns Nachricht über die Nachbesetzung seiner Assistentenstelle rettete den Tag davor, auf dem großen Misthaufen der gänzlich verlorenen Tage zu landen.

Wobei – berauschend war die Nachricht des Personaldezernenten nicht, fand Ivens.

Er hasste es, ungefragt Mitarbeiter zugeteilt zu bekommen. Natürlich war ihm klar, dass die zentrale Stellenvergabepraxis, die sich in den letzten Jahren zum Schutz vor Korruption und persönlicher Vorteilsnahme durchgesetzt hatte, keine andere Möglichkeit zuließ. Trotzdem hasste er es. Außerdem fühlte er sich mehr als unwohl bei dem Gedanken, demnächst für eine junge Kollegin verantwortlich zu sein.

Sein Unmut hierüber hatte ihm vermutlich deutlich im Gesicht gestanden, als Baumann ihm die Neuigkeit eröffnet hatte. Zumindest ließ sein Spruch »Haben Sie etwas gegen Frauen?« darauf schließen. Dabei beruhte sein spontanes Entsetzen auf einem völlig anderen Grund als der vom Personaldezernenten unterstellten Frauenfeindlichkeit: Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er seine verstorbene Tochter Kira vor sich gesehen, wie sie ihm die Hand reichte und sich als seine neue Kollegin vorstellte. Kira wäre jetzt 27, so wie Hengster bei seinem Dienstantritt 27 gewesen war und so wie eigentlich alle Jungkommissare bei ihrer ersten Versetzung nach der Ausbildung um die 27 waren. Die Vorstellung, durch eine Assistentin dieses Alters jeden Tag an seine eigene Tochter erinnert zu werden, war durch Baumanns Nachricht wie ein gespenstisches Bild der Apokalypse unvermittelt in ihm emporgestiegen.

Theoretisch wusste Ivens, dass solche Projektionen unvermeidlich waren: Schon tausendmal war er Kira seit ihrem Tod begegnet. Oft hatte er sie in Kaufhäusern gesehen, manchmal ihre Stimme inmitten einer Gruppe von Menschen gehört, oder sie hatte ihn aus einer Zeitschrift heraus angelächelt. Der Psychologe, der ihm und seiner Frau Jennifer damals über die schlimmste Zeit hinweggeholfen hatte, hatte sie ausreichend darauf vorbereitet. Nur seine Arbeit hatte bisher einen zuverlässigen Schutzraum vor solchen Fantasiestreichen geboten. Wenn diese Bastion fallen würde …

Ivens überlegte, ob er seine Frau anrufen sollte, um mit ihr darüber zu reden. Sie würde es verstehen. Zwar hatten sie sich in den Jahren nach Kiras Tod auseinandergelebt – nicht zuletzt deshalb, weil Jennifer die gleiche Taktik des Überlebens gewählt und sich wie besessen in ihre Arbeit als Dozentin für Informatik gestürzt hatte –, aber ganz verloren war ihre Beziehung noch nicht. Doch dann wurde ihm klar, wie verrückt das war. Ein Anruf hätte automatisch bedeutet, mit Jennifer über Kira reden zu müssen. Und das war selten eine gute Idee.

Stattdessen schaltete Ivens den Fernseher ein, um sich von seinen Gedanken abzulenken.

4

Akio Komohotos Tod hatte alle anderen Schlagzeilen aus den Nachrichten verdrängt. Wohin Ivens auch schaltete, auf allen Kanälen dominierte die Berichterstattung vom Münsteraner Colour-Day mit dem tragischen Todesfall des japanischen Künstlers. Die Programmleiter der Sender hatten sich offensichtlich auf eine bestimmte Szene eingeschossen, die von ihnen für besonders publikumswirksam gehalten wurde: Es war die Stelle, an der der Oberbürgermeister der Stadt behutsam und mit sorgenvoller Miene sein Jackett unter den Kopf des regungslosen Japaners schob, während kurz danach ein unrasierter, in eine altmodische Lederjacke gekleideter Endvierziger seine groben Pranken auf den Brustkorb des zerbrechlichen Kunststars presste und ihm das Blut aus dem Leib quetschte.

Ivens gefiel sich nicht sonderlich gut in dieser Einstellung. Die gelegentlichen Kommentare der Nachrichtensprecher, dass es sich bei dem Mann um einen zufällig anwesenden Kriminalhauptkommissar der Stadt Münster handelte, der vorbildlich die korrekten medizinischen Sofortmaßnahmen durchgeführt hatte, versank als Fußnote der Berichterstattung. Was in den Köpfen der Zuschauer hängen blieb, waren stattdessen die Bilder des Grauens: rotschwarzes Blut, das in einem hässlichen Schwall aus dem Mund des toten Künstlers schoss und sich über sein leichenblasses Gesicht mit den ausdruckslosen Augen ergoss. Und das Gesicht des Mannes, der wie ein Schlächter über dem armen Opfer hing.

Die Sender schöpften aus einem reichhaltigen Fundus unterschiedlicher Perspektiven und Kameraeinstellungen der immer gleichen Szene. Ivens wusste zu gut, woher das Filmmaterial stammte. Es hatte vermutlich keine zehn Minuten gedauert, bis die Nachrichtendienste nach der offiziellen Bestätigung von Komohotos Tod ihre Internetbörsen eröffnet hatten. Hier konnte jeder die Aufnahmen seiner Drohnen oder seiner Kamerabrille zum Kauf anbieten. Die Versteigerung der Senderechte lief meist innerhalb von Minuten. Manchmal, wenn es nur wenig Filmmaterial gab und das öffentliche Interesse an einem Ereignis ausreichend groß war, überboten sich die Sender gegenseitig bis in astronomische Höhen. Aber nicht heute – da war sich Ivens sicher.

Schon als der arme Teufel noch als vermeintlich Bewusstloser in den Armen des Bürgermeisters lag, hatten sich zahlreiche Drohnen über dem Rathausbalkon versammelt, und als er seinen missglückten Widerbelebungsversuch eingeleitet hatte, hatten sie wie ein dunkler Fliegenschwarm über ihm gehangen. Hinzu kamen die Aufzeichnungen, die von den Gaffern direkt vom Balkon aus gemacht wurden.

Bildmaterial bis zum Abwinken.

Ivens lauschte eine Weile den Spekulationen der Reporter, wie es zu den immensen inneren Blutungen kommen konnte, die der von Emmerich herbeigerufene Notfallarzt noch vor Ort diagnostiziert hatte.

Als der Sender mit Impressionen von Akio Komohotos Kunst fortfuhr, schaltete Ivens zum Schutz der sensiblen Elektronik den Fernseher aus und schloss erschöpft die Augen.

5

Im Gegensatz zu Ivens genoss der regierende Oberbürgermeister Dr. Kampmeier jede Sekunde der laufenden Berichterstattung. Gebannt starrte er auf den sanft gewölbten Bildschirm, der mit den Ausmaßen einer übergroßen Tischtennisplatte die Stirnseite des altehrwürdigen Friedenssaals des Rathauses dominierte. Aufgrund der notorischen Raumnot in der Stadtverwaltung war der Prunksaal auch als Konferenzraum für profane Angelegenheiten ausgestattet worden.

Obwohl Kampmeier nicht allein war, zappte er seit Minuten ungestört von Kanal zu Kanal immer wieder zu der Szene, in der er sich geistesgegenwärtig seines Jacketts entledigte und es Akio Komohoto vorsichtig unter den regungslosen Kopf schob. Seine Bewegungen wirkten präzise und erhaben wie die eines Priesters, der die heilige Messe zele­brierte – zumindest empfand Kampmeier es so. Sein Gesichtsausdruck, sorgenvoll dem armen Opfer zugewandt, strahlte eine innige Anteilnahme aus, die der Situation angemessen war. Und schließlich zauberte der Kontrast zur nachfolgenden Szene, in der Hauptkommissar Ivens sich wie ein Metzger beim Zerteilen einer Schweinehälfte über den Körper des Künstlers hermachte, den Hauch des Besonderen auf seine eigene Tat.

Das Schicksal war manchmal sonderbar, dachte Kampmeier. Tief im Inneren wusste er, dass er verdammtes Glück gehabt hatte. Wenn Ivens’ Wiederbelebungsversuch Erfolg gehabt hätte, wäre seine eigene Kopfkissenaktion vermutlich als stümperhafte Hilfeleistung eines unfachmännischen Idioten gebrandmarkt worden.

Doch heute waren die Würfel zu seinen Gunsten gefallen. Die Bilder würden noch Jahre dafür sorgen, dass ihm im Wahlkampf aus der unteren Riege keine Gefahr drohte. Insbesondere sein Stellvertreter Oscar Emmerich, der (nach Kampmeiers Meinung sowieso völlig unnötig) ebenfalls stets im Bild war, wirkte hölzern und untätig.

Nachdem Kampmeier sich endlich sattgesehen hatte, verbannte er seine Aufmerksamkeit von dem Bildschirm. Er musste sich auf die anstehende Ratssitzung konzentrieren. Komohotos überraschender Tod hatte den weiteren Verlauf des Colour-Days und damit auch die Lage in der Stadt grundlegend verändert. Jetzt galt es, schnell und besonnen zu handeln. Aus diesem Grund hatte er alles, was Rang und Namen in der Stadtverwaltung besaß, zu einer kurzfristig anberaumten Sondersitzung eingeladen. Seit mehr als zehn Minuten saßen die Teilnehmer bereits auf ihren Plätzen und warteten darauf, dass er das Wort erhob.

Kampmeier betrachtete die Anwesenden. Ihm gegenüber saß Marvin Schellenberg, Leiter des Stadtmarketings. Schellenberg fummelte wie immer pausenlos an seinem Smartphone-Armband. Kampmeier vermutete, dass es dabei um irgendeine Terminkoordination ging. Er hatte von Schellenberg noch nie andere Arbeitsergebnisse als Terminabsprachen gesehen. Ausarbeitungen aus Schellenbergs Feder? Fehlanzeige. Eigene Impulse für die Stadtentwicklung? Fehlanzeige. Strukturierte Marketingpläne? Ebenfalls Fehlanzeige. Dafür kannte Schellenberg mindestens die halbe Stadt persönlich und war ein wahrer Meister im Aufbau und der geschickten Nutzung von Beziehungen. Kurzum: die ideale Besetzung.

Links von Schellenberg blickte Rita-Julie Forsthövel, Dezernentin für Kulturförderung und Ausländerfragen, mit skeptischer Miene in die Runde. Vermutlich befürchtete sie, dass der unerwartete Tod des prominenten japanischen Gastes sich negativ auf ihre Zuständigkeiten im Amt für Ausländerfragen auswirken würde. Sie presste ihre ohnehin schmalen Lippen noch enger aufeinander als gewöhnlich, sodass sie einen kaum wahrnehmbaren dünnen Strich bildeten.

Die weiteren Anwesenden, die Kampmeier kurz taxierte, waren Dr. Friedrich von Bothmann, Vorsitzender der hiesigen Kaufmannschaft, und Luis Heißenberg, Leiter des Amtes für Tourismus und Fremdenverkehr. Den rechts von ihm nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschenden Oscar Emmerich würdigte Kampmeier keines Blickes. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn er seinen Stellvertreter im Bürgermeisteramt nicht hätte einladen müssen. Aber leider war der Polizeipräsident wegen einer dringenden Sache unabkömmlich, und er konnte die Statuten nun einmal nicht missachten: Bei Sitzungen der Stadtverwaltung musste immer ein Vertreter für Sicherheitsfragen anwesend sein, sonst war man nicht beschlussfähig. Und diese Rolle kam Oscar Emmerich in seiner Position als Vorsitzender des Polizeiausschusses zu.

Zum Glück schien Emmerich mit seinen Gedanken abwesend zu sein. Wie Schellenberg war er permanent mit seinem Smartphone-Armband beschäftigt und wirkte äußerst angespannt. Kampmeier hoffte auf schlechte Nachrichten – schlechte Nachrichten für Emmerich waren in der Regel gute Nachrichten für seine eigene Position.

Kampmeier räusperte sich und ergriff das Wort: »Beschlüsse von Weltrang sind in diesem Saal bereits gefasst worden. Jetzt schaut die Welt erneut auf Münster. Wir blicken auf eine Tragödie – aber auch auf eine Chance, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Der Tod von Akio Komohoto ist zweifelsohne tragisch. Aber … Erst im Tod wird ein Künstler bekanntlich besonders wertvoll. Komohoto hat uns ein Erbe hinterlassen, mit dem wir in diesem Sinne sorgsam umgehen sollten.«

Niemand sagte etwas. Alle waren gespannt, worauf der Oberbürgermeister hinauswollte.

Kampmeier wandte sich an den Vorsitzenden der Kaufmannschaft: »Friedrich, wie ist die Lage in der Stadt?«

Friedrich von Bothmann, seit Langem ein Duzfreund von Kampmeier, legte ein Strahlen auf. »Es könnte nicht besser sein. So gut wie alle Hotels der Stadt und in den umliegenden Gemeinden sind für die nächsten zwei Tage ausgebucht. Die Cafés und Restaurants platzen aus allen Nähten. Seit der Nachricht von Komohotos Tod sind die Buchungsanfragen nochmals explodiert, aber wir haben nichts mehr anzubieten.«

Bothmanns Ausführungen waren von einem permanenten Knackgeräusch begleitet, woraufhin Kampmeier die Tonübertragung an der vor ihm liegenden Steuerungseinheit des Sitzungssaals regulierte. Längst nicht alle Teilnehmer waren persönlich erschienen – dafür war die Sitzung viel zu kurzfristig anberaumt worden. Nur der Oberbürgermeister selbst, Marvin Schellenberg, Luis Heißenberg und Oscar Emmerich verdrängten reale Raumluft. Die anderen, einschließlich Bothmann, schwebten als Hologramme millimeterhoch über ihren Sitzungssesseln, in deren Rücken- und Armlehnen kleine Projektoren eingelassen waren.

Kampmeier war ein absoluter Befürworter von Hologrammkonferenzen. Schon oft war sein Blick während stundenlanger Sitzungen mitleidvoll zu den an der Westwand des Friedensaales angebrachten Porträts der Souveräne und Gesandten gewandert, die am Ende des Dreißigjährigen Krieges zu den Friedensverhandlungen nach Münster angereist waren. Kampmeier konnte in den Gesichtern der düster wirkenden Ölgemälde förmlich spüren, wie beschwerlich früher die Wahrnehmung von Verpflichtungen dieser Art gewesen sein musste: lange, kräftezehrende Reisen, Übernachtungen in fremden Betten, der Geruch von fremden Speisen und fremden Menschen. Um wie viel einfacher war die heutige Welt – auch wenn der Preis dafür eine Termindichte war, die früher als unvorstellbar gegolten hätte. Dennoch glaubte er zu spüren, wie der Neid aus den Augen der Porträts ihm entgegenschlug.

Kampmeier hatte mittlerweile die richtige Einstellung für die Tonübertragung gefunden. Er richtete jetzt das Wort an Heißenberg, den Leiter des Amtes für Tourismus und Fremdenverkehr: »Können wir weitere Unterkünfte in Schulen und öffentlichen Gebäuden anbieten?«

Heißenberg zuckte mit den Schultern. »Möglich ist alles. Aber das braucht Zeit. Wir alle wissen doch, dass der Farbenzauber mit dem ersten Regen in ein paar Tagen vorbei ist. Kaum haben wir die Betten aufgebaut, reisen die Touristen wieder ab.«

»Oder auch nicht«, sagte Kampmeier lapidar.

Verständnislose Blicke gingen durch die Runde.

»Wir müssen lernen, größer zu denken«, setzte Kampmeier nach. Er ließ die Worte für eine Weile im Raum stehen. Dann wandte er sich erneut an seinen Duzfreund Friedrich von Bothmann: »Warst du nicht letztes Jahr in Stockholm, bei diesem Konzert von … Wie hieß der Sänger noch mal?«

Bothmann grübelte. »Stockholm … ach ja … Den Namen habe ich vergessen. Ein Wunsch unserer Tochter, irgend so ein Teen-Idol. Meine Frau und ich haben uns hauptsächlich die Stadt angesehen.«

»Der Name ist auch völlig gleichgültig. Was ich meine, ist die Sache mit der Überdachung. Erinnerst du dich?«

Bothmanns Augen bekamen plötzlich ein Strahlen, das sich durch winzige Lichtblitze in den Pupillen seines Hologramms äußerte. Er begann zu ahnen, was Kampmeier im Sinn hatte. »Natürlich – das wäre die Lösung. Wenn die Stockholmer den gesamten Hafenbereich für eine Konzertreihe überdachen können, können wir das bestimmt auch.«

Sprachloses Erstaunen erfüllte den Raum.

Der Leiter des Amtes für Tourismus und Fremdenverkehr war der Erste, der seine Worte wiederfand. »Habe ich das gerade richtig mitbekommen?«, fragte Heißenberg. »Sie wollen die ganze Innenstadt überdachen, nur um ein dämliches Farbgeschmiere vor einem Regenschauer zu schützen?«

Es dauerte eine Sekunde – wie bei einer Raubkatze, die vor dem Angriff kurz in absoluter Regungslosigkeit verharrt –, bis Rita-Julie Forsthövel förmlich explodierte. »Dämliches Farb-ge-schmie-re!?« Die Dezernentin für Kulturförderung und Ausländerfragen rang nach Atem. »Wie können Sie es wagen? Darf ich Sie vielleicht daran erinnern, dass die Auswahl von Akio Komohoto für den diesjährigen Colour-Day einstimmig gefasst wurde – inklusive Ihrer Stimme, mein lieber Kollege.« Sie zog das »lieber« in die Länge wie einen Kaugummi, aus dem jeder Geschmacksstoff herausgesaugt war und das nur noch zum Abreagieren für gereizte Kiefermuskeln diente.

Kampmeier stöhnte genervt auf. »Bitte beruhigen Sie sich wieder.«

Rita Forsthövel beruhigte sich nicht. Stattdessen folgte ein Schwall wüster Beschimpfungen, die wie Hagelkörner bei einem Aprilgewitter auf Heißenberg niederprasselten und die Temperatur im Raum schlagartig um zehn Grad nach unten rissen.

Und da war noch etwas anderes. Es waren nur wenige Sekunden, aber die genügten: Wo vorher eine gut frisierte und in ein adrettes Kostüm gekleidete Kulturdezernentin gesessen hatte, erschien unvermittelt eine ungeschminkte Frau in Sweatshirt und mit einem zum Turban verknoteten Handtuch auf dem Kopf.

Ein verstohlenes Grinsen ging durch den Raum. Jeder kannte den Effekt: ein kurzzeitiger Ausfall der ITS. ITS stand für »Image-Transfer-Software«. Die Funktion dieser Software war genial und deshalb viel genutzt: Man konnte in Unterhosen vor dem heimischen Computer sitzen, und die Software zauberte je nach Programmierung und persönlichen Vorlieben einen maßgeschneiderten Anzug, einen Smoking, ein perfekt sitzendes Businesskostüm oder was auch immer über die eigene Körpersilhouette. Selbst die Frisur und die Haarfarbe waren einstellbar. Ein hervorragendes Programm, solange man keine zu hektischen Bewegungen vor der Übertragungskamera machte. Dann kam die Software mit der Berechnung nicht mehr hinterher und es gab etwas zu lachen – zumindest für die nicht betroffenen Teilnehmer.

Rita Forsthövel, die von alledem nichts mitbekam, interpretierte die allgemeine Heiterkeit als Reaktion auf ihre Attacke gegen Heißenberg. »Und Sie alle brauchen gar nicht so dämlich zu grinsen. Die Presse wird bestimmt brennend daran interessiert sein, wie der Stadtrat in Wirklichkeit zur Kunst von Akio Komohoto steht. Dann können Sie Ihre abstrusen Überlegungen, aus seinem Tod weiteren Nutzen zu ziehen, in den Wind schlagen.«

»Das reicht jetzt!«, donnerte Kampmeier. Er war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Selbstverständlich steht die Stadt voll und ganz hinter Komohotos Kunst.«

Kampmeier ließ seine Worte für einige Sekunden im Raum stehen, bis die Kulturdezernentin sich wieder beruhigt hatte. Dann atmete er tief durch und fuhr fort: »Konzentrieren wir uns wieder auf die Touristenströme. Eine provisorische Überdachung der Innenstadt so wie in Stockholm wäre genau das Richtige, um Komohotos Werk angemessen zu ehren.«

»Ich kenne da vielleicht jemanden, der das ermöglichen könnte.« Natürlich war es Marvin Schellenberg mit seinen Tausenden von Kontakten, der das sagte. »Ich weiß zwar nicht, ob diese Dimension in so kurzer Zeit machbar ist, aber einen Versuch ist es wert.«

Kampmeier nickte zufrieden. »Sehr schön. Das nenne ich die richtige Einstellung. Außerdem brauchen wir ein paar neue Zugpferde für das Publikum. Diverse Trauerfeierlichkeiten zum Beispiel. Liebe Frau Forsthövel, wenn Sie mit der japanischen Botschaft über eine möglichst späte Überführung des Leichnams … Was ist denn?«

Genervt registrierte Kampmeier ein beständiges Ziehen an seinem Arm. Der neben ihm sitzende Oscar Emmerich schob schweigend das Display seines Smartphone-Armbandes zu ihm herüber und deutete auf die Nachricht, die darauf angezeigt wurde.

Kampmeier überflog den Text. Dann las er ihn noch einmal. Die Zeilen ließen ihn vergessen zu atmen. Seine Gesichtsfarbe wechselte langsam in ein knalliges Rot, das fast mit der Strahlkraft von Komohotos Farben konkurrieren konnte. Er starrte Emmerich an.

Dieser nickte verlegen.

Unvermittelt fauchte Kampmeier los: »Raus! Alle raus hier!«