André de Richaud

Der Schmerz

Roman

Aus dem Französischen übersetzt und
mit einem Nachwort versehen
von Sophie I. Nieder

DÖRLEMANN

Die Originalausgabe »La douleur« erschien 1930 bei Grasset in Paris.

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Bewilligung eines Johann-Joachim-Christoph-Bode-Stipendiums. Das Mentorat übernahm Patricia Klobusiczky.



eBook-Ausgabe 2019
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 1930 Grasset, Paris
© 2019 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Cover: Mike Bierwolf unter Verwendung eines Gemäldes von Berthe Morisot
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-964-5
www.doerlemann.com

André de Richaud

 

Das Kriegsleben verlief weiterhin ruhig und alles in allem frei von Störungen für das Dorf. Zwischen dieser Gegend und der Front lag ganz Frankreich mit seinen ruhigen Wäldern, stillen Dörfern und verwaisten Straßen. Sie war sich selbst überlassen, nach und nach überwucherten Wildpflanzen ihre Wege. Auf den Brunnen schien das Moos schneller zu wachsen als zuvor, und der Rost hinterließ große, schillernde Flecken am Pissoir, das mitten auf dem Dorfplatz stand. Man merkte, dass die Männer weg waren, dafür gab es eine Fülle von Anzeichen, vor allem fehlten die dörflichen Annehmlichkeiten. Das Café de France war geschlossen. In den Straßen begegnete man gelegentlich einer alten Frau, die eine Schubkarre schob, einem jungen Mädchen, das eine Heugabel auf der Schulter trug. Die Mutter des Feldhüters trug die Post aus.

Im August 1914 hatten die Männer plötzlich von ihren Frauen und Kindern Abschied genommen, um sich, vom Feuer angezogen, in einem kleinen Winkel Frankreichs zu versammeln, und die Frauen waren hiergeblieben, frei, allein mit den Kindern und dem Vieh. Der Krieg währte schon ein Jahr, und sie gewöhnten sich allmählich daran, ihre Männer nur alle drei Monate zu sehen. Die Gegend, sich selbst überlassen, hatte sich nach Lust und Laune verändert, und wenn die Männer für einige Tage von der Front zurückkehrten, erkannten sie ihr Heim kaum wieder. Lebt wohl, Felderwirtschaft und runde Maulbeerbäume!

Die Bäume wurden nicht mehr zurückgeschnitten und in den Rinnen häufte sich Laub. Dafür gab es weniger Jäger und es saßen mehr Vögel im Blattwerk. Angeblich hatten sogar einige Arten aus dem Norden Frankreichs, vom Kanonenfeuer verjagt, hier in dieser glücklichen Provence voller Stille und Frieden Zuflucht gesucht.

Zwischen den Pflastersteinen wuchs das Gras dichter, weil die Hälfte der Bevölkerung, die mit schweren Schritten lief, fortgegangen war. In den Flüssen gab es offenbar mehr Fische. Selbst in den Furchen der vernachlässigten Felder schienen sich mehr Steine anzusammeln. Waren auch sie aus Angst vor dem Kanonenfeuer in dieses milde, sonnige Land gekommen? Wer weiß. Jedenfalls bemächtigten sich hier nach und nach Pflanzen, Vögel und Steine des männerverlassenen Dorfes, während sich an der Front alle der neuesten Mittel bedienten, die der menschliche Erfindergeist hervorgebracht hatte.

Es sah aus wie das letzte Dorf der Welt. Ganz und gar verlassen …

I

Einige hundert Meter vom Dorfrand entfernt, in einer großen, stillen Villa nicht weit von den Schulen, wohnte Thérèse Delombre. In der Nähe des Hauses floss die Sorgue, hinter riesigen Platanen verborgen. Eine Atmosphäre der Bedrückung und Einsamkeit schwebte um die grauen Mauern. Es schien, als wollte sich die Villa auf dem Boden zusammenkauern. Die Wege, die zum schweren Tor führten, waren voller Wildhafer. Dichtes Moos wucherte auf dem von Feuchtigkeit ausgehöhlten Mauersockel. Nur selten lief jemand an dem verrosteten Eisentor vorbei, das jahrelang nicht geöffnet worden war, und das Geäst, das die Dächer der Häuser weit überragte, schirmte die Sonnenuhr vom Tageslicht ab. Von den fünfzehn Fenstern der Fassade waren nur drei offen, im Esszimmer und in der Küche von Madame Delombre.

Als man den Hauptmann im August 1914 eingezogen hatte, war sie, allein mit ihrem Sohn, dort hingekommen, um auf das Ende des Kriegs zu warten. Sie hatte sich nicht häuslich eingerichtet, weil sie dachte, dass der Krieg nicht andauern würde. Die großen Korbtruhen standen lange halb offen in der düsteren Diele. Nach und nach sollte der Inhalt an die üblichen Orte wandern, in die Anrichte, in die Schränke. Einige Monate später wurden die Truhen auf dem Dachboden verstaut, gesellten sich zu ihren Schwestern, die nicht mehr reisten, und als alle Dinge an ihrem Platz waren und Thérèse Delombre die Hoffnung aufgegeben hatte, wieder in der Stadt zu leben, erhielt sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Die Einsamkeit und Trostlosigkeit ihres Wohnorts betäubten sie, und der Schock war heftig, aber kurz. Eine Woche lang weinte sie ins Haar ihres Sohnes und dann, gerade als sie sich fragte, was aus ihr werden würde, so ganz allein, bekam ihr Sohn die Masern.

Als er wieder auf den Beinen war, dünner und größer geworden, hatte Thérèse Delombre den Hauptmann fast vergessen. Ihre Zukunft war ihr von all den Frauen, die den kleinen Kranken besuchen kamen, vorgeschrieben worden: Hier sollte sie leben, im Schatten, bis zu ihrem Tod, für ihren Georget …

Sie schwelgte im Erhabenen der Situation; sie hatte das Gefühl, zur Heldin eines großen Romans zu werden, der von Mut und selbstloser Hingabe handelte.

*

Zu Lebzeiten ihres Mannes hatten die Frauen im Dorf sie nicht besonders gemocht. Obwohl sie sanft und zurückhaltend war, machte man es ihr in den Läden nicht leicht. Sie war die Frau eines Chefs, und die Männer auf Fronturlaub sagten, der Feind töte weit mehr einfache Soldaten als Offiziere. Die Dorfgemeinschaft beneidete sie. Sie litt unter dieser Feindseligkeit und mied deshalb die Öffentlichkeit. Dieses Verhalten machte zwangsläufig alles nur noch schlimmer. Die Leute, die sie als junge Frau ohne Vermögen gekannt hatten, sagten, sie halte sich für etwas Besseres.

Als man vom Tod des Hauptmanns erfuhr (böse Zungen munkelten sogar, durch seine Härte habe er eine französische Kugel auf sich gelenkt, aber das wurde nie bewiesen), änderte sich ihre Stellung im Dorf. Ihre Kleider waren zwar viel gepflegter als die der anderen Frauen, aber sie waren schwarz – und diese Farbe ließ allen Neid verschwinden. Sie hatte ihren Sohn in die Grundschule geschickt und nicht auf das Collège in Carpentras, um ihn länger bei sich zu behalten, daraufhin sagte man, sie sei weniger stolz als gedacht. Nach und nach entdeckte man an ihr alle möglichen guten Eigenschaften. Sie war ernsthaft und still, wenn sie auch nicht zur Messe ging. Nie hatte ein Fremder, eine dieser Personen mit unvertrauten Gesichtszügen, die eine Gegend so lange in helle Aufregung versetzen, bis man ihre Herkunft, ihre Familie und ihren Namen kennt, nach Madame Delombres Haus gefragt. Diese Zurückgezogenheit gefiel den hiesigen Frauen. Sie ging wenig aus, las viel; man sah sie zweimal in der Woche das rostige Tor der Schule aufstoßen. Wenn sie dann wieder herauskam, presste sie zwei oder drei Bücher an ihre Brust, die sie soeben in der Bibliothek ausgeliehen hatte.

Sie holte ihren Sohn nicht von der Schule ab, weil er nur den Platz überqueren musste, und sie ihn – im Sommer, wenn sie auf dem Liegestuhl vor dem Haus lag, und im Winter, wenn sie am Fenster saß und las – kommen sah, dünn und blass, den Tornister unter dem Arm, zwischen den anderen Buben, die ihn schubsten.

*

Sechs Monate waren seit dem Tod des Hauptmanns vergangen und schon bedrückte sie die Einsamkeit, die sie so leicht akzeptiert hatte. Anfangs gaukelte sie sich gewissermaßen selbst etwas vor, was sie allerdings bald ermüdete. Sie war es leid, allein zu sein, und sie war auch den selbst auferlegten Zwang leid, sich das Theater der Aufopferung vorzuspielen. Ganze Tage vergingen, ohne dass sie den Mund aufmachte. Während sie durch die großen, leeren Gemächer streifte, erinnerte sie sich an ihr früheres Leben, und jene Existenz, die bedeutungslos und eintönig gewesen war, schien ihr von Tag zu Tag reizvoller und ihr Verlust beklagenswerter. Sie bereute, diese nicht stärker ausgekostet zu haben. Ihre Erinnerung bot nicht ausreichend Bilder des Glücks, um ihr Leben damit abzuschließen, und sie weinte lange über sich selbst, während Georges in der Schule war. Jeden Morgen erschien ihr im angelaufenen Spiegel ein Gesicht, das abgezehrter war als am Tag zuvor, und sie träumte lange, die Wange an das kalte Glas gepresst … bis ihr plötzlich Tränen aus den Augen quollen, die für einen Moment über den Spiegel liefen.

Bei dem kleinen Jungen hingegen erwachte allmählich der Leib. Das Bedürfnis nach Wärme, das Kinder mit acht Jahren hinter sich lassen wie eine erniedrigende Erinnerung an das Wickeln und Stillen, bewahrte er sich, weil die Hände seiner Mutter, die sich nicht mehr auf Männerarme legen konnten, nicht von seiner jungen Haut abließen.

Er kannte kein anderes Gesicht als das seiner Mutter, das oft vor Tränen glänzte, er liebte die Einsamkeit und stille Spiele. An der Gesellschaft gleichaltriger Jungen fand er keinen Gefallen, vergnügte sich stundenlang mit Bändern und Spitze und fuhr sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen, wenn seine kleinen, stets sauberen Hände über Samt und Seide glitten. Gewiss hätte der Hauptmann, wenn er ihn so gesehen hätte, mit gesenktem Blick, die Augen bereits dunkel vor Besorgnis, gegen die Mütter gewettert, die ihre Söhne zu mädchenhafter Schüchternheit erziehen. Aber der Hauptmann war im Krieg gefallen, und seine Frau machte in diesem Moment, zu ihrer eigenen Freude und ihrer eigenen Qual, den Buben, den er ihr geschenkt hatte, zum Ebenbild ihres eigenen ruhelosen und verstörten Wesens.

II

Der Sommerabend brach herein. Das ganze Dorf war um den Brunnen versammelt. Man hörte im Schatten die Stimmen der Männer, die auf den Steinbänken saßen, und in der Nachtschwärze konnte man die Krämerin erahnen, die sich auf ihrem Binsenstuhl zurücklehnte, und den Metzger, dessen Zigarette in der Dunkelheit glühte. Diese wackeren Leute versuchten sich ein Bild vom Krieg zu machen und zerbrachen sich an deutschen Wörtern schier die Zunge. Madame Delombre lag auf dem Liegestuhl vor ihrer Tür, den Kopf ihres Sohnes zwischen den Knien und träumte … Ein tieftrauriger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie tat nichts, um ihn zu verbergen, da niemand sie sehen konnte. Jemand lief an ihr vorbei, und dann hörte man: »Guten Tag, Madame Delombre, wie geht es Ihnen?«

Als hätte man sie plötzlich geweckt, antwortete sie: »Oh! Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich hatte Sie nicht gleich erkannt.«

Ein paar Minuten später sagte der Pfarrer zu seiner Schwester: »Sie scheint mir sehr nett zu sein, diese Madame Delombre. Ach! Dieser Krieg! Sie ist noch keine fünfunddreißig und schon Witwe!«

Der arglose Dorfpfarrer wusste nicht, dass seine Soutane in Thérèses Gedanken nicht die Überlegungen eines Klageweibs, sondern Reigen nackter Männer und besessener Frauen verscheucht hatte. Der Kopf des Kleinen, der sich zwischen ihren Knien schwer anfühlte, wandelte sich zum Kopf eines Mannes, seine dünnen Kinderbeine zogen sich in die Länge, bedeckten sich mit dunklen Härchen und wurden hart wie die der jungen Männer, denen sie sonntags beim Fußballspielen zusah. Inzwischen konnte sie sich ihrer Obsession nicht mehr entziehen. Sie wurde raffiniert und einfallsreich. Selbst die züchtigsten Bücher lösten bei ihr böse Gedanken aus, und wenn sie sich vor dem Spiegel auszog, blieb sie lange bewegungslos stehen, musterte gierig ihr Gesicht. Sie glaubte vergehen zu müssen, weil es an ihrer Seite keinen Menschen gab, der sie lieben konnte, wie sie es wollte – auch keine Frau – und ihre Momente der Zweisamkeit mit dem Spiegel steigerten ihr Verlangen nur.

Wenn sie abends das Hemd wechselte, sagte sie zu dem Kind, das bereits im Bett lag: »Dreh dich zur Wand.«

Und es errötete, als nahte irgendein Mysterium – so traurig und bang war die Stimme seiner Mutter.

Im Wohnzimmer stand auf einem Tischchen ein kleiner Athlet aus Bronze, den der Hauptmann bei einem Sportwettkampf gewonnen hatte. Eine seltsame Liebe entspann sich zwischen ihm und der verzweifelten Frau. Er war kaum fünfundsiebzig Zentimeter hoch und nackt. Thérèse streichelte mit halbgeschlossenen Augen die kleinen Schultern. Unter ihren fieberhaft tastenden Händen begann ein winziges Herz in der harten, schwarzen Brust zu schlagen, und die Frau lief mit Tränen in den Augen und glühenden Wangen aus dem Wohnzimmer. Dann stürzte sie sich auf ihren Sohn und sagte, während sie ihn mit Küssen erstickte: »Ich liebe nur dich, nicht wahr?«

Einer Schmusepuppe gleich leistete das Kind den Liebkosungen seiner Mutter keinen Widerstand, und auf Seiten der Rhône sank der Abend herab, auf Seiten der Hügel stieg der Morgen hinauf, und nie kam ein Mann … In der Sonne, die immer brennender wurde, verdorrte sie vor Leidenschaft.

Das Haus war voller lächerlicher Möbel, wie reich gewordene Pferdehändler sie anhäufen. Möbel, wahllos aus zufälligen Erbschaften zusammengetragen. Im Wohnzimmer stand ein Korbsessel, und an der Wand hing ein großes Bild, das ohne die goldene Aufschrift Mit besten Empfehlungen der Konfiserie Guérin-Boutron gar nicht so hässlich gewesen wäre. Die Fenster waren klein und die Atmosphäre klamm und leblos. Weil das Haus unter riesigen Bäumen stand, drang die helle Sonne des Comtat nicht zu ihm durch.

Das Kind wuchs in dieser Atmosphäre der Traurigkeit und Liebe auf, inmitten von hässlichen Gegenständen und mit einer Mutter, der es wehrlos ausgeliefert war. In diesem Alter, in dem sich im Bauch, im Herzen und im Mark der kleinen Männer geheimnisvolle Dinge ereignen; in dem ein regnerischer Abend, der die Luft zum Knistern bringt, ein blutendes Knie oder eine erzählte Geschichte einen fatalen Einfluss auf Muskeln und Drüsen haben kann; in dem die Kinder sich vom Zufall leiten lassen – in diesem Alter wurde er auf den Weg der Leidenschaft geführt, dort gehalten, und schon neigte sich sein Herz zur Liebe und zum Schmerz wie durstige Lippen zu einem Trank, den sie noch nie gekostet haben, dessen Geschmack sie aber erahnen. Er war noch nicht in die Phase eingetreten, die Mütter als das undankbare Alter bezeichnen (wobei sie nicht wagen, diesem Wort den Sinn zu verleihen, an den sie insgeheim denken); für ihn zog der Morgen herauf, wenn an den verborgenen Regionen des Körpers die ersten Haare sprießen, die letzten Nerven reifen.

Während dieser unsichtbaren Verwandlung verändert die Welt nicht ihre Farbe, sondern ihr Licht. Die Dinge bleiben, was sie sind, aber ein Feuer, das alles ringsum beleuchtet, bemächtigt sich des Körpers und des Geistes. Georget Delombre loderte schon wie ein brennender Dornbusch, aber dieses Haus war der Dunkelheit geweiht. In diesem Alter erscheint einem die Umgebung meist trüb und leblos. Die Familie ist eine allzu vertraute Insel inmitten einer Welt, die man sich verwunschen vorstellt. Bücher und bunte Illustrierte erzählen eindrücklich vom ersehnten Abenteuer. Jede Generation von Kindern hat Bilderbücher, welche die Vorgängergeneration für sie geschrieben hat. Die Kriegskinder lernten die Welt anhand von schlammbraunen Zeitschriften kennen, in denen die Schützengräben in ihrer düsteren und verregneten Hoffnungslosigkeit abfotografiert waren, und anhand von Illustrierten, in denen Grün (für die Uniformen der Boches) und Rot (für das Blut aller) vorherrschten.

Seit Hauptmann Delombre gestorben war, interessierte sich die Witwe nicht mehr für den Krieg, aber die Flut der Zeitungen war so stark – in diesen Zeiten, in denen es galt, den Schmerz all derer zu betäuben, die nicht selbst im Fleische litten –, dass er bei ihr ankam. Der Esszimmertisch war stets übersät mit Artikeln, die vor ermordeten Männern, gemarterten Frauen, patriotischen elsässischen Hauben und gefällten Bäumen nur so strotzten.

Die Kinder kannten die gebräuchlichsten Wörter nicht, waren aber mit der Bedeutung von Vokabeln wie Vandale, Massaker und Hekatombe vertraut, von denen die Journalisten ständig Gebrauch machten. Der kleine Georges lernte wie alle anderen das Lesen mit diesen abscheulichen Blättern und, wenn er die letzte Seite von J’ai vu oder L’Illustration umgeblättert hatte, wo es beispielsweise um einen »Priester beim Lesen der Messe getötet« ging, übermannte ihn die Angst und er suchte Zuflucht in den Armen seiner Mutter. Wenn er derlei in den Abendstunden las, musste er unbedingt bei ihr schlafen, und sie fühlte lange seinen heißen Atem auf ihrer Wange und seinen fiebrigen Arm auf ihrer Brust.

Da sie von ihrer unterdrückten Leidenschaft geblendet war, beunruhigte es sie nicht, dass sich an ihrer Seite eine derart ausgeprägte und hungrige Empfindsamkeit entwickelte. Der Junge verbrachte lange Nachmittage auf dem Dachboden, wo er sich aus alten Stoffen Kostüme fertigte oder in der Bibliothek stöberte. Sie saß im Erdgeschoss und nähte, und jede Viertelstunde rief er: »Mam, bist du da?«

Sie antwortete »Ja«, und er setzte sein einsames Spiel fort. Wenn sie nicht sofort antwortete, stürmte er die Treppe hinunter, mit weit aufgerissenen Augen, blassen Lippen, zu Tode erschrocken, weil er sich für einen Augenblick allein im Haus geglaubt hatte, und hing dann ein paar Tage an den Rockschößen seiner Mutter und wollte keinen einzigen Einkauf für sie erledigen. Es dauerte oft eine Woche, bis eine Sekunde der Angst verflogen war, und wenn die Frau auf den Speicher stieg, sah sie irgendein seltsames Buch offen daliegen oder verstreute Fetzen von Seide und alter Spitze auf dem Boden.

An bestimmten Winterabenden, an denen man meinte, die Köpfe blutiger Gespenster, die der Nordwind herangeweht hatte, gegen die Fensterläden schlagen zu hören, spielte sich rund um die kleine Lampe ein wahres Drama ab. Das Kind hatte die Schule um vier Uhr verlassen, die Nacht war bereits hereingebrochen. Der Mistral wirbelte donnernd um den Platz und es gelang dem Kleinen nicht, seine Pelerine über der Brust festzuhalten. Er fand ein schreckliches Vergnügen darin, sich selbst Angst zu machen. Im Schatten erkannte er unter den anderen Lichtern das grüne Licht seines Hauses, dann schloss er die Augen, um sich vom Wind forttragen zu lassen. Der Schatten füllte sich mit eisigen Händen, die ihn wiegten, und die großen Orgeln des Windes sangen im Chor.

Er hörte den Erlkönig, war aber nicht in den Armen seines Vaters, und weil man ihm in seiner frühen Kindheit diese wunderbare Sage vorgesungen hatte – Hauptmann Delombre war mit einer famosen Baritonstimme gesegnet, in seinen letzten Lebensjahren zwar durchaus heiser vom übermäßigen Aperitifgenuss, aber noch immer angenehm –, hatte er sich ihre geheimnisvolle Magie im Herzen bewahrt.

Wenn sie nach vier Uhr in Dreiergruppen das Klassenzimmer fegten, verdoppelten sich sein Vergnügen und sein Schrecken, denn so war der Schatten noch dichter und leichter zu bevölkern, wenn er das Schulhaus verließ. Er liebte das Gefühl, wenn ihm ein Blatt über das Gesicht streifte, wenn ihm ein Hauch Mistral in die Hosenbeine fuhr. Solange er mitten auf dem weiten, leeren Platz stand, den Schatten ausgeliefert, im verwunschenen Königreich, hatte er keine Angst, doch sobald er in die Nähe der Tür kam, rief ihn das Licht in die Wirklichkeit zurück und er stürzte zähneklappernd in den Flur, wie von Gespenstern gejagt.

Seine Mutter fand es nur natürlich, dass ihr Kind sensibel und leicht erregbar war: »Ein schwieriges Alter«, sagte sie, und sie hatte sicher recht.

Den ganzen Tag wartete er auf diese Überquerung des Platzes, des schwarzen Flusses, in dem er stets glaubte versinken zu müssen, und weil in der letzten Stunde Geographieunterricht war, fand eine rätselhafte Vorbereitung des Zaubers statt, wenn die Namen fremder Länder genannt, die Bilder magischer Orte gezeigt wurden. Wenn er wieder zu Hause war, glänzten seine Augen nur ein wenig mehr als üblich, aber er sträubte sich, ein Buch aus dem dunklen Wohnzimmer zu holen. Er wollte der Dunkelheit eine bedeutendere Rolle geben als die, einen Korbsessel von einem Tisch mit einer Schale voller Wachsfrüchte zu scheiden. Für ihn war der Schatten ein geheimnisvolles Land voller verwunschener Wesen, die ihn unmerklich liebkosten und sein Haar zausten.

Zu Beginn der Mahlzeiten setzte er sich artig seiner Mutter gegenüber, zum Schluss aber schmiegte er sich jedes Mal in ihre Arme.

Nach dem Abendessen verbrachten sie die letzten Stunden des Tages gemeinsam im Schein der Lampe. Sie blieben zu zweit, oder ein paar Nachbarn kamen vorbei und brachten für einen Augenblick die geballte Kälte des Platzes herein, die sich aber schnell in der Wärme des Ofens und im feinen Duft von Kaffee auflöste. Sobald es an der Tür klopfte, sagte Madame Delombre zu Georges: »Geh aufmachen.«

Und wenn alle Gäste da waren, warf sie eine Schaufel Kohle in den Ofen, als wollte sie ihnen in diesen Zeiten, in denen die Kohle knapp war, ein materielles Willkommen bereiten. Da standen Madame Gardet und ihre Töchter – zwei große, lächerlich herausgeputzte Klappergestelle, die die jungen Männer im Dorf loches nannten (loche ist ein im Comtat verwendeter Name für ein bärtiges Fischlein). Zuerst tröstete Madame Gardet ihre Gastgeberin, weil der Hauptmann gefallen war, und dann ließ sie sich über die allgemein verbreitete Idee aus, die ihr bereits am Tag nach der Mobilisierung gekommen war: Die Verwandten der Toten dürfen bis zum Ende die Hoffnung nicht aufgeben. Viele Totgeglaubte sind gar nicht tot. Sie können ihren Lieben nur aufgrund der Umstände kein Lebenszeichen geben. Schließlich fügte sie hinzu: »Sie werden sehen, Madame Delombre. Es wird Überraschungen geben – Überraschungen!«

Dann sprach sie über die Kriegspatenschaften der Fräulein, junge Männer, die sie noch nie gesehen hatte, aber als ausgesprochen reizend darstellte. Der eine, der bei Ausbruch des Kriegs in Rennes studiert hatte, war sicher ein vornehmer junger Mann; den anderen, der in Wirklichkeit einfacher Automechaniker in einer Werkstatt in Toulouse war, beförderte sie zum Elektroingenieur.

Diese abscheuliche kleine Szene hätte sich allem Anschein nach im Land der Romanhelden abspielen können, wenn das Kind, das über seinem Baukasten eingeschlafen war, und die Mutter, die ihren Kaffee mit Sacharin trank, nicht von Leben gezeugt hätten. Das Blut jagte in ihren Venen dahin wie ein gehetztes Tier über die Pfade des Waldes. Dieser dunkle Wald, der Körper – allen verschlossen hinter seinem Saum aus Haut, nur von der Liebe durchdrungen und erhellt.

Als es Zeit wurde zu gehen – ein Moment, den man schon lange im Voraus mit einem leichten Unbehagen herannahen spürt, wenn man drinnen im Warmen sitzt und sich bald in diese mistralstarre Landschaft hinausbewegen muss –, wurde der Junge geweckt, um den Damen Auf Wiedersehen zu sagen, und seine Wange, die länger auf seinem angewinkelten Arm gelegen hatte, war rot und heiß. Die Fräulein Gardet küssten ihn auf ebendiese. Er war zu schlaftrunken, um ihnen auch die andere Wange hinzuhalten.

Er sabberte ein wenig, und seine Augen waren glasig. Seine Mutter bemerkte, dass er wie ein Mann nach dem Liebesakt aussah. In seinem Gesichtsausdruck vermischten sich alle Zeichen der Wonne mit einem unsäglichen Schmerz. Als die Damen gegangen waren, wurde die Katze unter dem Spülbecken eingesperrt, denn eines Tages hatte eine andere Katze, die mit ihren langen Angorahaaren dem glühenden Ofen zu nahe gekommen war, Feuer gefangen und war daraufhin vor Schmerz aufgesprungen und hätte beinahe die Vorhänge in Brand gesetzt. Seit diesem Missgeschick schliefen alle Katzen im Hause Delombre weit weg vom Feuer.

Der Junge wankte wie ein Schlafwandler, halb wach, halb schlafend, die Treppe hoch, und nachdem er unter beiden Betten nachgesehen hatte – das war ein weiterer Brauch im Hause Delombre, wobei sein Anfang sich in der Vergangenheit verlor –, setzte er den unterbrochenen Schlaf unter seiner Decke fort, zuvor lief ihm jedoch noch einmal ein Schauer den Rücken hinunter, denn unter seinem Bett hockte ein geheimnisvolles Wesen … lauerte ihm auf.