Meinem Vater,
für all die Bücher, die du mir gekauft hast

Schon wieder heult der Wind, und halb versteckt,
Unterm Schirm der Wiege zugedeckt,
Schläft mein Kind weiter. Eine Stund’
Schritt betend ich für dieses kleine Kind,
Hörte kreischen um den Turm vom Meer den Wind;
Sah vor mir in erhitzter Wahnidee,
Die Zukunft nun gekommen sei,
Tanzend zu Trommelraserei,
Aus der unschuldig-mörderischen See.

(Nach William Butler Yeats)

Erstes Buch:
Zusammenbrauen

HONUFA

Chittagong, Ostpakistan (Bangladesch)

November 1970

In seinen Träumen sind ihre Augen immer grün. Das Grün der Grashüpfer, Blätter, Smaragde. Ein dunkelgeflecktes Grün, das ihn an zersprungene Jade erinnert.

Heute weiß er, dass Honufas Augen eigentlich grau waren. Das Grau der Katzen und sonnenlosen Morgen. Das Grau der sich windenden See.

An diesem brandungsgrollenden Morgen öffnet sie ihre grauen Augen erst spät. Der Lehmboden in ihrer Hütte ist gesprenkelt vom Licht.

Honufa richtet sich auf. Auf dem Fensterbrett sitzt eine kohlschwarze Glanzkrähe mit ausgebreiteten Flügeln. Der krumme Schnabel ist halb geöffnet, wie zum Schrei. Die Onyxaugen starren sie unverwandt an.

Der Vogel rührt sich nicht, während sie vorsichtig das Bett verlässt und mit langsamem, gemessenem Schritt auf ihn zugeht, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Erst als sie die Hand ausstreckt, um den Kopf zu berühren, flattert die Krähe davon. Ihr lautes Abschiedsgekrächz erschüttert die enge Hütte.

Wie ein Kind spuckt sich Honufa auf die Brust, um den rasenden Herzschlag zu beruhigen. Eine dunkle Ahnung beschleicht sie wie ein hungriges, lautloses Raubtier.

Die Hartholzpritsche, auf der sie schlafen, hat ihr Vater gebaut, ihr vermacht als widerwillige Abschiedsgabe zu ihrer Heirat mit Jamir, vor vielen Jahren. Im Moment liegt nur ihr dreijähriger Sohn darauf, warm und voller Träume. Die Seite, auf der sich sonst Jamir ausstreckt, ist leer. Es ist das erste Mal, dass er ohne Abschied aufs Meer gefahren ist, mitten hinein in den Golf, für wie lang auch immer.

Sie benetzt ihr Gesicht mit Wasser aus einem Tonkrug und beginnt mit dem Haushalt – wäscht einen Stapel Kleidung, wirft die Gräten der gestrigen Mahlzeiten der verschlafenen Katze zu, die gern am Herd liegt, und geht dann im nahen Wald Feuerholz sammeln, liest verstreute Äste vom Boden auf. Am Ufer eines Weihers, der sie wie die Krähe schwarz anzustarren scheint, rupft sie Löwenzahnblätter für das Mittagessen.

Noch ist die Dämmerung nicht zum Morgen herangewachsen, aber das fahlblaue Leuchten, das die Welt durchtränkt, weicht langsam dem Violett, dem Orange und schließlich der Nichtfarbe des reinen Sonnenlichts.

Im Bett regt sich ihr Sohn, während Honufa die mit Jutestricken verschnürten Güter des Morgens auf ihrem Kopf zur Hütte trägt.

Drei Jahrzehnte harten Lebens haben ihr die Weichheit aus dem Gesicht geschliffen, die Falten um ihre Augen tief eingegraben, die Lippen schmaler werden lassen und dem Kiefer etwas Kantiges verliehen: Schön ist Honufa nicht, doch sie ist stark, und mit fast einem Meter siebzig überragt sie alle anderen Frauen des Küstendorfs, das sie ihr Zuhause nennt. Ihre Schultern sind breit, ihre Hände schwielig von den vielen Tauen und Netzen, die sie gezogen und gefaltet hat über die Jahre, und von den Bergen von Kokosnüssen, die sie geschält hat.

Die Länge der Baumschatten und der Stand der Sonne weisen ihr die Stunde, sagen ihr, dass es nun Zeit ist, den Dorfbrunnen aufzusuchen, um Wasser zu schöpfen, ganz für sich allein, womit sie sich längst abgefunden hat. Lange hatte sie die Hoffnung gehabt, die Last der prüfenden Blicke, den Stachel der Urteile allmählich leichter ertragen zu können, doch sie erfüllte sich nicht.

Unterwegs bleibt sie stehen. Zu einer Stunde, an der der Strand sonst wie ausgestorben ist, brodelt er jetzt vor Betriebsamkeit. Das ganze Dorf ist hier versammelt, der graue Sand von über hundert Füßen zu Gipfeln und Tälern zerwühlt. Männer und Frauen, sehnig, von der Sonne gebräunt, ziehen Boote an Land und knoten sie fest an die Bäume, holen Netze ein und falten sie. Kinder schleppen in röhrenförmigen Fallen gefangene Fische fort. Jeder packt an, wo es nötig ist, der Anlass tilgt die Grenzen des Alters, Geschlechts und Körperbaus.

Ein Sturm zieht auf.

Sie wendet den Kopf von Ost nach West nach Süd, den Hauptrichtungen, aus denen ein Sturm zu nahen pflegt, doch noch nichts ist zu erkennen: Ruhig hängt das Stroh von den Dächern der Hütten, die Sonne brennt hell vom wolkenlosen Himmel, aber im Dorf herrscht lautes Gewimmel.

Honufas Blick sucht die Menge nach einem freundlichen Gesicht ab oder wenigstens einem Augenpaar, das sich nicht abwendet.

Sie entdeckt Rina, wie sie Netze faltet inmitten einer größeren Gruppe von Frauen und gerade ein besonders Großes mit der selbstverständlichen Leichtigkeit aufrollt, die jahrelange Übung mit sich bringt. Honufa ergreift das andere Ende des Netzes und tut es der Älteren nach, bis sich beide in der Mitte begegnen.

»Ein Sturm?«

Rina nickt. Neben Honufa wirkt sie winzig und drahtig, wie ein Streifen Fleisch, den man in die Sonne gelegt hat.

»Woher wissen sie das?«

»Sie haben heute Morgen den Schiffer gesehen.«

Das Netz fällt Honufa aus den Händen.

Sie eilt nach Hause. Dieser Sturm ist nicht der erste, für den sie sich rüsten muss. Während ihr Sohn, nun erwacht, damit beschäftigt ist, die Hühner im Hof zu jagen und zu necken, wickelt Honufa die losen Enden ihres Saris fester und geht ans Werk.

Die Zahl ihrer Besitztümer ist überschaubar, sie hat alles binnen Minuten zusammengesucht. Auf eine der beiden großen bestickten Kantha-Bettdecken, die sie über den Boden breitet, stellt sie die Kochutensilien – ein Boti (die Klinge umwickelt) zum Schneiden, ein Nora zum Mahlen, Töpfe und Pfannen, die schon Unmengen von Reis, Linsen, Fisch und Spinat gekocht haben. Auf der zweiten Kantha häuft sie ihr Bettzeug und ihre Kleidung, noch feucht von der morgendlichen Wäsche. In einen groben Jutesack kommen die trockenen Esswaren.

Sie tritt ins Freie. Die Hühner, eins schwarz-weiß gepunktet, das andere ockerfarben, sind von besonderer Schönheit. Doch sie kennen auch ihre Pflicht, legen täglich ein Ei in irgendeinem Winkel des Hauses und bereiten so ihrem Sohn den Spaß einer Schatzsuche, bei der er am Ende einen Preis – die Schale noch weich und warm vom Körper der Henne – in seinen Händen hält.

Sie blickt auf die Tiere und seufzt. Dass ihr Sohn sie so liebt, macht das, was jetzt kommen muss, schwer.

Sie ergreift ein Messer und beginnt es am Stein zu wetzen.

Als Rina eintrifft, gräbt sie gerade im Hof ein Loch, das bereits mehr als einen halben Meter tief ist. Die Ältere holt einen zweiten Spaten aus dem Kuhstall und beginnt mitzuschaufeln, verfällt dabei in den wortlosen Rhythmus der Arbeit. So wächst das Loch rasch.

Einen Moment lang stehen die beiden Frauen schwitzend, schwer atmend beieinander und bewundern ihr Werk.

»Glaubst du wirklich, dass ein Sturm aufzieht?«

»Der Schiffer hat sich noch nie geirrt.«

Dreimal im Laufe eines Vierteljahrhunderts hat man den einsamen Schiffer gesehen, wie er unter schwarzen Segeln in der Bucht gekreuzt ist, stets Richtung Süden, und dabei den Menschen am Strand oder auf den schroffen grünen Hügeln den Rücken zugekehrt hat.

Jedes Mal wenn er erschien, folgte ein gewaltiger Sturm.

»Wer, glaubst du, ist er?«

Rina sieht sie bedeutungsvoll an. »Jeder denkt sich das Seine. Ich weiß nur, dass es kein Mensch ist, der unter diesen schwarzen Segeln steht.«

Dieses Bild lässt Honufa erschaudern.

»Wo steckt dein Sohn?«, fragt Rina.

»Drinnen. Er hat einen Wutanfall gehabt. Er hat das, was getan werden musste, nicht gut verkraftet.«

»Dann ist er auf dem besten Wege, ein Mann zu werden.«

Honufa lächelt. In ihrem kleinen Sohn sieht sie mehr von der ruhigen Kraft und dem weichen Herzen ihres Manns als von ihrem eigenen Temperament, ihrem unbezähmbaren Willen. Vielleicht ist das gut so.

Ihr Sohn trägt einen großen Namen, gewählt aus einem Buch, das ihr der Zamindar des Dorfes vorlas, als sie selbst noch ein Kind war. In diesem Buch steckt eine Geschichte in der anderen, wie einander zugewandte Spiegel, endlos vervielfältigt, sodass man sich in ihnen heillos verirrt.

Die Frauen senken die Säcke ins Loch (mitsamt den Hühnern, geschlachtet, gerupft und in tönerne Töpfe gestopft) und setzen zur Markierung einen langen Pfahl in die Mitte, bevor sie die Erde zurückschaufeln. Mit den Rückseiten der Schaufeln klopfen sie dann das Erdreich flach.

Sie bittet Rina in ihr nun kahles Haus. Ihr Sohn sitzt auf der Liege mit Spuren von Tränen im staubigen Gesicht. Er rennt zu Rina, die ihn in die offenen Arme schließt und dann auf die Hüfte hebt.

Sie kitzelt ihn. »Hat da jemand geweint?«

Er richtet einen anklagenden Finger auf die Mutter. »Sie hat die Hühner getötet.«

»Waren sie deine Freunde?«

»Ja.«

»Wenn sie das nicht getan hätte, hätte der Sturm sie sich geschnappt, und du hättest sie so auch nie wiedergesehen.«

Während Rina mit dem Kind beschäftigt ist, geht Honufa zur hinteren Wand ihrer Hütte, verwünscht sich dafür, an dieses Entscheidende nicht eher gedacht zu haben. Sie langt nach oben, auf Zehenspitzen, und betastet mit blinder Hand die Stelle, wo ein Brief liegen muss. Doch sie findet nichts. Mit rasendem Herzen wühlt sie jetzt in Staub und Lehm, schiebt das Bett an die Wand und steigt darauf, um genau nachzusehen. Aber der Brief, den sie vor über zwei Monaten sorgsam und heimlich dort untergebracht hat und den sie mit zwanghafter Hingabe jedes Mal wieder befühlt hat, kaum dass ihr Ehemann aus dem Haus war, ist verschwunden.

Sie klettert vom Bett und merkt, dass Rina sie anstarrt.

»Was ist los mit dir?«

Trotz ihres aschfahlen Gesichts, der dünnen, dürren Stimme gelingt es ihrer Kehle, eine Lüge hervorzubringen. »Ein Paar goldene Ohrringe. Ein Geschenk von Jamirs Mutter. Sie sind weg.«

»Ach, das ist schlimm, Kind.«

Sie kann nur nicken, ihr Kopf ist in Aufruhr. Sie denkt an Jamir, der irgendwo auf dem riesigen Ozean treibt. So viele Geschichten vom Meer hat er ihr erzählt, von den großartigen Fischen, die er fangen wollte, von den Kämpfen und der Trunkenheit der Seeleute und von der unendlichen Fläche des Wassers, auf der nur sonnengefleckte Wellen wohnen. Erzählungen, die in ihr immer wieder den Wunsch erweckten, als Mann geboren zu sein, frei von der Last der Häuslichkeit.

Jetzt ist wieder ein solcher Moment.

Einmal ist er mit ihr zu einer kleinen Insel in der Bucht gerudert, um ihr hübschen Schmuck aus Muscheln und Steinen zu kaufen. Der Wind an jenem Tag war beängstigend stark gewesen, doch das Boot blieb ruhig, beschwert von ihnen und von Sandsäcken. Das ist Ballast, hatte Jamir gesagt, lächelnd und mit vom Wind zerzausten Haaren. Das Gewicht gibt dir Sicherheit.

Auf diese Weise haben ihr Mann und ihr Sohn sie selbst im Leben verankert. Mit ihnen an Bord bringt ihr Boot nichts zum Kentern.

Sie setzt sich neben Rina. »Ich mache mir Sorgen um ihn.«

»Wieso? Er ist doch schon so oft da draußen gewesen. Er fährt auf einem Trawler, und die sind riesig. Die gehen nicht unter wie unsere armseligen Bötchen. Und sie haben Bordfunk. Wahrscheinlich hat er schon vor uns vom Sturm erfahren und ist längst auf dem Weg zurück.«

Honufa schüttelt den Kopf. Rina weiß von nichts. Wie sollte sie auch? Die Gefahr, die von dem Brief ausgeht, den Jamir jetzt wohl bei sich trägt, übersteigt die jedes Sturms.

»Vergiss mein dummes Geschwätz. Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Noch ein paar Stunden, wie es aussieht. Der Zamindar bietet den Leuten Zuflucht in seinem Haus. Dieser Rahim ist ein guter Mensch.«

»Das ist er«, sagt Honufa, ohne weiter darauf einzugehen – sie erinnert sich an die Nachmittage, die sie als Kind in seinem Landhaus verbracht hat, wo sie über den Buchstaben des Alphabets brütete, über jedem einzelnen, während seine Frau ihnen Kekse und Tee servierte. Es dauerte nicht lange, da wuchsen die Buchstaben zu Wörtern heran, die Wörter zu Sätzen, und bald schon galoppierten ihre Augen über die Seiten, durch Kapitel und ganze Bücher. Sie war, so hatte der Zamindar einmal behauptet, wissbegieriger, als er es bei einem Kind je für möglich gehalten hätte.

Rina verzieht das Gesicht. »Manchmal vergesse ich, dass ihr beide euch nicht versteht.«

»Er ist ein reicher Grundbesitzer. Und wir eine arme Fischersfamilie. Alles, was sich früher einmal zwischen uns an Freundschaft entwickelt hat, kommt mir heute vor wie ein Traum. Aber irgendwann müssen wir alle aufwachen.«

Rina schnaubt, zieht die Stirn in Falten und blickt sich in der Hütte um. »Bist du dann fertig mit deinen Vorbereitungen, Honufa? Gibt es noch etwas, worum du dich kümmern musst vor dem Sturm?«

»Nur um unsere Zicke, die grast noch in den Hügeln. Ich habe gewartet, bis du kommst, damit du so lange auf meinen Jungen aufpassen kannst.«

»Gut, aber dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Kind. Was, wenn du aufgehalten wirst?«

»Könntest du meinen Sohn notfalls selbst wegbringen?«

Rina hört das Unausgesprochene heraus. »Und was ist mit dir?«

»Ich finde euch schon, sucht ihr mit den anderen Schutz. Wenn ein Sturm kommt, muss man die Verbitterung mal ignorieren.«

»Rahim ist ein gütiger Mann. Es ist jetzt Jahre her, Honufa. Warum verträgst du dich nicht wieder mit ihm? Das ist nicht so schwer, wie du glaubst.«

»Dafür ist es zu spät.« Honufa schüttelt den Kopf, denkt an den Brief, der nun nicht mehr in ihrem Besitz ist. Sie war es, die vor vielen Jahren das Boot abgestoßen hat, und mittlerweile haben die Strömungen der Zeit und der Umstände den Zamindar Rahim und sie weit auseinandergetragen.

Die Augen ihrer Freundin trüben sich vor Enttäuschung. »Du musst es wissen, aber deine Familie braucht in diesem Dorf mehr Freunde als nur mich.«

Honufa nickt und geht in eine Ecke der Hütte, um das Einzige zu holen, was sie noch nicht vergraben hat. »Solltest du doch ohne mich zum Haus des Zamindars gehen, nimm bitte das hier mit.«

Die Ältere hebt den Stoffbeutel, um sein Gewicht zu prüfen. »Was ist das?«

Honufa zögert, bevor sie ihn öffnet und Rina die beiden Gegenstände darin zeigt. Sie sehen anders aus als alles, was Rina je zuvor gesehen hat. Mit großen Augen blickt sie Honufa an, die leise seufzt. »Ich erklär es dir, wenn wir uns wiedersehen.«

Minuten später erklimmt sie einen Hügel durch ein wildes Gewirr aus Jambulbäumen, Königsblumen, Bambus und Toonas, umgürtet von dichtem Unterholz. In einer unsteten Brise zieht ihr die feuchte Luft des Waldbodens in die Nase. Um sie herum rascheln irgendwelche Lebewesen, über ihr rufen und wirbeln Milane. Ihre Füße stapfen voran auf dem schmalen Pfad, der sie an den Scheitel einer Hindufrau erinnert: Die rote Erde gleicht dem Zinnober, der sie als verheiratet ausweist. Vielleicht hätte ihr Haar genauso ausgesehen, hätte ihr Schicksal sich anders gefügt.

Nach einer Stunde erreicht sie den Gipfel. Die Ziege ist noch da, wo sie sie am Vortag gelassen hat, mit einem Seil an einen tief in die Erde getriebenen Pflock gebunden. Sie bedenkt sie mit einem schlitzäugigen Blick und setzt ihr Wiederkäuen fort.

Stöhnend reißt Honufa den Pflock aus dem Boden, bindet die Ziege los und klopft ihr aufs Hinterteil, bis das Tier blökend davonzottelt. Es kennt den Heimweg und wird geschwind hinabsteigen, sein behufter Schritt ist auf dem Hang sicherer als ihrer.

Bevor sie ihm folgt, bleibt sie kurz stehen, um den Himmel zu mustern. Er ist klar, bis auf ein paar Federwolken, geformt wie Halme wilden Zuckerrohrs. In der Ferne treiben gemächlich weitere weiße Wolken vorbei.

Könnte der Schiffer sich diesmal geirrt haben?

Sie hält auf einen nahen Fichtenhag zu. In seiner Mitte befindet sich ein kleines Grab, rechteckig und unbezeichnet, umzäunt von Bambusstreifen, die in der Seeluft längst zerfallen sind.

Bis auf das Zischen der bewegten Äste über dem Grab herrscht völlige Stille. Sie steht ruhig. Überwältigt wie immer. Sie, der Eindringling, ruht in der Schönheit ihrer Umgebung.

Achtzehn Jahre. Inzwischen wärst du ein ausgewachsener Mann, Kind.

Seit ihrem letzten Besuch sind auf dem Grab Zephyrlilien gewachsen. Sie schimmern im Wind. Sie pflückt drei von ihnen vorsichtig ab und flüstert einen Abschied.

Nahe dem namenlosen Grab liegt ein verlassener Tempel. Junge Pappelfeigen sitzen darauf wie hölzerne Hörnchen, umklammern mit ihren Wurzeln das verwitterte Gestein.

Mit den Blumengaben in der Hand steht Honufa vor dem Eingang. Drinnen lockt die Finsternis. Sie hört das Getrappel flinker Füße, das Geschnatter des Ungeziefers. Doch sie weiß, wer in Wahrheit darin wartet.

Dann nimmt sie all ihren Mut zusammen. Im Bewusstsein, gleich ihren Glauben zu verraten, schließt sie die Augen, stützt sich mit der Hand auf den kühlen Mörtel des Tempels und tritt ein.

Sofort scheint sie in einen See der Dunkelheit und des Schweigens getaucht zu sein, an einem aus der Zeit gefallenen Ort. Sie steht da und wartet, dass ihre Pupillen sich weiten. Die Kälte des Steinbodens durchdringt ihre schwieligen Sohlen.

Der Tempel ist jeweils zehn Schritte in jede Richtung lang. Am hinteren Ende, schwach erleuchtet durch das löchrige Dach, steht eine schrecklich schöne Frau. Sie ist groß, mit Mitternachtshaut, trägt einen Kranz aus abgeschlagenen Köpfen und einen Rock aus Gliedmaßen. Ihre Zunge hängt ihr herab bis ans Kinn und weist auf den besiegten Dämon, den sie unter den Füßen zertrampelt.

Honufa kniet vor Kali – der Schwarzen. Der Überzeitlichen. Der Zerstörerin.

Sie legt das mitgebrachte Blumenopfer vor der Göttin nieder. Sie betet zu ihr, überhört die innere Stimme, die sie daran erinnert, dass ihr neuer Gott eifersüchtig ist, dass dieser Akt Schirk ist, das Unverzeihlichste, was ein Muslim überhaupt begehen kann – etwas anderes auf dieselbe Stufe zu stellen wie Gott, den Größten. Aber wie ein fieberglühendes Kind, das zur Mutter drängt, kann auch Honufa nicht anders.

Als sie klein war, erzählte ihr Vater die Geschichte vom Ursprung der Göttin, wie sie ihm einst ein Brahmane offenbart hatte. Aufgeregt bettelte sie fortan ständig, ihr die Legende wieder und wieder zu erzählen, und sogar jetzt, so viele Jahre nachdem ihre Familie sich von ihr losgesagt hat, erinnert sie sich noch an jedes Wort:

Es gab eine Zeit, da zitterten sämtliche dreihundertdreißig Millionen Götter und Göttinnen vor dem Angriff einer Dämonenarmee, angeführt von General Raktabij – Blutsaat –, dessen Blut, über dem Boden vergossen, weitere Tausend seinesgleichen gebären würde. Um die Dämonenarmee zu bekämpfen, riefen die Götter die Göttin Durga an, die viele Dämonen niederstreckte. Doch als sie schließlich deren General gegenüberstand, sprossen aus jedem Blutstrahl, den ihr Speer hervorbrachte, tatsächlich unzählige Klone des Dämons, und auf dem Schlachtfeld schwirrte es bald von zahllosen Dämonen. In ihrer Raserei blickte die Göttin finster und böse, bis zwischen ihren Brauen ein strudelnder kosmischer Zauberkessel wuchs, aus dem ein neues Wesen entsprang.

Kali.

Unter Kalis Wüten zerfiel die Dämonenarmee, schwand unter ihren vier schwertschwingenden Armen, einer rasenden Wolke aus Blut und Stahl. Schließlich stand sie nur noch Raktabij gegenüber, dessen Blut die Dunkle Göttin mit ihrer Zunge auffing, noch bevor es den Boden erreichte. Ihre mächtigen Hiebe trieben ihn Schritt um Schritt zurück, bis er schließlich so geschwächt war, dass sie ihn an ihr riesiges bereißzahntes Maul führen und gänzlich leertrinken konnte.

Bluttrunken und siegreich stieß Kali ein Grollen aus, das die Himmel erschaudern ließ, und hob an zu einem Tanz der Zerstörung, der die Fundamente des Weltalls erschütterte, bis es die Götter und Göttinnen erneut mit der Angst bekamen und Shiva, Kalis Gemahl, darum baten, einzuschreiten. So warf er sich vor der rasenden Geliebten zu Boden, deren Rausch beim Anblick des ihr zu Füßen liegenden Gemahls schließlich verebbte.

Honufa schließt die Augen und betet, nicht für sich selbst, sondern für ihren Ehemann, Jamir, für ihre Söhne, den lebenden und den toten. Sie betet, bis die Welt verblasst.

Als sie die Augen aufschlägt, weiß sie nicht, wie viel Zeit inzwischen verstrichen ist. Sie tritt hinaus. Etwas stimmt nicht, denn die Welt ist mittlerweile fast genauso finster wie das Innere des Tempels. Das Gurren der Vögel ist verstummt, nun herrscht eine mürrische Stille.

Beim Anblick des Horizonts ringt sie nach Luft. Eisengraue Wolken nähern sich auf lilaweißen Blitzfüßen dem Ufer.

Sie verwünscht ihr törichtes Verweilen im Tempel, eilt den Hügel hinab, versucht verzweifelt, zu ihrem Sohn und Rina zurückzukehren, ein Auge stets auf den Himmel gerichtet, wo sich mittlerweile gewaltige, albtraumgraue Wolken türmen.

Als sie durch die lilagetönte Welt hastet, erhebt sich plötzlich ein Wind, der Regentropfen mit sich bringt, nicht mehr halbherzig, sondern wild entschlossen, beladen mit Erinnerungen an die bittere Kälte namenloser Länder.

Übersät von Schnitten und Kratzern der Äste, die ihr den Weg verstellen, die Füße geschunden und blutig von den Steinen, erreicht sie das Tal. Sie ist fast zu Hause, fast dort, wo sich die Erde der Hügel und der Sand der Küste treffen. Sie wickelt sich den Sari fest um die Taille und rennt los, auf das Meer zu, auf dem der Schaum brodelt.

Aber ihr Fuß verfängt sich in einem Dachsbau. Sie fällt. Der Boden eilt ihrem Gesicht entgegen. Ihr Kopf schlägt auf einen Stein, während ein heftiger Schmerz wie ein Blitz in ihren Knöchel fährt.

Einen Moment wie eine Ewigkeit lang träumt sie

Erinnert sich

Sie ist wieder ein Kind

Draußen in den Reisfeldern

In ihrer Hand ein Eimer, um Wasser zu holen

Sie ist sieben

Ein schwacher Laut erst ein Surren dann ein Brummen dann ein Dröhnen so laut dass es ihr nicht nur die Ohren sondern auch Nase Augen und Mund erfüllt sie schreit nach Vater Mutter Bruder doch der Lärm verschlingt alles verschlingt ihre Worte. Dort droben ist ein metallener Vogel sein silberner Bauch glänzt als hätte er einen Stern verschlungen auf seiner Flanke eine rote Sonne vor weißem Feld.

Sie öffnet den Mund zu einem Schrei gerade als am Himmel die Farben explodieren

Schmetterlinge

Die fallen

Und fallen und fallen

Auf ihr Gesicht

Und sie sieht, sie sind nur aus Papier

Das Klatschen des Regens auf ihre Stirn holt sie zurück in eine Welt, die dunkel ist wie die Nacht, in der der Wind kreischt und die tödliche Schärfe wirbelnden Sands in sich trägt. Sie befreit ihren Fuß aus dem Loch, berührt ihre Stirn und spürt einen schmerzhaften Knoten. Mühsam unterdrückt sie einen Schrei, als sie ihren rasch anschwellenden Knöchel belastet. Verzweifelt blickt sie sich um. Nirgends ein Ast, aus dem sie sich einen Gehstock basteln könnte.

Honufa ermisst das Dilemma, in das ihre Verletzung sie gestürzt hat. Ist Rina in Sicherheit im Haus des Zamindars, oder wartet sie noch in der Hütte auf sie? Für beide Wege hat Honufa weder die Zeit noch die Kraft. Das Haus des Zamindars liegt in der entgegengesetzten Richtung. Sollte sie nun erst zu ihrer Hütte gehen, während Rina und ihr Sohn aber bereits aufgebrochen sind, ist Honufas Schicksal besiegelt. Geht sie aber in die andere Richtung, während Rina und ihr Sohn noch auf sie warten, besiegelt sie das der beiden.

Die Sturmwolken hämmern Blitze in den Sand wie Silbernägel, blenden sie. Die See bäumt sich auf und stampft wie ein wildes Pferd. Der Regen trommelt jetzt so schnell und so fest, dass er ihr Striemen auf die Haut peitscht.

Die Erde stößt einen Urschrei aus, und der Sturm löscht Gott aus der Welt.

Sie schreit den Namen ihres Sohnes, wieder und wieder.

Und als die Antwort ausbleibt, fällt sie ihren Entschluss.

SHAHRYAR & ANNA

Washington, DC, USA

August 2004

Sie sind auf der Interstate 66, unterwegs nach McLean, zu Annas Haus. Vor einer Viertelstunde noch haben die Autos und Lkws in der frühabendlichen Hitze eine feste, flimmernde Masse gebildet. Jetzt aber werden im Rückspiegel die Pläne des Himmels enthüllt vom Aufgebot der sich zusammenbrauenden Wolken.

Shar verspürt einen seltsamen Kitzel, weil das Unwetter herangebraust kommt wie ein mit Wasser beladener Zug. Seine Wildheit erinnert ihn an zu Hause. Die ersten Tropfen zerschellen dick und schwer auf der Windschutzscheibe, trommeln mit beharrlichem Rhythmus aufs Auto. Die Scheibenwischer peitschen von einer Seite zur anderen, und die Bremslichter der Autos vor ihnen verschwimmen zu pastellfarbenen Flecken. Die Welt löst sich auf.

Anna sitzt auf der Rückbank des Wagens, den er heute Morgen gemietet hat, um mit ihr zu einem Jahrmarkt in Gaithersburg zu fahren, und ist vertieft in ihren Gameboy.

»Ganz schönes Unwetter, was, Anna?«

Als sie nicht antwortet, sagt er es noch mal.

»Ja, irgendwie schon. Regnet es in Bangladesch auch so?«

»Manchmal tagelang. Wir haben sogar eine Jahreszeit, die für ihre Stürme bekannt ist. Kal Baisakhi – der dunkle Frühling.«

Er denkt an seine Kindheit – die Fragmente, an die er sich noch erinnert: wie er fernsieht, die Nationalhymne mitflüsternd, die um acht vor den bengalischen Nachrichten gesendet wurde, und dann um zehn noch mal vor den englischen. Ohne Vorwarnung pflegte das Bild auf dem Schirm im Nichts zu versinken, bei jedem Stromausfall die Finsternis über sie hereinzubrechen. Rahim, Zahira und Rina stolperten dann in der Dunkelheit umher und riefen einander, bis jemand die langen, dünnen Kerzen in der Küchenschublade entdeckte und sie am Gasherd entzündete. So gingen sie hinaus in eine nur von Mond und Sternen erhellte Welt.

Er erinnert sich an die beiden großen Überschwemmungen in Dhaka, als Boote auf den Straßen kreuzten und das Wasser schon die halbe Höhe ihres Hauses erreichte. In diesem großen Haus wurde er morgens immer vom ruppigen Ruf der Krähen geweckt, die ihm in Amerika so fehlen, genau wie der Duft gebratener Parathas am Morgen, von Tee und süßem Gebäck, auf Servierwagen ins Schlafzimmer gerollt, während draußen der träge Winternebel das Eisen der Fenster benetzte. Es gab fliegende Schaben. Fette Motten, die gegen Sturmlaternen flatterten. Als Kind lief er gern hinaus in die plötzlichen Sommerstürme – in den dicken, festen Regen, der die Erde beschoss und riesige Pilze hinterließ.

Er hat Anna fetzenweise davon erzählt und jedes Mal dabei gespürt, wie das Lebensmächtige des Geschehens in der Schilderung fehlte – als wäre die Schönheit im Zuge der Übersetzung ausgetilgt worden. Es ließ ihn am Wert des Erlebten zweifeln.

Noch mehr nasses Schlittern auf der Schnellstraße, bevor sie weiterspricht. »Kommen wir gut nach Hause, Baba?«, fragt sie, verwendet das bengalische Wort für Vater, eines der wenigen Wörter, die sie in der Sprache kennt.

»Vielleicht mit ein bisschen Verspätung, aber ja.«

»Wie lange hast du noch?«

Das Unvermittelte der Frage erschreckt ihn, genau wie ihr unbeabsichtigt makabrer Ton. »Was meinst du?«

»Mom sagt, du kannst nur noch drei Monate hierbleiben.«

»So ungefähr, ja.«

»Und was tust du jetzt?«

»Bis dahin habe ich hier hoffentlich Arbeit gefunden, und dann müssen wir uns keine Gedanken mehr machen.«

»Kannst du denen nicht einfach sagen, dass du mein Dad bist und hierbleiben musst?«

»Wär schön, wenn es so einfach wäre, Schätzchen.« In letzter Zeit scheint ihn alles zu überrumpeln. Vor sechs Jahren, als Anna drei war, ist er mit einem Studentenvisum hierher zurückgekehrt. Er hat immer gewusst, dass er nach Abschluss seines Doktorats nur eine einjährige Arbeitsbewilligung erhalten würde, die kein endgültiges Bleiberecht bedeutete. Trotzdem erscheint es ihm jetzt, als raste er in einem Kahn auf einen Wasserfall zu, plötzlich von Panik ergriffen, nachdem er ihn so lange ungerührt hat kommen sehen.

Als sie auf die Ausfahrt einbiegen, wird der Regen dünner, der Himmel färbt sich lila wie ein Bluterguss. Der Wind schubst ihr Auto wie ein Schulhofschläger, der sie erinnert, dass sie sich nachher auf dem Spielplatz noch begegnen werden.

Über knirschenden Kies rollen sie die fichtengesäumte Auffahrt zu Annas Haus hinauf, und der Chevy Malibu wirkt vor der Fassade der Villa im französischen Kolonialstil ebenso fehl am Platz, wie Shar sich fühlt. Er wartet, atmet einmal tief durch und steigt aus.

Val wartet schon an der Tür in Yogahose und einem Oberteil, das ihr von der Schulter rutscht, die roten Locken sind mit einem Zopfband gebändigt.

Sie wuschelt Anna durch die Haare. »Na, Kleine? Hast du’s nett gehabt mit deinem Dad?«

»Wir haben Lakritze gegessen.« Anna umarmt ihre Mutter.

»Wie hat’s geschmeckt?«

»Eigentlich ziemlich eklig.«

Val lacht. Sie umarmt ihn mit unpersönlichster Wärme. »Und wie ging’s bei dir?«

Er lächelt. »Ich hab sie heil zurückgebracht.«

Anna drückt sich an ihnen vorbei. »Wo ist Jeremy?«

Aus dem Flur erschallt ein Bariton. »Hier, Zwerg!«

Anna stürzt mit einer Begeisterung hinein, die Shar enttäuscht.

»Hast du noch einen Augenblick zum Reden?«, fragt er Val.

Sie treten kurz vor die Tür. »Hast du zufällig Anna von meinen Visumsangelegenheiten erzählt?«

Val richtet ihren Blick auf einen Punkt oberhalb seiner Schulter. Die Krähenfüße um ihre Augen sind der einzige Hinweis darauf, dass er sie jetzt schon zehn Jahre kennt, und selbst die enthüllt sie nur, wenn sie lächelt.

»Irgendwas musste ich ihr erzählen. Sie hat wegen unserer Weihnachtspläne gefragt. Die Tatsache, dass du dann vielleicht nicht mehr hier sein wirst, kam mir da nicht ganz unwichtig vor.«

»Ich hätte es ihr lieber selbst erzählt. Oder du hättest mich zumindest vorwarnen können, dass du darüber mit ihr sprichst.«

»Und wann hätte ich das machen sollen?«

Er seufzt. »Ich weiß nicht.«

»Irgendwelche Fortschritte an der Arbeitsfront?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, aber ich finde schon was.«

»Na ja. Die Zeit wird langsam knapp.«

Später leistet er Anna Gesellschaft, während sie sich bettfertig macht, zählt die Sekunden, die seine Tochter sich die Zähne putzt (und hört bei 120 auf), überwacht ihr Hantieren mit der Zahnseide, wartet vor der Tür, bis sie sich den Schlafanzug angezogen und ihn hereingerufen hat.

Ihr Zimmer ist im ausgebauten Dachboden. Holzig und warm. Das Bett steht unter einer Schräge, die in heimeligem Winkel herabfällt. Das einzige, rautenförmige Fenster blickt hinaus auf das Unwetter; wie zu erwarten ist der Regen zurückkehrt. Äste der Vorgarteneiche wiegen sich gegen die Scheibe. Sanft und tief grollt der Donner.

»Ich hab was für dich«, sagt er, als sie sich unter ihre Decke vergräbt.

Er langt in den Rucksack, den er den ganzen Tag bei sich getragen hat, seine Finger angeln vorbei an den Gefrierbeuteln mit Apfelschnitzen und Käse-Fischlis, den kleinen Wasserflaschen und den anderen Spuren ihres gemeinsam verbrachten Tags. Das Buch, das er hervorzieht, hat einen Leineneinband von der Farbe eines Wolfspelzes, fransig an den Ecken. Der Titel ist in grellem Sozialistenrot geprägt. Auf Bengali steht da: Russische Volksmärchen.

»Das war mein Lieblingsbuch, als ich so alt war wie du. Ein Buch mit russischen Märchen, ins Bengalische übersetzt.«

Weil der Funke nicht überspringt, spürt er jenes vertraute Stolpern in seinem Inneren, die Empfindung, als Vater alles falsch zu machen.

»Möchtest du es dir nicht mal anschauen, Schätzchen?«

»Ich kann doch kein Bengali lesen.«

»Ich weiß. Meine Schuld. Aber ich kann’s dir übersetzen.«

Er beschließt, dass es leichter ist, um Verzeihung als um Erlaubnis zu bitten, und beginnt, von den russischen Helden zu lesen (die alle zwangsläufig Ivan heißen), von edlen, gefühlvollen Rössern, von Adlerfürsten, die sprechen können wie Menschen, von Baba Jaga, der bösen Hexe in ihrer Hütte, die auf Hühnerbeinen gebaut ist. Eine halbe Stunde lang müht er sich ab, dann legt er das Buch zur Seite.

»Gefallen dir die Geschichten nicht?«

Sie schüttelt den Kopf, ihre Locken schwingen dabei von einer Seite zur anderen.

»Warum nicht?«

Sie antwortet nicht, blickt stattdessen zu ihm auf mit ihren großen grauen Augen, die sie weder von ihm noch von Val geerbt hat. »Kann ich dir was sagen, Baba?«

»Natürlich.«

»Jeremy will, dass ich ihn ›Dad‹ nenne.«

Es fordert ihm alles ab, sich nichts anmerken zu lassen. »Ach, wirklich?«

»Ja. Zumindest glaub ich das.«

»Und warum?«

»Wenn er mich ins Bett bringt und mir einen Gutenachtkuss gibt, dann spür ich irgendwie, dass er das möchte.«

»Und möchtest du es denn?«

»Wärst du dann sauer?«

»Nein«, sagt er. »Er ist ein toller Dad. Es ist völlig okay, dass du ihn so nennst, wenn du das möchtest.«

»Wirklich?«, fragt sie. Das Bedürfnis nach Zustimmung, nach Bestätigung steht ihr offen ins Gesicht geschrieben.

»Wirklich.« Er umarmt sie, erschüttert von der Besitzgier, die diese Neuigkeit in ihm entfacht. Ich sollte nicht überrascht sein, denkt er. Er ist Anna verpflichtet, nicht umgekehrt. In einem Leben, das ständig auf den Kopf gestellt wird, ist dies nur ein weiterer Umstand, dem er sich anpassen muss.

JAMIR

Chittagong, Ostpakistan (Bangladesch)

November 1970

Jamir steht noch vor Morgengrauen auf. Das Mondlicht fällt schräg durchs Fenster auf seine Gestalt, so sehnig und dunkel wie die der anderen hundert Fischer im Dorf.

Er ist eine Stunde früher als sonst zur Arbeit aufgestanden, weil er weiß, dass Honufa jetzt noch nicht wach sein wird, und zündet sich eine Bidi an, die er aus dem Knoten seines um die Hüfte geschlungenen Lungi zieht. Draußen gegen die Lehm- und Rattanwand ihres Hauses gelehnt, macht er lange, tiefe Züge. Der anbrechende Tag malt dichte, seltsam helle Wolken an den Himmel. Bis auf das sanfte Rollen der Brandung hört man nur das beharrliche Riiii der Zikaden und das Glucksen der Geckos.

Als er die Bidi aufgeraucht hat, liegt ihm Tabakgeschmack auf der Zunge, das Salz des Seewinds kühlt seine Haut. Zurück in der Hütte, nimmt er seine Ausrüstung – ein zusammengerolltes Kunstlederstück, das seine zwei Hemden und einen weiteren Lungi umwickelt – und schleicht zur Wand, wo er, ohne seine schlafende Familie aus den Augen zu lassen, ganz nach oben langt, wo das Strohdach beginnt. Er schaudert, als seine Finger erneut das ertasten, was er vor ein paar Tagen entdeckt hat. Ein langes, flaches Rechteck.

Ein Brief.

Schweigend geht er damit hinaus.

Bevor er der Küste nach Westen folgen kann, ans hintere Ende des Hafens, wo am wackligen Steg sein Trawler vor Anker liegt, muss er zunächst an seinem alten Leben vorbei, einer gedrängten Masse kleiner Boote am Strand. Im Dunkeln sind die Boote nur an ihrer Form zu erkennen – flachbugige Sampans mit zwei Hörnern, lange, schlanke Balams, die kürzeren Bhelas.

Schatten huschen zwischen den Booten hindurch. Andere Fischer. Sie werfen ihm wortlose Blicke zu.

Der klobige Umriss des Trawlers wird langsam in der Morgendämmerung erkennbar. Sonamoti heißt er, Goldmädchen – in dicken grünen Lettern ist der Name auf den Rumpf gemalt. Es ist der einzige Zweimaster im Hafen, mit fast zwanzig Metern das größte Boot.

Er überquert die Gangway, deren dünnes Holz unter seinem Gewicht mürrisch ächzt, und hält auf die Bilge zu, wo ihn in Regenbogenfarben glänzendes Ölwasser erwartet, das er die nächste Stunde über ausschöpfen wird. Danach schrubbt er die Speigatten, wo sich der Meeresmüll sammelt, umgeben vom Gestank des Diesels und Fischgedärms – eine elende Mischung, die er nicht mehr riechen kann. Während er putzt, erhebt sich eine kräftige Sonne.

Der Kapitän des Boots, Abbas, erscheint mit dem Rest der Besatzung: Gauranga ist ein grauhaariger Hindu, ein Deckarbeiter, der nur aufhört zu reden, um den roten Saft der Betelblätter auszuspucken, die er unentwegt kaut. Humayun ist sein wortkarger muslimischer Gegenpart. Beide sind erfahrene Fischer: Sie zeigen Jamir, wie man Fische sortiert und bewertet, führen ihn ein in die Prüfung der Ringwadennetze, in die Motorenwartung.

Abbas’ Sohn Manik ist in Jamirs Alter und sein ständiger Widersacher, den er nach Kräften zu meiden versucht.

Die Männer werfen ihm einen flüchtigen Gruß zu und verteilen sich auf ihre jeweiligen Positionen: Abbas ins Steuerhaus, die anderen unter Deck. Bald beginnt sich der Trawler vom Steg zu lösen, und wieder beschleicht Jamir die seltsame Leere, die er bei jedem Aufbruch fühlt. Zwei Monate hat er nun als Hochseefischer verbracht – nach einer völlig unerwarteten Einladung von Abbas, sich seiner Mannschaft anzuschließen. Und bis jetzt hat er noch kein Geschick in dieser Fischereimethode entwickelt. Es ist kein gleichberechtigter Kampf zwischen Mensch und Wasser, wie damals, als er noch im Ruderboot fischte: Der Trawler verschiebt das Kräfteverhältnis durch seine großen Netze, die immer tiefer ins Wasser reichen, deutlich zugunsten des Ersteren.

Nachdem die dringendste Arbeit erledigt ist, geht Jamir unter Deck zu Kombüse und Mannschaftsraum, wo sich auch sein notdürftiges Lager aus alten Armeedecken und einem dünnen, flachen Kissen befindet.

Beim Prüfen des Proviants hört er über sich die Planken knarren, gedämpfte Gespräche, dann schwere Schritte auf der Treppe. Abbas steigt herab. Er ist mittleren Alters und trägt ein gebügeltes weißes Hemd, das über seinem runden Bauch spannt. Jamir sagt ihm ein Salam, und Abbas räumt den Inhalt der Tasche, die er trägt, auf den Küchentisch, bedeckt ihn ganz mit duftenden Limetten, grünen Guaven, dicken, stacheligen Jackbaumfrüchten, bengalischen Quitten, büschelweise Spinat und rotem Mangold. Das Eiweiß der Fische aus ihrem Fang wird ihre Mahlzeiten ergänzen.

Das Letzte, was Abbas auf den Tisch legt, ist eine gefaltete Ausgabe des Daily Ittefaq, auf dessen Titelseite das Bild eines schnauzbärtigen Herrn in schwarzer Weste über weißen Hemdsärmeln prangt, der vor großem Publikum spricht.

»Was hältst du von diesem Burschen, diesem Mujib?«, erkundigt er sich.

In Unkenntnis der politischen Neigungen seines Kapitäns lässt Jamir sich Zeit mit der Antwort. Er gibt vor, ausgiebig nachzudenken, und entgegnet schließlich: »Er scheint ein guter Mann zu sein. Die Dorfbewohner sagen, dass sie bei der nächsten Wahl für die Awami-Liga stimmen werden.«

»Und du?«

»Am Wahltag bin ich doch auf dem Boot, genau wie du.«

Abbas lacht aus vollem Hals. »Kein Freund seines Sechs-Punkte-Programms? Damit unser Land seine Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen kann, frei von der Einmischung und Ausplünderung durch die Westpakistanis?«

Jamir schüttelt verlegen den Kopf. »Babu, stell einem Mann, der nicht mal lesen kann, doch nicht so schwierige Fragen. Politik ist Sache der Reichen, der Grundbesitzer wie des Zamindars Rahim und seinesgleichen.«

Bei der Erwähnung dieses Namens kräuseln sich Abbas’ Mundwinkel verächtlich. »Auf diesen Mann würde ich nicht setzen. Der hat weniger Ahnung von der Welt, als man glaubt.«

Vor Jahren, bevor Rahim – der jetzige Zamindar – aus der großen, geschäftigen Metropole Kalkutta ins Dorf zog und die weitläufigen Pachtländereien und die Fischerboote übernahm, verwaltete Abbas die Flotte von Kähnen, die Rahims Vorgänger gehörte. Nach Rahims Ankunft jedoch wurde Abbas erschreckend plötzlich und ohne Umschweife dieses Postens enthoben. Seitdem sprießen die Gerüchte über den Grund des Zerwürfnisses.

»Das kann ich verstehen«, sagt Jamir. »Wir haben auch unsere Schwierigkeiten mit ihm gehabt.«

Abbas nickt. »Natürlich. Wir wissen alle noch, wie er dich und Honufa im Stich gelassen hat, als ihr ihn am dringendsten brauchtet.«

Jamir zuckt die Schultern. »Wenn überhaupt, war es meine Frau, der er näherstand. Seit ihrer Kindheit hat sie in ihm einen Vater gesehen. Aber das ist jetzt Jahre her, und wir kommen sehr gut ohne seine Hilfe zurecht. Was mich angeht, ich brauche nichts als ein Boot unter den Füßen und gesunde Glieder, damit ich meine Familie versorgen kann.«

Abbas legt ihm eine warme, schwere Hand auf die Schulter. »Solange ich lebe, wirst du immer ein Boot unter den Füßen haben.«

Jamir kehrt an Deck zurück, um das Netz auf Risse zu prüfen. Es ist fast anderthalb Kilometer lang, gewickelt um eine große eiserne Winde. Als er damit fertig ist, taucht eine riesige Sonne bereits ihre Zehen ins nun pfauenblau schimmernde Wasser. Sie sind schon weit von der Küste entfernt.

Er streckt sich, will die Arbeit gerade beenden, als ein Platschen ihn aufschreckt. Neben ihrem Boot springt ein Schwarm fliegender Fische vorbei, die Mäuler sind weit offen, die Flossenflügel leuchten rosa in der sinkenden Sonne, ein verlängerter Silberstreif, der knapp übers Wasser segelt. Jamir muss an das erste Mal denken, als er diesen unglaublichen Wesen begegnet ist, das erste Mal, als ihm bewusst wurde, wie fremd ihm der Ozean ist, diese Wunderwelt ohne Boden. Die flüchtigen Vorstöße der fliegenden Fische in die Luft gleichen seinen eigenen Fahrten ins Herz der See – ein kurzer Abstecher in eine blendende Anderswelt.

»Unglaublich, was?« Die Stimme von Gauranga lässt Jamir zusammenfahren. Er trägt seinen Lungi wie eine Hose um die Beine gewickelt, dazu ein dünnes weißes Hemd. Über dem linken Auge hat er eine Klappe, die ihm mit seinem zerfurchten, unrasierten Gesicht und dem windzerzausten Haar das Aussehen eines echten Seemanns verleiht.

»Fische, die aus dem Meer springen, Vögel, die ins Wasser tauchen. Was für eine wunderbare Welt hat uns Gott geschaffen.«

»So ist es«, sagt Jamir, der sich in Gaurangas Gesellschaft wohlfühlt.

»Ich hab beobachtet, wie du mit dem Kapitän gesprochen hast. Ist irgendwas los? Steckst du in Schwierigkeiten? Oder wir alle?«

»Was mich betrifft, weiß ich es nicht. Aber von euch ist keiner in Schwierigkeiten.«

»Da wär ich mir nicht so sicher«, sagt Gauranga. »Siehst du die dicken Wolken? Dunkel wie Frauenhaar und mit diesen blutroten Linien, wie Zinnober auf ihrem Scheitel? Das bedeutet, dass ein Sturm aufkommt, ein gewaltiger.«

Jamir folgt Gaurangas Finger. Tatsächlich haben sich im Westen Wolken aufgetürmt, als hätte eine zürnende Weltenhand sie dort zusammengeschoben.

»Hast du’s dem Kapitän schon gesagt?«

»Nein, weil er vermutlich nicht blind ist. Auf jeden Fall sieht es so aus, als zöge der Sturm auf die Küste zu; wir kommen wohl drum rum, weil wir westwärts fahren, Richtung Burma.«

Die Küste also, wo Honufa und sein Sohn den Sturm allein überstehen müssen.

Gauranga errät seine Gedanken. »Über deine Familie würde ich mir nicht zu viel Sorgen machen. Anders als auf dem Meer kann man an Land ja immer irgendwohin flüchten.«

»Vorausgesetzt, man wird gewarnt«, sagt Jamir, und sein Blick fällt auf den Anhänger, den der Ältere um den Hals trägt. Gauranga lächelt, als er es bemerkt, nimmt die Kette ab und reicht sie Jamir. Der Anhänger ist so lang wie seine Hand, gezackt, scharf und gleicht einer beinernen Speerspitze.

»Ein Stechrochenschwanz«, erklärt ihm Gauranga.

Um ein Haar lässt Jamir ihn fallen. Stechrochen sind selten am Golf, doch ein paar hat er schon gesehen im Laufe seines Lebens. Ihr rätselhaftes Gleiten, ihre gewaltige Spanne jagen ihm Angst ein.

Er will Gauranga die Kette zurückgeben, doch der schüttelt den Kopf. »Häng ihn dir um. Es hilft, etwas Handfestes zu haben, in das man seine Sorgen leiten kann. Mich hat es immer beruhigt, diesen Anhänger zu berühren, wenn es anstrengend wurde.«

»Ich kann ihn unmöglich behalten.«

»Das kannst du und wirst du. Behalt ihn, bis dein Geist zur Ruhe kommt. Und dann kannst du ihn mir wiedergeben, wenn du möchtest.«

Jamir legt sich die Schnur um den Hals und steckt den ungewöhnlichen Anhänger unter sein Hemd. Dessen Größe und Härte fühlen sich fremd an auf seiner Brust.

»Daran hast du dich bald gewöhnt«, sagt Gauranga. »Mein Vater hat gemeint, es ist gut, wenn man sich stets etwas unbehaglich fühlt. So bleibt man aufrichtig.«

»Dann müsste ich tatsächlich äußerst aufrichtig sein«, sagt Jamir. »Danke dafür.«

»Freut mich, wenn ich helfen kann.« Gauranga rückt näher und lässt die Stimme eine Oktave sinken. »Du hast sicher den ganzen Tag geschuftet. Wenn du heute Abend einen Moment für dich hast, dann komm doch zu mir und Humayun in den Maschinenraum, auf einen Schluck.« Er weist auf den Stachel: »Dann erzähl ich dir vielleicht, wo ich den herhabe.«

Nachdem Gauranga gegangen ist, arbeitet Jamir noch eine halbe Stunde weiter, bevor er sich für ein kurzes Nickerchen in den Mannschaftsraum aufmacht. Als er seine Schlafstatt erreicht, wühlt dort gerade jemand in seinem Bündel herum.

In drei Schritten hat er die Gestalt erreicht. Es ist Manik, der den Brief gefunden hat und ihn jetzt in die Höhe hält.

»Was hab ich denn da?«

»Gib ihn zurück! Wer hat dir erlaubt, meine Sachen zu durchwühlen?«

»Reg dich nicht auf.« Manik zieht den Brief aus dem Umschlag, runzelt die Stirn und imitiert einen übertrieben verwirrten Blick auf seinem schwitzenden, pockennarbigen Gesicht. Dabei schüttelt er bedeutungsvoll den Kopf.

»Was ist das? Ein Liebesbrief von deiner Frau? Hab gar nicht gewusst, dass du lesen kannst. Was willst du dann überhaupt auf einem Boot? Du gehörst auf die Universität!«

»Manik!« Abbas steht mit finsterer Miene in der Tür. »Leg den hin.«

Der Kapitän schiebt sich in seiner ganzen Körperfülle in den Mannschaftsraum. Schweiß rinnt Jamir den Rücken herab, es ist heiß zu dritt auf so engem Raum.

Unter dem strengen Blick seines Vaters lässt Manik den Brief aufs Bett fallen und trollt sich schmollend.

»Es ist nie einfach, die eigenen Kinder groß werden zu sehen und dabei ihr schlechtes Benehmen zu beobachten«, sagt Abbas. »Ich entschuldige mich für meinen Sohn. Er ist mein Jüngster und konnte sich deshalb den Schlägen entziehen, die ihm eigentlich zugedacht waren. Vielleicht hätte er sich anders entwickelt, wenn ich nicht so nachlässig gewesen wäre.«

»Ich arbeite für dich. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte«, sagt Jamir, und weitere Worte entschlüpfen ihm, drängen sich bekenntnishaft, unaufhaltsam hervor. »Der Brief, den dein Sohn eben in der Hand hatte. Ich hab ihn in meiner Hütte gefunden. Ich glaube, meine Frau hat ihn vor mir versteckt.«

»Verstehe. Möchtest du, dass ich ihn dir vorlese?«

»Ja.«

»Wir können ihn auch einfach wegwerfen und vergessen, dass es ihn je gab und du ihn gefunden hast.«

Jamir schüttelt den Kopf. »Nein. Ich muss wissen, was drinsteht. Ich bitte dich demütig, ihn mir vorzulesen.«

»Wenn du dir sicher bist.« Das Boot schwankt sacht, sodass die Birne an der Decke hin und her baumelt, Abbas’ Gesicht in den Schatten schiebt und dann wieder ins Licht. Jamir reicht ihm den Brief und tritt dann zurück, als könnte ein böser Geist ihm entweichen. In der längsten Minute, die Jamir je erlebt hat, überfliegt Abbas schweigend den Brief, die Vorder- und auch die Rückseite. Als er fertig ist, dreht er sich um und blickt aus dem Bullauge.

»Was steht drinnen?«

»Furchtbares. Schändliches«, sagt Abbas.

»Sag es mir genau. Von wem ist er? Was steht drin?«

»Es wird kein Name genannt. Besser wäre, wenn du das Verbotene, das hier geschrieben steht, gar nicht erst hörst.«

Jamir fällt auf die Knie. »Lies ihn mir vor. Ich flehe dich an.«

Der Kapitän zieht ihn wieder auf die Beine. »Ich werde hier nicht die Luft mit den Worten von diesem Blatt vergiften. Was musst du noch mehr wissen? Es tut mir leid, mein Sohn. Ich bin dein Nachbar, dein Freund; ich kenne dich und auch deine Frau schon so lange. Damals, vor ein paar Monaten, als sie bei mir als Haushälterin gearbeitet hat, war meine Frau voll des Lobes über sie. Ihr Verrat macht mich einfach nur traurig.«

»Ich glaube dir nicht.« Jamir schüttelt den Kopf. »Ich glaube dir nicht. Du lügst.«

»Ist es denn so schwer zu glauben?« Abbas weicht seinem Blick nicht aus.

Diese Anspielung auf Honufas Vergangenheit bringt Jamir in Rage. »Wie kannst du es wagen, das zu erwähnen? Sie war fast noch ein Kind. Ich habe ihr verziehen, auch wenn andere das nicht getan haben.«

Abbas hält ihm den Brief hin. »Warum fragst du sie dann nicht einfach, wenn sie unschuldig ist?«

Jamir nimmt ihn an sich und schafft es irgendwie, sich zu entfernen. Der Kapitän fügt noch etwas hinzu, doch die Worte klingen in seinen Ohren nur wie Lärm. Das Boot ist unterdessen in ruhige Gewässer gelangt. Die Sonamoti fährt nun gleichmäßig, wofür er dankbar ist, denn seine Beine drohen ihn im Stich zu lassen. Mühsam erklimmt er die Treppe und tritt hinaus auf das Deck, auf dem sich schwarzblaue Schatten tummeln.

Die Speigatten müssen gesäubert werden.

Er bahnt sich einen Weg zu den Gittern, fällt auf Hände und Knie und bearbeitet sie, bis ihm die Finger bluten.

SHAHRYAR & ANNA

Washington, DC, USA

August 2004

Shar liest Anna vor, bis sie eingeschlafen ist, küsst sie dann auf die Wange und verlässt das Zimmer.