Inhalt

Narzissmustest für Führungskräfte, ein Spiel der Superreichen mit Menschenleben, Kaufboykotte, Narren, die moralische Leader werden, oder sozial-kontrollierter Stromverbrauch: In Sina Kamala Kaufmanns Geschichten ist die Welt, wie wir sie kennen, in eine mögliche, hartgesottene Zukunft versetzt. Nahphantastische Erzählungen.

Sina Kamala Kaufmann

Helle Materie

Nahphantastische Erzählungen

ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter, Tine Mothes

Erstellt mit Booktype

Cover: Inga Israel 

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-71-0

© mikrotext 2019, Berlin

Sina Kamala Kaufmann

Helle Materie

Nahphantastische Erzählungen

Für Gerlinde Klein

Nochmal, nochmal

Von der Decke hängen Kabel. Es ist ein großer, ein sehr großer Raum.

Mit sehr vielen Tischen. Zu jedem Tisch führen Kabel von der Decke.

An jedem Tisch sitzt ein Mann.

Es ist nicht leise. Es wird nicht gesprochen. Es ist hell. Nicht ordentlich. Nicht steril. Der Boden ist aus Beton.

Es war vor Jahren. Es ist schon fast historisch. Womöglich verfällt dieses Gebäude einige hundert Meter vom Stanford Campus heute.

Ich stand in Facebooks altem Engineering-Gebäude.

Diese Berauschtheit, mit der es gelebt, vorgezeigt und betrachtet wurde, mit potenzierter Berauschung, die Erlauchtheit, nur betrachten zu dürfen.

Auserwählt waren die, die hier an ihren Tischen saßen, mit den Kabeln bis hoch zur Decke. Auserwählt war ich, weil ich betrachten durfte.

Ein Bild, es legte sich daneben, beklemmend identisch. 

In meinem Geschichtsbuch, also Gesellschaftslehrebuch: eine große Halle, viele Frauen saßen da, jede an einem Webstuhl. Der gesamte Raum voller Webstühle. Man sah die Frauen von hinten, genau wie ich die Männer jetzt von hinten sah.

Der Beginn der Industrialisierung. Der Webstuhl. Unglaubliche technische Innovationen. Viele gelb hinterlegte Quellen: Briefe, die die körperlichen Schäden aufzeigten, Arbeitszeitdiagramme, Flugblätter. Die Botschaft: unwürdige, unmenschliche Arbeitsbedingungen. Ausbeutung vieler. Gewinne weniger. Beginn des modernen Konsumkapitalismus.

Und ich stand nun hier. Mitten in diesem Bild, in meinem Geschichtsbuch im 21. Jahrhundert. Die Bilder waren ähnlich, aber die Botschaften nicht. Es war doch so: Ich war erlaucht, fühlte mich erlaucht. Ein Einchecken in diese heiligen Hallen würde mir viel Neugier einbringen. 

Damals. Noch ein wenig Mysterium umgab dieses mächtige Start-up aus der Hippie-Stadt. Das Internet war noch nicht ganz entzaubert.

Die Stöckelquote

Gestern Abend hat er sich in der Badewanne seine Beine rasiert. Jetzt die gedehnten Nylonstrümpfe über die glatte Haut zu ziehen, erregt ihn. Seine Freundin ist etwa so groß wie er. Ihre Strumpfhosen passen ihm also.

Daniel ist Ende 30 und arbeitet im mittleren Management einer großen Bank in Deutschland. Später wird er in der Vorstandssitzung persönlich die Ergebnisse seines Geschäftsbereichs vorstellen.

Ein eng anliegender Baumwoll-Slip? Normalerweise trägt er nur weite Boxershorts, das einzige, was von seiner Baggy- und HipHop-Phase zwischen 14 und 17 Jahren übriggeblieben ist, von den DC-Schuhen im Keller seiner Eltern einmal abgesehen.

Während er die Nylonstrumpfhose mit dieser Naht in der Mitte über seinen platt gepressten Penis zieht, wird ihm klar, welche Freiheit diese Boxershorts unter seiner Anzughose jeden Tag bedeuten. Sie darunter zu tragen, macht den Anzug zur Verkleidung, ihn selbst zum Rebellen, vielleicht sogar zum Spion, der sich in dieser glatten Welt nur umguckt.

Die Freiheit darunter. Nix unterm Kilt. Ein weißer Kittel. In seinem Fall eher die Robe des Teufels – aber auch dieser Job muss in einer wahrhaft pluralen Gesellschaft ja von jemandem erledigt werden.

Soll er die Naht rechts neben seinen Eiern verlaufen lassen? Oder links oder irgendwie mittig darüber? Wie hoch soll er den Strumpfhosenbund ziehen?

Seinen Vortrag, der circa sechseinhalb Minuten dauert, hat er geübt – diesen Aufzug nicht … ihm schwant, dass das ein Fehler war.

Großspurig hat er sogar seine Freundin entlassen, als sie ihn fürsorglich fragte, ob er Hilfe beim „Fertigmachen“ brauche.

Die Schuhe hat er selbst gekauft und eingelaufen. Auch das hat ihn überraschend betört. Sich auf diese Anstrengung einzulassen. Er musste ja. Und diese unwirklich hohen Schuhe zwingen ihn nun, sich von seinen üblichen körperlichen Abläufen zu lösen. Wie er sich stattdessen bewegen soll, ist ihm ein Rätsel. Krabbeln ist keine Option.

Daniel imitiert irgendeine vage Vorstellung, die er vom Bewegungsablauf des Stöckelschuhgangs hat. Er weiß, es sieht albern aus.

Dieser Auftritt wird ein Spießrutenlauf.

Wird er …? Wie soll er den Blicken standhalten, den Versuchen, ihn in diesem Aufzug, mit dieser verqueren Körpersprache einzuschätzen, zu beurteilen, zu verurteilen? Wird er im Laufe des Tages zu einem Rhythmus, zu irgendeiner Art Wohlbefinden gelangen? In ihm baut sich Angst auf, etwas blockiert Stück für Stück. Das jetzt tatsächlich durchzuziehen, verlangt mehr von ihm, als der Rebell geahnt hat. Der Mann in ihm, einer, von dem er nicht einmal wusste, dass es ihn gibt, ist herausgefordert – etwas ist anders als sonst – das hier ist körperlich, sinnlich, unangreifbar. Ohne Ausweg, ohne Klarheit.

Er geht vom Schlafzimmer ins Bad und setzt sich auf den Klodeckel, den er vorher herunterklappen muss. Niemand macht das je, denkt er.

Alle möglichen Gefühle kriechen gleichzeitig durch ihn hindurch. Er stellt seine knochigen Ellenbogen auf die Oberschenkel und stützt seinen Kopf auf die Hände. Seinen nackten Rücken bedrückt gekrümmt. Da sitzt er, nur bis zur Strumpfhose der Frau nahegekommen.

Er stellt sich vor, wie er die Bank betritt. Wie wird es sich anfühlen, wenn er den Blicken, sicher nur verstohlenen, standhält, um mit so etwas wie Stolz durch die Lobby zu schreiten. Das alles war ja nicht mal seine Idee gewesen. Wo sollte der Stolz also herkommen? Er spürt die warmen Fliesen unter seinen großen, in Plastik gepackten Plattfüßen.

Dankbarkeit für die Fußbodenheizung.

Die Wärme steigt wohlig seine Beine hinauf, um sich dort dem kalten Chaos, das schon seinen Bauch erreicht hat, entgegenzustellen. So geht es ihm schon etwas besser.

Sitzt da wie der Denker! Nackt, in Nylon, der Verzweiflung nah, auf seinem Klo, in dem weißen Bad. In dieser Pose von jemandem wie Helmut Newton porträtiert werden! Diese Vorstellung, sein Bild erregt ihn. Instagram? Wo ist sein Telefon? Eine leichte Erektion drückt gegen den gespannten, transparenten Stoff über seinem Penis.

Was für ein sicheres Gefühl.

Hat er jemals so schamfrei und abgesichert einen Ständer an sich, in sich wachsen gespürt?

Als wüchse er nach innen, nicht nach außen.

Das pochende Blut, seine dünne Haut und deren Feinheit spürt er deutlich an diesem flexiblen Stoff, der kaum weicht. Ein Gegner. Das fester werdende Fleisch kommt nicht dagegen an.

Hat er vor der Erektion an Instagram und sein Handy gedacht? Er spürt das Ende. Das Erkennen des digitalen Ego-Impulses stößt zu dem bleiernen Chaos in seinem Magen.

Wärme weg, Erektion weg. Schuld pur.

Doch Daniel kann das neue Gefühl unsichtbarer Erregung noch abrufen. Er lächelt sein tiefes Lächeln.

Eine Träne steigt in sein Auge, ohne abzutropfen. Schade, doch das könnte man noch photoshoppen.

Immer noch spürt er seinen Penis, die Naht, seine ausglimmende Geilheit, seine eigene und die allgemeine Absurdität.

Vorfreude auf das erzwungene Experiment. Er geht beschwingt und mit innerer Stärke zurück ins Schlafzimmer, überzeugt von der Wichtigkeit seiner Mission, die den Tag zu einem Vergnügen machen wird. Zu diesem neuen Gefühl wird er in Momenten des Zweifels, durch kritische Blicke hindurch, zurückfinden.

Getragen von dieser Gewissheit schwebt er in seinen matten, halbtransparenten Strumpfhosen über den weichen Teppich ins Schlafzimmer, zur U-Bahn, durch die Lobby und ist glücklich. Die Naht mittig.

Lösung

Im Jahr 2020 stellte es die Bundesregierung Unternehmen frei, die nicht erreichten 50 Prozent an Frauen in Aufsichtsrats- und Vorstandssitzungen durch eine entsprechende Anzahl von Manager-Männern in „klassischer“ Frauenkleidung auszugleichen – statt zu einer starren Frauenquote zu verpflichten. Manager-Frauen dürfen selbstverständlich weiterhin tragen, was sie wollen.

Wettbewerbswochen

Stockdunkel trifft es nicht. Es ist finster. Lotte hat niemals eine Stadt, eine Straße so unbeleuchtet gesehen.

Es ärgert sie mehr als in jeder anderen Nacht, den Dynamo nicht repariert zu haben. Ob sie lieber absteigen soll? Der letzte Winter ist hart gewesen. Die Schlaglöcher sind tief, sie sieht gar nichts. Ihr nächster Pedalschlag könnte ihr letzter sein. Sie glaubt, das Risiko der Straße erspüren zu können, indem sie sehr langsam fährt. Vorsichtig tastet sie sich voran. Immerhin sind ja weiterhin Menschen auf den Straßen und die Handynetze funktionieren. Nicht alle benutzen ihre Handys diese Woche, manche hängen ihre Geräte – trotz des Wettbewerbs – an Steckdosen. Andere haben sich eines dieser Solarladegeräte angeschafft, lange bevor sie restlos vergriffen waren. Irgendjemand könnte also, selbst wenn sie hier in ein Schlagloch radelte, aus dem Sattel geschleudert einen doppelten Salto machte, auf den Asphalt klatschte, schwer verunglückte, einen Notarzt rufen. Ein Krankenwagen käme, mit Licht, und man brächte sie in das nächstgelegene Krankenhaus. Bei diesem Gedanken bremst sie abrupt: Das nächstgelegene Krankenhaus ist das schlechte … Lotte steigt vom Rad, läuft zum Bordstein, hievt ihr Gefährt über die Kante und schreitet auf dem breiten Bürgersteig an der kaputten Straße entlang. In ihrem Stadtteil haben Bürger im vergangenen Sommer Blumen in die Schlaglöcher gepflanzt. Die Stadtkammer fand die Idee so klasse, dass daraus ein Beschluss wurde. Sie hat das gelesen, sich gefreut. Ein bepflanztes Schlagloch gesehen hat sie allerdings noch nie.

Zum ersten Mal seit Wochen kehrt Lotte in ihre Wohnung in der Stadt zurück. Sie ist vom Landhaus losgefahren, als es noch hell war, und die letzten drei Stunden ist sie gemütlich geradelt, hat wenige Pausen gemacht. Hätte sie daran gedacht, dass zurzeit Wettbewerbswochen sind, wäre sie womöglich noch etwas länger in ihrem Refugium geblieben. Lotte verspürt seit kurzem das Bedürfnis, eine Katze zu kaufen, ein spontanes, starkes Verlangen ist das gewesen und es geht nicht weg, sie will ihm nachgeben. Vertuscht sie in diesem Katzenkaufimpuls – auch vor sich selbst –, dass sie einfach mal wieder alleine sein will? Die anderen, mit denen sie jetzt permanent zusammenlebt, sind nicht begeistert von der Idee mit der Katze. Und dass es keine Katze von einem Bauern aus der Nachbarschaft sein darf, sondern unbedingt eine großstädtische Katze sein muss, das versteht auch keiner. Aber das ist auch nicht so wichtig, Lotte will es so, und sie will es ziemlich, das haben die anderen gleich gespürt, also gab es überhaupt keine Debatte darüber. Es gibt sowieso selten Debatten, die Abläufe sind unerwartet problemfrei. Der tiefe gegenseitige Respekt, den ihre Freundschaften früher ausgemacht haben, prägt auch jetzt das Zusammenleben. Man kann einen nach dem anderen aufblühen sehen. Ja, auch sie ist sehr glücklich. Glücklich zusammen. Sehr glücklich, zwingt sie sich zu denken, während sie weiter durch die Nacht marschiert.

Big Data. Big Dada. Big Dada. Alle sind völlig verrückt geworden. Es ist dunkel, alle machen mit, alle sparen mit und spielen mit. Es gibt sie beide in uns: die schwäbische Hausfrau und den Zocker. Und der Hauptgewinn? Zwei regionale Extrafeiertage, Baukostenübernahme des Bundes der Sportanlagen für die nationale Olympiabewerbung, kostenloser Nahverkehr in der Siegerstadt. Und schon spielen alle verrückt. Es ist perfekt inszeniert. Eine große, staatliche Forschungsgesellschaft ist die tragende Säule dieses Wettbewerbs.

Es fällt Lotte schwer, sich vorzustellen, dass es jetzt fast in der ganzen Republik so dunkel ist wie hier. Man hat schon von Leuten gehört, die, um heiß zu duschen, mit dem Fahrrad bis nach Hamburg geradelt sind. Gut für die Statistik hier und höherer Verbrauch für die Konkurrenz dort.

Was wurde geschimpft über diese Idee, die große Stromspar-Competition zwischen Städten, Kommunen und Kiezen. Und das Land wurde nebenbei neu eingeteilt. Das sei doch keine Politik, Bürger wären doch keine Kindergartenkinder, die man zu gutem Verhalten motivieren müsse. Außerdem sei es kontraproduktiv, denn die Stromnetze würden Schaden nehmen, wenn sie über längere Zeit so unausgelastet seien. Man könne außerdem die überschüssige Energie gar nicht speichern, sei auf einen hohen Verbrauch angewiesen. Ökologisch betrachtet mache das keinen Sinn, sagen manche. Kurzum: Es wurde genörgelt. Viele schrien, das sei eine elitäre, eitle urbane Sache. Also wurde die Idee etwas modifiziert. Schon klar, dass Buxtehude nie in der Lage wäre, die Olympischen Spiele auszurichten. Also: zusätzliche Preise, Kategorien, jeder für sich und als Teil seiner Region, seines Kiezes, seiner Straße, seines Hauses. Und der Olympia-Bewerbungs-Zuschuss wurde abgeschafft. Stattdessen wird es nun ein großes Bürger-Sportfest geben, ein stattliches städtisches Kräftemessen. Die Region, die gewinnt, wird also mit Luxus-Sportanlagen und der Ausrichtung des Mega-Sportfests, den Bundesbürgerspielen, beglückt. Die Öffentlich-Rechtlichen könnten auch aus Buxtehude problemlos berichten.

Dann gab es Korinthenkacker, die der Ansicht waren, solche Berechnungen seien gar nicht so exakt möglich, das sei alles höchst unseriös. Jemand besonders Patentes vom unterstützenden Institut hat daraufhin erklärt, wie in den vergangenen Jahren bundesweit alle Stromzähler digitalisiert worden seien, wie sie erst mit PKWs durch die einzelnen Straßen haben fahren müssen und jede Wohnung einzeln betreten haben, um die Zähler auszulesen. Datenschutz. Datenangst. Bis man sich einen Ruck gegeben habe, die Daten direkt übers Internet an den Stromanbieter und an eine zentrale Stelle zu leiten. Somit seien alle Verbrauchsdaten, die in dem Portal zusammenflossen, korrekt. Der Verbrauch jedes Haushalts, jedes Hauses, jeder Straße, jedes Kiezes könne nun betrachtet und unter verschiedenen Gesichtspunkten verglichen werden. Schick haben sie das umgesetzt. Mit einer überraschend guten Usability für ein Internetangebot der Verwaltung.

Tatsächlich könne es noch individuelle Stromerzeugung geben. Ob jemand heimlich einen Generator anwerfe oder den eigenen Verbrauch ohne Netz-Einspeisung aus seinen Solarzellen decke, könne man schließlich nicht überprüfen. Aber im Großen und Ganzen war der Institutsmitarbeiter optimistisch, dass die Datengrundlage zuverlässig sei und dass die Wettbewerbskommission gründlich arbeite. Transparenz, die er lieber Sichtbarkeit nennen wollte, mit einem Verbrauchsbewusstseins-Wettbewerb zu verbinden, sei einfach wunderbar und könne zu nachhaltig verändertem Verhalten führen. Solch ein Wettbewerb könne schließlich Automatismen aufbrechen, Routinen hinterfragen und gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl stärken.

„Zusammen achtsam im Dunkeln“, spottet Lotte, als sie an die Worte des Herrn Wissenschaftlers zurückdenkt. Er könne die ganzen Schwarzmaler nicht mehr hören. Die Technik existiere und man müsse aufhören, immer nur zu jammern, und etwas ausprobieren, nach vorne schauen, gestalten. Einer dieser äußerst motivierten Männer.

Aber mit einem solchen Wettbewerbsgeist und der daraus folgenden Dunkelheit hat dann doch keiner gerechnet.

Als die Plattform erstmals online ging, verglich Lotte ihren Stromverbrauch mit anderen Ein-Personen-Haushalten aus der Nachbarschaft. Sie fand keinen einzigen im Umkreis von fünf Kilometern, der noch mehr Strom verbraucht als sie. Es ist frappierend. Ja, sie duscht lange, und es hat wohl auch niemand, der allein lebt, eine Kaffeemaschine mit zwei dermaßen heißen Kesseln oder auch nur annähernd so viele illegale Glühbirnen. Die mit den Glühfäden, in denen man die sich bewegenden Elektronen fast noch sehen, zumindest aber erahnen kann. Die Teilchen, die Elektronen sind echt; der Strom etwas Virtuelles. Lotte hängt an diesen glühenden Birnen, die sie aus Restbeständen in Italien und Dänemark im Internet bestellt hat, für viel Geld. Ins Darknet muss man dafür nicht, noch kriegt man sie bei eBay als Import.

Jeder im Haus kann jetzt sehen, dass sie Strom frisst, zum Frühstück, Mittag, zur Vesper, Abendessen – mindestens fünf Mahlzeiten täglich. Sie hat sich da etwas zurechtgelegt: Wenn jemand sie anspräche, würde sie fragen, ob man denn vielleicht ein paar Kleidungsstücke von ihr mitwaschen könne. Das lohne sich ja meist nicht für die paar Teile, aber die hellen, dunklen, bunten, die könne man ja auch nicht zusammen waschen … Bisher hat sie aber noch niemand zur Rede gestellt. Und nun, seit sie mit den anderen da draußen lebt, haben sich solche Verteidigungsüberlegungen sowieso erübrigt. Gemeinschaftliches Stromfressen ist nur halb so verwerflich und außerdem viel gemütlicher.

Sie biegt in ihre Straße ab und erschrickt: Hat sie das Licht brennen lassen? Alle Fenster sind dunkel, nur eines ist hell erleuchtet. Sie beruhigt sich. Das ist nicht ihres, sondern eines auf der gleichen Etage im Nachbarhaus.

Die Post. Sie fällt ihr in die Arme und ergießt sich über sie, als sie den Briefkasten aufschließt. Briefe, kleine und große Umschläge, einige Prospekte, all das landet erst auf ihren Schultern und dann auf dem Boden. Es ist ein wunderbares Gefühl, so sanft beregnet zu werden. Allein für diesen Moment fährt sie gerne weg. Und kommt gerne wieder. Am liebsten gegen Ende des Monats. Da kommt mehr Post. Sie hat sich noch nie selbst eine Karte geschickt, aber da sich Postkarten besonders gut anfühlen, hat sie schon darüber nachgedacht. Die Ecken des härteren Kartons piksen frech zwischen den diversen gediegeneren Briefen.

Lotte sammelt manches ein, lässt einigen Werbemüll auf dem Boden liegen, fegt ihn mit dem Fuß unter den an der Wand hängenden, überquellenden Mülleimer bei den etwas zu hoch angebrachten Briefkästen. Wenn sie das Haus später wieder verlässt, dann wird sie das vielleicht aufheben und in den Mülleimer hineindrücken. Jetzt muss sie in die Wohnung.

Lotte wirft die Post auf die Couch, öffnet ein Fenster, setzt sich an ihren Schreibtisch, holt ihren Laptop aus der Tasche und schließt ihn an den Beamer an. Sie hat ihre Fotos nach Farbanteilen sortieren lassen. Die Ordner auf ihrer externen Festplatte heißen Rot, Grün, Gelb, Blau, Schwarz. Manche Bilder befinden sich auch in mehreren Ordnern. Ihr digitales Bildergedächtnis, ihr fotografiertes Leben ist umfangreich. Sie guckt die Bilder nicht an, teilt sie nicht mit der Welt in digitalen Netzwerken und löscht keine Duplikate. Viele sind unscharf, verwackelt, sie will sie gar nicht mehr angucken, nie wieder. Oft ärgert sie sich darüber, sie überhaupt gemacht zu haben. Digitales Messietum. Aber seit sie diese Sortierfunktion gefunden hat, meditiert sie über der entstehenden Mischung. Sie lässt sie einfach laufen, wie andere den Fernseher lässt sie ihr Leben nebenbei laufen, je nach Stimmung in grün oder gelb. Ob sie irgendwann auch die Musikbibliothek damit verbinden kann, sodass die Farben und Melodien direkt aufeinander abgestimmt abgespielt werden können? Noch muss sie die Begleitmusik händisch auswählen. Zu dunkelblau hört sie oft Chopin, orange sind Beethoven-Konzerte und gelb und weiß sind Mozart oder Steve Reich.

Sie hat nicht wirklich geputzt, bevor sie abreiste. Die Kamillen, die sie frisch liebt, stinken bestialisch. Widerwillig holt sie einen frischen Müllsack, öffnet ihn, wirft die Blumen hinein und schüttet das kontaminierte Wasser weg. Sie geht zurück an den Schreibtisch und ergoogelt sich die nächstgelegenen Tierheime. Ein Anflug dieser vertrauten Leere, und sie hat plötzlich nichts dagegen, diese Wohnung und die Stadt schon bald wieder zu verlassen, sich mit den anderen beim Rummikubspielen abzulenken.

„Samtpfoten Südstadt“. Wunderbar. „Adoptionsbedingungen“. Sie hofft, dass das Adoptieren einfacher sein wird als sich für eine Wohnung zu bewerben. Etwas Geld und ein Ausweis genügen. Transport und Futter sind noch offen. Futter, Fressi, Fressi. Sie googelt weiter. Acht Millionen deutsche Katzen fressen pro Jahr 30 Millionen Kilo Thunfisch, pro Tonne Thunfisch kommt im Schnitt ein Delfin um. Sie googelt weiter: „Katzen vegan ernähren“. Alarmierte Tierschützer warnen Vegetarier davor, ihre Katzen zu Vegetariern zu machen, wegen der dramatischen Folgen für die seelische und körperliche Gesundheit des Tieres. Trockenfutter enthält Abfallprodukte aus der allgemeinen Fleischproduktion. Fein.