Das Buch

Knirps ist überzeugt, dass ein echter Raubritter in ihm steckt. Deshalb will er unbedingt beim berüchtigten Rodrigo Raubein in die Lehre gehen! Doch der fordert zunächst eine Mutprobe. Als Knirps auf die Kutsche von Prinzessin Flip stößt, sieht er seine Chance gekommen. Kann es etwas Gefährlicheres geben als einen Prinzessinnenraub? Noch ahnt er nicht, dass auch der mächtige Zauberer Rabanus Rochus und sein Drache es auf sie abgesehen haben.

In den letzten Jahren vor seinem Tod begann Michael Ende eine Geschichte zu schreiben, die er »Raubritter Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe« nannte. Drei fertige Kapitel tippte er feinsäuberlich ab. Vollendet hat er die Geschichte leider nicht mehr. Über zwanzig Jahre später hat Wieland Freund sie zu Ende erzählt.

Die Autoren

Michael Ende

© Caio Garrubba

Michael Ende (1929–1995) hat in einer nüchternen, seelenlosen Zeit die fast verloren gegangenen Reiche des Phantastischen und der Träume zurückgewonnen. Er zählt heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern und war gleichzeitig einer der vielseitigsten Autoren. Neben Kinder- und Jugendbüchern schrieb er poetische Bilderbuchtexte und Bücher für Erwachsene, Theaterstücke und Gedichte. Viele seiner Bücher wurden verfilmt oder für Funk und Fernsehen bearbeitet. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche deutsche und internationale Preise. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über 35 Millionen Exemplaren erreicht.

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Wieland Freund

© privat

Wieland Freund wurde 1969 geboren, gerade rechtzeitig, um als Zehnjähriger »Die unendliche Geschichte« zu lesen. Er studierte Germanistik und Anglistik und blieb Michael Ende treu. Zu Wieland Freunds bekanntesten Romanen für Kinder zählen »Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts«, »Törtel« und »Wecke niemals einen Schrat!«. Für »Krakonos« wurde er zuletzt mit dem Rattenfänger-Literaturpreis ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Die Illustratorin

Regina Kehn

© Susanna Wengeler

Regina Kehn, 1962 geboren, wuchs mit »Jim Knopf und der Wilden 13« auf. Nach dem Studium der Illustration an der HAW Hamburg begann sie, als freie Illustratorin zu arbeiten und wurde seither vielfach ausgezeichnet. Sie illustrierte bereits mehrere Werke von Michael Ende, darunter »Der lange Weg nach Santa Cruz« (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis). 2016 erhielt sie für ihre Illustrationen in dem Kinderbuch »Freunde der Nacht« den Rattenfänger-Literaturpreis.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Titelbild

Die Beteiligten
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Erstes Kapitel

in welchem die Hauptperson fehlt – und zwar plötzlich

Mitten im finsteren Mittelalter, an einem Mittwoch und obendrein noch um Mitternacht, rumpelte und holperte ein hoher, kastenförmiger Wagen, der von drei Eseln gezogen wurde, über eine Landstraße voller Schlaglöcher und Pfützen. Ein schreckliches Gewitter tobte, Blitze und Donner folgten einander so schnell, dass man nicht mehr feststellen konnte, welcher Donner zu welchem Blitz gehörte. Es regnete wie aus Gießkannen und der Sturmwind pfiff.

Wenn man sagt »im finsteren Mittelalter«, so bedeutet das eine Zeit, in der das elektrische Licht noch nicht erfunden war, das heißt also, bevor eure Großeltern kleine Kinder waren. Und das ist unvorstellbar lange her. Damals gab es weder Glühbirnen noch Autoscheinwerfer noch Taschenlampen und natürlich erst recht keine Straßenbeleuchtung. Man kann sich leicht vorstellen, wie kohlpechrabenduster es auf jener Landstraße mitten in der Nacht war.

Hätte es zu dieser Stunde ein Wanderer gewagt, auf der Landstraße zu gehen, und wäre er dabei dem Wagen begegnet, so hätte er allerdings schon von Weitem durch das Donnergetöse das Klingen von Glöckchen gehört, die am Zaumzeug und an den Zügeln der drei Esel hingen. Und im Schein der Blitze hätte er gesehen, dass der Wagen aussah wie ein kleines Haus auf vier Rädern, dessen Wände über und über mit lustigen Figuren bemalt waren. Aus dem spitzen Dach ragte ein blecherner Schornstein heraus, links und rechts an den Seiten waren Fenster mit Geranienkästen und an der Rückseite gab es eine Haustür mit einem kleinen Extradach darüber. Über den Fenstern zu beiden Seiten stand in großen geschnörkelten Buchstaben:

PAPA DICKS PUPPENTHEATER

Der Herr Direktor, ein rundlicher kleiner Mann, saß, in einen riesigen, regenfesten Mantel eingemummelt, auf dem Kutschbock. Das Wasser troff von seinem breitkrempigen Hut, sein Kopf wackelte im Takt der rumpelnden Räder hin und her, sein rosiges, rundes Gesicht sah ungemein friedlich und freundlich aus. Er war nämlich eingeschlafen und schnarchte geruhsam vor sich hin. Die Donnerschläge schienen ihn dabei kein bisschen zu stören. Ebenso unbekümmert zockelten die drei Esel weiter. Sie waren offenbar daran gewöhnt, sich ihre Straße allein zu suchen.

Das Innere des Wagens war nur durch das schwache Licht einer kleinen Ölfunzel erleuchtet, die an einer kurzen Kette von der Decke baumelte. In einer Ecke gab es einen Herd, an der Wand dahinter hingen allerhand Pfannen, Töpfe und Kochlöffel. Gleich daneben befand sich eine Essnische mit einem Tischchen, einer Bank und zwei Stühlen, alles sehr praktisch und klein. In der anderen Ecke war ein Etagenbettgestell eingebaut, unten ein breites Ehebett, obendrüber, gleich unter der Decke und nur durch eine Leiter erreichbar, ein schmales, kleineres.

Der ganze übrige Raum war angefüllt mit Marionettenpuppen, die an ihren Fäden von der Decke oder von Gestellen herabbaumelten. Da gab es Prinzessinnen und Könige, Bürger, Bauern und Hexen, Zauberer, Tod und Teufel, Hanswurste, Türken, Pferde und Drachen und viele, viele Ritter. Auf dem Boden stapelten sich Kisten und Körbe, in denen die Kulissen aufbewahrt wurden und all die kleinen Sachen, die im Puppenspiel vorkamen, die Säbelchen und Schilde, die Königszepter und Tellerchen und Stühlchen und Bäumchen und Schiffchen und vieles andere mehr.

Die Puppen sahen in diesem flackernden Licht seltsam lebendig aus, wie sie so hin und her schaukelten, als ob sie miteinander tanzten.

Auf der Gardinenstange über dem Esstisch saß ein kleiner, sehr bunter Papagei, der den Kopf unter den Flügel gesteckt hatte und schlief. In dem breiten, unteren Bett lag Mama Dick unter einem rot karierten Plumeau und schnarchte ebenso hingebungsvoll wie ihr Mann draußen auf dem Kutschbock, nur viel zierlicher und melodischer.

Das obere, kleine Bett war leer. Und die Haustür in der Rückwand des Wagens schlug vom Winde bewegt auf und zu, auf und zu und immer wieder auf und zu.

Offenbar hatte jemand vergessen, sie ordentlich zu schließen.

Plötzlich gab es einen mächtigen Rums, als ob die Räder des Wagens gegen einen großen Stein gefahren wären, das ganze Gefährt neigte sich und kippelte auf die Seite. Alles fiel scheppernd und polternd durcheinander. Auch Mama Dick purzelte aus dem Bett. Der Papagei konnte sich gerade noch mit seinen Krallen an der Gardinenstange festhalten, aber er hing kopfunter.

»Oh Schreck, lass nach!«, kreischte er. »Was war denn das?«

Mama Dick arbeitete sich unter einem Haufen Puppen hervor und rief laut: »He, Papa Dick, was ist denn passiert?«

Von draußen hörte sie ihres Mannes Stimme durch das Windsausen: »Dolly, Willy und Ully haben wohl wieder mal ein bisschen im Laufen gedöst und sind in den Straßengraben gefahren.«

»Ephraim Emanuel Dick«, antwortete seine Frau wütend, »schäm dich was! Du schiebst es auf die drei unschuldigen Esel, dabei hast du wahrscheinlich selbst geschlafen. Wie kann man nur so verantwortungslos sein!«

Wenn sie ihn bei seinem ganzen ausführlichen Namen nannte, so war das immer ein alarmierendes Zeichen für Papa Dick. Er guckte zur Wagentür herein und machte ein äußerst besorgtes Gesicht.

»Hast du dir etwa wehgetan, lieber Schatz?«

»Nicht der Rede wert«, antwortete der Papagei. »Sokrates hat sich bloß ’ne Schwanzfeder geknickt.«

»Halt du jetzt mal den Schnabel, Sokrates«, sagte Papa Dick, »dich habe ich nicht gemeint. Wie geht es dir, liebe Frau? Ist alles in Ordnung?«

Mama Dick zwängte sich aus der klemmenden Wagentür heraus. Sie war ebenso rosig und rundlich wie ihr Mann und nur mit einem Nachthemd und einem Schlafhäubchen bekleidet. Nachdem sie ihrem Mann einen versöhnlichen Kuss gegeben hatte, besah sie sich seufzend den umgestürzten Wagen.

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»Glaubst du«, fragte sie dann, »wir können ihn wieder auf die Räder stellen?«

»Wir müssen’s versuchen. In dieser gottverlassenen Gegend werden wir keine fremde Hilfe finden. Zum Glück scheint nichts kaputt zu sein. Zu dritt werden wir’s schon schaffen. Knirps muss auch helfen. Wo steckt er denn? Ist er noch drin?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Mama Dick beunruhigt. »Ich dachte, er war die ganze Zeit bei dir vorn.«

»Nein, bei mir war er nicht«, sagte Papa Dick.

Sie wechselten einen erschrockenen Blick, dann riefen sie gleichzeitig ins Innere des Wagens hinein: »Hallo! Knirps! Junge! Kind! Bist du da drin? Ist dir was geschehen? Sag doch was, Söhnchen! Lebst du noch? Knirps, antworte uns bitte!«

»Hier drin ist niemand«, schnarrte der Papagei, »außer bloß Sokrates.«

»Um Himmels willen!«, rief Mama Dick und schlug die Hände zusammen. »Wo ist er dann? Wo ist mein armes Kind? Wir haben ihn unterwegs verloren, aber wann und wo? Was ist ihm geschehen?«

Und dann rannten beide eine Weile in der Dunkelheit herum und schrien, so laut sie konnten, nach allen Seiten in den Sturmwind: »Knirpschen! Junge! Bübchen! Antworte uns doch, wenn du uns hörst! Wo steckst du denn? Komm zurück, Söhnchen!«

Aber die einzige Antwort war das Sausen des Windes und das Grollen des Donners.

Eigentlich hieß der Junge natürlich nicht Knirps. Getauft war er auf die Namen Hastrubel Anaximander Chrysostomos. Diese Namen stammten aus einem uralten Geschichtenbuch, aus dem Papa Dick die Stoffe für seine Theaterstücke entnahm. Aber solche komplizierten Namen konnte kein Mensch aussprechen und noch weniger behalten, nicht mal die Eltern selbst. Deshalb nannten sie ihn zeit seines Lebens einfach nur Knirps – und das werden wir in der ganzen folgenden Geschichte auch so halten. Man kann diese Namen also getrost wieder vergessen.

Mama Dick begann zu weinen. »Er ist ein so unerschrockener kleiner Kerl«, schluchzte sie, »hoffentlich hat er nicht irgendwas auf eigene Faust unternommen …«

»Nun«, meinte Papa Dick, »sagen wir’s ehrlich. Er ist der störrischste und unverständigste Sohn, den wir je hatten.«

»Aber wir haben doch gar keinen anderen …«, jammerte Mama Dick.

Papa Dick nahm sie beruhigend in die Arme und streichelte ihr übers Haar, wobei er das Nachthäubchen in Unordnung brachte. »Beruhige dich, mein lieber Schatz«, murmelte er, »er taucht bestimmt bald wieder auf. So einem wie ihm passiert schon nichts. Wir finden ihn gewiss wieder und dann werde ich ihm doch endlich mal den Hosenboden ordentlich stramm ziehen.«

»Das wirst du nicht tun!«, heulte Mama Dick. »Du bist ein Rabenvater. Und überhaupt – was ist, wenn er nun von Räubern entführt worden ist?«

»Ach was«, sagte Papa Dick, »wir sind doch extra bei dunkler Nacht gefahren, damit uns niemand sieht. Und außerdem, bei diesem verdammten Wetter legt sich doch kein Räuber auf die Lauer.«

»Das glaubst du doch selbst nicht!«, rief Mama Dick immer verzweifelter. »Es wimmelt in dieser Gegend nur so von Galgenvögeln.«

»Na gut, aber warum sollten sie so was tun?«, wandte Papa Dick, nun selbst schon ziemlich unsicher, ein. »Wir sind doch nur arme Puppenspieler. Wir können doch überhaupt kein Lösegeld zahlen. Warum sollte jemand unsern Knirps entführen?«

Mama Dick entzog sich der Umarmung ihres Mannes und trat einen Schritt zurück. Sie war sehr blass geworden. »Hier irgendwo in den Wäldern«, brachte sie mit Mühe hervor, »haust doch Rodrigo Raubein, und das ist der schlimmste und grausamste aller Raubritter. Das ist ein vollkommen herzloser Mensch. Er tut Böses, weil es ihm Spaß macht, Böses zu tun. Er will gar nichts dafür. Und wenn er unseren Knirps …«

Sie konnte nicht weitersprechen. Und nun fing auch Papa Dick zu weinen an. Sie hielten sich gegenseitig in den Armen und der Regen rann ihnen über die Gesichter.

»Oh Schreck, lass nach!«, krächzte Sokrates aus dem Inneren des Wagens. »Das wär eine schöne Bescherung. Aber ihr solltet nicht gleich den Kopf verlieren. Vielleicht ist Knirps nur mal eben ausgestiegen, um Pipi zu machen oder so was.«

»In solchen Fällen«, antwortete Papa Dick, von Schluchzern unterbrochen, »pflegt er aber zu rufen, damit man anhält und auf ihn wartet.«

»Aber wenn du doch geschlafen hast, du Schlafmütze«, fuhr Mama Dick ihren Mann an und schüttelte ihn, »dann hast du überhaupt nichts gehört! Und das arme Kind irrt nun in der Nacht herum.«

»Du hast ja auch geschlafen«, erwiderte Papa Dick kleinlaut, »ansonsten hättest du’s gemerkt, wenn er aussteigt.«

»Zum Kuckuck!«, kreischte der Papagei erbost. »Würde vielleicht jemand so freundlich sein und den Wagen wieder auf die Räder stellen? Sokrates hängt hier noch immer kopfunter an der Gardinenstange, und sehen kann er auch nichts, weil die Funzel ausgegangen ist, und überhaupt. Wir bleiben eben hier und morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, wird Sokrates in der ganzen Gegend herumfliegen und Knirps suchen. Und ihr könnt dasselbe zu Fuß machen. Aber jetzt können wir alle miteinander gar nichts tun als warten, ob er von selbst kommt. Also, stellt jetzt gefälligst den Wagen wieder auf, damit Sokrates wenigstens vernünftig nachdenken kann.«

Dieser Papagei war, wie man sieht, ein außerordentlich nüchtern veranlagter Vogel und nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Er gehörte einer Rasse an, die besonders klein und besonders bunt war; er sah aus wie ein Clown, was er allerdings nicht sehr gern hörte. Außerdem war er, wie das bei Papageien öfter vorkommt, erstaunlich alt, schon fast hundert Jahre, also ungemein lebenserfahren.

Dass er so perfekt zu sprechen verstand, lässt sich einleuchtend erklären: Er war nicht nur mit Papa Dick und Mama Dick, sondern schon mit Großvater Dick und Großmutter Dick, die ebenfalls Puppenspieler waren, durch die Lande gezogen und hatte alle Theaterstücke Hunderte und Hunderte von Malen gehört, bis er sie fehlerlos nachsprechen konnte. Und da er ein außerordentlich gescheiter Vogel war, weshalb er übrigens auch den Namen eines berühmten griechischen Philosophen trug, konnte er inzwischen mit diesem enormen Wortschatz ebenso gut umgehen wie irgendein Professor.

Papa Dick fand einen starken langen Ast, den er als Hebel benutzte. Mama Dick packte ordentlich mit zu und stemmte sich unter den Wagen. Willy, Ully und Dolly, die drei Esel, legten sich mit aller Kraft ins Geschirr – und nach einigen Versuchen gelang es, den Wagen wieder auf die Räder zu stellen. Die Seite, die unten gelegen hatte, war ziemlich schmutzig, aber das wusch der Regen bald ab. Sonst war nichts beschädigt.

Das Ehepaar stieg hinein und zündete die Funzel wieder an. Dann räumten sie die durcheinandergefallenen Sachen auf und verstauten alles sorgfältig. Als das getan war, setzten sie sich einander gegenüber an den kleinen Tisch in der Essecke, hielten sich bei den Händen und blickten sich gegenseitig bekümmert an. Keiner von beiden hatte Lust, sich schlafen zu legen.

Mama Dick seufzte ab und zu und sagte immer wieder: »Was können wir nur tun, Papa Dick?«

Und Papa Dick antwortete jedes Mal: »Ich weiß es nicht.«

Schließlich schüttelte Sokrates sein Gefieder und plusterte sich. »Abwarten und Tee trinken!«, schnarrte er.

Und das taten sie dann auch, denn etwas Sinnvolleres gab es in der Tat vorerst nicht zu tun.

Vor dem Wagen draußen standen Ully, Dolly und Willy im Regen und Sturm. Das störte sie nicht, sie waren es gewohnt. Aber diesmal ließen sie die Köpfe und die Ohren hängen.

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Zweites Kapitel

in welchem Knirps die Schauderburg belagert

Während weit, weit vorn auf der Landstraße Papa und Mama Dick in ihrem Wagen saßen, Tee tranken und sich um ihr Kind sorgten, bahnte sich Knirps einen Weg durch das dickste Dickicht eines Waldes. Zu jener Zeit gab es auch bei uns zu Lande noch richtige Urwälder mit tausendjährigen Baumriesen, mit Schluchten, die noch keines Menschen Fuß je betreten hatte, mit Schlingpflanzen und Sümpfen, in denen Irrlichter auf und nieder tanzten. Und der riesige Wald, um den es sich in dieser Geschichte handelt, hieß der Bangewald, denn er war ganz besonders unheimlich.

Es hieß, dass es dort nicht nur Bären und Riesenschlangen gäbe, sondern auch Waldgeister, schlimme Kobolde und alle möglichen anderen Ungeheuer. Vor allem aber lebte hier, irgendwo in seiner unnahbaren Burg versteckt, jener gefürchtetste aller Raubritter, den Mama Dick schon mit solcher Ängstlichkeit erwähnt hatte: Rodrigo Raubein.

Niemand im ganzen Land wagte seinen Namen anders auszusprechen als hinter vorgehaltener Hand und in flüsterndem Ton, denn schon allein seine Erwähnung galt als gefährlich. Über die Wildheit und Bosheit dieses Unmenschen gab es zahllose Geschichten. Vor allem aber erzählte man sich geradezu unglaubliche Dinge über seine gewaltige Kraft im Kampf, die ihn ganz und gar unbezwinglich machte. Selbst die tapfersten Recken und kühnsten Draufgänger zogen es vor, sich erfolgversprechenderen Abenteuern zuzuwenden und um den Bangewald einen möglichst großen Bogen zu machen.

Trotzdem – oder vielmehr gerade deshalb – hatte Knirps beschlossen, diesen Mann aufzusuchen.

Diese erstaunliche Absicht soll auf der Stelle erklärt werden, denn sonst könnte sich möglicherweise jemand ein ganz falsches Bild von Knirps machen und ihn für ungeheuer mutig oder gar für einen Helden halten.

Aber das war er nicht. Denn mutig ist jemand, der Angst hat und seine Angst überwindet. Aber Knirps wusste überhaupt nicht, was Angst ist, und deswegen brauchte er auch nichts zu überwinden.

Angst hat nämlich nur einer, der das Böse kennt, das in ihm steckt, und es deshalb nicht sucht. Und auch davon wusste Knirps nichts. Er konnte sich einfach nichts Richtiges darunter vorstellen. Deshalb war das keine Tugend, sondern ein Fehler. Er hatte keine Ahnung, was man gegen einen solchen Fehler tun konnte. Er hatte gehört: Wer nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, der bleibt ewig ein Kind. Aber das wollte Knirps nicht, er wollte gerne erwachsen werden, und deshalb war er ausgerissen und nun auf dem Wege zu Rodrigo Raubein, der ja zweifellos ein Fachmann auf dem Gebiet des Bösen war.

Noch immer tobte das Donnerwetter, der Regen stürzte in Bächen hernieder, Blitze zuckten und Donner krachten und der Sturmwind brachte den ganzen Wald in wilden Aufruhr. Knirps war nicht gerade richtig angezogen für seine Expedition. Seine kleine, magere Gestalt steckte in einem Harlekinsanzug, den Mama Dick für ihn aus all den Reststückchen genäht hatte, die ihr beim Schneidern der Kostüme für die Marionettenpuppen übrig geblieben waren. Kleine bunte Flecken aus Samt, aus Leder, aus Goldstoff, aus Fell, aus Seide, aus Filz oder Wolle. Natürlich war der Anzug schon völlig durchnässt und klebte ihm an den Gliedern. Einen Hut hatte er auch nicht und seine fuchsroten Haare standen ihm verstrubbelt um den Kopf. Sein sommersprossiges Gesicht und seine blauen Augen sahen aus, als wäre er geradewegs vom Himmel gefallen.

Im Schein der zuckenden Blitze erschienen die riesigen, knorrigen Baumstämme wie allerlei seltsame Gestalten mit verkrümmten Armen und Beinen, wie Gesichter mit glotzenden Augen, knorpeligen Nasen und aufgerissenen Mündern. Das vielstimmige Brausen und Heulen des Sturmwinds klang wie ein Chor jammernder oder drohender Stimmen. Aber Knirps marschierte weiter, ohne sich davon im Geringsten beeindrucken zu lassen. Ab und zu knallte er in der Dunkelheit mit dem Kopf gegen einen Ast, den er nicht gesehen hatte, oder er purzelte über dicke Wurzelstrünke. Aber er rappelte sich wieder auf und setzte seine Wanderung unverzagt fort. Ein paarmal geschah es sogar, dass der Wind Bäume entwurzelte, die krachend umfielen und andere Bäume mitrissen. Knirps kletterte über die dicken Stämme hinweg, die ihm im Weg lagen, und bahnte sich weiter seinen Pfad durch das Dickicht.

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Einmal geriet er mit dem Fuß in etwas, das ihn festhielt. Er zog und zog und konnte doch nicht loskommen. Es sah so aus, als hätte eine Wurzelhand zugegriffen, denn der Fuß konnte eigentlich gar nicht anders zwischen diese Krallen gekommen sein. Knirps zog und zerrte mit aller Kraft, aber das Ding gab nicht nach. Vielleicht war es einer der boshaften Wurzelgnome.

»Hör mal«, rief Knirps, »lass mich los, ich muss doch zu Herrn Rodrigo Raubein!«

Kaum hatte er diesen Namen ausgesprochen, als sein Fuß auch schon frei war. Sollten sogar die Waldgeister und die Bäume sich vor ihm fürchten? Oder war es einfach nur Zufall gewesen?

Kaum war er ein paar Dutzend Schritte weitergegangen, als ein gewaltiger Blitz genau in die Stelle einschlug, wo er noch vor Kurzem gestanden hatte.

»Hat das mir gegolten?«, fragte Knirps. »Das fände ich aber nicht nett, wo ich doch bloß seinen Namen gesagt hab.«

Selbst die unheimlich aussehenden Bäume schienen vor so viel Unbekümmertheit zu erschrecken. Ihre Gesichter sahen plötzlich ziemlich entrüstet aus, und es war, als ob sie miteinander flüsterten und tuschelten.

»Schon gut«, sagte Knirps, »ich bin ja schon still.«

Und er stapfte seelenruhig weiter.

Ein wenig später ließ das Unwetter endlich nach, nur der Wind dauerte noch an und blies Wolkenfetzen an dem vollen Mond vorüber, sodass es abwechselnd hell und dunkel wurde. Doch unten auf dem Boden des Bangewaldes, wo Knirps sich seinen Weg suchte, war davon nicht viel zu bemerken. Die riesigen Baumkronen ließen kaum das fahle Licht durch.

Dann hörte plötzlich auch der Wind auf und es wurde totenstill. Nur das leise Geräusch der Tropfen, die von den Blättern fielen, war noch zu hören. Nebel stiegen aus dem Boden auf. Die Nachttiere, die sich bis jetzt in ihren Schlupflöchern verkrochen hatten, kamen nach und nach hervor und beobachteten mit ihren glühenden Augen von überallher den kleinen Wanderer, der da so ungeniert in ihr Revier eingedrungen war.

Der Boden wurde immer sumpfiger und an vielen Stellen wuchsen riesige Pilze. Manche davon waren größer als Knirps. Der Boden stieg jetzt merklich an und der Baumbestand wurde lichter. Man konnte sogar schon ab und zu den Mond durch die Baumkronen sehen.

Nachdem Knirps längere Zeit immer höher und höher gestiegen war, hörte er plötzlich in der Stille ein Knacken und dann wieder und noch einmal. Er ging dem Geräusch nach und entdeckte unter einem großen Haselstrauch einen Bären, der dort Nüsse knackte.

»Hallo, Bär!«, sagte Knirps und ging auf ihn zu. »Lass mir auch welche übrig. Ich hab Hunger.«

Der Bär drehte sich um und richtete sich brummend auf den Hinterbeinen auf. Er war mehr als dreimal so groß wie Knirps und blickte verwundert auf den winzigen Kerl in seinem sonderbaren bunten Anzug herunter.

»Ich tu dir schon nichts«, sagte Knirps.

Sei es nun, dass der Bär schon satt war, sei es, dass ihn so viel Unverschämtheit verwirrte, er ließ sich jedenfalls wieder auf alle viere nieder und trottete brummend davon.

Knirps blickte ihm freundlich nach und rief: »Danke!« Dann sammelte er alle Nüsse auf, die er finden konnte, stopfte sie in die weiten Taschen seines Mantels und machte sich wieder auf den Weg, wobei er unterwegs eine Nuss nach der anderen mit den Zähnen knackte und aufaß.

Der Mond war schon ein gutes Stück weitergewandert, als sich der Wald vor Knirps plötzlich öffnete und ihm den Blick auf einen kahlen Felsenberg freigab, der schroff und vielzackig emporragte. Ganz oben auf der höchsten Spitze war im fahlen Licht eine Burg zu erkennen, deren Anblick selbst aus dieser Entfernung wohl jedem anderen eine Gänsehaut über den Rücken gejagt hätte – jedem, nur nicht Knirps, der befriedigt nickte und einen bewundernden Pfiff ausstieß. Er war sicher, dass er hier nun endlich an der richtigen Postadresse angelangt war: Raubritter Rodrigo Raubein, wohnhaft in der Schauderburg auf dem Haarzuberg im Bangewald.

Die Burg war aus schwarzen Steinblöcken errichtet und hatte fünf verschieden hohe Türme, die alle irgendwie schief und krumm wirkten. Die wenigen Fenster, die nach außen gingen, da die Außenmauern direkt in die senkrecht abfallenden Felsen übergingen, sahen aus wie leere Augenhöhlen. Einen Burggraben gab es nicht, nur auf einer Seite gab es ein Tor, doch war von unten nicht zu erkennen, ob es offen oder geschlossen war. Im Ganzen machte diese Burg einen reichlich heruntergekommenen Eindruck.

Knirps begann den Aufstieg. Der Weg war ein schmaler Felsenpfad ohne Geländer, der sich in kuriosen Windungen um die hohen Felsnadeln schlängelte. Überall unterwegs, wo ein bisschen Platz dafür war, stieß Knirps auf Gräber, deren Steinkreuze schräg im Boden steckten. Auf den Grabplatten entzifferte er mühsam Inschriften der folgenden Art:

Hier liegt begraben Ritter Bogumil Drohmir,

erschlagen von Rodrigo Raubein

nach dreitägigem Kampf.

Wanderer, hüte dich weiterzugehen!

Oder:

Hier ruhen die mühsam eingesammelten Gebeine

des Riesen Untam Menuwel,

der das Pech hatte,

Rodrigo Raubein zu missfallen.

Wanderer, nimm die Beine in die Hand!

Oder:

Das bisschen, was noch übrig blieb

von den dreizehn Banditen

der Berserker-Bande,

die Rodrigo Raubein in die Quere kamen,

liegt hier in einem Blumentopf begraben.

Fremder, fliehe flugs von hinnen!

Beim Höhersteigen stolperte Knirps mehrmals über herumliegende Totenschädel und Knochenhaufen. Einmal musste er sogar an einem ganzen Spalier von menschlichen Gerippen entlangmarschieren, die mit verrosteten Ketten an die Felswand geschmiedet waren und Helme aufhatten. Offenbar hatte es sich da um eine ganze Rittergesellschaft gehandelt, die hier von Rodrigo Raubein dafür bestraft worden war, dass sie versucht hatten, ihm einen Besuch ohne Einladung zu machen.

Jeden anderen hätte diese Ehrenformation wahrscheinlich auf den Gedanken gebracht, dass es doch im Grund zu Hause viel schöner und gemütlicher sei und deshalb höchste Zeit, umzukehren. Aber nicht so Knirps.

Als er schließlich ganz oben angekommen war, sah er, dass der Weg auf einer Felsenzinne endete. Eine Zugbrücke führte über einen gähnenden Abgrund hinüber zum Tor der Burg. Diese Brücke war so morsch und die gewaltigen Ketten so rostzerfressen, dass es mehr als fraglich schien, ob sie überhaupt noch halten würde, wenn man darüberging. Außerdem war das riesige Tor geschlossen.

Knirps setzte seinen Fuß auf die Bohlen der Brücke. Es knackte und knisterte und irgendetwas rutschte und fiel in die Tiefe. Aber Knirps ging weiter. Einmal musste er über ein Loch zwischen den Planken springen. Die ganze Konstruktion schwankte auf und ab und die Ketten knirschten. Aber dann stand er schließlich vor dem Tor.

In der Mitte war ein Türklopfer in Gestalt einer Teufelsfratze, die einen dicken Eisenring im Maul trug. Knirps bewegte den Ring und klopfte ein paarmal. Er hörte, wie das Geräusch im Inneren der Burg gespenstisch widerhallte, sonst blieb es mucksmäuschenstill. Er klopfte noch einmal kräftiger. Dann schrie er durch die hohlen Hände: »He, hallo! Herr Raubritter Rodrigo Raubein, kann ich bitte reinkommen?«

Keine Antwort war zu hören und niemand kam.