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Westend Verlag

Ebook Edition

Helmut Salzinger

Der Gärtner im Dschungel

»Der auf die Sterne hereingefallene Mensch.«
(Aragon, Le Paysan de Paris)

Westend Verlag

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ISBN 978-3-86489-723-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhaltsverzeichnis

Schreiben wie die Maus buddelt
Der Gärtner im Dschungel

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© Michael Kellner

Helmut Salzinger (1935 - 1993) war Literaturkritiker der ZEIT und Schriftsteller (Swinging Benjamin, Rock-Power oder Wie musikalisch ist die Revolution?) und zog sich Anfang der 1970er-Jahre auf das Land zurück, um sich fortan möglichst bio-dynamisch mit Lebensmitteln zu versorgen.

Von Mo – Eine Geschichte

Einmal gab es zwei Krötenfamilien in meinem Garten. Zwei dicke Mutterkröten, behäbig und besonnen, und unzählige Kinderkröten, die mir oft vor Schreck bei meinem plötzlichen Erscheinen auf die Füße sprangen.

Das war ein schönes Jahr.

(28. April 1986 –)

Das Wort Nullpunkt für den Garten erhält durch die neuesten atomaren Ereignisse eine sonderliche Bedeutung, die ich zunächst nicht damit verbunden hatte. War mit dem Nullpunkt eigentlich der Punkt der sich kreuzenden Koordinaten der Welt gemeint, wo das ganz Große und das ganz Kleine einander berühren und wechselseitig aus einander hervorgehen, mein persönliches Weltzentrum, so hat die radioaktive Wolke diesem Sinn unversehens den plattesten Unsinn entbunden, der sich gerade noch denken lässt, dass nämlich an diesem Punkt die Welt für mich auf null gebracht worden wäre und ich für sie.

Die Schweine haben meinen Platz verstrahlt!

Ich brauche gar nicht mehr von der Welt zu reden. Es reicht, von diesem Platz zu sprechen, an dem ich lebe, wo ich durchs Gras krieche und mit den Händen in der Erde wühle. Wo die Pflanzen wachsen, die ich esse.

Die Schweine machen uns hier das Leben unmöglich.

Die Schweine!

Dass ich nicht lache. Die Schweine, das sind wir durchaus selber. Diese Suppe haben wir uns selber eingebröselt. Und jetzt löffeln wir sie eben aus.

Trotzdem! Die Schweine haben mir den Garten verstrahlt. Sie haben meinen Platz zerstört. Die frische, klare Luft dieser Tage, der warme Regen dieser Frühlingsabende, sie täuschen. Was sie aus dem Boden hervortreiben, es strahlt. Die Erde ist verseucht, und was sie künftig hervorbringen wird, wird ebenfalls strahlen.

Man sieht es nicht, man hört es nicht, man riecht und schmeckt es nicht und man spürt es auch nicht, jedenfalls nicht gleich. Aber man weiß, es ist da. Es ist allenthalben, wohin der Regen fällt, und von da breitet es sich auch dorthin aus, wohin er nicht gefallen ist, unter die Dächer und in den Erdboden. Man wird es nicht mehr los.

Wer es von sich abwäscht, schwemmt es ins Abwasser. Von da gelangt es in die Kläranlage und schließlich zurück ins Trinkwasser. Zuletzt ist es überall. Wir wissen, dass die Natur sich aus Kreisläufen aufbaut, die sämtlich ineinandergreifen und alles mit allem verbinden. Dahinein ist es jetzt geraten und kreist nun mit. Und strahlt.

Einiges von dem strahlenden Zeug wird sich in dreißigtausend Jahren um die Hälfte vermindert haben. Die andere Hälfte strahlt weiter.

Man kann sich nicht schützen. Das ist das Gute an der neuen Lage, dass es diesmal nicht bloß die Kleinen trifft, sondern unterschiedslos alle. Der Krebs ist demokratisch, und es macht Sinn, dass er sich gerade unter denen ausbreitet, die in diesen Zeiten sich selber krebsig wuchernd über den Erdball verbreiten und ihn mittels ihrer Zivilisation verwüsten.

Denn diese weiße Zivilisation mitsamt ihren Folgen ist der wahre Krebs auf Erden, und nur indem er die Menschheit erfasst, rottet er sich selber aus. Mit Tschernobyl ist für mich im Garten etwas zu Ende gegangen. Nämlich die Hoffnung auf eine andere Möglichkeit, auf ein Inseldasein, das die allgemeinen Trends umgeht und vermeidet. Und es zeigt sich einmal mehr, dass es kein Entkommen gibt.

Die Sonne scheint, der Regen fällt, der Wind weht, die Vögel singen, und alles wächst und dehnt sich. Dennoch ist es verderblich, mit bloßen Füßen durchs junge Gras zu gehen oder mit den Händen in der lockeren, warmen Erde zu wühlen. Die wohltätigen Wirkungen solcher Bewegungen und Verhaltensweisen sind neuerdings an schädliche gebunden, von denen Gefahr für Leib und Leben ausgeht. Und dabei sieht die Welt aus, als sei alles wie immer. Dabei ist alles anders. Doch davon merkten wir nichts und wüssten wir nichts, würde es uns nicht immer wieder gesagt. Und weil es immer wieder gesagt wird, bleibt uns nachgerade auch nichts anderes übrig, als es zu glauben.

Nichtsahnend ziehen sich die Stare, denen es natürlich nicht gesagt wird, aus dem frischen Grün der Wiese ihre nichtsahnenden Würmer und Larven und füttern damit ihre nichtsahnenden Jungen. Die Evolution ist keineswegs zu Ende, und zurzeit ist der Mensch dabei, an ihr ein bisschen zu drehen. Das könnte ihm schlecht bekommen; denn bisher hat sie noch jede Lebensform, die ihr Anpassungspotential ausgeschöpft hat, früher oder später als misslungenen Versuch wieder eingesammelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch dem Menschen zustößt, wächst, und sie wächst solange, wie wir nicht das Dinosaurierhafte an uns und unserm Verhalten begreifen und ablegen.

Auffällig in diesen späten Mai-Tagen ist das häufige Erscheinen von Gänsen in Richtung Westen, nachdem sie erst im April, und zwar in Mengen, wie wir es noch nie beobachtet haben, nach Osten gezogen sind. Einen ganzen Tag lang war der Himmel immer wieder voll von den keilförmigen Trupps, in denen die Gänse ziehen. Oft waren es mehrere zugleich, Tausende von Tieren, deren heiseres Schreien von irgendwoher vernehmbar wird und allmählich anschwillt, bis es sich im Bild der langgezogenen, dreieckigen Schwärme materialisiert, die in beständigem, zielstrebigem Flug nach Osten wandern, wo ihr Geschrei langsam wieder verebbt, bis es sich zuletzt in der Ferne verliert. Es herrscht eine fortwährende Bewegung innerhalb solch eines Schwarms. Die Tiere tauschen permanent untereinander die Plätze aus, bleiben zurück, lassen sich überholen, suchen wieder Anschluss, und indem sich die Formation ständig auflöst und neu bildet, entwickelt der Schwarm bei aller Lockerheit seiner Gestalt jene innerliche Stabilität, die ihm hilft, Entfernungen zurückzulegen, welche für das einzelne Tier unüberwindlich wären.

Es sind auch wieder Bussarde da, die an schönen Tagen auf einer Thermik ihre Tänze aufführen. Während die Gänse ziehen, gehen sie allerdings nieder.

Ich habe vor, ein paar Neupflanzungen (Sommerflieder, Kornelkirsche, sowie dreißig zweijährige – also sehr winzige – Rotkiefern) und einige kümmernde und kranke Bäume systematisch mit Brennessel- und Comfrey-Jauche zu behandeln. Der Schneeball, der wahrscheinlich einen ungünstigen Standort hat, wird seit einigen Jahren regelmäßig von Läusen heimgesucht, gegen die auch mit der Pyrethrum-Spritze nichts auszurichten ist, und eine kleine Blaufichte wurde jahrelang durch die unmittelbare Nachbarschaft der Belladonna niedergehalten. Ich habe sie aus deren Dunstkreis weggepflanzt, aber bisher ist sie dennoch nicht in Gang gekommen.

Ebenso eine von den Schwarzkiefern, der die Enge zwischen Wacholder und Holunder nicht bekommen ist und die jetzt allein steht. Auch sie zeigt bisher keine Anzeichen von Lebendigkeit. Höchstens, dass sie die braunen Nadeln abgeworfen hat. Vielleicht tun ja die Jauchen wirklich die ihnen nachgesagten Wunderwirkungen.

Feucht warm und bedeckt. Einige der mit Jauche behandelten Pflanzen haben über Nacht Fortschritte gemacht. Aber das liegt wohl eher an der günstigen Witterung als an meiner Behandlung. Doch wer weiß!

Diese Unsicherheit gehört ja zu allen Naturheilweisen wesentlich dazu. Man weiß nie, ob das verabreichte Mittel die Ursache der Besserung ist oder nicht vielleicht doch irgendein anderer unbekannter Faktor, der sich seither eingestellt und eventuell die gesamte Wirkungskonstellation verändert hat. Wahrscheinlich ist die Frage nach der Ursache hier sogar prinzipiell falsch. Es genügt ja, dass die gewünschte Wirkung eingetreten ist. Natürlich (natürlich!) ist das ein »vorwissenschaftliches« Verhalten, obwohl ich es vorziehe, es »nachwissenschaftlich« zu nennen, nämlich postmodern.

Man muss halt dran glauben, und das sowieso. Und das Erstaunliche ist, mit welcher Leichtigkeit und Gefügigkeit unsere Zivilisation, die ansonsten das Glauben durch Wissen ersetzt zu haben beansprucht, angesichts der unsinnlichen Bedrohungen, die neuerdings aus den Wolken kommen, Glaube und Wissen erneut die Plätze tauschen lässt und, wo das eigene Wissen durch keinerlei persönliche Erfahrung gedeckt ist, sondern lediglich auf dem allgemeinen Hörensagen beruht und mithin überhaupt kein Wissen ist, nur gar zu gerne bereit ist, das Allerschlimmste zu glauben.

Der Begriff postmodern oder ein entsprechendes Verhalten wie das »going native« könnte in diesem neuen, von der radioaktiven Wolke zuerst hergestellten und dann aufgedeckten gesellschaftlichen Konsens die Bedeutung annehmen, dass man sich freiwillig der Barbarei in die allzeit offenen Arme wirft, eine Restitutio ad integrum, von deren Zwangsläufigkeit nicht bloß die früheren Väter der Aufklärung, sondern auch die neueren Kritiker ihrer Dialektik nicht einmal zu träumen gewagt haben dürften, bewiese sie doch, dass ihrer aller Voraussetzung falsch war und falsch bliebe: dass es nämlich im Menschlichen einen Fortschritt geben könne.

Meine tägliche Suche nach Pflanzen, die sich selbst neu angesiedelt haben, modifiziert sich in diesen Wochen insofern, als ich inzwischen auch nach Mutationen Ausschau halte.

Wurde fündig mit einem geplatzten und augenscheinlich hypertrophierten Löwenzahnblütenstengel, der am Boden lag und sich als gewaltiger Wulst auswärts gestülpt hatte. Dann war da etwas, das eigentlich nur ein Pilz sein konnte (oder gewesen sein): ein überlanger Stengel, weißlich und nicht dicker als ein mittlerer Wollfaden, s-förmig auf dem Boden liegend, mit einem schwärzlich grauen Gebilde anstelle des Hutes, das mit den Grashalmen verklebt war, auf denen es lag.

Nun ist das ja vielleicht ganz in Ordnung und nicht im mindesten eine Mutation. Außerdem bin ich in gar keiner Weise qualifiziert, eine echte Mutation überhaupt zu erkennen. Aber dass ich auf die Idee komme, es könne sich um Mutationen handeln und nicht bloß um normale Missbildungen, ist ein Indiz für die geistige Klimaveränderung, die von der radioaktiven Wolke bewirkt worden ist, Indiz für eine Art Mutation in meiner Wahrnehmung der Welt und in meinem Denken über sie.

Über dem Hof liegt ein eigentümlich intensiver Duft. Er stammt von dem blühenden Ginster, erhält aber seine durchdringende, süßliche Intensität erst durch seine Durchmischung mit dem Duft des daneben stehenden weißen Flieders, der in diesem Jahr zum ersten Mal voll in Blüte steht. Hinzu kommt noch der Duft des lila Fliederwäldchens, das ebenfalls in diesem Jahr zum ersten Mal voll erblüht ist, und es zeigt sich nun, dass an der Rede vom ›betäubenden Duft‹ in der Tat etwas dran ist. Nicht dass ich ohnmächtig umfiele. Doch erhält die Luft unversehens ein Aroma, das mich veranlasst, stehen zu bleiben und wie meine Hündin witternd die Nase zu heben, um meine atmosphärische Umgebung nach Spuren einer fremden Anwesenheit abzutasten.

Inzwischen ist es Juni geworden, und ich beiße von meinen Möhren ab, dass es kracht. Als hätte es Tschernobyl nie gegeben.

Gäbe es keine Zeitungen und dergleichen, dann hätte es in der Tat Tschernobyl nie gegeben und ich bisse dann ebenso bedenkenlos krachend von meinen Möhren ab wie eben jetzt.

Damit will ich nicht etwa sagen, dass ich Tschernobyl lediglich für ein Medienereignis hielte, obwohl ich tatsächlich der Ansicht bin, die heutige Wirklichkeit sei weitestgehend eine Funktion der Medien. Und damit will ich auch nicht sagen, dass ich meine eigene Bedenkenlosigkeit in dieser Sache zur Maxime einer allgemeinen Anwendung gemacht wissen möchte, ganz und gar nicht. Was ich damit sagen will, ist dieses: Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als meine Bedenken hintanzustellen. Und es ist auch keineswegs Bedenkenlosigkeit, was mich krachend von meinen Möhren abbeißen lässt, sondern ganz im Gegenteil die Entscheidung nach einem sehr langen und schweren Bedenken.

Die Bedenkenlosigkeit überlasse ich unseren demokratischen Oberen und deren amtsführenden Helfershelfern, die sich kürzlich an einer eigens zu diesem Zweck errichteten Salatbar pressemäßig ablichten ließen, um so – sich unter Einsatz der eigenen Person mutig kopfüber ins Risiko stürzend – den Verzehr von möglicherweise strahlenden Gartenprodukten offiziell als »unbedenklich« zu demonstrieren. Ich hingegen, der ich wie alle Welt sonst auch nur die Wahl zwischen Tschernobyl und Aldi habe, zwischen ›getötet‹ und ›tot-behandelt‹, habe mich für meinen Garten entschieden, für das Unheil aus den Wolken, die über uns schweben, und gegen den Affentanz um das bisschen reduzierte Leben, das die Kalkulationen der Konzerne den Kunden zugestehen müssen, damit die Waren verkauft und verbraucht und die Profite erwirtschaftet werden können.

Nach mir also die Sintflut! Dies gute alte Wort der Madame Pompadour, ehe sie guillotiniert wurde, mag auch über meiner Entscheidung leuchten, die ja eigentlich gar keine ist, sondern nur ein Vollzug des ohnehin Unausweichlichen. Nicht weil ich mir ein Hintertürchen offen gehalten und geheimerweise in der Garage eine Arche gebaut hätte, die ich nun samt den Meinen und einem Pärchen von jeglichem mir erreichbaren Getier zu besteigen gedenke (vgl. die unvergleichliche Schilderung des Vorgangs in T.H. Whites Roman The Elephant and the Kangaroo, zu Deutsch Mr. White treibt auf dem reißenden Liffey nach Dublin), sondern weil ich nicht wünsche, dass irgendwer von diesem Pack, das derlei nicht bloß möglich, sondern auch wirklich gemacht hat, seiner endlichen Beseitigung entgehe, wobei mir der Hinweis erlaubt sei, dass selbigem Pack ich mich durchaus zurechne.

Jedenfalls will und kann ich eine Zeitenwende nicht anerkennen, vor der die Aldi-Nahrung das Allerletzte war, das ein gesundheitsbewusster Mensch zu sich genommen hätte, und nach der gerade die für Fragen der Ernährung aufgeschlossensten Hausfrauen und Mütter sich mit den biologisch toten Nahrungsmitteln von Aldi eindeckten, weil die wenigstens nicht verstrahlt waren. Doch für ›tot‹ gibt es keine Steigerung, und die Auferstehung des Fleisches halte ich ohnehin für Humbug.

Also stehe ich, mit dem nackten Fuß in der Luft, auf der Stufe vor der Haustür und zögere noch, ihn ins regenfrische Gras zu setzen. Dieser eine Schritt, und danach wäre alles anders, unwiderruflich, scheint mir.

Doch was sonst bleibt mir übrig? Ich kann das Haus nicht fliegend verlassen, und über kurz oder lang wird sich die Strahlung ohnehin breitgetreten haben und allgegenwärtig sein. Vor dem Tod gibt es kein Entkommen, sei’s am Krebs aus der Wolke, sei’s an dem aus der sekundär gerauchten Filterzigarette, und Kinder zu zeugen, habe ich mich seit je geweigert, nicht auf dieser Welt! Also, scheint mir, kann ich das Unvermeidliche auch aus eigenem Entschluss vollziehen und setze meinen Fuß ins Gras, das sich kühl und erfrischend anfühlt wie immer.

Und auch ich versuche mich zu verhalten wir immer. Dieser Garten, in dem wir leben, ist nicht das übliche Nutztier, das entweder mit herkömmlich agro-chemischen oder mit fortschrittlich biologisch-dynamischen beziehungsweise -organischen Methoden auf Ertrag und Leistung getrimmt ist, sondern ein knapper halber Hektar Landes, auf dem ich wachsen lasse, was da wachsen will, damit dort entstehe, was kann, auf jeden Fall Raum. Raum, der erfüllt wird und dadurch entsteht, dass er erfüllt wird. Hier und da in diesem Raum sind ein paar kleinere Stücke als Nutzflächen urbar gemacht worden, wo aber ebenfalls neben allem Gemüse auch aller Wildwuchs bestens gedeiht.

Dieser Garten ist ein nahezu beliebiger Ausschnitt aus dem Land ringsum, eine Art Insel, und was klimatisch auf den benachbarten Ländereien geschieht, das geschieht auch hier. Dies gilt aber für beide Richtungen, und so ist, was bei mir an Vegetation und Population aufkommt, ein Modell für das, was nebenan aufkäme, ließe man es nur zu.

Ich nenne dieses Aufkommen die Gewinnung des Sakralen Raumes.

Als Sakraler Raum bleibt der Menschheit die Erde noch zu entdecken, wenn sie überleben will, nämlich als ein Ort der Einbindung aller Lebewesen in eine Vorgefundene übergreifende Ordnung des Lebendigen, deren Bestand die Voraussetzung für den Bestand des (menschlichen und alles sonstigen) Lebens ist. Die Erde mit den sie umgebenden Gashüllen erzeugt im Verein mit dem planetarischen System, dem sie angehört, den Raum, der das Leben in seiner Vielfalt hervorgebracht hat und erhält, und es müsste jedermann einleuchten, dass Eingriffe, die diesen Raum stören oder gar zerstören, unmittelbare Folgen für das Leben haben müssen. Und dann ist es nur noch ein Schluss von allereinfachster Logik, dass der Bestand des Lebens von der Erhaltung dieses Raumes abhängt, nämlich von der Unterlassung jeglichen Eingriffs, der ihn schädigen könnte.

Es liegt auf der Hand, dass das Verhalten der zivilisierten Menschheit genau auf das Gegenteil hinausläuft und dass mithin hier und nirgends sonst ein Prozess radikalen Umdenkens einzusetzen hätte – mit dem Ziel der Errichtung eines neuen, dem gegenwärtigen entgegengesetzten Wertsystems, das beispielsweise den Lebensraum als sakralen Raum begreife und für unantastbar erklärte. Ich meine also nicht, dass der Menschheit der irdische Lebensraum als sakraler Raum gegeben sei und sie gleichsam nur vergessen habe, dass es sich so verhält. Ich meine vielmehr, dass sie, wenn ihr das Leben lieb ist, lernen müsse, ihn als Sakralen Raum zu nehmen, was ganz sicher eine radikale Umwertung voraussetzt (die möglicherweise nur durch eine globale Katastrophe allerschlimmsten Ausmaßes erzwungen werden kann). Ich halte also den technischen Umweltschutz, wie er neuerdings um sich greift, Recycling und dritte Klärstufe samt einer ›maßvollen‹ Ausbeutung der Ressourcen, für den prinzipiell falschen Weg, es mit den Problemen aufzunehmen, da er letztlich doch nur auf eines hinausläuft, nämlich auf die Wahrung des Besitzstandes unter Beibehaltung des derzeitigen Wertsystems, das doch zweifellos die Ursache des Übels ist. Wer hingegen in der Lage ist, die Erde als Sakralen Raum zu erkennen, wird auch um die Anerkennung der Tatsache nicht herumkommen, dass der anthropozentrische Standpunkt illusionär und letztlich zerstörerisch ist.

Für mich bildet der Garten einen Meditationsraum, der geeignet ist, diese Sachverhalte anzuschauen und in der Betrachtung zu erfahren. Ich habe ihn als Nullpunkt erkannt, als einen Punkt ohne Ausdehnung, wo die Welten aufeinander treffen, sich gegenseitig durchkreuzen und durchdringen, das Große und das Kleine, Makrokosmos und Mikrokosmos, beide bis ins Unendliche reichend und beide für mich gleichermaßen unerreichbar, es sei denn hier an diesem Punkt, es sei denn in der Anschauung, der sie enthüllen, was hinter der Gegensätzlichkeit ihrer Erscheinung verborgen ist, nämlich die Identität ihrer Struktur. »Wie oben, so unten«, lautet ein grundlegendes Prinzip aller mystischen Erfahrung, und so bleibe ich hier, wo es sich mir offenbart, in diesem Garten zwischen den Welten, diesem Nichts am Rande des Wirklichen, wo das große Ganze und das ganz Kleine einander berühren und mich an sich teilhaben lassen. Dieser Garten enthält für mich die Welt, und er enthält sie ganz, und hier, in diesem Garten, gibt sie sich mir zu erkennen, zumindest tendenziell.

Hans Blüher, heutzutage als präfaschistischer Denker in Verruf, aber sehr zu Unrecht vergessen, hat, scheint mir, den Sakralen Raum allzu weit ausgelegt, als er vom Kosmos als von diesem Raum sprach. Wohl mag die kosmische Ordnung, wenn es sie denn gibt, ein Gegebenes sein, vielleicht sogar das Wahre, doch bliebe ein eventuell aus ihr abgeleiteter ethischer Anspruch ebenso unverbindlich wie der, der sich auf den »gestirnten Himmel über mir« oder auch auf den »allmächtigen Vater im Himmel« beruft. Der kosmische Raum ist der unmittelbaren menschlichen Erfahrung entzogen, es sei denn in der Theorie, auf einsteinschen Reisen. Die Menschheit hingegen bleibt auf der Erde, bleibt auf sie als den Ort angewiesen, der ihr unmittelbar gegeben ist, jedenfalls solange alles mit rechten Dingen zugeht, und es wäre ihr anheimgestellt, diesen Ort, die Erde, als Sakralen Raum zu entdecken und sich selber darin.

Die Verhältnisse in einem Sakralen Raum würden die des Raumes überhaupt komprimiert in sich enthalten. Im Sakralen Raum hätte das Ganze an sich selber teil. Lebte der Mensch auf der Erde als in einem sakralen Raum, gäbe es kein Umweltproblem. Dieses verdankt sich weitgehend der Säkularität aller Verhältnisse und lässt sich zuletzt auf die Tatsache des Geldes zurückführen, in dem die Weltlichkeit der Welt gleichsam gemünzt, geprägt und verdinglicht erscheint. Die Welthaltigkeit des Geldes aber lässt sich akkumulieren. Geld sammelt sich bei sich selber, und dann muss man – nach der geltenden Wertordnung – dafür sorgen, dass man seine Finger hineinkriegt. Mitten hinein in die Scheiße.

So erworben wird Geld Welt, je mehr desto besser, und was bei diesem Prozess ausfällt, ist alles Nicht-Quantifizierbare der Welt, ist das, was zuletzt in dem Begriff Lebensqualität zu einem Modewort verkommen ist, wobei alle, die es benutzen, sich einig sind, dass es darauf ankomme, möglichst viel davon an sich zu raffen.

Die Zerstörung des Gartens im Jahr von Tschernobyl geschieht unsinnlich. Es wächst und blüht und gedeiht in diesem Jahr, wie ich es selten erlebt habe, und da fällt es schwer, sich andauernd die Tatsächlichkeit der Drohung, die davon ausgehen soll, vor Augen zu halten. Das Wissen, dass der Garten zerstört ist, darf sich sinnvollerweise nicht gegen den Garten selber richten, das heißt dagegen, ihn weiterhin zu pflegen und seine Hervorbringungen zu nutzen, sondern nur gegen die Gesellschaft, deren angebliche Bedürfnisse die Ursache der Zerstörung sind.

Da ist mir denn die Vermutung ein Trost, dass möglicherweise die Kurzlebigkeit vieler Lebewesen sie besser mit der Strahlung fertig werden lässt als andere, die länger leben und ihr so mehr Zeit geben, ihr Zerstörungswerk am Organismus, das dann abläuft, in Gang zu setzen. Der Krebs ist ja selbst Natur. Er ist entsetztes, entfesseltes Wachstum, und alles, was er zu seinem Gedeihen braucht, ist ein bisschen Zeit. So könnte es sein, dass die Eintagsfliege gegen ihn gefeit ist, weil sie ihm keine Zeit gibt, und in ihren Erbanlagen seelenruhig die neue Strahlung als natürliche Gegebenheit verarbeitet und weitergibt.

Die städtische Intelligenz hat unterm Schock von Tschernobyl die Natur wiederentdeckt und ist gegenwärtig dabei, sich ihrer als Gegenstand der Betrachtung und Reflexion zu bemächtigen, wobei sie herausgefunden hat, dass es sich gar nicht um die so gern und so lange geschmähte Idylle handelt, die sie sonst unausweichlich mit dem Begriff Natur assoziiert hatte. Sie entdeckt vielmehr, dass es da auf Leben und Tod zugeht, nutzt aber diesen epochalen Fund lediglich dazu, die alte Scheinfront wieder aufzubauen. Als sei es um »richtig« oder »falsch« verstandene Natur zu tun, wobei, nachdem sie endlich »richtig« verstanden worden sei, endlich auch wieder die Frage aufgeworfen werden könne, wie sich ihr gegenüber der Mensch zu behaupten habe. Was sie einfach nicht wahrhaben will, diese Intelligenz, ist die Einsicht, dass es der Fragen nach dem Menschen endlich genug und die Zeit der Antwort gekommen ist. Wer sie weiterhin stellt, betreibt auch weiterhin den Ausverkauf der Natur, es sei denn, er akzeptiere die untergeordnete Rolle des Menschen im ökologischen Zusammenspiel des Lebens, die möglicherweise darin besteht, eine bestimmte Spielart von aktiver Intelligenz auf der Erde auszuprobieren, möglicherweise aber auch nur darin, das ökologische Gleichgewicht auf der Erde zu stören, zu wessen Gunsten auch immer. Wenn schon nicht zum Nachteil des Ganzen.

Es geht um nichts weniger als um die Verabschiedung der Menschheit aus der Geschichte. Es könnte sehr wohl sein, dass sich hinter dieser Metapher für die Menschheit eine unausdenkbare Katastrophe oder gar eine Folge solcher Katastrophen verbirgt. Es könnte durchaus sein, dass die Verabschiedung aus der Geschichte, die der Menschheit bevorsteht, mit jenem Ende der Zeiten zusammenfiele, das uns begnadete Apokalyptiker schon seit Tausenden von Jahren erfolglos an die Wände malen. Geschichte beginnt sich als diejenige kulturelle Veranstaltung der Menschheit zu erweisen, bei der die Natur und die Erde selber zur Verhandlung stehen – mit allen neuerdings sichtbar werdenden Konsequenzen für das Leben. Dennoch müsste es schon ein ungeheuerliches Ereignis sein, das imstande wäre, der Menschheit ihre Geschichtlichkeit nicht nur als disponibel vor Augen zu stellen, sondern sie auch die Entscheidung treffen zu lassen, sich ihrer ein für alle Mal zu entledigen. Es wäre dies ein Gewaltstreich zur Wiedergewinnung der paradiesischen Unschuld, der Schritt übers Menschliche hinaus, es mit seiner Natur zu versöhnen.

Bliebe die nicht kleine Frage, wie dies wohl zu bewerkstelligen wäre.

Einmal abgesehen von einer Antwort erscheint aber diese Konsequenz aus den zivilisatorischen Vorgängen zu ziehen, gewissen Denkern des Menschlichen weder wünschbar noch überhaupt denkbar. Dennoch ist sie, nicht zuletzt im natürlichen Interesse des Menschen selber, unumgänglich.

Einer unter diesen Denkern, der unlängst zu Ruf und Ruhm gekommene Norbert Elias, wendet sich gegen die Ansicht, der Mensch im zivilisatorischen Prozess sei die Ursache des Übels, mit der nirgends – zumindest in diesem Buch nicht – bestrittenen Behauptung der Grausamkeit oder Indifferenz der Natur gegen ihre Geschöpfe (vgl. Norbert Elias, Über die Natur. In: Merkur. Nr. 448, 6/1986, S. 469-481), indem er unterstellt, wer von der Verderblichkeit menschlichen Wirkens überzeugt sei, glaube in der Regel auch an die Gutartigkeit, ja, an die Güte der Natur. Da jedoch letztere Ansicht, wie sich leicht zeigen lässt, falsch ist, erledigt sich für Elias nolens volens auch die andere Hälfte seiner Unterstellung, nämlich die Auffassung, dass der Mensch die Quelle des Übels sei.

Elias betont, der Mensch sei zu beidem begabt, zum Guten wie zum Bösen, und es liege in seiner Entscheidung, welchen Weg die historische Entwicklung nehmen werde. Er glaubt an die Machbarkeit der Welt durch den Menschen und traut ihm zu, er werde, was im historischen Prozess falsch gelaufen sei, korrigieren können und das auch tun. Als wäre es nicht gerade diese Vorstellung der unbegrenzten Machbarkeit der Welt, was zur gegenwärtigen ökologischen Misswirtschaft auf der Erde geführt hat.

Elias vertraut auf die menschliche Erkenntnis- und Wissensfähigkeit, die den Menschen über die Stufe der magischen Beziehungen zwischen Dingen und Wesen hinausgetragen habe und ihn auch in die Lage versetze, falsch getroffene historische Entscheidungen zu korrigieren und rückgängig zu machen. Was er übersieht, ist die Tatsache, dass die Verschränkung von Mensch und Natur nicht bloß dem Menschen Handlungsfreiheit gegenüber der Natur verleiht, sondern auch ihn ihrer Zwangsläufigkeit unterwirft. Zudem ist die Manipulierbarkeit der Natur nicht unbegrenzt, und vor allem ist sie nicht umkehrbar. Ein Maultier wird sich auf gar keine Weise in Pferd und Esel zurückdividieren lassen.

Elias, der dem Menschen bezüglich der Historie jede Wahl lässt, lässt seinem Leser bezüglich des Menschen keine: man muss an ihn glauben. Man muss einfach glauben, dass er es zuletzt gut machen werde, ganz gleich, wie der Augenschein dagegenspricht und was er sagt. Mir jedenfalls sagt er, dass der Mensch keine Gelegenheit mehr haben werde, irgendetwas zu korrigieren; denn er ist ja noch immer munter dabei, das möglichst Schreckliche wirklich zu machen, und das im besten Glauben, und nichts und niemand ist in Sicht, ihn daran zu hindern. Der Mensch hat das Maß des Möglichen weitgehend ausgeschöpft, und nun haben andere Faktoren das Spiel zu bestimmen begonnen, auf die der Mensch keinen Einfluss nehmen kann. Nun ist es wieder die Natur, was den Gang der Dinge vorschreibt, und nicht das Interesse des Menschen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass jener ›stumme und blinde Ablauf‹ den Elias der Natur nachsagt, bereits eingesetzt hat und dabei ist, über den Menschen hinwegzugehen, nicht weil sie gut oder bös wäre, sondern weil sie, wie Elias ebenfalls festgestellt hat, gegen den Menschen und sein Wohl- oder Schlechtergehen indifferent ist. Er interessiert sie gar nicht. Er hat, so könnte man sagen, seine Chance gehabt. Er hat sie genutzt, um den Stöpsel zu ziehen und die Flur in Gang zu setzen, die ihn und seine Werke hinwegspülen wird.

Na, und? Die Geschichte des Menschen auf Erden hat mit einer Katastrophe begonnen, hat sich sodann als Katastrophe in Permanenz entwickelt, und nun ist es weiter nichts als logisch, dass sie, wenn sie es denn überhaupt tut, auch als Katastrophe endet. Doch was heißt schon Katastrophe? Es ist eine Frage der Einschätzung, des Standorts und der Perspektive.

Ich lese im Verlust der Mitte, einem jener Versuche über Werte aus den fünfziger Jahren (Ullstein-Buch Nr.39). Er stammt von dem Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der alles am Zusammenbrechen sah: Kunst, Religion und den Menschen selber. Mein Lehrer an der Uni ist seinerzeit sehr höhnisch über dieses Buch hergezogen, und ich fühlte mich ihm gegenüber ziemlich voreingenommen. So erinnere ich mich beispielsweise einer kleinen Session vor dem damaligen Gebäude der philosophischen Fakultät am Hamburger Bornplatz, wo ich zusammen mit Lakschewitz und Peymann im Kreise sozusagen als magischen Chanson den Namen Sedlmayr skandiere, während die Kommilitonen kopfschüttelnd an uns vorbei und dem Erwerb ihrer Seminarscheine nachgingen. Wie gesagt, wir kamen alle von Wolffheim, und erst jetzt beim Lesen fange ich an, mich des von ihm erlassenen Bannes zu entledigen, was mir gar nicht leichtfällt.

Doch die Lage ist so, dass die Karre inzwischen noch sehr viel tiefer im Dreck sitzt, als Sedlmayr es damals befürchtet hat, und dennoch tun die meisten von uns immer noch, als fühlten sie sich wohl. Den meisten geht es aber in Wirklichkeit schlecht.

Ich meine jetzt ausnahmsweise einmal nicht die Armen und Ausgebeuteten der Dritten Welt, sondern uns im relativen Wohlstand der Ersten lebenden Menschen, für die so grundlegende und natürliche Funktionen des Lebens wie ein Trunk frischen Wassers aus einer Quelle oder einem Bach, ein Atemzug von reiner Luft, die Stille eines Sonnenaufgangs oder das Farbenspiel eines Sonnenuntergangs, ein unangestrengtes besinnliches Alleinsein mit sich selber, der Blick auf eine natürliche Landschaft ohne irgendeine technische Manifestation menschlichen Herrschaftsanspruchs über sie, ohne Straße oder Schiene oder Häuser oder Hochspannungsmasten oder Flugzeuge in der Luft, lauter Dinge, die menschliches Wohlbefinden nicht etwa verursachen, sondern eher als Vorbedingung der Möglichkeit eines solchen Empfindens anzusehen sind, gehen dem weitaus überwiegenden Teil der in Wohlstand und Luxus dahinvegetierenden, von Neurosen und psychosomatischen Ausfallserscheinungen geplagten Menschen dauerhaft ab. Sie bewohnen eine weitgehend künstliche Welt, der sie sich zunehmend anpassen, und bezahlen für die damit verbundene Verkünstlichung all ihrer Lebensfunktionen mit einem Verlust von natürlichem Wohlbefinden, der ihnen allerdings oft kaum noch bewusst wird, auch wenn ihr Körper schwer darunter leidet. Die ›Verpflanzung‹ des Menschen ins Künstliche, die Herstellung von künstlichen Lebensverhältnissen, die gegenwärtig in unsern Breiten ein Ausmaß erreicht hat wie nie zuvor in der Geschichte, ist dennoch keine Erfindung unserer Zeit.

Jeglicher zivilisatorische Prozess bewegt sich fort von den Quellen des Natürlichen, und Sedlmayr, in seinem erwähnten Werk, behandelt an zentraler Stelle ein Phänomen, das diesen Vorgang zugleich darstellt und seine Bedingungen reflektiert, die Gartenkunst. Er hält das Konzept des Landschaftsgartens, wie die Goethe­zeit ihn in einigen herausragenden Beispielen hervorgebracht hat, für »die umfassendste Form des Gesamtkunstwerks, die man sich überhaupt vorstellen kann: ein Übergesamtkunstwerk« (17). »Gesellschaftsgeschichtlich erwächst diese Form noch durchaus aus dem feudalen Großgrundbesitz; und wenn man bedenkt, dass ihre großartigsten Verwirklichungen eine Zurückdrängung des fruchtbar bebauten Landes zugunsten einer idyllischen Wildnis bedeuten, ermisst man erst die Vehemenz der geistigen Kräfte, die sich in dieser, so gesehen, absurden Form durchsetzen.« (20)

Nach 1830 wird ein gewisser Hang zur Veräußerlichung, zur Musealisierung des Parks fassbar, für Sedlmayr symptomatisch für den Sturz aus der Mitte, der die Welt allmählich erfasst. An dieser Sicht ist ja was dran, wenn man voraussetzt, dass die Welt rund, ihr Platz im Zentrum und alles im Gleichgewicht ist, was Sedlmayr offensichtlich annimmt. Die Frage ist halt bloß, ob es auch stimmt. Das wage ich nicht zu entscheiden. Doch finde ich mich in meiner Sicht der Dinge eigentümlich ermuntert und ermutigt durch die Tatsache, dass dieser Autor sein Buch mit einem Hinweis auf sich anbahnende Veränderungen abschließt, in denen er ein erstes Anzeichen sieht, »das Hoffnung gibt, der Umstand, dass viele das Verhängnisvolle der Lage wieder zu erkennen beginnen und nicht mehr als vermeintliche ›Befreiung‹ begrüßen« (187).

Er beruft sich in diesem Zusammenhang auf Alwin Seifert, einen der Pioniere des »biologischen« Gartenbaus in unserem Jahrhundert, der schon Mitte der dreißiger Jahre unter Hinweis auf die im Gefolge der intensivierten Landwirtschaft in den USA aufgetretenen Bodenerosionen (die Staubstürme von 1934) vor einer »Versteppung Deutschlands« gewarnt hat:

»Von harter Notwendigkeit gezwungen tut Amerika heute so ziemlich das Gegenteil dessen, was bei uns bis heute noch für richtig gilt. Mit einer erstaunlichen Leichtigkeit schüttelt es Erbe und ›Errungenschaften‹ des 19. Jahrhunderts ab und sucht nach Arbeitsweisen, die nichts anderes bedeuten als Anknüpfung an mittelalterliche Überlieferungen … Sie begrenzen die Äcker mit Höhenkurven und machen sie frei vom rechten Winkel – wir begründen mit der Notwendigkeit rechtwinkeliger Felder die Begradigung unserer Bäche und Flüsse. Sie schaffen in hügeligem Gelände Terrassenäcker – wir graben die unser einigen im Zuge der Feldbereinigung ab. Sie machen ihre Äcker zu schmalen Streifen, um möglichst verschiedenartige Früchte nebeneinander zu haben – bei uns trachtet man nach immer größeren Schlägen, wohl in sehnsüchtiger Bewunderung jener Wildwestbilder unserer Jugendzeit, auf denen von 32 Pferden gezogene Mähdrescher sich durch provinzengroße Weizenfelder hindurcharbeiten. Sie legen neue Hecken und Feldgehölze an – wir rotten die aus, die nicht eben noch unter Naturschutz gestellt worden sind. Sie säen in Ackerwinkel Hirse, Mohrenhirse, Sonnenblumen usw. als Futter für Vögel und Wild – wir rauben ihnen den letzten Nist- und Lebensraum. Sie führen den Biber wieder ein, damit er kostenlos Staudämme baut, sie stauen Trockenflüsse und setzen Fische dort ein, wo bisher keine sein konnten – wir begradigen und veröden reiche Forellenwasser. Sie halten mit jenen einfachsten Mitteln, die bei uns verachtet werden, mit Handgräben, Tümpeln, Weihern, Erddämmen in allen Wasserrissen Regen und Schnee dort fest, wo sie fallen, um sie ohne Verlust ins Grundwasser zu bringen – wir lassen ganze Landschaften ausrinnen; sie versuchen mit den gleichen Mitteln jedes Korn Mutterboden schon in der Ackerfurche festzuhalten – wir lassen ihn als Flusstrübe ins Meer schwimmen, fangen ihn in Koogen mit unendlicher Mühe wieder auf und fahren ihn als Schlick in Schleppkähnen wieder stromaufwärts. Und das Wunschbild des Ingenieurs des amerikanischen Soil Conservation Service ist eine Landschaft reich durchsetzt mit Wäldern, Büschen, Hecken, Tümpeln, Weihern, eine Landschaft mit kleinen Sägemühlen und kleinen Kraftwerken, eine Landschaft, in der der Bauer alles baut, was der Boden erzeugen kann, ein Dorf, in dem alle Handwerker wieder arbeiten – eine rechte alteuropäische Landschaft also, wie wir sie jetzt noch immer zerstören, weil wir nicht frei geworden sind vom mechanistischen Geist des 19. Jahrhunderts.« (186/87) Das war 1936/37 gesagt.

Gärtnern, Ackern ohne Gift