Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Separation of Power

erschien 2001 im Verlag Atria Books.

Copyright © 2001 by Vince Flynn

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-692-2

www.Festa-Verlag.de

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Hinweis: Dieser Roman ist Band 5 der Mitch Rapp-Saga.

Für Emily Bestler

PROLOG

Dr. Irene Kennedy stand vor dem frisch aufgeschütteten Erdhügel und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es war ein bescheidenes Begräbnis gewesen. Nur Verwandte und einige enge Freunde. Die anderen hatten den windumtosten Friedhof bereits verlassen, um in der Stadt ein leichtes Mittagessen im Haus einer Tante einzunehmen. Die 40 Jahre alte Leiterin des Counterterrorism Center der CIA wollte ein paar Augenblicke allein am Grab ihres Mentors verbringen. Kennedy hob den Kopf und wischte sich über das feuchte Gesicht, ließ dabei die Umgebung auf sich wirken. Sie ignorierte die beißende Kälte des westlichen South Dakota und öffnete die emotionalen Schleusentore. Dies war ihre letzte Chance, so offen den Verlust des Mannes zu betrauern, der ihr so viel beigebracht hatte. Danach ging es zurück nach Washington, wo ihr die vermutlich größte Bewährungsprobe ihres Lebens bevorstand. Während der letzten Tage als CIA-Chef hatte Stansfield sie aufgefordert, sich keine Sorgen zu machen. Er habe alle nötigen Vorkehrungen getroffen, damit sie als Nachfolgerin seinen Platz an der Spitze der Central Intelligence Agency einnehmen könne. Kennedy freute sich nicht sonderlich auf das Bestätigungsverfahren, das ihr bevorstand. Vor allem fürchtete sie sich davor, den hohen Maßstäben standhalten zu müssen, die ihr ehemaliger Boss gesetzt hatte. Sie hielt ihn für einen der großartigsten Menschen, die sie je gekannt hatte.

Thomas Stansfield war an einem kühlen Herbstmorgen gestorben. Umgeben von seinen Kindern, Enkeln und Irene Kennedy. Genau so hatte er es gewollt. Nur zwei Wochen vor seinem 80. Geburtstag entschied er, nicht weiterzumachen. Seine letzten Tage verbrachte er in einem Ledersessel. Der beruhigende Schleier von Morphin betäubte sowohl seinen Verstand als auch die bohrenden Schmerzen des Krebsgeschwürs, das in seinem Körper wütete. Durchs Fenster beobachtete er, wie die Bäume ihr verbliebenes Laub abwarfen. Der letzte Herbst seines Lebens.

Thomas Stansfields Aufstieg an die Spitze der Central Intelligence Agency gehörte zum Stoff, aus dem Legenden gesponnen wurden. 1920 war er in Stoneville im Bundesstaat South Dakota zur Welt gekommen und reifte in den zwei forderndsten Jahrzehnten der Geschichte seines Landes zum jungen Mann. Die sorglosen Tage seiner Kindheit wurden überlagert von glutheißen Sommern und bedrohlichen Sandstürmen, die von den südlichen Ebenen heranwehten und die Welt am helllichten Tag in Dunkelheit hüllten. Die Weltwirtschaftskrise setzte den Stansfields schwer zu. Einer seiner Brüder, ein Onkel und mehrere Cousins sowie zwei seiner vier Großeltern überlebten diese Ära nicht.

Thomas Stansfields Eltern hatten sich im Teenageralter kennengelernt, beide frisch von den Viehtransportern gesprungen, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zahllose europäische Einwanderer über ganz Amerika verteilten. Sein Vater stammte aus Deutschland, seine Mutter aus Norwegen. Staunend lauschte er den Geschichten, die sie und ihre Verwandten aus der Heimat erzählten. Er lernte Englisch in der Schule, doch nachts am Kamin lauschte er der Muttersprache seiner Vorfahren. In der Schule glänzte er mit hervorragenden Leistungen und brachte für die Arbeit auf der Farm deutlich weniger Interesse als seine Brüder auf. Eines Tages, entschied er, würde er nach Europa zurückkehren und sich mit der Vergangenheit seiner Familie auseinandersetzen. Als ihm mit 17 angeboten wurde, im Rahmen eines Vollstipendiums die South Dakota State University zu besuchen, zögerte er keine Sekunde.

Das Studium erwies sich für ihn als bloße Fingerübung. Als Jahrgangsbester machte er seine Abschlüsse in Maschinenbau und Geschichte und wurde in der Schlussphase der heißen, hungrigen 30er-Jahre Zeuge bedrohlicher Entwicklungen. Während die meisten seiner Kommilitonen und Professoren den Blick auf innenpolitische Probleme der USA richteten, behielt er den Aufstieg des Faschismus in Europa wachsam im Auge. Sein Intellekt warnte ihn, dass sich dort Unheilvolles zusammenbraute.

Franklin Delano Roosevelt erkannte ebenfalls, dass in Europa und in Fernost etwas Grundböses vor sich ging. Doch der 32. Präsident der Vereinigten Staaten konnte vorerst nichts dagegen unternehmen. Die Stimmung der Volksseele setzte andere Prioritäten. Amerika hatte zu viele Söhne im Ersten Weltkrieg geopfert und die Bürger sahen keinen Grund, sich in einen weiteren Konflikt verwickeln zu lassen. Sollte Europa seine Probleme doch selbst lösen. Deshalb handelte Roosevelt, wie es sich für einen scharfsinnigen Politiker gehörte, wartete den geeigneten Moment ab und wappnete sich so gut wie möglich für den drohenden Krieg. Dabei setzte er auf den Rat eines engen Vertrauten, Colonel Wild Bill Donovan. Donovan, ein Anwalt aus New York, hatte das 165. Regiment der 42. amerikanischen Division im Ersten Weltkrieg in Frankreich geführt und dafür später die Medal of Honor verliehen bekommen. Er zählte zu den weitsichtigsten und geschätztesten Beratern des Präsidenten. Auf seine Empfehlung hin rief Roosevelt das Office of Strategic Services ins Leben. Donovan sorgte als Erstes dafür, dass in den Streitkräften und US-Universitäten nach jungen Männern mit Sprachbegabung gesucht wurde, um das OSS bei der Analyse abgefangener Nachrichten der Achsenmächte zu unterstützen. Dabei verfolgte er einen weiteren Hintergedanken: Der Colonel wusste, dass die Frage nicht lautete, ob Amerika in den Krieg hineingezogen würde, sondern wann. Bis dahin wollte er gerüstet sein, Landsleute hinter die deutschen Linien einzuschmuggeln, um den Widerstand zu koordinieren, Informationen zu sammeln und bei Bedarf Feinde eliminieren zu lassen.

Thomas Stansfield zählte zu den fähigsten Rekruten von Wild Bill Donovan. Der hagere Farmerjunge aus den westlichen Steppengebieten von South Dakota sprach fließend Deutsch und Norwegisch, außerdem passabel Französisch. Während des Kriegs war er als Fallschirmflieger sowohl in Norwegen als auch in Frankreich gelandet. Mit Anfang 20 wurde er zum Anführer eines Teams ernannt, das später im Rahmen der Operation Jedburgh zu einer der erfolgreichsten OSS-Einheiten aufrücken sollte. Nach Kriegsende erklärte General Eisenhower, die Invasion Frankreichs wäre ohne den Einsatz der mutigen Jedburgh-Teams niemals möglich gewesen. Ihnen gelang es im Zuge der Aktivitäten im Widerstand und der Weiterleitung detaillierter Ermittlungsberichte am Ende auch, die deutschen Truppen während der ersten Phase des Einmarsches nachhaltig zu stören und in die Irre zu führen. Thomas Stansfield gehörte zu den tapferen Männern, die monatelang hinter feindlichen Linien den Weg zum Erfolg geebnet hatten. In den frühmorgendlichen Stunden vor dem D-Day schufen Stansfield und sein Team durch die Zerstörung einer zentralen Zugstrecke und eines Telefonverteilers die entscheidenden Grundlagen.

Nach dem Krieg diente Stansfield weiterhin seinem Heimatland. Als 1947 die CIA gegründet wurde, gehörte er zu den ersten Mitarbeitern der Agency. Er verbrachte einen Großteil der nächsten vier Jahrzehnte in Europa, überwiegend hinter dem Eisernen Vorhang, und zählte zu den effektivsten Rekrutierern ausländischer Agenten überhaupt. In den 80ern zeigte sich Präsident Reagan so beeindruckt von seinem unbeugsamen Auftreten, dass er ihn zum Moskauer Stationschef ernannte, weil er ahnte, dass Stansfield die Russen mit seiner Art in den Wahnsinn treiben würde. Im Anschluss an die Moskauer Tage wurde er in die USA beordert und rückte zunächst zum Deputy Director für das operative Geschäft der Agency auf, ehe er schließlich den Direktorenposten übernahm. Er diente seinem Land treu, ohne auf öffentliche Anerkennung abzuzielen.

Präsident Hayes hatte ihn am Sterbebett besucht und angedeutet, Vorbereitungen für ein Begräbnis mit militärischen Ehren auf dem Arlington National Cemetery zu treffen. Er kündigte an, die Totenrede persönlich halten zu wollen. Er hielt es für das Mindeste, nachdem Stansfield seinem Land so viel gegeben hatte. Dieser schlug in der für ihn typischen Bescheidenheit das Angebot aus und bat den Präsidenten, an seinem Geburtsort beigesetzt zu werden. Ohne Prunk und besondere Umstände, im Rahmen einer diskreten Beisetzung für einen äußerst diskreten Mann.

Kennedy wischte sich eine nasse braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Er fehlte ihr jetzt schon. Wie sie so dastand in der kühlen Brise, den trüben grauen Himmel über sich, fühlte sie sich so allein und isoliert wie nie zuvor. Ihren Vater durch eine Autobombe in Beirut zu verlieren, war extrem schmerzhaft gewesen. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied. Damals hatte niemand besondere Erwartungen an sie gestellt. Sie hatte sich für sechs Monate aus allem herausgezogen und die halbe Welt bereist, um nach Antworten zu suchen. Diesmal durfte sie sich einen solchen Luxus nicht leisten. Zunächst einmal gab es da Tommy, ihren enorm wissbegierigen sechsjährigen Sohn. Vor dieser Verantwortung konnte sie nicht weglaufen. Es genügte, dass Tommys Vater das getan hatte. Sie wollte auf keinen Fall, dass die wichtigste Person in ihrem Leben ein zweites Mal enttäuscht wurde. Leider gab es nicht nur Tommy, das hätte sie irgendwie hinbekommen, sondern auch noch Washington.

Kennedy blickte nach Westen, wo die Black Hills in ihrer fremdartigen, unergründlichen Schönheit am Horizont aufragten. Für einige Sekunden flackerte in ihren Gedanken der Wunsch auf, einfach zu verschwinden. Sie könnte sich Tommy schnappen, ihren Dienst bei der CIA quittieren und davonlaufen, ohne sich noch mal umzusehen. Dann hätte sie mit dem ganzen Chaos nicht länger etwas zu tun. Sollten sich diese egoistischen Aasgeier doch auf ein anderes Opfer stürzen. Sie senkte die Augen auf das Grab von Thomas Stansfield und wusste, dass das nicht infrage kam. Sie schuldete es ihm weiterzumachen. Er hatte sich darauf verlassen, dass die Agency unter ihrer Leitung politisch neutral blieb. Sie bewunderte niemanden mehr als Thomas Stansfield. Er hatte fast 60 Jahre Lebenszeit für seine Arbeit, seinen Glauben an die Demokratie und sein Land geopfert. Nein, ihr Versprechen an ihn zählte. Sie würde nach Washington zurückkehren.

Kennedy stieß einen lauten Seufzer aus und schielte ein letztes Mal auf die Begräbnisstätte. Sie ließ die Rose, die sie in der Hand hielt, auf die frische schwarze Erde fallen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ein letztes schweigendes Lebewohl, gefolgt von der stummen Bitte, ihr sicher durch die bevorstehenden schweren Monate zu helfen, dann drehte sie sich um und ging zum Wagen.

1

Bahamas

Freitagabend

Williams Island gehörte zu Hunderten winziger Landmassen, aus denen sich die Bahamas zusammensetzten. Im Gegensatz zu vergleichbaren Geschwistern verfügte das Eiland über eine kürzlich angelegte Landebahn, die auch für die Abmessungen von Privatjets ausgelegt war. Das verdankte die Insel einem ihrer prominentesten Bewohner, dem ein privates Anwesen an der Westspitze gehörte. Weniger als eine Stunde vor Sonnenuntergang kündigte das charakteristische Surren von Turbinen eine bevorstehende Landung an. Übergangslos zeichnete sich der glänzende Rumpf einer Gulfstream vor der hellorangenen Kugel der karibischen Sonne ab. Die Maschine ging tiefer. Aufgrund des von der Hitze verursachten Flirrens wirkte das Ganze wie eine Luftspiegelung. Fast geräuschlos setzten die Räder auf der Landebahn auf und rollten aus. Auf dem kleinen Flugfeld gab es keinen Tower, lediglich einen Hangar und eine Wartungshalle. Der Jet kam vor dem Hangar zum Stehen und die Triebwerke wurden abgeschaltet.

Ein auf Hochglanz polierter Range Rover parkte neben dem Gebäude. Der Fahrer stand neben dem SUV, die Hände vor dem Körper gefaltet wie bei einer nicht militärischen Parade. Senator Hank Clark hatte den Mann geschickt, der auf den Bahamas zur Welt gekommen war. Clark war auch derjenige, dem das Grundstück am anderen Ende der Insel gehörte. Und von ihm stammten die Mittel für den Bau der neuen Landebahn.

Die Luke des modernen Flugzeugs schwang auf. Ein Mann und eine Frau in Businesskleidung, beide Anfang 30 und mit schwarzen Tumi-Laptoptaschen aus Leder über den Schultern, stiegen aus. Ihre Füße hatten kaum die Landebahn berührt, da zückten sie die Handys, tippten eine Rufnummer ein, so schnell es die Finger hergaben, und warteten ungeduldig auf eine Verbindung zum nächstgelegenen Satelliten. Kurze Zeit später erschien eine dritte Person in der Öffnung. Das Outfit unterschied sich deutlich von dem der Begleiter.

Mark Ellis blieb für einen Moment stehen und musterte die Umgebung durch eine schwarze Revo-Sonnenbrille. Der sorgfältig getrimmte braune Bart verbarg die Aknenarben aus der Pubertät. Er war von Kopf bis Fuß in elegante Freizeitkleidung von Tommy Bahama gehüllt. Hose aus hellbrauner Seide, ein kurzärmliges Seidenhemd mit tropischem Muster und ein blauer Blazer. Zusammen mit den Schuhen summierten sich die Kosten für das Outfit auf fast 1000 Dollar. Seine private Einkaufsberaterin aus Simi Valley hatte das Ensemble zusammengestellt. Sie brachte ihm jeden Monat eine ganze Kleiderstange voll Klamotten zur Begutachtung vorbei. Die Rechnungen zu prüfen oder sich zu erkundigen, ob es sich um reduzierte Ware handelte, entsprach nicht seinem Stil. In der Regel folgte er ihren Empfehlungen, sodass die Präsentation nach einer Viertelstunde beendet war, sie die Preisschilder abschnitt und alles im begehbaren 112-Quadratmeter-Kleiderschrank seines Hauptschlafzimmers auf Bügel hängte. Oberflächlich betrachtet mochten die Dimensionen jeden Rahmen sprengen, doch in Anbetracht der Gesamtwohnfläche von 3345 Quadratmetern passte das Verhältnis.

Mark Ellis war Milliardär. Auf dem Höhepunkt des Dot-Com-Booms hatte das Fortune Magazine sein Vermögen auf 21 Milliarden Dollar taxiert. Nach dem Platzen der Investitionsblase hatte sich dieser Wert halbiert, was ihn eine Menge Nerven kostete. Der Abwärtstrend seines Portfolios war auch der Grund dafür, dass er der winzigen Insel einen Besuch abstattete. Ellis gehörte zwar zu den größten Verdienern in Silicon Valley, produzierte im Gegensatz zu den meisten seiner Nachbarn jedoch nichts. Weder entwickelte er Hardware oder Software noch fortschrittliche Technologien. Mark Ellis war ein professioneller Zocker, nicht am Pokertisch, sondern im Venture-Capital-Bereich. Er schloss Wetten auf Firmen ab, bevorzugt Start-ups, von deren Existenz niemand außer ihm überhaupt wusste.

Ellis ging steil auf die 50 zu und machte diesen Job schon seit seinem 28. Lebensjahr. Ausgestattet mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein und einem zuweilen übertriebenen Konkurrenzdenken, arbeitete er bis in die Nacht hinein und erwartete von seinen Untergebenen, dass sie noch länger blieben. Er neigte zu cholerischen Ausbrüchen, die vor allem durch geschäftliche Niederlagen hervorgerufen wurden. Niederlagen hasste er, und zwar mit einer Leidenschaft, die selbst seine Gier nach Reichtum in den Schatten stellte.

In letzter Zeit hatte er eine Menge Schlappen und Rückschläge kassiert und drohte deswegen buchstäblich den Verstand zu verlieren. Statt rational und berechnend zu handeln, ließ er sich von Wut und Ärger leiten. In dieser Situation eine denkbar unvernünftige Vorgehensweise. Das einzig Positive war, dass er den Ernst der Lage erkannte. Allerdings musste er eine Lösung finden. Aktuell schien es nur eine zu geben, um den verlustreichen Trend umzukehren.

Ellis strich über die Ränder seines Barts und schlenderte zum Range Rover. Obwohl er als Zocker galt, hatte er seit über einem Jahrzehnt keinen Fuß mehr auf eine Rennbahn oder in ein Casino gesetzt. Mit legalen Wetten hatte er zwei grundsätzliche Probleme: Zum einen störten ihn die mickrigen Quoten, zum anderen mochte er es nicht, sich an feste Regeln zu halten. Mark Ellis stellte seine eigenen Regeln auf, und damit basta. Ob er nun mit der katholischen Kirche, der Börsenkommission, der Steuerbehörde oder der Regierung allgemein zu tun hatte: Für Mark Ellis, als Sohn eines Stahlarbeiters in Buffalo, New York, geboren, stand fest, dass Vorschriften und Gesetze einen bloß unnötig ausbremsten. Instrumente, um die Massen im Zaum zu halten. Schon als kleiner Junge hatte er das begriffen und den festen Vorsatz gefasst, sich im Leben niemals von juristischen Korsetts einengen zu lassen.

Senator Hank Clark war ein hochgewachsener Mann, den sie im politischen Establishment in Washington oft liebevoll John Wayne nannten. Clark hatte mit dem Leinwandstar nicht nur die imposante Statur und Haltung gemein, sondern besaß auch die Gabe, Menschen in seinem Umfeld das Gefühl zu geben, dass sie wichtig waren. Das machte ihn allerdings nicht automatisch zu einer selbstlosen Person. Im Gegenteil. Clark hatte kein Problem mit Feinden. Er fand lediglich, dass es seinen Bedürfnissen wesentlich besser diente, wenn das Gegenüber ihn für einen Freund hielt. Letzten Endes unterschied er sich damit nicht von anderen Politikern. Wie jeder gut ausgebildete Attentäter wusste er, dass man jemandem wesentlich leichter die Kehle aufschlitzen konnte, wenn man ihn nah an sich heranließ. Deshalb gehörte der republikanische Senator aus Arizona in einem zunehmend gespaltenen Washington zu den wenigen Politikern, die Interessenkonflikte erfolgreich aus dem Weg räumten. Clark hatte keine öffentlichen Widersacher und leistete sich auch privat nur wenige. Er galt als liebenswert und nutzte diesen Ruf, um die Schwächen der Gegenseite auszunutzen. Das machte ihn hinter der harmlosen Fassade so gefährlich.

Er ließ den Blick über die malerische blaue Oberfläche der Karibik schweifen und lächelte. Wie er fand, hatte er es gut erwischt. Sein privates Anwesen an der Spitze der Insel verfügte über eine eigene Lagune und bot auf einer Fläche von mehr als 20 Hektar ein üppiges Maß an Privatsphäre. Auf dem Grundstück befanden sich ein eigenes Haus für den Pförtner, ein Gästekomplex mit Aussicht auf die verträumte Lagune und das große Hauptgebäude mit Meerblick in alle Richtungen. Alle drei waren in geschmackvollem, mediterranem Stil eingerichtet. Clark stand auf der Terrasse. Zehn Meter tiefer klatschten die Wellen gegen die schroffen Felsklippen. Wie er so dastand und sich über die Brüstung lehnte, kam er sich vor wie am Bug eines Schiffs. Die leuchtende Sonne senkte sich Richtung Horizont. Das Ende eines weiteren Tags im Paradies.

Er hatte es geschafft, sich von einem Kind aus der Wohnwagensiedlung in den US-Senat hochzuarbeiten. Clark lächelte, nippte an seinem Drink und dachte: Nur in Amerika kann ein Kind in völliger Armut aufwachsen, mit Alkoholikern als Eltern, und später als Millionär Karriere in der Politik machen. Clark wusste, dass viele solche Vorstellungen für abgedroschen hielten, aber sie hatten es vermutlich nie selbst erlebt, wie jemand derart über sich hinauswuchs. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht bewusst machte, wie weit er es gebracht hatte und wie weit er es in Zukunft noch bringen wollte.

Sein Vater war in jeder Hinsicht ein Totalausfall gewesen. Er hatte sich in Hanks Kindertagen den Kopf weggeblasen. Die Erinnerungen an seine Jugend lehrten ihn, jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen. Aufgewachsen ohne Vater mit einer Mutter, die jeden Tag ihren Kater ausschlief, von Mitschülern verspottet wegen seiner bescheidenen Behausung im Trailer Park. Ohne es zu wollen, hatten seine Eltern ihm allerdings eine wertvolle Begabung mitgegeben: einen verflucht guten Curveball und den Wurfarm für einen 145-km/h-Fastball, die ihm ein Ticket in die Freiheit verschafften, nämlich ein Baseball-Stipendium an der Arizona State University. Nach der Schule hatte Clark bei einer Ferienanlage in einem Vorort von Phoenix angeheuert und dort seinen beruflichen Einstieg mit Immobilienspekulationen gefunden. Von da an reihte sich eine Erfolgsmeldung an die andere. Mit 30 hatte er seine erste Million verdient, mit 35 hielt er sein Vermögen für ausreichend, um in die Politik zu wechseln. Er diente für eine Amtszeit im Repräsentantenhaus und wechselte dann in den Senat, wo er aktuell in der Mitte seiner vierten Legislaturperiode angekommen war. Den meisten Leuten hätte das gereicht, nicht aber Hank Clark. Er hatte seine Ziele im Leben noch nicht vollständig erreicht. Es gab noch einen Job, den er haben wollte.

Bedauerlicherweise tanzten einige Leute in Washington derzeit nicht nach seiner Pfeife. Aus diesem Grund, das wusste Clark, hatte sich Mark Ellis kurzfristig zu einem Abstecher auf die kleine Insel entschlossen. Clark war ein wohlhabender Mann, aber er dachte nicht daran, sein hart verdientes Geld einfach wegzuschmeißen. Deshalb brauchte er Ellis und dessen Freunde. Sie investierten im großen Stil, waren nicht bloß Millionäre, sondern mehrfache Milliardäre und hatten kein Problem damit, hohe Beträge zu investieren, um Zugriff auf gewisse Informationen zu erlangen.

Clark seufzte und schüttelte den Kopf beim Gedanken an den beschwerlichen Weg, der vor ihm lag. Informationen kamen an erster Stelle. Wissen war tatsächlich gleichbedeutend mit Macht. Männer wie Ellis wussten, dass Clark ihnen helfen konnte, das Know-how zu erlangen, um ihre Milliarden zu vermehren und ihre privaten Königreiche zu schützen.

Über das Tosen der Wellen hinweg hörte er, wie Ellis das Haus betrat. Die beiden Männer verband das Streben nach Einfluss und Kontrolle, mehr aber auch nicht. Wo Clark ruhig und scharfsichtig agierte, setzte Ellis auf brachiale Gewalt und neigte zu Temperamentsausbrüchen. Er verschliss Menschen wie Hemden, weil er es sich mit einem nach dem anderen verdarb. Er ging nicht trickreich und mit raffinierten Finten vor, sondern setzte andere einfach so lange unter Druck, bis sie parierten. Clark beobachtete sein Vorgehen mit großem Interesse. Als Taktiker genoss er es, Leute wie Ellis auszustechen, aber in der warmen Karibikluft hätte er kühle Drinks, etwas leichte Kost und die zarte Haut einer jungen, aus Miami eingeflogenen Schönheit aktuell dem politischen Manövrieren vorgezogen.

Ellis trat mit ausgreifenden Schritten auf die Terrasse, nicht unähnlich einem aufbrausenden Prinzen, der schlechte Neuigkeiten von einem weit entfernten Schlachtfeld mitbrachte. Sein Verhalten wollte so gar nicht in das entspannte Umfeld von Clarks privatem Refugium passen und der Senator ließ ihn seine diesbezügliche Missbilligung deutlich spüren.

Ohne zumindest ein Hallo oder eine banale Bemerkung zum Wetter oder der Schönheit des Sonnenuntergangs klatschte Ellis mit Wucht ein Exemplar des San Francisco Chronicle auf die Platte des gusseisernen Tischs neben Clark und fixierte ihn mit lauerndem Blick. »Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«

»Guten Abend, Mark. Wie war Ihr Flug?«

»Ach, vergessen Sie meinen Flug«, schimpfte Ellis und musterte den deutlich größeren und massigeren Clark. »Erklären Sie mir das.« Er deutete auf die Zeitung, ohne den Blick abzuwenden.

Clark überflog die Überschriften, meinte dann jedoch: »Mark, Sie werden es mir schon vorlesen müssen. Ich habe meine Lesebrille nicht hier.« Er grinste in sich hinein, als Ellis das Blatt ungeduldig wieder an sich nahm. Vielleicht würde es am Ende doch zu einem vergnüglichen Duell: der Stier gegen den Matador.

»Die Schlagzeile lautet: ›CIA-Nachfolge geklärt‹. Laut Quellen aus präsidentennahen Kreisen will Hayes in der kommenden Woche Dr. Irene Kennedy als Kandidatin für den Posten der CIA-Direktorin nominieren. Sollte sie im Amt bestätigt werden, würde sie als erste Frau das Amt an der Spitze des Spionagedienstes übernehmen.« Ellis schleuderte das Druckwerk angewidert auf den Tisch. »Sie hatten mir doch versprochen, sich um diesen Mist zu kümmern.«

»Ja, ich habe es Ihnen versprochen und, ja, ich kümmere mich darum.«

»Wie in Gottes Namen können Sie das als ›kümmern‹ bezeichnen, Hank? Sie sind nicht meine einzige Quelle in Washington«, spuckte ihm Ellis entgegen. »Ich höre so einiges.«

Clark nippte am Drink und schätzte die Tragweite der kaum verhüllten Drohung ein. »Und was genau hören Sie?«

»Ich höre, dass Kennedy sich auf unser Spiel nicht einlassen wird. Sobald sie von unserer kleinen Vereinbarung erfährt, wird sie uns schnurstracks auffliegen lassen.«

Clark schüttelte den Kopf und erwiderte: »Was Ihren ersten Punkt betrifft, bin ich mir ziemlich sicher, dass Sie sich irren. Und was Punkt zwei angeht, entspricht es nicht ihrem Stil, unsere geschäftlichen Beziehungen ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren.«

»Was macht Sie so sicher?«

Vollkommen ernst antwortete Clark: »Sie würde Sie eher töten lassen.«

Sein Besucher wich einen halben Schritt zurück und bedachte den Senator mit einem schockierten Blick. »Ist das Ihr Ernst?«

»Allerdings. Ich weiß zwar nicht, wer Ihre anderen Quellen sind, aber ich garantiere Ihnen, dass Sie Dr. Kennedy nicht so gut kennen wie ich. Die Frau hat von den Besten gelernt. Die Agency hat nie einen kompetenteren, effizienteren und schlagkräftigeren Chef als Thomas Stansfield erlebt, aber Kennedy steht ihm kaum nach. Ich gehe fest davon aus, dass Stansfield ihr seine Aufzeichnungen vollständig überlassen hat.« Clark drehte sich zum Wasser. »Das komplette Wissen, das er sich während seiner mehr als 50 Jahre beim Geheimdienst angeeignet hat. Ich kenne einige sehr mächtige Männer in Washington, die Kennedys Nominierung ausgesprochen nervös macht.«

Ellis ballte frustriert die Fäuste. »Warum um alles in der Welt überzeugen Sie den Präsidenten dann nicht davon, von der Personalie Abstand zu nehmen und stattdessen jemanden vorzuschlagen, den wir kontrollieren können?«

»So einfach ist das nicht, Mark. Diese Männer fürchten Kennedy. Sie fürchten ihr Wissen und ziehen es vor, keine unnötige Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu lenken.«

»Blödsinn! Es ist mir völlig egal, wer alles Angst vor Kennedy hat. Und ich pfeif drauf, wie viele ihren Job oder ihre Ehefrau riskieren. Oder was auch immer ihnen sonst etwas bedeuten mag …«

»Und wie steht’s mit der Freiheit?«, erkundigte sich Clark mit hochgezogener Augenbraue.

»Mit der Freiheit? Was soll das heißen?«

»Nun, manche von ihnen ziehen es vor, nicht ins Gefängnis zu müssen.«

»Jetzt hören Sie aber auf!«

»Nein, Mark, wie gesagt, Sie sollten sich nach besseren Quellen in Washington umsehen.« Clark ging ins Haus zurück. »Ich hol mir noch einen Drink. Wollen Sie auch einen?«

Ellis zögerte kurz, dann folgte er. »Meine Quellen taugen etwas.« Skeptisch starrte er auf Clarks breites Kreuz und schob hinterher: »Ich weiß genau, was Sie gerade versuchen. Sie wollen mir Angst machen, damit ich die Sache aufgebe. Ich kann Ihnen versichern, dass das nicht passieren wird.«

Clark trat hinter den schlichten Granittresen mit zwei raumhohen Fenstern, die zur Bucht zeigten. Die Flaschen bewahrte er in einer Speed-Rail-Halterung in Hüfthöhe auf. Er griff nach dem Scotch. »Diese kleine Detektei, die Sie in Washington engagiert haben« – ein leises Kichern löste sich aus seiner Kehle – »mag geeignet sein, um schmutzige Details über einen meiner Kollegen oder einen Reporter, dessen Nase Ihnen nicht gefällt, ans Licht zu bringen … oder um im Dreck Ihrer Konkurrenten rumzuwühlen.« Clark hielt kurz inne. »Oh, tut mir leid, ich hab ganz vergessen, dass Sie dabei erwischt wurden.« Er griff zu einem Glas für den Gast und goss ihm etwas Tequila ein. »Das muss ganz schön peinlich für Sie gewesen sein, was?« Clark grinste und hob sein Glas zum Salut, bevor er es an den Mund hob.

Ellis stieß mehrere unterdrückte Flüche aus und nahm den angebotenen Drink in Empfang. Die Situation, auf die der Senator anspielte, war für ihn ein mittleres PR-Desaster gewesen. Er hatte private Ermittler in Washington angeheuert, um die Medienagentur seines Hauptkontrahenten ausspionieren zu lassen. Sie versuchten, die Reinigungsfirma aus der Nachtschicht zu bestechen, um sich Zugang zum Altpapier zu verschaffen. Dummerweise hatten deren Mitarbeiter das unmoralische Angebot brühwarm an ihren Chef weitergeplappert, woraufhin die Cops einschritten und die Führung von Leiser Security einem unangenehmen Verhör unterzogen. Dabei stellte sich heraus, dass Ellis ihnen den Auftrag erteilt hatte. Er ließ sich von einer Schar von Anwälten abschirmen und konnte eine Klage eben noch verhindern, aber natürlich sprach sich der Vorfall im Silicon Valley herum. Ellis nahm monatelang keine Einladungen zu Partys und Empfängen an und wurde zur Hauptperson einiger höchst beleidigender Witze.

Wie es seinem Stil entsprach, verließ er sich auf ein vorhersehbares Ablenkungsmanöver: »Das hat überhaupt nichts mit dem Thema zu tun, über das wir gerade sprechen. Ich kaufe Ihnen diesen Mist nicht ab, dass ein Haufen Senatoren Angst vor Kennedy hat. Im Gegenteil, das wäre erst recht ein Grund, sie als Kandidatin zu blockieren. Was Sie da sagen, ergibt keinerlei Sinn.« Ellis schüttelte empört den Kopf.

»Mark, das ist eine ganz normale Kosten-Nutzen-Abwägung«, belehrte ihn Clark, als spräche er mit einem naiven Teenager. »Nicht jeder in Washington will wie Sie eine Razzia bei der CIA durchführen. Die meisten gehen davon aus, dass Kennedy einen guten Job machen wird, vermutlich einen besseren als jeder andere, den wir finden. Sie halten es daher nicht für zielführend, die Nominierung zu verhindern.« Er trank einen Schluck Scotch und fügte hinzu: »Allenfalls für riskant.«

»Dann sorge ich eben dafür, dass es sich für sie lohnt, und fülle ihre Kriegskassen für die Wiederwahl mit Cash.«

Der Senator dachte kurz nach. »Bei einigen von ihnen mag das funktionieren, aber das reicht nicht, um die Personalie abzuschmettern. Die einzige Möglichkeit, Kennedys Nominierung zu verhindern, wäre ein dunkler Fleck in ihrer Vergangenheit. Allein aufgrund unterschiedlicher Auffassungen wird keiner der Senatoren in meinem Komitee gegen sie stimmen. Ihr Ruf ist tadellos. Sie hat als Leiterin der Terrorabwehr erstklassige Arbeit geleistet.«

»Dann suchen wir eben nach einem solchen dunklen Fleck und beenden das Ganze, bevor es richtig angefangen hat.«

»Das habe ich bereits getan, ohne fündig zu werden.«

»Quatsch. Niemand arbeitet sich unaufhaltsam die Karriereleiter rauf, ohne gegen ein paar eurer albernen Überwachungsvorschriften zu verstoßen.«

Clark wusste natürlich, dass Kennedy die Regeln vielfach mit Füßen getreten hatte – allerdings nur deshalb, weil er und andere einflussreiche Senatoren Thomas Stansfield unter Druck gesetzt hatten, das Anwachsen terroristischer Gewalt gegen die Vereinigten Staaten einzudämmen. Das Resultat war die Gründung des Orion-Teams gewesen. Eine Organisation, die zwar von der Agency unterstützt wurde, aber außerhalb ihres Apparats angesiedelt war. Kurz gesagt bestand ihre Aufgabe darin, den Krieg vor die Haustür der Terroristen zu verlagern. Die Jäger wurden zu Gejagten. Das Wissen um die Existenz des Orion-Teams gegen Kennedy einzusetzen, hielt er für äußerst heikel. Wenn sie sich dazu entschloss, andere mit in den Abgrund zu reißen, konnte es für alle Beteiligten verdammt hässlich werden. Natürlich war diese Information viel zu wertvoll, um sie Ellis anzuvertrauen. Deshalb winkte er bloß ab. »Glauben Sie mir, da ist nichts. Ich hab ziemlich tief gebohrt.«

»Vielleicht sind Ihre Quellen nicht so gut, wie Sie glauben«, konterte Ellis. Er genoss die Retourkutsche.

Unerschütterlich wie immer setzte Clark ein breites Grinsen auf.

»Ich selbst bin die Quelle.«

»Nun, ich werde trotzdem ein paar Leute darauf ansetzen, Kennedy auf den Zahn zu fühlen.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an, aber seien Sie vorsichtig.«

»Warum? Was habe ich von einer wie ihr zu befürchten?«

»O Mark, Sie scheinen nicht zu wissen, auf welch wackliges Terrain Sie sich da begeben. Wissen Sie denn gar nichts über ihren Mentor?«

»Über Stansfield?«

»Ja.« Der Gedanke an den alten Haudegen zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. »Thomas Stansfield fackelte nie lange, wenn es darum ging, einen Gegner von der Bühne abtreten zu lassen.«

»Sie meinen, er hat sie umgebracht.«

»Natürlich. Allerdings nur dann, wenn sie so dumm waren, gegen ihn zu intrigieren, und sich dabei erwischen ließen.«

»Und Sie glauben, Kennedy hat genauso wenig Skrupel wie ihr ehemaliger Boss?«

»Oh, ich habe nie behauptet, dass er keine Skrupel kannte. Thomas Stansfield war kein skrupelloser Mann. Er ging berechnend vor. Sobald jemand diesem Land, der Agency oder ihm persönlich schaden wollte« – fast bedauernd schüttelte er den Kopf – »fand er sich kurz darauf im Grab wieder.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, stellte Ellis gereizt fest. »Ist Kennedy dazu fähig, jemanden umbringen zu lassen?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Ich würde es allerdings auf keinen Fall darauf ankommen lassen.«

Der Milliardär stampfte mit dem Fuß auf wie ein trotziges Kind. »Verdammt, ich stehe vor dem Untergang! Mein Portfolio hat 40 Prozent an Wert eingebüßt. Bei meinen Investoren belaufen sich die Verluste sogar auf über 50 Prozent. Es ist schlimm genug, dass der Markt am Boden liegt, aber auf einen Blindflug lasse ich mich nicht ein. Ich hab verdammt noch mal zu viel Kohle in Echelon investiert.« Er brüllte fast. »Ich erwarte eine anständige Rendite für mein beschissenes Investment!«

Clark wollte Ellis ermahnen sich abzuregen, doch dann überlegte er es sich anders. Dem Mann war in der jetzigen Phase sowieso nicht zu helfen. Er dachte über Echelon nach, das streng geheime Programm, das die National Security Agency damals in den 70ern aus der Taufe gehoben hatte. Durch eine Reihe von Bodenstationen, überall auf dem Globus verteilt, und zahlreiche Satelliten im All fing die NSA Telexe, Faxe und Telefongespräche ab. Unter Einsatz leistungsfähiger Superrechner und fortschrittlichster Stimmerkennung scannte sie mehrere Millionen Kommunikationsvorgänge täglich und fischte die interessantesten heraus. Irgendwann verfiel jemand auf die clevere Idee, gezielt Firmen im Ausland ins Visier zu nehmen, die amerikanischen Betrieben in ihrem Umfeld das Wasser abzugraben drohten. Beispielsweise wenn ein französischer Telekommunikationskonzern einen US-Konkurrenten in einem Bieterverfahren ausstechen wollte. In den 90ern verschob sich die Zielsetzung von Echelon erneut. Aufgrund der enormen Macht der Hightech-Industrie in den Vereinigten Staaten nahm die NSA zunehmend die Kommunikation rund um Silicon Valley unter die Lupe. Senator Clark als Vorsitzender des Geheimdienstausschusses bekam die Ergebnisse mit als Erster auf den Tisch. Für Männer wie Mark Ellis waren sie von unschätzbarem Wert. Wer tüftelte gerade an welchen Projekten? Wie dicht war das jeweilige Produkt an der Marktreife? Wer wollte es von wem kaufen? Ellis’ Geschäfte florierten auf Grundlage dieser Informationen. Clark hatte mitgeholfen, ein Monster zu erschaffen, und nun musste er mit den Konsequenzen leben.

Nach längerer Überlegung verkündete er: »Es ist meine Schuld, dass Echelon auf Eis gelegt wurde.«

»Nun, ihr hättet diese Hexe eben beseitigen müssen, nachdem sie zur Presse gerannt war und alles ausgeplaudert hatte.«

Die ›Hexe‹, auf die Ellis anspielte, war eine Angestellte der NSA, die einige abgefangene Telefonate zu viel mitgehört hatte und entschied, dass es schädlich war, wenn die US-Regierung ihre eigenen Leute ausspionierte. »Mark, wir verzichten in der Regel darauf, Leute zu töten, nachdem sie ausgepackt haben. Dann fliegt es einem erst recht um die Ohren.«

»Tun Sie nicht so, als ob ich keine Ahnung hätte. Natürlich gibt es da Mittel und Wege.«

»Und die haben wir auch genutzt.« Ellis’ selbstgefällige Art lockte ihn zunehmend aus der Reserve. »Wir haben das Weib als Geistesgestörte hingestellt und mit Ausnahme von 60 Minutes alle Medienvertreter aufs Glatteis geführt. Sie sitzen nicht im Gefängnis, ich sitze nicht im Gefängnis … niemand sitzt im Gefängnis. Keiner wurde vor Gericht gezerrt, Mark. Ich behaupte mal, wir haben einen ziemlich guten Job gemacht und einen Medienskandal verhindert.«

»Das hier ist eine Katastrophe«, blaffte Ellis. »Haben Sie gerade nicht zugehört? Mein Portfolio hat 40 Prozent an Wert verloren. Meine Kunden stehen teilweise kurz vor dem Ruin und einige drohen damit, ihr komplettes Investment abzuziehen.«

Clark stieß einen lauten Seufzer aus und legte Ellis die Hand auf die Schulter. Er führte ihn zurück auf die Terrasse. »In zwei Jahren wird sich Ihr Portfolio vollständig erholt haben und in zehn Jahren doppelt so viel wert sein wie vor dem ganzen Schlamassel. In der aktuellen wirtschaftlichen Situation steht jeder, der größere Beträge an der Börse investiert hat, kurz vor dem Ruin.«

»Ich bin aber nicht jeder«, jammerte ein frustrierter, aber leicht besänftigter Ellis. »Ich will, dass Echelon reaktiviert wird. Und ich brauche einen CIA-Direktor an der kurzen Leine. Ich bin auf diese Informationen angewiesen.«

Clark behielt seine Hand auf der Schulter des Milliardärs. Sie blieben kurz vor dem Geländer stehen. »Mark, ich beschaffe Ihnen die Informationen, die Sie brauchen. Das verspreche ich.«

»Und was ist mit Kennedy? Sie haben immer gesagt, es sei unmöglich, jemanden wie sie zu kontrollieren.«

»Ich habe nur gesagt, dass es schwierig ist. Von unmöglich war nie die Rede.« Sein Druck auf Ellis’ Schulter verstärkte sich und er blickte grüblerisch aufs Wasser. Es musste doch eine Lösung geben. Der Trick bestand darin, jemanden für die Drecksarbeit zu finden. Er selbst musste aus der Schusslinie bleiben, um das Vertrauensverhältnis zum Präsidenten nicht zu gefährden. Sobald die Rahmenbedingungen stimmten, konnte er dann zuschlagen.

2

Maryland

Montagmorgen

Mitch Rapp erwachte, auf dem Bauch liegend. Er tastete die andere Seite der Matratze ab, doch Anna war nicht da. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen, also blieb er einfach liegen. Ihm wurde bewusst, wie erschöpft er war. Die linke Schulter fühlte sich furchtbar steif an. Gern hätte er sich eingeredet, dass es sich um Spätfolgen des ausgerenkten Gelenks handelte, das er sich damals beim Lacrosse an der Syracuse University zugezogen hatte, doch er wusste, dass es etwas Ernsteres war. Den eigentlichen Schaden hatte eine Patrone angerichtet. Mit 32 fühlte sich Rapp wie ein lädierter alter Sack. Seit dem College-Abschluss hatte er seinem Körper kaum eine Pause gegönnt und jahrelang wie ein Besessener islamistische Terroristen bekämpft. Er schien förmlich getrieben, so viele wie möglich von ihnen zu töten, bevor sie Unschuldige ins Grab brachten, deren einziges ›Verbrechen‹ darin bestand, der pervertierten Auffassung des islamischen Glaubens zu widersprechen.

Es gab Tage, an denen Rapp nicht sicher war, ob sein Einsatz überhaupt etwas veränderte. Immerhin spukten diese Irren weiter da draußen herum und drohten, Amerika in den Abgrund zu reißen. Während der seltenen Anflüge von Selbstmitleid hielt er seine Bemühungen für vollkommen nutzlos. Doch tief im Inneren wusste er, dass seine Arbeit einen großen Unterschied machte. Er hatte längst aus den Augen verloren, wie viele Menschen er umgebracht hatte. Aus dem offensichtlichen Grund, weil er lieber nicht darüber nachdachte, und aus dem pragmatischen, weil es keine Möglichkeit gab, die genaue Zahl zu ermitteln. Maschinenpistolen und Sprengstoffe, die willkürlichen Waffen in diesem großen Krieg, erlaubten keine eindeutige Bilanz. Es mussten jedoch ziemlich viele sein. Rapp ging davon aus, dass es deutlich über 50 waren, wahrscheinlich sogar mehr als 100. Und das betraf lediglich die, die auf sein Konto gingen. Wenn er noch einbezog, wie oft er Einheiten der Special Forces bei Verhaftungen angeleitet hatte oder mit seinen Zielmarkierungen US-Kampfjets den Abwurf von lasergelenkten Raketen ermöglicht hatte, dürfte sich die Zahl der Opfer leicht verdoppeln, wenn nicht gar verdreifachen.

Doch diese Tage lagen hinter ihm, zumindest hoffte er das. Der Gewalt nach all den Jahren den Rücken zu kehren, dürfte gar nicht so einfach werden. Er beherrschte seinen Job außergewöhnlich gut. Aber wenn man das ganze Drumherum ausblendete, lief es am Ende aufs Töten hinaus. Ja, er war enorm intelligent und sprach fließend Arabisch, Französisch und Italienisch. Er verfügte über ausgeprägte analytische Fertigkeiten und Organisationstalent, aber unter dem Strich war er ein Todesschütze. Ein ›American Assassin‹, wie ihn die Medien getauft hatten. Rapp operierte an der Speerspitze der US-Front, kümmerte sich als Mann vor Ort um greifbare Ergebnisse und stellte sich den Feinden, die den Vereinigten Staaten Terror und Tod geschworen hatten. Mitch Rapp war der Frontsoldat im konkretesten Sinn der Bedeutung. In einem Zeitalter von lasergelenkten Sprengkörpern und Raketen sowie präzise geführten Schlägen operierte er wie ein Chirurg am offenen Herzen von Krisenherden wie Iran oder Irak, oft monatelang ohne konkrete Unterstützung seiner Kontakte in Washington. Er lauerte der Beute unauffällig auf, schlich sich ganz dicht an sie heran und eliminierte sie, sobald sich die Möglichkeit bot. Trotz all seiner Erfolge wusste nur eine Handvoll Eingeweihter, dass es ihn gab. Das Orion-Team und seine Mitglieder zählten zu den bestgehüteten Geheimnissen in Washington. Weniger als zehn Menschen konnten mit dem Stichwort ›Orion‹ in diesem Kontext überhaupt etwas anfangen.

Rapp wusste, dass es Personen in Regierungskreisen gab, die bei Kenntnis seiner Unternehmungen in den letzten zehn Jahren auf der Stelle durchgedreht wären. Er hielt das für eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Er hatte im Rahmen seiner Dienstzeit genügend Fälle von Machtmissbrauch erlebt. Natürlich gab es eine Notwendigkeit, dass der Kongress alles im Auge behielt, aber genauso musste manches im Verborgenen ablaufen. Politiker waren am Ende genau das: Politiker. In der Historie gab es genug mahnende Beispiele dafür, wie schwer Volksvertretern das Hüten von Geheimnissen fiel. Die grundsätzlichen Anforderungen an ihren Job, viel zu reden, Geld zu organisieren und Einfluss geltend zu machen, führten dazu, dass die wenigsten von ihnen in entscheidenden Momenten die Klappe hielten. Zumindest sahen das die meisten Geheimdienstler und Militärs in Washington so. Im Gegenzug hielten die Regierenden die CIA und das Pentagon für eine Bande schießwütiger Cowboys, die man an der kurzen Leine halten musste, bevor sie sich im Übereifer selbst in den Fuß schossen.

Rapp konnte in gewisser Weise beide Sichtweisen nachvollziehen. Es brachte nichts, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Natürlich hatte die Agency einige halb gare Pläne ohne nennenswerte Erfolgschancen ausgeheckt, die ihnen in den Kontrollausschüssen oder – was ihm deutlich mehr bedeutete – bei einer Beurteilung mit gesundem Menschenverstand um die Ohren gehauen wurden. Auf der anderen Seite gab es auf dem Capitol Hill Maulwürfe, die den Presseleuten bewusst vertrauliche Informationen zuspielten, um politische Rivalen zu diskreditieren. So lief es eben in der Hauptstadt, und zwar seit eh und je.

Die Amerikaner waren weich geworden mit all ihrem Pochen auf Bürgerrechte und persönliche Freiheiten. Sie ahnten gar nicht, wie ruppig es im Rest der Welt zuging. Natürlich hätten die meisten Mitbürger schockiert reagiert, wenn sie erführen, was er tat. Allerdings fällten sie ihr Urteil in der bequemen Behaglichkeit ihrer Wohnung, ohne sich vorstellen zu können, wie es im Nahen Osten zuging. Frauen hätten ihn am härtesten verurteilt, ohne in Betracht zu ziehen, wie die Feinde, die er tötete, mit ihnen umgesprungen wären. In fundamentalistischen islamischen Kreisen wurden Frauen nicht mal als Menschen zweiter Klasse behandelt, sondern galten als Besitz ihrer Väter, ehe sie im Zuge einer arrangierten Zwangsehe zum Eigentum des Ehemanns wurden. Nein, Amerika hatte nicht den Arsch in der Hose, um sich mit seinen Methoden zu arrangieren. Deshalb war strikte Diskretion so wichtig.

Rapp zwang sich, das Bett zu verlassen, und lief zum Fenster des kleinen Hauses im Cape-Cod-Stil. Tief unter ihm wogte das kalte Wasser der Chesapeake Bay. Die Bäume hatten ihr komplettes Laub abgeworfen und der kühle graue Novemberhimmel beanspruchte sein Revier. Nur in Boxershorts stand er da, fröstelte leicht und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Seine Schritte wirkten nicht sonderlich beschwingt. Er musste um zehn für ein Meeting in Langley sein, was ihm gar nicht behagte. Unten erwartete ihn seine neue beste Freundin. Shirley, die Promenadenmischung. Eine unglaublich clevere, folgsame Hündin. Rapp tätschelte ihr den Kopf und begrüßte sie. Er hatte sie vor einigen Wochen aus einem Tierheim der Washington Humane Society geholt, als Tarnung für eine Observation. Bisher hatte es sein unregelmäßiger Tagesablauf nicht erlaubt, ein Tier zu halten, aber das änderte sich gerade. Mit seinen Abstechern in alle Welt war jetzt Schluss. Zumindest hoffte er das.

In der Küche angekommen, fand er die Liebe seines Lebens am Tisch sitzend vor. Sie löffelte eine Schüssel Frühstücksflocken und las die Post. Er hauchte Anna einen Kuss auf die Stirn. Ohne ein Wort zu sagen, schlurfte er zur Kaffeekanne und goss sich einen Becher ein. Kein Zucker, keine Milch, einfach schwarz.

Anna Rielly schluckte einen Mundvoll Cornflakes hinunter und musterte ihn aus funkelnden grünen Augen. »Na, wie geht’s uns heute Morgen?«

»Ziemlich mies.« Vergeblich mühte er sich, sein schmerzendes Schultergelenk zu lockern.

»Was ist los?«

»Ich werd alt. Das ist los.« Er gönnte sich den ersten Schluck der heißen schwarzen Flüssigkeit.

Rielly grinste. »Was redest du da? Du bist erst 32.«

»Nach allem, was ich erlebt habe, könnt ich genauso gut 63 sein.«