John Lanchester

Die Mauer

Roman

Aus dem Englischen
von Dorothee Merkel

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Wall«

bei Faber & Faber Ltd; London

© 2019 by Orlando Books Limited

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration von © Tom Berry, London

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96391-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11561-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Im Gedenken an Peggie Geraghty

I

Die Mauer

1

Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer.

Man sucht nach Metaphern. Es ist so kalt wie Schiefer, wie ein Diamant, wie der Mond. Wie ein verächtliches Almosen – ein besonders passender Vergleich. Aber bald begreift man, dass sich diese Kälte am meisten dadurch auszeichnet, dass sie eben keine Metapher ist. Sie lässt sich mit nichts vergleichen. Sie ist einfach nur eine reale Gegebenheit. Jedenfalls diese Art von Kälte. Kälte ist Kälte ist Kälte.

Das ist also das Erste, was dir entgegenschlägt. Die Kälte hier ist mit keiner anderen Kälte vergleichbar. Sie durchdringt alles, als sei sie eine ständige materielle Eigenschaft dieses Ortes. Die Kälte ist eines seiner grundlegendsten Merkmale, sie wohnt ihm inne. Sie schlägt dir als gebündeltes Ganzes entgegen, wenn du das erste Mal zur Mauer kommst, am ersten Tag deines Einsatzes. Du weißt, dass du zwei Jahre dort sein wirst. Du weißt, dass es im Wesentlichen überall gleich aussieht, jedenfalls geographisch, aber dass alles davon abhängt, wie die Leute sein werden, mit denen du zusammen in einer Einheit dienen wirst. Du weißt, dass du nichts daran ändern kannst. Es ist beängstigend, aber auf gewisse Weise auch ein wenig befreiend. Keine andere Wahl. Alles an der Mauer besagt, dass man keine Wahl hat.

Du durchläufst eine kurze, nicht besonders umfangreiche Ausbildung. Sechs Wochen. Hauptsächlich geht es um das richtige Halten, Pflegen und Abfeuern deiner Waffe. In dieser Reihenfolge. Ein bisschen Fitnessübungen, aber nicht viel, dafür eine Menge Training, wie man es schafft, um Mitternacht sofort aufzuwachen, Training zu Schlafstörungen, plötzlichen Panikattacken, plötzlichen Änderungen in der Dienstabfolge, Disziplintests in den frühen Morgenstunden. Das pauken sie dir unablässig ein: Disziplin ist wichtiger als Mut. In einem Kampf gewinnen diejenigen, die tun, was man ihnen befohlen hat. Es ist anders als in den Filmen. Sei nicht mutig, tue einfach nur, was dir befohlen wird. Das ist mehr oder weniger alles. Der Rest der Ausbildung geschieht auf der Mauer selbst. Du erhältst sie von den Verteidigern, die schon länger dort sind als du. Und du gibst dein Wissen dann an die Verteidiger weiter, die nach dir ankommen. Das ist also so gut wie alles, was man kann, wenn man dort eintrifft: Mitten in der Nacht aufstehen und mit einer Waffe umgehen.

Für gewöhnlich trifft man nach Einbruch der Dunkelheit ein. Ich weiß nicht, warum, aber so wird das dort eben gehalten. Man hat bereits einen langen Tag hinter sich, wenn man ankommt: Man läuft zu Fuß, nimmt einen Bus, einen Zug, dann einen zweiten Zug und schließlich einen Laster. Der Laster setzt dich dort ab. Lässt dich und deinen Rucksack einfach in der Kälte und Dunkelheit stehen. Und da ist sie dann, die Mauer, direkt vor dir, ein langgestrecktes Ungeheuer aus Beton, das sich bis in weite Ferne zieht. Obwohl die Mauer absolut senkrecht ist, bekommst du, wenn du direkt darunterstehst, das Gefühl, als würde sie überhängen. Als könnte sie auf dich herabfallen. Als lehnte sie sich gegen dich.

Die Luft ist voller Feuchtigkeit, selbst wenn es draußen nicht wirklich nass ist, was jedoch oft der Fall ist. Entweder es regnet, oder die Gischt sprüht vom Meer herauf. Für gewöhnlich ist es nicht besonders windig, wenn man direkt hinter der Mauer steht, aber manchmal eben doch. In der Dunkelheit und Feuchtigkeit sieht die Mauer schwarz aus. Der einzige Pfad oder Wegweiser oder Hinweis, was man tun oder wo man hingehen soll, ist eine Betontreppe – sie lassen dich immer in der Nähe der Treppe raus. Am oberen Ende leuchtet ein kleines, schwaches Licht, das aus dem Wachhaus kommt, aber in diesem Moment weißt du noch nicht, was du da siehst. Stattdessen drehen sich deine Gedanken hauptsächlich darum, dass die Mauer höher ist, als du erwartet hattest. Natürlich hast du sie auch früher schon einmal gesehen, im wirklichen Leben, auf Bildern, vielleicht ja sogar in deinen Träumen. (Das ist eines der Dinge, die du auf der Mauer erfährst: dass es viele Leute gibt, die von ihr träumen, lange bevor sie dorthin geschickt werden.) Aber wenn du am Fuß der Mauer stehst und hochschaust und weißt, dass du zwei Jahre lang dort sein wirst und dass das Beste, was dir in diesen zwei Jahren passieren kann, ist, dass du überlebst und wieder von der Mauer herunterkommst und nie wieder auch nur einen einzigen Tag in deinem Leben irgendwo in ihrer Nähe verbringen musst – dann sieht sie ganz anders aus. Sehr hoch und sehr gerade und sehr dunkel. (Das ist sie auch.) Die vollkommen frei liegenden Betonstufen sehen steil und rutschig aus. (Das sind sie.) Das Ganze wirkt wie ein kalter, harter, unbarmherziger Ort. (Das ist er.) Du fühlst dich gefangen. (Das bist du.) Du sehnst dich danach, dass all dies hinter dir liegt, du sehnst dich danach, woanders zu sein, du würdest alles darum geben, nicht hier sein zu müssen. Vielleicht sprichst du ja, selbst wenn du nicht religiös bist, ein Gebet, sprichst es laut heraus oder ganz leise mit zusammengebissenen Zähnen, das ist ganz gleich, denn es ändert nichts, weil dein Gebet nämlich lautet: Bitte, bitte, bitte, lass mich von dieser Mauer herunterkommen. Und doch bist du dort, auf der Mauer. Du steigst die Treppe hinauf. Du beginnst dein Leben auf der Mauer.

Ich zitterte, als ich die Stufen hinaufkletterte. Ich würde ja gerne glauben, dass das an der Kälte lag, aber das tat es wahrscheinlich nur zur Hälfte, und die andere Hälfte war Angst. Es gab kein Geländer, und die Betonstufen wurden beim Aufstieg mit jedem Schritt feuchter. Ich bin nicht schwindelfrei und noch nie besonders gut mit hochgelegenen Orten zurechtgekommen, selbst mit denen nicht, die gar nicht besonders hoch waren. Mir ging durch den Kopf, dass ich ausrutschen und herabstürzen könnte, und je höher ich stieg, desto mächtiger wurde dieser Gedanke. Ich werde herunterfallen und mir den Schädel zerschmettern und sterben, und meine Zeit auf der Mauer wird vorbei sein, bevor sie überhaupt begonnen hat, dachte ich. Ich werde zur Witzfigur werden. Weißt du noch, dieser Idiot, der…? Aber falls das passiert, werde ich die Mauer wenigstens los sein.

Endlich kam ich oben an dem Wachhaus an. Durch ein Milchglasfenster fiel Licht nach draußen. Ich konnte nicht ins Innere sehen. Ich wusste nicht, wo ich hingehen oder was ich tun sollte, aber es gab keine andere Möglichkeit, also klopfte ich. Es kam keine Antwort. Ich klopfte wieder und hörte ein Geräusch. Das nahm ich als Zeichen dafür, dass ich hereinkommen sollte.

Als ich den Raum betrat, wurde ich von einem warmen Luftschwall eingehüllt. Sofort beschlug meine Brille und ich konnte nichts mehr sehen. Ich hörte, wie jemand lachte und wie jemand anderes eine leise Bemerkung machte. Ich nahm die Brille ab und sah mich blinzelnd um. Der Raum war ein schmuckloser, nüchterner Kasten aus Beton. Sämtliche Wände waren mit Karten bedeckt. In der dem Eingang gegenüberliegenden Ecke saßen zwei Personen. Eine von ihnen war ein imposanter schwarzer Mann mit narbendurchfurchten Wangen, der einen olivgrünen Uniformpullover trug. Das war der Hauptmann, auch wenn ich das in diesem Moment noch nicht wusste. Er war der Einzige auf der ganzen Mauer, den ich jemals eine Uniform habe tragen sehen. Für uns andere war diese Kleidung einfach nicht warm genug. Er sah mich an, ohne zu lächeln. Hinter ihm standen drei Computerbildschirme mit grün flackernden Radaranzeigen.

»Ein Verteidiger, der nichts sehen kann«, sagte er. »Großartig.«

Die andere Person – ein gedrungener weißer Mann mit einer roten Strickmütze – lachte prustend. Das war der Sergeant. Aber auch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

»Ich heiße Kavanagh«, sagte ich schließlich. »Ich bin neu.« Es kommt mir jetzt idiotisch vor, und selbst damals kam es mir idiotisch vor, aber ich hatte keine Ahnung, was ich sonst sagen sollte. Die beiden Männer lachten nicht einmal. Sie starrten mich einfach nur an. Der uniformierte Mann stand auf, kam zu mir herüber und sah mich von oben bis unten an. Er war groß, mindestens einen halben Kopf größer als ich.

»Ich bin der Hauptmann«, sagte er. »Das hier ist der Sergeant. Tun Sie grundsätzlich, was wir Ihnen sagen, ohne nachzufragen, warum. Es dauert etwa vier Monate, bis Sie überhaupt eine Ahnung haben, was Sie hier tun. Ich habe die uneingeschränkte Macht, Ihren Aufenthalt hier zu verlängern, ohne dass Sie dagegen Einspruch erheben können. Ich muss dafür keinen Grund angeben. Und Sie kommen erst dann wieder von der Mauer herunter, wenn zwei Jahren verstrichen sind und ich entscheide, dass Sie jetzt wieder gehen können. Das ist der einzige Weg. Falls man Ihnen das bei Ihrer Ausbildung nicht klargemacht hat, dann mache ich Ihnen das jetzt klar. Also: Ist das klar?«

Das war es. Und das sagte ich auch.

»Bringen Sie ihn zur Kaserne«, sagte er zu dem Sergeanten. »Ich gehe raus auf die Mauer.«

Und weg war er. Das Auftreten des Sergeanten änderte sich ein wenig, sobald er auf sich allein gestellt war. »Also gut«, sagte er. »Es gibt zwei Sergeanten, einen für jede Schicht. Ich bin für Ihre Schicht zuständig. Der andere Sergeant ist gerade auf der Mauer. Ich sollte eigentlich längst im Bett sein, aber ich bin aufgeblieben, um Sie in Empfang zu nehmen, weil ich nämlich ein verdammter Heiliger bin. Da können Sie jeden fragen. Den Rest Ihrer Schicht werden Sie morgen früh kennenlernen. Ich gebe Ihnen jetzt nur einen ganz kurzen Überblick über Ihren Einsatzort, alles Weitere erfahren Sie dann morgen. Wie der Hauptmann schon sagte, es dauert eine Weile, bis man alles begriffen hat, und die beste Methode liegt in der Wiederholung. Sie können anfangs noch Fragen stellen, aber das geht dann allen sehr rasch auf die Nerven, deshalb gebe ich Ihnen den guten Rat, erst einmal nachzudenken, bevor Sie die Klappe aufreißen, ob es nicht eine naheliegende Antwort auf Ihre Frage gibt, egal, welche Sie gerade stellen wollen.«

Er zeigte mir die Kantine – ein nackter Betonkasten mit Tischen und Stühlen –, den Aufenthaltsraum – ein nackter Betonkasten mit einem riesigen Fernsehbildschirm und arg verschlissenen Sofas –, die Waffenkammer, die aber gerade verschlossen war, und die Krankenstation – ein nackter Betonkasten mit vier Metallbetten und keinerlei medizinischem Personal. Dann führte er mich zwei Treppenläufe nach unten zur Kaserne, die von den Verteidigern »der Raum, in dem alle schlafen« genannt wurde. Auch hierbei handelte es sich um einen nackten Betonkasten. Nachdem ich etwa eine Minute lang im Eingang stehen geblieben war, hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte nun die wichtigsten Einzelheiten erkennen. Es gab dreißig Betten in dem Raum, fünfzehn zu beiden Seiten, die durch eingezogene Sperrholzwände zu einzelnen Schlafnischen abgetrennt worden waren. Am gegenüberliegenden Ende gab es einen Waschraum. Ich war mit dieser Raumanordnung bereits bestens vertraut, weil die Kaserne, in der ich während der Ausbildung gewohnt hatte, ganz genauso ausgesehen hatte. Eine Seite hatte keine externe Lichtquelle, auf der anderen gab es mehrere kleine viereckige Fenster etwas über Kopfhöhe. Die Betten an der rechten Wand waren alle leer, denn diese Hälfte der Kompanie hatte gerade Nachtdienst. In den Betten, die an der linken Wand standen, lagen lauter schlafende Körper, außer in dem neunten Bett in der Reihe, das leer stand und das nun mir gehörte.

Ich stellte meine Tasche an der Rückseite meiner Nische ab, zog meine Schuhe und die äußeren Kleiderschichten aus und stieg ins Bett. Das Laken fühlte sich rau an, aber die beiden Decken waren ziemlich dick, und mir wurde rasch wieder warm. Ich konnte das Murmeln und Schnarchen meiner neuen Truppenkameraden hören. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich seit meiner Abfahrt nichts mehr gegessen hatte. Wenn ich Hunger habe, bin ich immer ganz aufgedreht, weshalb mir nun die Gedanken viel zu wild durch den Kopf wirbelten, als dass ich hätte schlafen können. Ich lag da, müde, schlaflos und beklommen, starrte die Decke an und dachte: Ich muss nur noch zwei Jahre hier aushalten. Noch siebenhundertneunundzwanzig Nächte, nachdem ich erst mal diese hier hinter mich gebracht habe. Das heißt, immer gesetzt den Fall, ich habe Glück und es geht nichts schief.

Ich muss dann doch eingeschlafen sein, denn ich wurde geweckt. Oder vielleicht war es auch nur eine neue Art von Schlaf – eine Art, bei der man nicht die guten Seiten des Schlafs erlebt, sondern nur all die üblen Seiten des Aus-dem-Schlaf-gerissen-Werdens. Ich hörte einen Wecker, und ein paar Augenblicke später spürte ich, wie mein Bett geschüttelt wurde, und öffnete die Augen. Das Gesicht eines Mannes beugte sich über mich, nahe genug, dass ich seinen heißen, leicht ranzigen Atem riechen konnte. Das Gesicht schien aus nichts als einem Bart, Augen und einer Wollmütze zu bestehen. Das Positive war jedoch, dass es lächelte.

»Aha. Frischfleisch«, sagte er. »Ich bin der Korporal. Auch bekannt als Yos. Fünf Minuten zum Waschen, fünfzehn fürs Frühstück, dann versammeln wir uns.« Er schüttelte das Bett noch einmal, als sollte dies Glück bringen, richtete sich dann auf und ging zum Waschraum. Auch er war ein großer Mann, weit über einen Meter achtzig groß. Überall um mich her stiegen nun auch andere Truppenmitglieder aus ihren Betten, brummten und kratzten sich. Ich sah, dass die meisten von ihnen mehr oder weniger vollständig bekleidet schliefen. Der Korporal blieb ein paar Meter weiter stehen und drehte sich zu mir um.

»Guck nicht so besorgt«, sagte er. »Du kennst doch diese Redensart, wo die Leute sagen, mach dir keine Sorgen, vielleicht kommt es ja gar nicht erst so weit? Das hier ist etwas anderes. Du bist auf der Mauer. Es ist längst so weit gekommen.« Dann lachte er und ging davon.

Die Kompanie bestand aus dreißig Verteidigern, die in zwei Staffeln oder Schichten von jeweils fünfzehn Personen aufgeteilt waren. Außerdem gab es auf jeder Wachstation noch etwa fünf Angehörige des ständigen Personals sowie Köche und Reinigungskräfte. Die Kompanien wechseln sich ab: jeweils zwei Wochen auf der Mauer und zwei Wochen woanders. Eine dieser zwei Wochen, die man nicht auf der Mauer verbringt, dient dem Training, allgemeinen Wartungsarbeiten und was sonst noch so anfällt, die andere ist Freizeit. Die Zusammensetzung der einzelnen Staffeln ändert sich nur dann, wenn jemand seine Zeit auf der Mauer abgedient hat. Das ist ein fortlaufender, nie endender Prozess, weshalb es auch immer eine Mischung aus Verteidigern gibt, die sich dem Ende ihrer Zeit auf der Mauer nähern, und solchen, die gerade erst begonnen haben. Das sind immer die beiden nervösesten, fahrigsten Gruppen: Die, die noch ganz am Anfang stehen, haben keinen blassen Schimmer von dem, was sie tun, und diejenigen, die fast fertig sind, haben das Gefühl, sie bräuchten nur die Zunge auszustrecken und könnten schon die Freiheit schmecken, von der ihr Leben nach der Mauer erfüllt sein wird. Sie können nur an zwei Dinge denken: wie wunderbar es sein wird, von hier fortzukommen, und was für eine Katastrophe es wäre, wenn während der letzten paar Tage noch irgendetwas schiefginge. Die Verteidiger in der Mitte – also diejenigen, die sich in einiger Entfernung vom Anfang und vom Ende befinden – sind da viel stoischer.

Von meiner Staffel hatte ich bereits den Sergeanten und den Korporal kennengelernt. Man konnte sie immer sehr leicht voneinander unterscheiden, ganz gleich, wie weit sie entfernt waren oder wie dick sie sich aus Schutz vor der Kälte eingemummt hatten, denn der Sergeant war schwer und gedrungen, und der Korporal war groß. Wir nannten den Sergeanten »Sarge« und den Korporal »Yos«. Yos’ Hobby war das Schnitzen, und wenn wir nicht gerade auf der Mauer standen, dann werkelte er für gewöhnlich mit einem sehr gefährlich aussehenden, gebogenen Messer an irgendeinem Stück Holz herum. Was die anderen Mitglieder der Truppe anging, so war es an diesem ersten Vormittag und auch noch ein paar Tage später gar nicht so leicht, sie voneinander zu unterscheiden. Das lag an all diesen Kleidungsschichten. Unglaublich viele Schichten! Beim Frühstück, wenn sie mit gesenkten Köpfen und schweigend über ihrem Haferbrei saßen, war es sogar schwierig, meine neuen Kameraden nach ihrem Geschlecht zu unterscheiden. Es müssen alle auf die Mauer, egal, ob Mann oder Frau, und das Verhältnis liegt grob bei jeweils fünfzig Prozent, weshalb die Hälfte meiner Staffel aller Wahrscheinlichkeit nach aus Frauen bestand. Aber das konnte man im Grunde genommen nur herausfinden, wenn man die Person direkt fragte, und das schien mir keine ideale Methode, um das Eis zu brechen.

Nach dem Frühstück gingen wir für eine kurze Lagebesprechung zur Offiziersmesse, die wegen der ramponierten, unbequemen Tische und Stühle eher wie ein Klassenzimmer aussah. Die Besprechung wurde vom Hauptmann abgehalten. In seinem Rücken hingen zwei Karten, bei denen es sich zum einen um eine detaillierte dreidimensionale Projektion unseres Abschnitts der Mauer handelte und zum anderen um eine in einem kleineren Maßstab gehaltene Darstellung der fünfzig Kilometer langen Küste, die uns umgab. Wie ich noch erfahren würde, ging es in diesen Lagebesprechungen fast nie um irgendwelche gewichtigen Neuigkeiten, abgesehen von der Temperatur und der Wettervorhersage – auch wenn dies natürlich sehr wichtige Informationen waren. Manchmal berichtete man uns von einer kleinen Flotte von Anderen, die entdeckt und aus der Luft angegriffen worden waren. Diese Berichte bekamen wir für den Fall, dass vielleicht ein paar von ihnen überlebt hatten und möglicherweise in unsere Richtung unterwegs waren. Gelegentlich gab es auch Nachrichten zur Gesamtsituation, über ausgefallene Ernten oder den Zusammenbruch eines Landes oder die politische Koordination zwischen mehreren reichen Ländern oder irgendeine andere Neuigkeit aus der neuen Welt, in der wir seit dem Wandel lebten. Manchmal gab es Berichte über einen Angriff, bei dem Andere eine neue oder unerwartete Taktik angewandt oder in überraschend großen Mengen angegriffen hatten. Falls Andere jemals durchkamen, erfuhren wir sofort davon. Dann wurde es immer sehr still im Raum. Man sagte uns wann, wo und wie viele es waren.

An meinem ersten Tag gab es keine derartigen Neuigkeiten. Wir saßen da, schlurften mit den Füßen und zappelten unruhig herum, bis schließlich der Hauptmann den Raum betrat. Wir standen auf – zwar nicht, um zu salutieren, aber immerhin, wir standen auf. Der Hauptmann führte ein strenges Regiment. Es gab viele Posten, wo sich der dortige Befehlshaber keine solche Mühe machte. Der Hauptmann nickte, und wir setzten uns wieder. Dann wurde es still im Raum.

»Nichts Besonderes heute«, sagte er. »Es gibt keine Berichte, dass Andere gesichtet worden seien, weder aus der Luft noch auf See. Keine wichtigen Nachrichten von der übrigen Welt. Es sind gerade zwei Grad Celsius, später wird es ein Hoch von fünf Grad geben, was sich wegen des Windes etwa wie null Grad anfühlen wird. Eine gute Neuigkeit: Wir haben einen neuen Verteidiger, sodass wir jetzt wieder vollzählig sind. Kavanagh, erheben Sie sich.«

Das tat ich. Ich sah mich im Raum um, und alle vierzehn Mitglieder meiner Staffel begegneten meinem Blick.

»Er beginnt jetzt seine zwei Jahre mit uns. Zwei Jahre, falls er und Sie Glück haben und wir alle unsere Arbeit tun. Denken Sie daran, die ersten Wochen ist er immer noch in der Ausbildung. Also vergessen Sie das nicht. Dies ist keine Übung. Wir könnten heute angegriffen werden, und sowohl er als auch Sie müssen auf alles gefasst sein. Okay, das ist alles. Ich sehe Sie dann, wenn ich meine Runden mache.«

Wir standen auf und gingen zum Ausgang. Der Sergeant kam zu mir herüber und zeigte auf eine mürrisch aussehende rothaarige Frau, die kaugummikauend in der ersten Reihe saß und während der Lagebesprechung die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen war, mit einem Taschenmesser ihre Fingernägel zu reinigen. Danach zeigte er auf einen äußerst bärtigen Mann, der neben ihr saß, und schließlich noch auf ein geschlechtlich nicht einzuordnendes, amorphes Wesen mit einer Sturmhaube, das hinter mir gesessen hatte.

»Nehmen Sie ihn in die Mitte, Sie drei«, sagte er. »Posten acht bis vierzehn. Hifa nimmt den Granatwerfer. Ich komme dann in einer halben Stunde und sehe nach Ihnen.«

Wir gingen auf den Wall hinaus, der zur Mauer führte. Der Sergeant sah sich in der Runde um und gab dann den Befehl – jenen Befehl, der früher einmal als der furchteinflößendste Befehl in der ganzen Armee berüchtigt war, der schrecklichste Satz, den man in seinem Leben jemals hören würde, weil er immer die unmittelbare Vorstufe eines Nahkampfs war, Worte, die bedeuteten, dass man allerhöchstwahrscheinlich an diesem Tag töten oder getötet werden würde. In der neuen Welt war er zu einem Satz geworden, den alle Verteidiger zu Beginn einer jeden Schicht zu hören bekamen.

Er sagte:

»Pflanzt auf die Bajonette!«

Und so begann es.

2

Ich glaube, früher nannte man das »konkrete Poesie«, wenn jemand ein Gedicht schreibt, bei dem die auf der Seite gedruckten Worte wie ein Gegenstand aussehen, und zwar genau der Gegenstand, den das Gedicht zu beschreiben versucht. So wie zum Beispiel ein Gedicht über einen Baum in der Gestalt eines Baumes, wie dieses hier:

Ein

Gedicht

über einen

Baum in der

Gestalt eines Baumes,

in diesem Fall ein Weihnachts-

baum, keine sehr überzeugende Darstel-

lung eines Baumes und auch kein besonders gutes

Gedicht, aber es will ja auch kein unsterbliches Meister-

werk sein, sondern nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie es geht,

ok?

Ein konkretes Gedicht. Das fühlt sich wie die passende Form für das Leben auf der Mauer an, weil nämlich das Leben auf der Mauer eher einem Gedicht gleicht als einer Geschichte. Die Tage unterscheiden sich kaum voneinander, es geschieht nicht viel, das einen Verlauf hätte und von dem man behaupten könnte, dass es von A nach B ginge. Es gibt nicht viel zu erzählen. Es besteht zwar andauernd die Möglichkeit, dass etwas passiert – das ständige Risiko einer plötzlichen und totalen Katastrophe –, aber das ist nicht dasselbe wie etwas, das tatsächlich passiert. An den meisten Tagen passiert nämlich nichts. Das, womit ein typischer Tag die größte Ähnlichkeit hat, ist der Tag davor und der Tag danach. Er ist weniger eine zeitliche Einheit als vielmehr ein physisches Element. Die Zeit ist ein Ding. Ein Objekt. Und weil die Mauer der alles beherrschende Faktor in deinem Leben ist und auch in dem Leben all derer, die dich umgeben, und weil deine Pflichten und dein Tagesablauf und deine Gedanken sich sämtlich um die Mauer drehen und weil dein zukünftiges Leben dadurch bestimmt wird, was auf der Mauer geschieht – du kannst hier ganz leicht dein Leben verlieren oder das Leben, das du eigentlich haben wolltest –, beginnen die beiden Elemente, sich miteinander zu vermischen, die Zeit und die Mauer, die Zeit und die Mauer, die Mauer und der Tag und dein Leben, das an dir vorübergleitet, eine Minute nach der anderen.

Hinzu kommt noch, dass du während des absolut größten Teils deiner Zeit hauptsächlich auf Beton starrst. Du stehst darauf, du schläfst darin, dein Zuhause und dein Arbeitsplatz und der Ort, an dem du isst, und der Ort, wo du scheißt, und der Ort, der sich in deinen Träumen einnistet – alles aus Beton. Unverrückbarer, harter, unwiderruflich in eine konkrete Form gegossener Beton. Konkret … da ist es wieder, das Wort. Du könntest über die Mauer in Prosaform reden oder in Gedichtform, aber egal, wofür du dich entscheidest: Beton wäre das markanteste, konkreteste Element darin.

In Prosaform wäre es eine Frage der schieren Ausmaße. Die Mauer ist zehntausend Kilometer lang, mehr oder weniger. (Dieses Land hat eine Menge Küste.) Auf der Mauerkrone beträgt ihre Breite über jeden einzelnen Zentimeter der Strecke genau drei Meter. Die Seite, die zum Meer hingeht, ist für gewöhnlich fünf Meter hoch, auf der Landseite ist das je nach Beschaffenheit des Geländes unterschiedlich. Alle drei Kilometer gibt es ein Wachhaus, also insgesamt über dreitausend, in etwa. Es gibt Wälle, Treppen, Kasernen, Ausfahrtsschleusen für Boote, Hubschrauberlandeplätze, Lagerräume, Wassertürme, Zugangswege und Gebäude und so weiter. Alles ist aus Beton. Wenn man die nötigen Statistiken und auch die Zeit und genügend Langeweile hätte, dann könnte man genau ausrechnen, wie groß die Menge ist, aber es genügt wohl zu sagen, dass es sehr viel Beton ist. Millionen von Tonnen. Das ist die Prosa.

Doch Prosa ist irreführend, wenn es um die Frage geht, wie es sich anfühlt und wie es einem vorkommt. Die Tage sind immer gleich, mit unterschiedlichen Wetterverhältnissen, der Ausblick ist immer gleich, mit unterschiedlichen Sichtverhältnissen, und die Menschen, die dich zu beiden Seiten umgeben, sind ebenfalls immer gleich. Das Ganze ist also statisch, es ist keine Geschichte. Es ist ein unveränderliches Bild mit ein paar Variablen. Es ist Poesie, und wie ich schon sagte, es ist konkrete, um nicht zu sagen betonierte Poesie, mit ein paar sich wiederholenden Elementen. Eines davon wäre der Beton selbst:

Beton Beton Beton Beton Beton

Beton Beton Beton Beton Beton

Beton Beton Beton Beton Beton

Beton Beton Beton Beton Beton

Beton Beton Beton Beton Beton

Beton Beton Beton Beton Beton

Aber dann gibt es noch das Wasser, den Himmel, den Wind, die Kälte. Immer Wasser, Himmel, Wind, Kälte und natürlich Beton, weshalb es auch manchmal eine Betonwasserhimmelwindkälte ist, wenn sie alle zugleich auf dich einbranden, als seien sie ein einziges Element, gebündelt, wie ein Faustschlag, Betonwasserhimmelwindkälte. Obwohl es andererseits nicht immer in dieser Weise geschieht, manchmal greifen sie dich auch einzeln an, als voneinander abgetrennte Phänomene und in einer unterschiedlichen Reihenfolge, es könnte also so sein wie

Kälte:::Beton:::Wind:::Himmel:::Wasser

oder manchmal geschieht es auch langsamer, manchmal dauert es seine Zeit, bis du sie wirklich in deinem tiefsten Innern spürst, es könnte zum Beispiel einer jener seltenen, vollkommen aus der Reihe fallenden klaren, ruhigen Tage sein (es gibt sie, wenn auch nicht oft, aber es gibt sie), und in diesem Fall ist es dann wie ein noch kürzeres Haiku

Himmel!

Kälte

Wasser

Beton

Wind

und manchmal ist deine Wahrnehmung auch verlangsamt, besonders, wenn es sehr kalt ist, eiskalt, und du schon müde bist und dein Wachdienst fast zu Ende ist, und dann ist es eher wie

Kälte

Beton

Kälte

Wasser

Kälte

Himmel

Kälte

Wind

Kälte

Ah, ja, die Kälte. Das körperliche Gefühl, das man hat, wenn man sich auf der Mauer befindet, ändert sich die ganze Zeit, aber es ändert sich innerhalb eines sehr eng gesteckten Rahmens. Es ist immer kalt, doch es gibt mehr als eine Sorte von Kälte, wie du bald feststellst, es gibt Typ 1 und Typ 2. Typ 1 ist die Kälte, die immer vorhanden ist. Sie beginnt, wenn du in der Kaserne aufwachst, so wie ich an jenem ersten Tag, und es schon kalt ist. Und es bleibt kalt, während du dich wäschst und auf die Toilette gehst und deine Tageskleidung anziehst, die verschiedenen Schichten übereinanderhäufst, beginnend bei der Thermounterwäsche, den inneren Schichten, den äußeren Schichten, deiner ganzen Kälteschutzausrüstung, und dann gehst du und isst etwas, es ist immer Haferbrei und manchmal irgendetwas mit Protein und ein warmes Getränk, und du nimmst dir so viele Energieriegel wie du glaubst, den Tag über essen oder vielmehr ertragen zu können, bis du dann für die Lagebesprechung zur Offiziersmesse hinübergehst, bei der es manchmal Informationen zu neuen Bedrohungen gibt, aber bei der du meistens nur erfährst, dass der heutige Tag genauso sein wird wie der gestrige, du gehst zur Waffenkammer und holst dir deine Waffen, dann ziehst du die äußere Schicht deiner Kleidung an, winddichte und wasserdichte Sachen und eine Mütze und Handschuhe, jeder benutzt eine andere Art von Ausrüstung, sodass das Ganze inzwischen so aussieht wie die am schlechtesten organisierte Armee der Welt, was in gewisser Weise ja auch stimmt. Dann gehst du nach draußen auf die Mauer und sofort trifft dich Typ 1 der Kälte, die Kälte, die immer schon da ist, die du so gut kennst und so sehr hasst, es ist, als wärst du in einer von diesen Bands, die schon seit Jahrzehnten zusammenspielen und so viel Zeit miteinander verbringen und sich so unendlich gut kennen, dass sie es nicht mehr ertragen, auch nur eine Sekunde länger in der Gesellschaft der anderen zu verbringen, sie können die anderen mit verbundenen Augen am Gestank ihrer Fürze erkennen, und doch haben sie keine Wahl, denn das ist es ja schließlich, was sie tun und wer sie sind. Dann gehst du zu dem Posten, der dir für diesen Tag zugeteilt wurde (oder für die Nacht, wenn du Nachtdienst hast, was exakt das Gleiche ist, nur zwölf Stunden später), und löst den Glückspilz ab, der jetzt dienstfrei hat, während du der Pechvogel bist, der statt seiner Dienst tun muss. Und wenn du dann schließlich bei deinem Posten angekommen bist, der auch mal anderthalb Kilometer entfernt sein kann, dann hat dein Körper schon etwas Wärme produziert und du hast angefangen, gegen die Kälte anzukämpfen, und es wird dir klar, dass dir, solange du dich immer nur weiterbewegst, gerade so eben warm genug sein wird. Das ist die Kälte vom Typ 1.

Typ 2 beginnt auf die gleiche Weise, außer dass sie immer kälter wird, je länger du dich in ihr bewegst. Nachdem du zwanzig Minuten lang zu deinem Posten gelaufen bist, ist dir kälter als an dem Moment, an dem du aufgebrochen bist. Die Kälte dringt in dich ein, tief und gründlich und geradezu innig. Sie fühlt sich gefährlich an, weil sie gefährlich ist. Es gibt Menschen, die auf der Mauer an Unterkühlung gestorben sind. Bei Typ 2 hast du keine andere Wahl, als dich so viel zu bewegen, wie du nur kannst. Das Wichtigste aber ist, dass du im Vorfeld versuchst herauszufinden, ob und wann es sich um die Kälte von Typ 2 handelt, und dass du dich dann entsprechend wappnest. Das bedeutet das Doppelte von allem: die doppelte Menge Haferbrei, die doppelte Menge warme Getränke. Manchmal rennt einer deiner Kameraden zurück zur Kaserne und kommt mit mehr Kleidern und einer großen Thermosflasche mit warmer Flüssigkeit zurück, irgendetwas, egal was. Ich habe sogar Berichte von Einheiten gehört, die sich in den kältesten Nächten ein Feuer gemacht und sich darum versammelt haben, aber der Hauptmann würde uns so etwas niemals durchgehen lassen. Die Kälte vom Typ 1 kann einem vertraut, ja, fast freundlich vorkommen, weil man sie so gut kennenlernt. Während des Rests deines Lebens wirst du dich, wann immer dir kalt ist, an die Mauer erinnern und an diese Art von Kälte. Und weil du dich an diesem Punkt nur noch daran erinnerst, wie elend du dich gefühlt hast, und zwar in einer Zeit, in der du dich weit weniger elend fühlst – du wirst dich zwangsläufig und per definitionem besser fühlen, weil du nicht mehr auf der Mauer bist –, wird es zwar nicht gerade eine glückliche Erinnerung sein, aber eine Erinnerung mit einer glückbringenden Wirkung: Hurra, ich bin nicht mehr auf der Mauer! Irgendjemand hat einmal gesagt, es gebe kein größeres Elend, als sich an eine Zeit des Glücks zu erinnern, während du inmitten einer Zeit der Verzweiflung bist, und das ist sicher wahr, aber konzentrieren wir uns doch auf das Positive und erinnern uns daran, dass auch das Gegenteil wahr ist. Wenn du dich an einen schlimmen Ort erinnerst und du nicht länger an diesem schlimmen Ort bist, dann fühlt sich das gut an. So, als würdest du aus einem Albtraum aufwachen.

Über Typ 2 gibt es keine positiven Gedanken. Er schneidet und bohrt und strömt in dich hinein. Die andere Kälte fühlt sich wie etwas an, das außerhalb von dir ist und mit dem du irgendwie fertigwerden musst. Typ 2 fühlt sich an, als sei er etwas Innerliches. Diese Kälte dringt in deinen Körper ein, in deinen Kopf. Sie verdrängt einen Teil von dir, sie gibt dir das Gefühl, als gäbe es nun weniger von dir. Typ 1 kannst du bekämpfen, indem du dich bewegst oder indem du an etwas anderes denkst. Bei Typ 2 gibt es nichts anderes mehr. Manchmal gibt es nicht einmal mehr dich. Über Typ 1 beschweren sich die Leute. Bei Typ 2 werden sie still, sogar später noch, wenn es schon wieder vorbei ist. Typ 2 ist eine Vorahnung des Todes.

An meinem ersten Tag herrschte Typ 1. Wir kletterten die Rampe hinauf und liefen dann auf der Mauer entlang zu unseren Posten. Es war kalt, fürchterlich kalt, aber nicht gefährlich. Kalt und mittelklar. Man kann die Sichtverhältnisse auf der Mauer immer daran einschätzen, wie viele Wachtürme man sehen kann. An jenem Tag konnte ich die nächsten beiden Türme sehen, aber nicht den dritten. Die Türme liegen jeweils drei Kilometer auseinander, das heißt also, man konnte sechs Kilometer weit sehen, aber nicht neun. Oder auch sieben. Also mittelklar. Das ist immer das Erste, was man überprüft, denn daran erkennt man, auf welche Entfernung man sich etwaig nähernde Andere entdecken kann. Klare Tage sind besser, es sei denn, du musst gegen die Sonne schauen, während sie auf- oder untergeht. In einem solchen Fall sind diese Tage weder besser noch schlechter. Angriffe erfolgen oft genau zu dieser Zeit und auch aus dieser Richtung – was den Anderen eigentlich einen Vorteil verschaffen sollte. Aber weil wir wissen, dass das ihre bevorzugte Zeit ist, sind wir meistens darauf vorbereitet. Zumindest ist es das, was man meinen sollte. Doch von allen erfolgreichen Angriffen geschehen etwa die Hälfte während der Morgen- oder Abenddämmerung.

Meine Mitverteidiger murrten und brummten und schimpften, während wir unterwegs zu unseren Posten waren. Die Mauer ist oben mit Schotter bestreut, jedenfalls auf einigen Abschnitten, um auch bei Nässe für einen sicheren Tritt zu sorgen. Dies hier war einer dieser Abschnitte. Wir knirschten und stapften vor uns hin. Alle zweihundert Meter blieb jemand bei seinem Posten stehen, löste sich aus der immer weiter in sich zusammenschrumpfenden Gruppe und bezog seine Stellung neben der Person aus der anderen Staffel, die bisher dort Wache gestanden hatte. Manchmal bekam man ein paar Schimpfworte oder Worte der Erleichterung zu hören, eine Mischung aus Gott-sei-Dank und Das-wurde-ja-verdammt-noch-mal-Zeit. Alle Verteidiger, die ihren Posten verließen, sahen vor Erschöpfung ganz grau aus und gingen mit schweren Schritten. Ein oder zwei der Wächter, die an den am weitesten entfernten Posten gestanden hatten, kamen uns bereits entgegen, obwohl wir noch gar nicht bei ihnen angekommen waren und ihre Beobachtungsstationen genau genommen in der Zwischenzeit unbesetzt blieben. Das hätten sie in Anwesenheit des Hauptmanns niemals getan, und falls er sie dabei erwischt hätte, hätte er automatisch einen weiteren Tag zu ihrer Zeit auf der Mauer hinzugefügt.

Mittlerweile war es hell geworden. Die Sonne stand noch recht tief, aber dank der Wolkendecke blendete sie nicht.

Die Posten waren mit verblichener weißer Farbe in einem Abstand von jeweils hundert Metern durchnummeriert worden. Auf jedem Posten stand eine Bank aus Beton, die aufs Meer hinausschaute und breit genug für zwei Leute war. Der bärtige Mann blieb bei Nummer 8 stehen, die Frau, neben der er gesessen hatte – vielleicht waren sie ja ein Paar, die wortlose Vertrautheit, die sie miteinander zu haben schienen, legte das nahe –, hielt bei Nummer 10 an. Als wir bei Nummer 12 ankamen, zeigte Hifa, die Gestalt mit der Sturmhaube, auf mich, sagte »Hier« und ging dann weiter zur nächsten Station, der 14 und somit letzten Position, für die unser Wachhaus zuständig war. Der Verteidiger, der auf meinem Posten gestanden hatte, ein klobiger Mann, der ungefähr so groß war wie ich, nahm seinen Rucksack auf, warf sich das Gewehr über die Schulter und ging ohne ein Wort oder eine Geste davon.

Ich zog meinen Rucksack aus und lehnte ihn gegen den Wall. Dann stellte ich mich hin und sah aufs Meer hinaus. Zwölf Stunden – das kam mir so vor, als könne das eine sehr, sehr lange Zeit werden. Manche Kompanien teilten sich ihre Zeit in zwei Schichten von jeweils sechs Stunden auf, aber unser Hauptmann gehörte zur alten Schule, die eher auf ein Zweiersystem schworen: Entweder du hast Dienst oder du hast keinen Dienst. Im Augenblick schien mir das die übelste Regelung auf der ganzen Welt zu sein, aber ich wusste, dass ich in elf Stunden und fünfundvierzig Minuten sehr dafür sein würde.

Obwohl alle die Mauer »die Mauer« nennen, ist das nicht ihre offizielle Bezeichnung. Offiziell heißt sie nämlich »Nationale Küstenverteidigungsbefestigung«. Auf offiziellen Dokumenten wird sie zu NKVB abgekürzt. Jedes Wachhaus hat einen Namen und eine Nummer. Unsere Bezeichnung war Ilfracombe 4. Wir befanden uns am äußersten Ende einer langgezogenen Krümmung im Küstenverlauf. Direkt vor mir und auch im Winkel von neunzig Grad zu beiden Seiten war nichts zu sehen als der Ozean. Falls man das, was direkt vor mir lag, als zwölf Uhr bezeichnete, dann gab es von neun Uhr bis drei Uhr nichts als Wasser. Wenn man sich dann weitere zehn Grad zur Seite drehte – also nach acht Uhr oder vier Uhr –, dann konnte man sehen, wie sich die Mauer in Schlangenlinien bis in weite Ferne ausstreckte. Die Konstrukteure, die für ihren Bau verantwortlich waren, hatten versucht, sie so gerade wie möglich zu halten, weil gerade gleich kürzer ist. Doch es gab zu viele Orte, wo es wegen der natürlichen Gestalt dessen, was früher einmal die Küstenlinie gewesen war, günstiger wurde – sowohl was die Zeit und Mühe als auch was den Beton anbelangte –, sich nach dem existierenden Verlauf der Küste zu richten. Dieser Abschnitt hier war wohl einer dieser Orte. Mein neues Zuhause.

3

In jedem Lebensbereich, in jedem Job und jeder Berufung gibt es eine Erfahrung, die das tatsächliche Tun einer Sache radikal von der ihr vorausgehenden Ausbildung und Vorbereitung unterscheidet, sei sie auch noch so umfangreich gewesen. Du hast keine Ahnung davon, was Boxen eigentlich ist, bevor dir nicht jemand einen Hieb ins Gesicht verpasst hat, du hast keine Ahnung, wie es ist, in einer Fabrik Schichtarbeit zu verrichten, bevor du nicht die Glocke gehört hast, die das Ende des Arbeitstages ankündigt, du hast keine Ahnung, wie sich ein Tagesmarsch mit einem vollen Rucksack anfühlt, bevor du es nicht ausprobiert hast, und du hast keine Ahnung, was es heißt, auf der Mauer zu sein, bevor du nicht zwölf Stunden darauf Wache gestanden hast.

Nie ist die Zeit langsamer verstrichen als an diesem Tag. Die Zeit auf der Mauer ist ein Sirup. Irgendwann, wenn du genug Stunden auf der Mauer verbracht hast, lernst du, mit der Zeit umzugehen. Du trainierst es dir an, nicht auf die Uhr zu schauen, weil es nämlich niemals, nie, nie, nie so spät ist, wie du denkst oder hoffst oder dich sehnst, dass es sei. Du lernst zu schweben. Du wirst vollkommen passiv, du lässt den Tag durch dich hindurchgehen, du hörst auf zu versuchen, ihn deinerseits hinter dich zu bringen. Aber es dauert Monate, bis du das schaffst. Während der ersten Wochen, und insbesondere an deinem ersten Tag, siehst du alle fünf Minuten auf die Uhr. Es ist ganz so, als gäbe es auf der Mauer eine besonders langsame Zeit. Du kannst es nicht fassen, du guckst immer und immer wieder nach, und das macht es nur noch schlimmer.