Seibold, Jürgen Volltreffer

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Originalausgabe
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: Cornelia Niere
Coverabbildung: Cornelia Niere und Shutterstock

 

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Donnerstag, 7. März

Kriminalhauptkommissar Eike Hansen saß wie auf glühenden Kohlen. Immer wieder sah er auf die Uhr und warf seiner Mitarbeiterin Hanna Fischer fragende Blicke zu, doch diese zuckte nur ratlos mit den Schultern. Sicher, ihr Kollege Willy Haffmeyer hielt selten den Mund, wenn es gut für seine Karriere gewesen wäre. Er verhielt sich auch Vorgesetzten gegenüber schnoddrig und hatte kein Gespür für Hierarchien, aber unpünktlich war er nicht. Eigentlich. Nur ausgerechnet heute kam er nicht zur geplanten Besprechung – dabei musste Hansen gleich im Anschluss zu seinem nächsten dringenden Termin eilen, bei dem er unter keinen Umständen zu spät kommen wollte.

Erneut sah er auf die Uhr. In gut vierzig Minuten würde sich seine Verlobte Resi Meyer in der Herrenschneiderei Creglinger in der Füssener Innenstadt einfinden, wo für Hansens Hochzeitsanzug Maß genommen werden sollte. Sie hatte ihm noch am Frühstückstisch eingeschärft, heute unbedingt pünktlich zu sein. Der alte Adalbert Creglinger nahm nur noch gelegentlich neue Kunden an, seine maßgeschneiderten Anzüge galten als die besten der Gegend, und er hasste nur eines noch mehr als aufgehende Nähte: nämlich unpünktliche Kunden.

»Tut mir leid, Hanna«, sagte Hansen, als Haffmeyer auch um zehn nach zehn noch nicht eingetroffen war, und erhob sich. »Länger kann ich nicht warten. Und auf dem Handy hast du ihn ja vorhin auch nicht erreicht – dann müssen wir unsere Besprechung eben verschieben. Passt es bei dir morgen früh um neun? Gegen Mittag muss ich schon wieder los. Dieser blöde Termindruck …«

Hanna Fischer lachte und folgte ihm auf den Flur hinaus.

»Klingt ganz so, Chef, als würden dich die Hochzeitsvorbereitungen mehr stressen als zwei Mordfälle gleichzeitig.«

»Das kannst du laut sagen«, entfuhr es Hansen, doch schon im nächsten Moment legte er sich die Hand auf den Mund. »Aber kein Wort zu Resi!«

»Ich werde mich hüten!«, versprach Hanna grinsend.

Als Hansens schnelle Schritte nur noch gedämpft vom Treppenhaus her zu hören waren, kam Rosemarie Schwegelin, die Sekretärin der Kripochefin, in den Flur heraus.

»Was ist denn? Haben wir einen neuen Fall?«, wollte sie wissen.

»Nur, wenn Hansen es nicht rechtzeitig nach Füssen schafft«, erwiderte Hanna, ging in ihr Büro und ließ die Sekretärin ratlos zurück.

 

Schon nach dem ersten Blick auf das Blumenbeet hatte Kriminalmeister Willy Haffmeyer die Besprechung vergessen. Er hatte für den Weg von seinem Haus in Eisenberg-Zell zum Kemptener Kommissariat einen Abstecher gemacht, den er sich zweimal die Woche gönnte, und wie an solchen Tagen üblich, hatte er seinen Wagen am ersten Gehöft in Schweinegg abgestellt und war zur Kapelle am Ostrand des Weilers gegangen. Das kleine Gotteshaus St. Rasso stand halb unter dem Laubdach zweier mächtiger Bäume, und vor dem gegenüberliegenden Ende der Kapelle befand sich ein Blumenbeet.

Haffmeyer hatte es sich vor einigen Jahren zur Angewohnheit gemacht, die einzelnen Blumen zu fotografieren und sie anschließend zu bestimmen. Wenn er dann später den alten Hansjörg Roth besuchte, der das Beet liebevoll hegte und pflegte, berichtete er ihm, was er in seinem Bestimmungsbuch gefunden hatte. Darüber freute sich Roth fast genauso wie über die Flasche Schnaps und den Kanten Rauchfleisch, den Haffmeyer ihm bei diesen Gelegenheiten mitbrachte.

Inzwischen hatte es der Kriminalbeamte schon zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, die Blumen auch ohne Hilfsmittel zu bestimmen. Momentan blühten neben St. Rasso Gänseblümchen und Winterling, Christrose und Osterglocke. Was den streng geschützten Märzenbecher betraf, hoffte Haffmeyer, dass der Alte die Zwiebeln ganz legal käuflich erstanden und nicht etwa irgendwo ausgegraben hatte.

All diese Blumen hatten nach den letzten trockenen Tagen Schaden genommen. Müde ließen sie ihre Blütenköpfe hängen, einige davon waren nach Haffmeyers Einschätzung nicht mehr zu retten, und trotzdem zögerte er, sich von einem Nachbarn eine Gießkanne zu borgen und das Beet zu wässern. Denn die Blumen von St. Rasso durfte keiner gießen außer dem alten Roth, niemand durfte hier harken oder welke Blätter abzupfen. Aber so wie jetzt hatte der Alte sein Beet noch nie vernachlässigt …

»Herr Haffmeyer?«

Eine dünne Frauenstimme ließ ihn herumfahren. Agnes Rampoldt, die Altbäuerin von gegenüber, stand neben seinem Auto, schwer auf ihren Stock gestützt. Er ging die paar Schritte zu ihr und begrüßte sie.

»Schön, dass Sie nach den Blumen sehen«, schnarrte sie und klang dabei besorgt. »Der Hans hat’s schon seit ein paar Tagen nicht mehr geschafft.«

»Geht’s ihm denn nicht gut?«

Die Bäuerin zuckte mit den knochigen Schultern.

»Ich weiß es nicht. Man kann ja nicht ganz bis zu seiner Hütte fahren, und zu Fuß komm ich nicht mehr so weit. Aber wenn ich mir das Beet so anschaue …«

Sie wiegte betrübt den Kopf und schien das Schlimmste zu befürchten.

»Wann haben Sie den Roth denn zum letzten Mal hier gesehen?«

»Am Samstag war das. Erst hat er die Blumen gegossen, und dann ist er zum Kögelhof rüber und hat sich selbst gegossen.«

Agnes Rampoldt kicherte heiser und deutete in die Richtung der Alpe Kögelhof, einem gemütlichen Tagesgasthaus gleich hinter dem nächsten Weiler.

»Auf dem Heimweg ist er jedenfalls Schlangenlinien gefahren …«

Die Alpe war eine der Gastwirtschaften, in die der alte Roth gelegentlich einkehrte. Ansonsten zog es ihn öfter zum Gockelwirt nach Eisenberg oder in die Schloßbergalm und manchmal, wenn er sich besonders spendabel fühlte, in den Bären nach Zell, ein feines Hotelrestaurant in direkter Nachbarschaft von Willy Haffmeyer, der ihn manchmal dort traf. Hansjörg Roth war trotz seines fortgeschrittenen Alters noch gut zu Fuß, und weitere Strecken bewältigte er mit seinem knatternden Mofa, an dem mit einer wackligen Kupplung ein zweirädriger Karren befestigt war. Dort war Platz für Gießkanne, Harke und Blumenerde – und manchmal, wenn er mehr als nur ein, zwei Bier zu viel erwischt hatte, auch für Roth selbst.

»Würden Sie mal nach ihm schauen, bitte?«

Die Frage der Altbäuerin ließ Haffmeyer aus seinen Gedanken aufschrecken. Er hatte selbst schon überlegt, ob er nicht lieber nach dem Rechten sehen sollte. Nicht, dass Roth hilflos in seiner Hütte hockte und womöglich einen Arzt brauchte …

»Ich gieß solang die Blumen«, fuhr die Alte fort. »Heut wird er doch hoffentlich nichts dagegen haben? Es wär ja schad drum …«

Haffmeyer nickte und beschloss, sich gleich auf den Weg zu machen. Auch jetzt, da er überlegte, ob er womöglich noch einen anderen Termin hatte, fiel ihm die Besprechung im Kommissariat nicht ein. Also verabschiedete er sich von Agnes Rampoldt und fuhr los. Nach ein paar Hundert Metern bog er auf einen Feldweg ab, der für den normalen Verkehr gesperrt war und ihn bis zu einem Waldstück den Hang hinauf führte. Auf der Anhöhe erreichte Haffmeyer eine Kreuzung und lenkte sein Auto an den Wegesrand. Aus dem Kofferraum holte er den zerschlissenen Rucksack, den er immer dabeihatte. Er stopfte den Erste-Hilfe-Kasten des Wagens hinein, stellte sein Handy stumm und legte es dazu, packte noch eine Flasche Wasser und ein paar Taschentücher mit hinein. Dann schulterte er den Rucksack und marschierte los, einen Fahrweg hinunter, der für sein Auto zu steil und zu holprig war, über eine Wiese und schließlich hinein ins nächste Waldstück.

Er mochte diesen Weg, der ihn westlich am Schlossweiher entlangführte. Und er wusste, wo er abbiegen musste, um zu Roths Unterschlupf zu kommen. Zuvor aber schlug er sich unweit der Abzweigung ins Unterholz, schlüpfte zwischen zwei Büschen hindurch und stand in einem der zahlreichen Verstecke, die der Alte in der Umgebung angelegt hatte. Er zog ein paar lose Äste beiseite und sah das Mofagespann vor sich. Roth fuhr mit seinem Knatterding immer noch bis in den Wald hinein und verbarg es hier vor Spaziergängern oder Lausbuben, die ihm sonst vielleicht einen Streich gespielt und an dem Gefährt herumgefummelt hätten. Haffmeyer musste zwar lächeln, weil sich Roth so viel Mühe gab, das alte Ding mit abgerissenen Ästen zu bedecken – sogar die Reifenabdrücke zum Versteck hin bestreute er sorgfältig mit Laub. Aber der Alte hatte nun mal seine Marotten, und da Haffmeyer seine spezielle Vorgeschichte kannte, mochte er es ihm nicht übel nehmen, dass er immer und überall mit dem Schlimmsten rechnete.

Das Mofa war da, das hieß: Roth war mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Hause – oder streunte in der näheren Umgebung herum.

Also arbeitete sich Haffmeyer weiter in den Wald hinein. Dabei folgte er mal dem einen, mal dem anderen Wildwechsel, oft kaum erkennbar zwischen Dornengestrüpp und niedrig hängenden Zweigen. Er kam zügig voran, sah ab und zu die Mauern der Burgruine Hohenfreyberg zwischen den Baumwipfeln hindurchblitzen, und als er sich schließlich durch die letzten Büsche hindurchzwängte und danach lichteres Unterholz erreichte, blieb er stehen und lauschte.

Es war nichts zu hören.

»Roth?«, rief er und lauschte wieder. Und noch einmal, lauter: »Roth?«

Keine Antwort. Langsam ging Haffmeyer weiter und schaute aufmerksam nach allen Seiten. Es war ratsam, sich dem Alten gegenüber rechtzeitig bemerkbar zu machen, denn er hatte gern seine Ruhe, schätzte Überraschungen nicht sehr – und war obendrein bewaffnet. Seine beiden ersten Besuche waren deshalb nur haarscharf glimpflich verlaufen. Beim ersten Mal hatte Haffmeyer sich an die windschiefe Hütte herangeschlichen, in der Roth hauste, und den Alten durch das Fensterloch angesprochen, nachdem er ihn an einem improvisierten Tisch aus Baumscheiben und Steinen hatte hocken sehen. In einer einzigen fließenden Bewegung hatte sich Roth geduckt, nach einer Pistole gegriffen und mit der Waffe auf seinen unerwarteten Besucher gezielt. Damals war Roth noch keine sechzig gewesen, aber seine Reflexe waren seither nicht schlechter geworden.

»Roth!«, rief Haffmeyer erneut.

Nirgendwo regte sich etwas, also näherte er sich langsam der schäbigen Behausung des Alten.

 

Adalbert Creglinger nahm die Verspätung alles andere als gut auf. Die leidige Parkplatzsuche hatte Hansen etwas mehr als fünf Minuten gekostet, und auch der anschließende Fußweg vom Auto zur Herrenschneiderei hatte etwas länger gedauert als gedacht. Entsprechend gehetzt drückte Hansen die Ladentür auf und trat unter dem Gebimmel einer altmodischen Türglocke in den Raum, in dem seine Verlobte Resi mit gekreuzten Armen am Fenster stand und ihm missmutig entgegensah.

Creglinger selbst, ein stämmiger Herr Mitte siebzig, hatte sich mitten im Raum postiert. Um den Hals hing ein Maßband, die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt, die buschigen Augenbrauen erhoben. Hansen murmelte eine Entschuldigung, die am tadelnden Blick des Ladeninhabers jedoch nichts zu ändern vermochte.

»Nun gut«, schnarrte Creglinger schließlich und begann, langsam um Hansen herumzugehen. »Dann wollen wir uns das mal ansehen. Wir müssen uns leider ein wenig beeilen, denn ich habe gerade heute einen engen Zeitplan.«

Dennoch spazierte er in aller Seelenruhe zweimal um Hansen herum, bevor er den Kopf schief legte und eine so bedenkliche Miene aufsetzte, dass sich Hansen schon fragte, ob er hier überhaupt einen maßgeschneiderten Anzug bekommen würde.

Die geschlossenen Fenster und die Tür hielten die Geräusche der belebten Füssener Innenstadt ab – leider aber auch die Luft, die draußen deutlich frischer gewesen war. Hansen erinnerte die Mischung der muffigen Aromen in der Schneiderei eher an ein Bestattungsinstitut, und der leichte Altmännergeruch, der Creglinger umwehte, machte es nicht besser. Hansen wartete, bis der alte Herr seine Inspektionsrunden beendet und seinen Kunden noch einmal von Kopf bis Fuß gemustert hatte.

»Nun gut … nun gut …«, bemerkte Creglinger schließlich und legte die Stirn in tiefe Falten.

Dann machte er mit seinem Oberkörper eine seltsam schlackernde Bewegung, woraufhin der weite Ärmel seines Jacketts den Blick auf ein Armband freigab, an dem ein Nadelkissen befestigt war. Dann malte seine linke Hand einige Linien in die Luft, die vermutlich Hansens Silhouette nachbilden wollten, dabei aber fast wirkten, als würde er seinen Kunden segnen. Anschließend nickte er knapp und verschwand ohne ein weiteres Wort in einen Raum hinter dem Laden.

Plötzlich stand Resi neben Hansen.

»Sag mal, Eike«, zischte sie, »konntest du denn nicht wenigstens heute mal pünktlich sein?«

»Wir hatten eine Besprechung, und Willy –«

»Und wir hatten einen Termin! Du mit mir und Herrn Creglinger – und nicht in Kempten mit Willy!«

»Jetzt reg dich doch nicht so auf! Ich bin halt ein paar Minuten später losgekommen, und dann habe ich länger als erwartet nach einem Parkplatz suchen müssen. Das kann doch mal vorkommen.«

»Mal! Pah!«

Resi bedachte ihn mit einem finsteren Blick und kehrte ihm den Rücken zu. Inzwischen war der Schneider zurückgekehrt und stand vor seinem Tresen, als habe er alles mitangehört. Auch das süffisante Lächeln, mit dem er Hansen bedachte, legte das nahe. Doch während in Hansen der Ärger über diesen seltsamen älteren Herrn aufwallte, streckte der auch schon seine Arme aus, über die er die Bahn eines hellgrauen Stoffs gebreitet hatte.

»Ihre Verlobte, Herr Hansen, hat schon gewählt – und, wie ich finde, einen ausgezeichneten Geschmack bewiesen.«

Er trat näher und hielt die Arme mit dem Stoff noch etwas höher. Hansen fand das Material nicht besonders spektakulär, doch dann entdeckte er das kleine festgesteckte Preisschild. Erschrocken schaute er zu Resi hin und wollte schon protestieren, doch deren lauernder Blick ließ ihn den Mund sofort wieder schließen. Es war wohl besser, sich einfach in alles zu ergeben, was hier auf ihn zukommen würde.

»Aber wenn ich an Ihnen Maß nehmen soll, Herr Hansen«, fuhr Creglinger ungerührt fort, »dürfen Sie die Schultern nicht so hängen lassen.«

 

Vor das Fensterloch von Roths Behausung war von innen ein Stück Sackleinen gespannt. Haffmeyer stand auf der Lichtung und horchte, doch außer dem wiederholten Rätschen des Eichelhähers, der die Waldbewohner noch immer vor dem fremden Zweibeiner auf der Lichtung warnte, war nichts zu hören. Er zog die wacklige Holztür auf, die seit einigen Monaten noch schiefer als zuvor in ihren verrosteten Angeln hing, und spähte in den halbdunklen Raum. Blanker Erdboden, über die Jahre festgetrampelt und unter dem undichten Blechdach an manchen Stellen nur noch dann trocken, wenn das Wetter mitspielte. Auf dem Boden der improvisierte Tisch, mehrere Baumstücke als Hocker drum herum, die Feuerstelle direkt unter dem offenen Kamin und die Pritsche, aus Europaletten kombiniert und mit Steinen gut eine Handbreit über dem Boden abgestützt. An einer Wand lehnte ein angebrochener Sack mit Wildfutter, obenauf eine Schachtel mit schrumpeligen Möhren und Äpfeln. In einem wilden Sammelsurium vom Sperrmüll – ein schmaler Schrank, zwei Regale, ein Sideboard – hatte Roth seine Kleider verstaut, seine Werkzeuge und was er sonst noch so zum Leben hier draußen brauchte.

Die Luft in dem vollgestopften Raum war verbraucht und roch nach Erde, nach Räucherwurst und nachlässig gewaschener Kleidung. Das war Roths Aroma, das Haffmeyer kannte, seit er den Alten hier besuchte.

Nur der Alte selbst war nicht da.

»Roth!«, rief Haffmeyer noch einmal, als er wieder vor die Hütte trat.

Wieder keine Reaktion.

Er blickte sich um. Alles wirkte wie immer: Ein Beil steckte in einem Baumstumpf, daneben waren Holzscheite unterschiedlicher Größe gestapelt und mit rissiger Teerpappe bedeckt. Aufgerollte Plastikplanen, Eimer, Schaufeln, Hacken und Gießkannen lagen herum, und am Rand der kleinen Lichtung waren zwei grob gezimmerte Holztröge aufgestellt, in denen der Alte Futter für die Waldtiere bereitlegte.

Eine leichte Brise strich über das Gras der Lichtung und trug einen stechenden Geruch heran, in den sich eine süßliche Note gemischt hatte. Langsam suchten Haffmeyers Augen die Umgebung ab, aber nirgendwo regte sich etwas. Schließlich wandte er sich zu dem Klohäuschen, das einige Meter entfernt von der Schutzhütte am Waldrand stand. Er war erst drei Schritte gegangen, als es plötzlich im Unterholz hinter der Toilette raschelte. Haffmeyer verharrte mitten in der Bewegung und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Zunächst wurde das Rascheln wieder leiser, dann sah Haffmeyer den Schatten eines Rehes in den Wald huschen, begleitet vom Schlagen der Zweige, die das Tier auf seiner Flucht gestreift hatte.

Das Trappeln der Hufe verlor sich bald in der Ferne. Dann war wieder alles still. Sogar der Eichelhäher hielt nun den Schnabel.

Direkt vor dem Klohäuschen hatte es noch nie gut gerochen, aber heute war der Geruch noch stechender als sonst. Das penetrant süßliche Aroma kannte er, und die Fliegen, die er hinter dem herzförmigen Ausschnitt in der geschlossenen Tür summen hörte, passten leider auch dazu. Einen Moment lang dachte er darüber nach, die Tür an dem angeschraubten groben Holzgriff aufzuziehen – entschloss sich aber doch, lieber nur einen Blick durch das Herzloch zu riskieren.

Denn wenn es Roth war, der darin so roch, dann brauchte der keine Hilfe mehr. Und Haffmeyer befand sich womöglich an einem Tatort.

 

Hansen wünschte sich ganz weit weg. Resi sah immer noch wütend aus, da konnte er sich nach dem Termin beim Herrenschneider noch auf eine ordentliche Standpauke gefasst machen. Und das Verhalten von Creglinger, der mittlerweile ganz in seinem Element war, machte es auch nicht besser. Erst hatte er mit dem Maßband Hansens Schultern und den Rücken erfasst und dabei ein paar kritische Kommentare zu Hansens Körperbau gemacht, dann legte er ihm das Maßband so straff um den Hals, als wolle er ihn strangulieren.

Und nun tänzelte er um seinen Kunden herum, der mittlerweile mit heruntergelassenen Hosen vor ihm stand – weil diese Jeans von der Stange angeblich kein vernünftiges Messen zuließ. Mit kalten Fingern schob Creglinger das eine Ende des Maßbands unter den Rand von Hansens Unterhose und bestimmte erst die Länge des Oberschenkels und dann die des ganzen Beins.

Als er auch die Rückseite seiner Beine vermessen hatte, entstand eine kurze Pause. Hansen horchte. War der Schneider endlich fertig – oder was würde jetzt noch kommen? Creglinger stand direkt hinter ihm und räusperte sich. Hansen sah zu Resi, und dass sie ein breites Grinsen kaum verbergen konnte, ließ ihn nichts Gutes ahnen. Und dann spürte er auch schon Creglingers Hand im Schritt, wie sie prüfend zupackte und anschließend mit den Fingerspitzen an deren oberem Ende den Abstand der Oberschenkel zueinander abschätzte.

In diesem Moment drang der vertraute Klingelton aus Hansens heruntergelassener Hose. Creglinger erstarrte, räusperte sich erneut, aber Hansen war über die Störung so froh, dass er nicht einmal daran dachte, wie schlecht Resi seine Reaktion aufnehmen würde. Er bückte sich, stieß dabei mit dem Hinterteil gegen den hinter ihm stehenden Schneider und nestelte das Handy aus den Falten seiner Hose.

»Ja?«, meldete er sich.

Resi hatte die Lippen zusammengepresst und starrte ihn zornig an.

Es war Haffmeyer. »Wir haben Arbeit, Chef«, sagte er und brachte Hansen mit einigen knappen Sätzen aufs Laufende.

Unterdessen trat Creglinger wieder in sein Blickfeld. Auch er wirkte sehr ungehalten darüber, dass sein Kunde es wagte, seine Arbeit durch ein Telefonat zu unterbrechen.

»Wie heißt der Mann?«, fragte Hansen nach, der wegen des miesepetrig dreinblickenden Schneiders einen Moment lang nicht konzentriert genug zugehört hatte. »Roth?«

Creglinger wirkte irritiert.

»Hansjörg Roth?«, hakte Hansen nach. »Und der lebte tatsächlich ganz allein im Wald bei Eisenberg?«

Der alte Schneider wurde ein wenig blass, hatte sich aber schon im nächsten Moment wieder gefasst und sammelte nun eilfertig alles auf, was er während seiner Arbeit auf dem Boden hatte liegen lassen. Dann trug er alles zum Tresen hinüber und richtete es so ein, dass er die ganze Zeit über Hansen den Rücken zukehrte. Aber es war nicht zu übersehen, dass er trotzdem gespannt wie ein Flitzebogen darauf achtete, was Hansen sagte.

»Gut, Willy, dann sehe ich zu, dass ich so schnell wie möglich hier wegkomme. Wo muss ich denn langfahren?«

Haffmeyer beschrieb ihm den kürzesten Weg von der Füssener Innenstadt bis zu der Stelle, an der er seinen Wagen abstellen musste.

Kaum hatte Hansen das Gespräch beendet, funkelte Resi ihn zornig an.

»Du willst doch jetzt nicht allen Ernstes zu einem Tatort fahren?«, zischte sie. »Du hast genügend Kollegen, die dich dieses eine Mal vertreten können!«

»Ach, lassen Sie nur, Frau Meyer«, schaltete sich Creglinger ein. Er wirkte auf einmal ganz aufgekratzt, und Resi war so verblüfft, dass er Partei für ihren Verlobten ergriff, dass ihr Zorn schon wieder zu verrauchen begann. »Ich habe alle nötigen Maße Ihres Verlobten. Den wunderbaren Stoff haben Sie ja bereits ausgesucht – ich nehme an, Ihnen ist er auch genehm, Herr Hansen?«

Der Alte war jetzt die Freundlichkeit in Person.

»Äh … ich … ja, natürlich ist er mir recht. Aber sagen Sie mal, Herr Creglinger …«

»Ja, bitte?«

Der Schneider sah Hansen dienstbeflissen an, doch es gelang ihm nicht, die leichte Unruhe in seinem Blick zu verbergen.

»Sie sind gerade regelrecht zusammengezuckt, als der Name von Hansjörg Roth gefallen ist. Ist das ein Bekannter von Ihnen?«, fuhr Hansen fort.

»Nein, nein, wo denken Sie hin! Ich … ich kannte ihn natürlich nicht, Herr Kommissar.«

»Kannte?«

»Sind Sie denn nicht von der Mordkommission, und hat Ihre Verlobte nicht gerade von einem Tatort gesprochen? Da hab ich mir halt sofort gedacht … Entschuldigen Sie bitte, wenn ich da womöglich etwas voreilig war.«

Hansen musterte den Schneider aufmerksam, aber dieser hatte sich schon wieder voll im Griff.

»Sie haben genau den richtigen Schluss gezogen, Herr Creglinger. Und falls Ihnen doch noch einfallen sollte, woher Ihnen der Name von Herrn Roth bekannt sein könnte, rufen Sie mich bitte an.«

Hansen hatte mittlerweile seine Hose hochgezogen, zog jetzt eine Visitenkarte aus der Gesäßtasche und reichte sie Creglinger, der sie mit einer leichten Verbeugung entgegennahm.

»Da werde ich Ihnen leider nicht helfen können, Herr Kommissar, aber die Karte behalte ich auf jeden Fall. Wir sehen uns ja spätestens bei der Anzugprobe.«

»Kommst du gleich mit, Resi?«, wandte sich Hansen an seine Verlobte.

»Warum sollte ich?«, schnappte sie.

»Wir haben eine Leiche, und du bist die zuständige Gerichtsmedizinerin.«

»Ich hab mir für heute freigenommen. Im Gegensatz zu dir sind mir Termine wie dieser hier nämlich sehr wichtig. Vermutlich ist meine Vertretung schon auf dem Weg zu deiner Leiche.«

Damit fuhr sie herum, riss die Ladentür auf, marschierte hinaus und war wenig später im Gewimmel der Innenstadt verschwunden. Hansen seufzte, dann setzte auch er sich in Bewegung.

 

Offenbar hatte sich Hansen die Strecke, die ihm Haffmeyer beschrieben hatte, nicht richtig gemerkt. Er nahm zwar am Kreisverkehr noch die richtige Abfahrt in Richtung Eisenberg-Zell, doch schon im Dorf war er mit seinem Latein am Ende. Gut, dass Hanna Fischer sich das schon gedacht hatte. Als er sie anrief und um Hilfe bat, verriet sie ihm, dass sie schon vor Haffmeyers Haus in Zell auf ihn wartete.

»Nimmst du mich mit, Chef? Ich kann dir den Weg zeigen.«

Wenig später hatte er sie eingesammelt und war mit ihr am Ziel angekommen. Er stellte seinen Wagen hinter einigen anderen Fahrzeugen am Rand eines Feldwegs ab und folgte Hanna zu Fuß. Es ging kurz hinauf und dann steil hinunter, und auf der Wiese, die sich vor ihnen ausbreitete, standen der SUV der Staatsanwältin und der Transporter der Kriminaltechnik. Hier war kein Mensch zu sehen, aber ein Stück weiter im Wald machten sich gerade zwei Kriminaltechniker an einem klapprigen Mofa zu schaffen, das samt Hänger im dichten Unterholz verborgen gestanden hatte. Auf Roths Lichtung, die Hanna ohne Mühe, Hansen aber mit leichtem Keuchen erreichte, war ordentlich Betrieb. Im Grasboden steckten nummerierte Täfelchen, und im weiten Umkreis war alles mit Trassierband abgesperrt.

Haffmeyer stand etwas abseits an einem Baum und kam zu ihnen herüber, sobald er sie erspäht hatte.

»Wir können gleich hin«, sagte er und deutete auf das windschiefe Toilettenhäuschen am gegenüberliegenden Ende der Lichtung. »Die KT macht uns einen Weg frei, dauert keine fünf Minuten mehr.«

Die Wartezeit vertrieb er ihnen, indem er noch einmal genau schilderte, was er hier vorgefunden hatte.

»Kein schöner Tod«, brummte Hansen und schaute zu dem Klohäuschen hinüber.

»Wie man’s nimmt. Ich schätze mal, dass Roth sofort tot war. So allein hier draußen hätt’s den auch langsamer erwischen können – wenn er sich ein Bein gebrochen oder wenn er einen Schlaganfall gehabt hätte.«

»Ihr könnt kommen!«, rief ihnen ein untersetzter Kollege im weißen Ganzkörperanzug zu und deutete auf den schmalen Korridor, auf dem sie bleiben sollten.

Hanna ließ ihrem Chef den Vortritt, und auch Haffmeyer hatte es diesmal nicht eilig. Also streifte Hansen sich Einmalhandschuhe über und ging voran. Als er am Klohäuschen stand, war er froh, dass er am Morgen nur etwas Leichtes gefrühstückt hatte. Nach all den Jahren als Kripokommissar war er nicht mehr so empfindlich, aber dieser Geruch war schon besonders intensiv. Er wedelte einige Fliegen zur Seite, dann zog er die Holztür der Toilette auf.

Hansjörg Roth saß mit heruntergelassenen Hosen auf der Kloschüssel, den Rücken an die Rückwand des Häuschens gelehnt, die Augen geöffnet und den Mund geschlossen, seine Arme hingen schlaff an der Seite herab. Über Augen, Nase, Mund und Kinn zog sich eine Spur aus getrocknetem Blut, und aus der Mitte seiner Stirn ragte ein hölzerner Stift, dessen Ende rot gefiedert war.

»Wie in Game of Thrones, was?«

Der Kriminaltechniker hatte sich direkt hinter Hansen gestellt und sah ihm über die Schulter.

»Wie bitte?« Hansen warf dem Kollegen einen genervten Blick zu, weil er ihm eine Spur zu dicht auf die Pelle gerückt war.

»Na, diese Fernsehserie, die kennen Sie doch, oder? Was da in der Stirn steckt, ist der Bolzen einer Armbrust. In der Fernsehserie erschießt der Gnom seinen Vater auch mit der Armbrust, und der sitzt schließlich tot auf der Schüssel. Wobei … der Gnom braucht zwei Bolzen, für den Alten hier hat offenbar einer gereicht.«

Jetzt erst fiel dem Kriminaltechniker auf, dass ihn Hansen inzwischen böse anfunkelte, und er hob entschuldigend die Hände. Dann trollte er sich und ging zurück an seine Arbeit.

Hansen sah ihm einen Augenblick lang kopfschüttelnd nach, dann wandte er sich wieder dem Toten zu.

»Der Kollege ist neu in unserer KT«, erklärte Haffmeyer, der seinem Chef gefolgt war. »Er heißt Roman Drexel, quatscht ständig und nervt alle damit, aber fachlich ist er wohl ein Ass.«

»Hoffen wir’s«, knurrte Hansen und musterte das Innere des Klohäuschens. An der Wand neben dem Toten lehnte ein Holzbrett mit Griff, wohl der Deckel der Toilette. Der Boden bestand aus Holzbohlen, die alt und rissig wirkten. Die Wände waren grob zusammengezimmert, und durch die Ritzen wehte der Wind.

»Wissen wir schon, wie lange der Mann schon da sitzt?«

»Dem Anschein nach ein paar Tage. Eine Frau drüben in Scheidegg hat ihn am Samstag zum letzten Mal gesehen. Und unsere Kollegen klappern gerade einige Gasthäuser und Ladengeschäfte in der Umgebung ab, um herauszufinden, wann er frühestens gestorben sein kann.«

»Na, da lasst ihr euch ja vielleicht auch von mir noch ein bisschen helfen!«

Hansen drehte sich um. Ein älterer Herr kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Sein schlohweißes Haar wehte hinter ihm her, und er trug eine dicke Nickelbrille. Ein weites Hemd und eine geöffnete Windjacke flatterten um seinen dünnen Oberkörper. Dafür, dass seine Füße in weißen Socken und Gesundheitssandalen steckten, kam er auf dem unebenen Waldboden erstaunlich schnell voran.

Hansen musste kurz überlegen, aber dann fiel ihm ein, woher er den Mann kannte: Dr. Dieter Kurrleitner hatte die drei Leichen obduziert, die vor einigen Jahren im Freilichtmuseum Illerbeuren bei Memmingen gefunden worden waren.

»Herr Hansen, wenn ich mich recht erinnere?«

Der Rechtsmediziner packte mit seiner riesigen Hand Hansens Rechte und schüttelte sie ordentlich durch. Verstohlen rieb sich Hansen die Hand, während er Kurrleitner seine beiden Kollegen vorstellte.

»In Willys Fall müssen Sie sich diese Mühe nun wirklich nicht machen«, bemerkte der Mediziner und lachte. »Wir beiden kennen uns schon sehr, sehr lange.«

Hansen grinste. Wieder einmal stellte sich heraus, dass Willy Haffmeyer im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West alles und jeden zu kennen schien.

»Ich bin allerdings überrascht, Sie hier zu sehen, Herr Hansen«, fuhr Kurrleitner fort. »Ich vertrete die Kollegin Meyer, weil sie sich heute freigenommen hat, um einen Termin im Zusammenhang mit ihrer bevorstehenden Hochzeit wahrzunehmen. Und wenn ich mich nicht irre, sind Sie der Glückliche. Was machen Sie denn dann hier, mitten im Wald an der … nun ja …« Er schnupperte theatralisch in Richtung des Klohäuschens. »… frischen Luft?«

»Wir waren schon fertig mit dem Termin, als mich Willy informierte«, antwortete Hansen, und das war ja auch kaum geschwindelt.

Kurrleitner sah sich um.

»Haben Sie Ihre liebe Resi nicht gleich mitgebracht?«

»Nein, sie … sie hat wirklich noch zu tun.«

»Gut, gut, dann will ich mir mal einen ersten Eindruck verschaffen.«

Hansen trat zur Seite und ließ den Rechtsmediziner vorbei.

»Oje, oje«, murmelte dieser. »Das ist nicht schön, aber allzu viel Arbeit werde ich mit dem Herrn nicht haben. Der Bolzen müsste sofort zum Tod geführt haben, und ein paar Tage ist das auch schon her.«

Er zog mehrere kleine Tüten aus der einen Tasche und eine Pinzette aus der anderen. Dann sicherte er an der Unterwäsche und am Körper des Toten mehrere Maden, steckte sie in die Beutelchen und verschloss diese sorgfältig.

»Nett von den lieben Schmeißfliegen, dass sie mir so fleißig bei der Arbeit helfen«, sagte Kurrleitner strahlend und deutete auf einen der kleinen Beutel. »Calliphora vicina ist mir eh die liebste: Sie kommt häufig vor, gerade an einem so lauschigen Ort wie dieser Freilufttoilette. Ihre Larven schlüpfen etwa zwölf Stunden nach der Eiablage und entwickeln sich anschließend acht bis zehn Tage lang – damit lässt sich arbeiten. Aber das mache ich lieber im Sektionssaal. Da riecht es einfach besser. Nun ja … zumindest besser als hier, nicht wahr?«

Er verabschiedete sich fröhlich und rief im Weggehen dem geschwätzigen Kriminaltechniker zu, dass er den Leichnam gern so schnell wie möglich auf dem Seziertisch hätte. Roman Drexel verdrehte die Augen und wandte sich erneut an Hansen.

»Tut mir leid, wenn ich Ihnen vorhin auf die Nerven gegangen bin«, begann er. »Ich würde Ihnen gern eine erste Einschätzung geben.«

Hansen schaute sich um, aber Drexels Vorgesetzter Ulf Kayserling, mit dem er lieber gesprochen hätte, war nirgendwo zu sehen.

»Mein Chef ist nicht hier«, erklärte Drexel. »Herr Kayserling hat … private Termine …«

Dazu malte er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. Hansen hob die Augenbrauen, woraufhin Drexel sich räusperte und zur Sache kam.

»Die ganze Lichtung ist übersät von Schuhabdrücken. Sie werden sich nicht alle so sichern lassen, dass wir auch etwas damit anfangen können, dazu war es in den vergangenen Tagen einfach zu trocken. Aber wir geben uns selbstverständlich die allergrößte Mühe. Wir haben schon eine Menge Sachen eingesammelt, die auf der Lichtung und am Waldrand herumlagen. Das Zeug geht alles ins Labor, aber dem ersten Eindruck nach werden wir darauf vermutlich nur die Fingerabdrücke des Opfers finden. Wir haben auch in den Holztrögen dort hinten nachgeschaut, aber da sind nur Futterpellets drin, ein paar Karotten und schrumpelige Äpfel. Nirgendwo auf der ganzen Lichtung lag übrigens Abfall herum, also Bonbonpapierchen, Trinkbecher, Metzger- und Bäckertüten – was man halt sonst in der Nähe von Grill- oder Wanderparkplätzen im Wald findet. Das muss der Bewohner des Häuschens regelmäßig eingesammelt haben, jedenfalls liegt dort drüben unter dem Baum eine Mülltüte voll mit solchem Kram.«

Er deutete zu der entsprechenden Stelle.

»Haben Sie uns auch etwas zum Mord selbst zu sagen?«, erkundigte sich Hansen.

Drexel räusperte sich erneut.

»Der Bolzen stammt aus einer Armbrust, wie ich vorhin schon erwähnte. Wir haben Fotos von dem Geschoss an die Kollegen im Innendienst weitergegeben. Da der Bolzen nicht aus Metall, sondern aus Holz ist und am hinteren Ende mit roten Federn verziert, würde ich nicht auf einen ernsthaften Sportschützen tippen, sondern eher auf einen dieser Typen, die sich für mittelalterliche Ritter halten und mit ihrer Armbrust durch den Wald streifen. In der Nähe gibt es zwei Burgruinen – es würde mich nicht wundern, wenn solche Spinner häufiger in dieser Gegend herumhopsen würden.«

Hansen war noch immer genervt von der Geschwätzigkeit des neuen Kollegen, aber immerhin hatte er Details zu bieten, die möglicherweise hilfreich waren.

»Und können Sie einschätzen«, fasste er nach, »von wo aus auf Roth geschossen wurde?«

»Wir suchen noch nach Hinweisen, aber im Moment gehe ich davon aus, dass der Bolzen entweder direkt vor dem herzförmigen Loch in der Klotür abgeschossen wurde oder dass der Schütze dort drüben in einem der Bäume gesessen und von dort aus gezielt hat. Dann allerdings müsste er extrem geschickt sein. Schließlich ist der Bolzen so durch das Loch geflogen, dass er den Mann mitten in die Stirn getroffen hat.«

»Gibt es vielleicht irgendeine Art von Abrieb?«, fragte Hansen. »Schuhabdrücke? Kratzer an der Toilettentür, falls die Armbrust dort aufgesetzt wurde? Spuren an einem ausreichend dicken Ast der Bäume dort hinten?«

»Danach suchen wir natürlich«, versicherte Drexel. »Aber mit Abdrücken auf dem trockenen Boden werden wir wie gesagt nicht viel Glück haben. Hier vor der Tür und am schmalen Korridor, auf dem Sie hierhergekommen sind, haben wir schon alles gesichert, sonst hätte ich Sie ja nicht durchgelassen. Bisher hat sich leider nicht viel ergeben, aber wir bleiben dran, und natürlich tun wir, was wir können. Ich … ich geh dann mal wieder.«

»Tun Sie das!«

Drexel beorderte einen Kollegen zur offen stehenden Toilettentür, der noch einmal das Holz rings um den herzförmigen Ausschnitt unter die Lupe nahm. Unterdessen flitzte Drexel selbst zum Lieferwagen der Kriminaltechnik und kam kurz darauf mit einer Leiter zurück. Hansen verfolgte das Geschehen mit grimmigem Lächeln.

»War der Termin mit Resi so schlimm?«, fragte Hanna einfühlsam.

Haffmeyer sah sie mit großen Augen an.

»Der Chef hatte heute Vormittag einen Termin beim Herrenschneider«, erklärte Hanna ihm. »Dort soll er sich einen Anzug für die Hochzeit machen lassen, und Resi hat schon den Stoff dafür ausgesucht.«

»Hat sie«, bestätigte Hansen, »aber ich finde, das Preisschild sieht imposanter aus als der Stoff selbst.«

»Oha, Chef!«, bemerkte Hanna. »Das hast du aber doch hoffentlich nicht so direkt gesagt, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Aber dass ich zu spät gekommen bin, hat mir Resi übel genommen. Und der Herrenschneider übrigens auch.«

»Welcher Herrenschneider?«, fragte Haffmeyer wie aus der Pistole geschossen. »Womöglich der alte Creglinger?«

»Ja«, antwortete Hansen. »Im Übrigen habe ich mich deshalb verspätet, weil ich in Kempten zu lange darauf gewartet habe, dass du doch noch zu unserer Besprechung heute Vormittag kommst …«

»Oh nein!« Haffmeyer schlug sich die flache Hand vor die Stirn. »Tut mir leid, die Besprechung hab ich ganz vergessen. Ich hab mir Sorgen gemacht um den alten Roth, und dann … entschuldigt bitte, das ist eigentlich sonst nicht meine Art.«

»Ich weiß, Schwamm drüber«, sagte Hansen. »Aber warum hast du dir denn Sorgen um diesen Roth gemacht? Und woher kennst du ihn?«

»Das ist eine alte Geschichte, ich kenn den schon ewig. Und auch der Creglinger hatte schon mit ihm zu tun …«

Hansen horchte auf.

»Dachte ich’s mir doch! Als ich am Telefon Roths Namen wiederholte und diese Lichtung, auf der er hauste, wurde Creglinger ganz blass und aufgeregt.«

»Ach, interessant … Aber das alles würde ich dir lieber unter vier Augen erzählen, Chef, und nicht hier vor den ganzen Kollegen.«

Hanna Fischer warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Unter sechs Augen, meinte ich natürlich«, versicherte Haffmeyer eilig.

 

Es war derzeit nicht nur sehr trocken, sondern auch ungewöhnlich warm für Anfang März. Also goss Haffmeyer den frisch gebrühten Kaffee in drei Bechertassen und trug sie hinaus auf den Balkon seines Wohnhauses in Eisenberg-Zell, wo Hanna Fischer und Hansen inzwischen Platz genommen hatten.

»Kuchen oder so was habe ich leider nicht da«, bedauerte Haffmeyer.

»Schade, Willy«, sagte Hanna und tätschelte sich den Bauch. »Ich hab schließlich eine Figur zu halten!«

Hansen sah die beiden lächelnd an. Mit seinen beiden engsten Mitarbeitern hatte er es schon gut getroffen. Er kostete von dem Kaffee. Die Sekretärin der Kripochefin brachte zwar einen besseren zustande, aber Haffmeyers Kaffee war dennoch um Längen leckerer als die Plörre aus dem Vollautomaten im Flur des Kommissariats.

»So, Willy, und jetzt erzähl mal, woher du diesen Roth kennst. Und was das mit meinem Schneider zu tun hat. Das klang ja sehr geheimnisvoll vorhin.«

»Fangen wir mal mit Hansjörg Roth selbst an. Den kenne ich seit …« Er dachte kurz nach. »… seit ziemlich genau dreizehn Jahren. Einige Zeit später habe ich erfahren, dass er früher mal anders hieß.«

»Ach, nein, nicht schon wieder so ein Agent wie unser Mordopfer aus der Tegelbergbahn!«, kommentierte Hansen.

Haffmeyer lachte.

»Nein, kein Agent, aber einen falschen Namen hat er sich trotzdem zugelegt. Er hat bis Mai 2001 wegen der Beteiligung an zwei Banküberfällen eingesessen, und als er rauskam, wollte er keinen Kontakt mehr zu seinen alten Kumpanen. Mir hat er mal erzählt, dass er vor ihnen Angst gehabt hätte.«

»Warum das denn?«, fragte Hanna. »Hat er sie etwa verpfiffen?«

»Nein, er hat keine Namen genannt, und er hat auch standhaft behauptet, nicht zu wissen, wo der verschwundene Teil der Beute sei. Aber die anderen Mitglieder dieser Bande waren wohl ziemlich üble Burschen. Typen, die Mitwisser lieber aus dem Weg räumen, als sich auf ihr Schweigen zu verlassen, und die es vielleicht auch reizvoll fänden, wenn sie ihre Beute nicht mehr mit so vielen Kollegen teilen müssten.«

»Von wie viel Geld reden wir?«

»Die beiden Überfälle haben etwa 2,3 Millionen Mark eingebracht, davon waren etwas mehr als zwei Millionen spurlos verschwunden, als Roth und zwei seiner Komplizen gefasst wurden.«

Hanna pfiff leise durch die Zähne.

»Und das hat er dir alles einfach so erzählt?«, fragte Hansen.

»Na ja … nicht einfach so. Und vor allem nicht gleich.« Haffmeyer lächelte. »Aber der Reihe nach. Im Frühsommer 2006 hat mich ein Nachbar darauf aufmerksam gemacht, dass sich ein Fremder auf der Lichtung im Wald unterhalb der Burgruine Hohenfreyberg häuslich eingerichtet habe. Also hab ich mir das mal angeschaut. Zu diesem Zeitpunkt stand die Hütte schon, aber das Klohäuschen gab’s noch nicht. Und gleich beim ersten Mal habe ich gelernt, dass ich mich besser lautstark bemerkbar mache, wenn ich Roth besuchen will.«

Haffmeyer erzählte von seiner Begegnung mit Roth – und von der Pistole, die der Alte in der ersten Überraschung auf ihn gerichtet hatte.

»Und du als Kriminalbeamter lässt den Mann einfach seine Hütte im Wald bauen und nimmst ihm nicht einmal die Pistole ab, mit der er dich bedroht hat?«

»Na ja, bedroht – auf mich wirkte er schon damals wie einer, der vor irgendjemandem große Angst hat und damit rechnet, dass dieser ihm jeden Moment gegenüberstehen könnte. Ich hab mir natürlich seinen Waffenschein zeigen lassen, das sah aber alles ordnungsgemäß aus. Und die Hütte auf der Lichtung hat er mit der Genehmigung des Grundbesitzers gebaut. Für den hatte er zuvor als Gärtner gearbeitet, und als das aus Altersgründen nicht mehr so gut ging, hat er sich diese Lichtung als Altenteil ausgesucht. Sein Chef war einverstanden und hat ihm das Waldstück als Bleibe überlassen.«

»Wusste dieser Chef denn, dass Roth bewaffnet war – oder hatte der womöglich sogar etwas mit den Banküberfällen zu tun?«

Haffmeyer lachte.

»Nein, ganz sicher nicht. Roths Chef ist ein honoriger Mann, Patriarch einer uralten Familie mit viel Grundbesitz und einer ganzen Menge Firmen. Dass er von Roths Pistole weiß, glaube ich eher nicht. Und seinen früheren Namen und seine kriminelle Vergangenheit wird er auch nicht gekannt haben.«

»Du hast also nie mit ihm gesprochen?«

»Doch, habe ich – schließlich wollte ich überprüfen, ob Roth für seine Hütte tatsächlich die Erlaubnis des Grundbesitzers hatte.«

»Was ja nicht unbedingt die Aufgabe der Kripo ist …«

»Nein, das nicht, aber ich wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Ich habe also mit dem Waldbesitzer gesprochen, habe ihn beiläufig ein bisschen über Roth ausgehorcht und bin dann wieder gegangen.«

Hansen verzog das Gesicht und trank einen Schluck Kaffee.

»Der Roth hat mir einfach leidgetan«, fuhr Haffmeyer fort. »Er hat schon bei unserem ersten Gespräch in seiner Hütte durchblicken lassen, dass er mit der heutigen Gesellschaft so seine Schwierigkeiten hat. Dass er am liebsten in Ruhe gelassen werden will. Dass er keinem was Böses will, sich aber durchaus zu wehren weiß, wenn ihm jemand blöd kommt.«

»Und deshalb sprichst du lieber mit niemandem über diesen Mann und lässt ihn mit seiner Pistole in seiner Waldhütte seinen Lebensabend genießen?« Hansen schüttelte den Kopf. »Zumindest mit deinem damaligen Vorgesetzten hättest du reden müssen, finde ich.«

»Hab ich ja.«

Hansen sah ihn verblüfft an.

»Mit Rolf Hamann, deinem Vorgänger als Leiter des K1«, erklärte Haffmeyer.