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Prolog

Seit einigen Jahren probiert Naïma eine neue Form der Verzweiflung aus: die Form, die sich konsequent mit einem Kater einstellt. Es handelt sich nicht einfach um Kopfschmerzen, einen pelzigen Mund oder einen verdorbenen Magen. Wenn sie die Augen nach einem der allzu feuchtfröhlichen Abende aufschlägt (sie musste unbedingt größere Abstände dazwischen einlegen, denn eine wöchentliche oder gar halbwöchentliche Katerstimmung konnte sie nicht ertragen), ist der erste Satz, der ihr in den Sinn kommt:

Ich werde es nicht schaffen.

Eine Zeit lang fragte sie sie sich, was mit diesem unvermeidlichen Scheitern gemeint sei. Es könnte bedeuten, dass sie die Scham nicht ertrug, die ihr das Verhalten vom Vorabend einflößte (du sprichst zu laut, du erfindest Geschichten, du buhlst um Aufmerksamkeit, du bist ordinär), oder dass sie bedauerte, so viel getrunken zu haben und kein Ende finden zu können (du selbst warst es, die rief: »He Leute, so gehen wir doch nicht auseinander!«). Der Satz mochte auch dem körperlichen Unwohlsein gelten, das sie räderte … Und dann begriff sie.

An den verkaterten Tagen kann sie die unendliche Schwierigkeit mit Händen greifen, die daraus erwächst, zu leben, und die sich normalerweise durch Willenskraft verbergen lässt.

Ich werde es nicht schaffen.

Generell. Morgens aufzustehen. Drei Mal am Tag zu essen. Zu lieben. Nicht mehr zu lieben. Mir die Haare zu bürsten. Zu denken. Mich zu bewegen. Zu atmen. Zu lachen.

Manchmal kann sie es nicht verbergen, und das Geständnis rutscht ihr raus, wenn sie die Galerie betritt.

– Wie fühlst du dich?

– Ich werde es nicht schaffen.

Kamel und Élise lachen oder zucken mit den Schultern. Sie haben nicht die geringste Ahnung. Naïma betrachtet sie, wie sie im Ausstellungsraum umhergehen, in ihren Bewegungen von den Exzessen des Vorabends kaum beeinträchtigt und unbehelligt von der Erkenntnis, die Naïma Qualen bereitet: Der Alltag ist eine höchst anspruchsvolle Disziplin, und sie hat sich gerade disqualifiziert.

Da sie nichts schafft, darf an den verkaterten Tagen auch nichts sein. Nichts Gutes, das nur verdürbe, und nichts Schlechtes, das auf keinen Widerstand träfe und alles im Innersten zerstörte.

Das Einzige, was die verkaterten Tage dulden, das sind Nudeln mit ein wenig Butter und Salz: beruhigende Mengen und ein neutraler Geschmack, fast nicht existent. Und Fernsehserien. Oft war in den letzten Jahren von den Kritikern zu hören, dass wir einen außergewöhnlichen Wandel erlebten. Dass die Fernsehserien in den Rang von Kunstwerken aufgestiegen seien. Dass das eine Sensation sei.

Vielleicht. Aber das ändert nichts an Naïmas Auffassung, dass sich die wahre Existenzberechtigung der Fernsehserien aus den verkaterten Sonntagen ergibt, die es irgendwie zu füllen gilt, ohne vor die Tür zu gehen.

Der folgende Tag ist jedes Mal ein Wunder. Wenn der Lebensmut zurückkehrt, der Eindruck, man könne etwas bewerkstelligen, dann ist das wie eine Wiedergeburt. Wahrscheinlich ist die Existenz dieser folgenden Tage der Grund, warum sie erneut trinkt.

Es gibt die auf die Besäufnisse folgenden Tage – den Abgrund.

Und die auf die folgenden Tage folgenden Tage – die Freude.

Der Wechsel zwischen beiden schafft einen fortwährend bekämpften Mangel an Stabilität, der Naïmas Leben prägt.

An diesem Morgen erwartet sie den folgenden Morgen wie gewöhnlich und so, wie die Ziege von Monsieur Seguin die Sonne erwartet.

Von Zeit zu Zeit sah die Ziege des Monsieur Seguin die Sterne am klaren Himmel tanzen und sprach zu sich: »Ach! Könnte ich es doch bis zur Morgenröte aushalten!«

Und dann, während ihre erloschenen Augen sich im Schwarz des Kaffees verlieren, in dem sich die Deckenleuchte spiegelt, erscheint verstohlen ein zweiter Gedanke neben dem ersten, dem parasitären und heftigen (»ich werde es nicht schaffen«). Ein Riss, der in gewisser Weise quer zum ersten verläuft.

Zunächst gleitet der Gedanke so rasch vorbei, dass es Naïma nicht gelingt, ihn zu identifizieren. Doch dann kann sie die Wörter deutlicher unterscheiden:

»… glaubt ihr, machen eure Töchter in den großen Städten …«

Woher kommt dieser Satzfetzen, der wieder und wieder in ihrem Kopf auftaucht?

Sie fährt zur Arbeit. Im Lauf des Tages lagern sich weitere Wörter an das ursprüngliche Bruchstück an.

»tragen Hosen«

»trinken Alkohol«

»führen sich auf wie Huren«

»glaubt ihr denn, dass sie machen, wenn sie sagen, sie studieren?«

Und dann sucht Naïma verzweifelt nach ihrer Verbindung zu dieser Szene (war sie zugegen, als diese Rede gehalten wurde? Hat sie sie im Fernsehen gehört?). Alles, was sie an die Oberfläche ihres widerspenstigen Gedächtnisses fördern kann, ist das wütende Gesicht ihres Vaters Hamid, die Stirn gerunzelt und die Lippen zusammengepresst, um nicht zu schreien.

»Eure Töchter tragen Hosen.«

»führen sich auf wie Huren«

»Sie haben vergessen, woher sie kommen.«

Hamids Gesicht, zu einer Maske der Wut geronnen, überlagert die Fotografien eines schwedischen Künstlers, die rundum in der Galerie hängen, und jedes Mal, wenn Naïma den Kopf wendet, schwebt es in halber Höhe der weißen Wand auf dem entspiegelten Glas, das die Fotos schützt.

– Das hat Mohamed auf der Hochzeit von Fatiha gesagt, erklärt ihr ihre Schwester abends am Telefon. Erinnerst du dich nicht?

– Und hat er uns gemeint?

– Dich nicht, nein. Du warst noch zu klein, du musst noch zur Schule gegangen sein. Er hat von mir und den Cousinen gesprochen. Am komischsten …

Myriem begann zu lachen, und ihr Glucksen mischte sich mit dem seltsamen Rauschen des Ferngesprächs.

– Was?

– Am komischsten war, dass er vollkommen besoffen war, als er uns Mädchen einen feierlichen Vortrag über islamische Moral halten wollte. Erinnerst du dich wirklich gar nicht mehr?

Als Naïma geduldig und hartnäckig an ihrem Gedächtnis kratzt, fördert sie kleine Bildausschnitte zutage: Fatihas Kleid aus glänzend weiß-rotem Synthetik, das große Zelt für den Empfang im Garten des Festsaals, das Porträt von Präsident Mitterrand im Rathaus (er ist zu alt dafür, hatte sie gedacht), der Text von Michel Delpechs Chanson über Loir-et-Cher, das purpurrote Gesicht ihrer Mutter (Clarisse’ Erröten begann immer an der Stirn, ein Quell steter Heiterkeit für ihre Kinder), das peinvoll zusammengezogene ihres Vaters und dann die Ansprache Mohameds, schwankend inmitten der Gäste, am hellen Nachmittag, in einem beigefarbenen Anzug, der ihn alt machte.

Was, glaubt ihr, machen eure Töchter in den großen Städten? Sie sagen, sie gehen studieren. Aber schaut sie euch an: Sie tragen Hosen, sie rauchen, sie trinken, sie führen sich auf wie Huren. Sie haben vergessen, woher sie kommen.

Es ist Jahre her, dass sie Mohamed auf einem Familienessen gesehen hat. Nie hatte sie zwischen der Abwesenheit ihres Onkels und dieser in ihrem Gedächtnis wiederaufgetauchten Szene eine Verbindung hergestellt. Sie hatte einfach gedacht, er sei endlich erwachsen geworden. Lange hatte er bei seinen Eltern gelebt und einen Eindruck verspäteter Jugendlichkeit vermittelt mit seinen Baseballkappen, den neonfarbenen Jogginganzügen und der mürrischen Arbeitslosigkeit. Der Tod Alis, seines Vaters, hatte ihm einen willkommenen Grund geliefert, noch länger zu bleiben. Seine Mutter und seine Schwestern riefen ihn mit der ersten, unendlich in die Länge gezogenen Silbe seines Vornamens, in der Wohnung von einem Zimmer ins nächste oder durch das Küchenfenster, wenn er auf den Bänken des Spielplatzes herumhing:

– Mooooooooo!

Naïma erinnert sich, dass er, als sie klein war, ab und zu ein Wochenende bei ihnen verbrachte.

– Er hat Liebeskummer, erklärte Clarisse ihren Töchtern mit dem fast medizinischen Mitgefühl einer Frau, die auf eine so lange und friedliche Liebesgeschichte zurückblickte, dass selbst die Erinnerung an allen Liebeskummer verblasst schien.

In seinem bunten Aufzug und den Chucks erschien er Naïma und ihren Schwestern immer ein wenig lächerlich, wie er in dem großen Garten ihrer Eltern umherging oder in der Gartenlaube ein Gläschen mit seinem älteren Bruder trank. Wenn sie heute daran zurückdenkt – unfähig zu entscheiden, was sie jetzt gerade erfindet, um Erinnerungslücken zu stopfen, und was sie damals erfunden hat, um sich zu rächen, weil man sie von den Gesprächen der Erwachsenen ausschloss –, so hatte er eine Menge anderer Gründe als seine Liebesgeschichten, um unglücklich zu sein. Sie meint, ihn von seiner gescheiterten Jugend sprechen zu hören, dem Bier im Treppenhaus und den kleinen Shit-Deals. Sie meint, ihn sagen zu hören, dass er niemals das Gymnasium hätte abbrechen dürfen, aber vielleicht kam das auch von Hamid oder Clarisse, die sich rückblickend ein Urteil erlaubten. Seinem Bruder gegenüber erklärte er auch, in den Achtzigerjahren sei das Viertel nicht mehr mit dem zu vergleichen, das der noch gekannt habe; man könne ihm nicht vorwerfen, dass er nicht mehr auf einen Ausweg gehofft habe. Sie glaubt, sie habe ihn unter den dunklen Blüten der Klematis weinen sehen, während Hamid und Clarisse tröstliche Worte murmelten, aber sie ist sich nicht sicher, in keinem Punkt. Jahrelang hat sie nicht an Mohamed gedacht (häufig kommt es vor, dass sie stumm ihre Onkel und Tanten aufzählt, nur um sich zu vergewissern, dass sie niemanden vergisst, und gelegentlich vergisst sie doch jemanden, dann ist sie tief betrübt). Soweit sie sich erinnert, war er immer traurig. Wann ist er zu dem Schluss gekommen, sein Kummer habe die Umrisse einer fehlenden Heimat und einer verlorenen Religion?

Die Worte ihres neonfarbenen Onkels kreisen in ihrem Kopf wie die kleine schmerzliche Melodie eines unmittelbar unter ihren Fenstern aufgebauten Karussells.

Hat sie vergessen, woher sie kommt?

Wenn Mohamed das sagt, spricht er von Algerien. Er nimmt es den Schwestern von Naïma und deren Cousinen übel, dass sie ein Land vergaßen, das sie nie kennengelernt haben. Er übrigens auch nicht, denn er wurde im Viertel Pont-Féron geboren. Was gibt es da zu vergessen?

Wenn ich Naïmas Geschichte aufschriebe, begänne sie natürlich nicht in Algerien. Naïma wurde in der Normandie geboren. Davon wäre zu berichten. Von Hamids und Clarisse’ vier Töchtern, die im Garten spielten. Den Straßen von Alençon. Den Ferien auf dem Cotentin.

Naïma zufolge war Algerien jedoch immer da, irgendwo. Als eine Summe von Teilelementen: ihr Vorname, ihre braune Haut, ihr schwarzes Haar, die Sonntage bei Yema. Ein Algerien, das sie niemals vergessen konnte, weil sie es in sich und auf ihrem Gesicht trug. Hätte ihr jemand gesagt, dass die Dinge, von denen sie spreche, keineswegs Algerien seien, sondern nur die Merkmale einer nordafrikanischen Einwanderung nach Frankreich, deren zweite Generation sie repräsentiere, (als hörte man niemals auf einzuwandern, als wäre sie selbst noch unterwegs), dass Algerien jedoch ein reales Land sei, tatsächlich vorhanden, dann hätte Naïma vielleicht einen Augenblick innegehalten, um daraufhin einzuräumen, gewiss, das sei richtig, aber das andere Algerien, das Land, habe für sie erst viel später zu existieren begonnen, in dem Jahr, als sie neunundzwanzig wurde.

Deshalb musste die Reise sein. Deshalb musste sie von der Brücke der Fähre sehen, wie Algerien auftauchte, damit das Land dem Schweigen entrissen wurde, das es besser verborgen hatte als der dichteste Nebel.

Es ist langwierig, ein Land dem Schweigen zu entreißen, vor allem, wenn es sich um Algerien handelt. Seine Fläche beträgt 2 381 741 Quadratkilometer, was es zum zehntgrößten Land der Erde macht, dem ersten auf dem afrikanischen Kontinent und der arabischen Welt. Achtzig Prozent dieser Fläche werden von der Sahara eingenommen. Das hat Naïma aus Wikipedia, nicht aus Familienerzählungen und nicht aus Erfahrung – sie hat die Weiten nicht selbst durchmessen. Wenn man gezwungen ist, sich die Informationen über das Land, aus dem man angeblich stammt, bei Wikipedia zusammenzusuchen, dann gibt es vermutlich ein Problem. Vielleicht hat Mohamed recht. Also, es beginnt nicht mit Algerien.

Oder eigentlich doch, aber es beginnt nicht mit Naïma.

TEIL 1

Papas Algerien

Daraus resultierte eine totale Umwälzung, die die alte Ordnung nur zerrieben, erschöpft und anachronistisch überleben konnte.

Abdelmalek Sayad, »La double absence«

Papas Algerien ist tot.

Charles de Gaulle

Der Schlag mit dem Fächer, den der Dey von Algier in einer zornigen Anwandlung dem französischen Konsul versetzte – falls es sich nicht um einen Fliegenwedel gehandelt hat, es gibt unterschiedliche Versionen –, diente der französischen Armee als Vorwand, Anfang Sommer 1830 bei drückender, ständig zunehmender Hitze mit der Eroberung Algeriens zu beginnen. Wenn wir an den Fliegenwedel glauben, müssen wir bei der Vergegenwärtigung dieser Szene zur bleiernen Sonne das Brummen der blauschwarzen, die Gesichter der Soldaten umkreisenden Insekten hinzunehmen. Neigen wir eher dem Fächer zu, so ist zuzugeben, dass das orientalisch anmutende, grausame und effeminierte Gesicht des Deys, das vor unserem geistigen Auge auftaucht, wohl nur eine dürftige Rechtfertigung für ein so gewaltiges militärisches Unternehmen lieferte – so dürftig wie der Schlag, der, ganz gleich mit welchem Objekt, gegen den Kopf des Konsuls geführt wurde. Ich muss gestehen, dass unter den vielen Vorwänden, die für eine Kriegserklärung herhalten können, diesem hier eine gewisse Poesie innewohnt, die mir zusagt – vor allem in der Fächer-Version.

Die Eroberung vollzieht sich in mehreren Etappen, weil Schlachten gegen mehrere Algerien geschlagen werden müssen, zunächst einmal gegen dasjenige des Regenten von Algier, dann gegen das des Emirs Abd el-Kader, das der Kabylei und schließlich, ein halbes Jahrhundert später, das der Sahara, der Südterritorien, wie man sie im Mutterland nennt, ein Name, der zugleich geheimnisvoll und banal klingt. Aus diesen einzelnen Algerien machen die Franzosen französische Departements. Sie annektieren sie. Sie gliedern sie an. Sie haben schon begriffen, was eine nationale Geschichte ist, eine offizielle Geschichte, nämlich ein gewaltiger Wanst, in den man riesige Territorialteile stopfen kann, solange sie sich ein Geburtsdatum verpassen lassen. Wenn die Neuankömmlinge in dem großen Wanst herumzappeln, kümmert das die französische Geschichte nicht mehr als den Menschen, der hört, wie es in seinem Bauch rumort. Sie weiß, dass der Verdauungsprozess seine Zeit braucht. Die französische Geschichte marschiert immer an der Seite der französischen Armee. Sie gehören zusammen. Dabei ist die Geschichte Don Quichotte mit seinen Großmannsträumen; die Armee ist Sancho Panza, der neben ihm herläuft und die Drecksarbeit für ihn erledigt.

Im Sommer 1830 besteht Algerien aus Clans. Es hat mehrere Geschichten. Doch wenn Geschichte im Plural steht, beginnt sie mit der Erzählung und der Sage zu liebäugeln. Der Widerstand des Abd el-Kader und seiner Sippschaft, ein wanderndes Dorf, das über der Wüste zu schweben scheint, ein Widerstand von Säbeln, Burnussen, Pferden, der, vom Mutterland aus betrachtet, geradewegs aus Tausendundeine Nacht zu stammen scheint. Hübsch, diese Exotik, murmeln einige Pariserinnen unwillkürlich, während sie ihre Zeitungen zusammenlegen. Und in diesem »hübsch« kommt natürlich zum Ausdruck, dass man es nicht ernst zu nehmen braucht. Die pluralistische Geschichte Algeriens hat nicht das Gewicht der offiziellen Geschichte, der Geschichte, die vereint. So verschlingen die Bücher der Franzosen Algerien und seine Erzählungen und verwandeln sie in ein paar Seiten ihrer Geschichte, eine scheinbar exakte Bewegung zwischen auswendig gelernten Orientierungsdaten, in denen der Fortschritt plötzlich Gestalt annimmt und sich strahlend kristallisiert. Die Hundertjahrfeier der Kolonisierung ist ein Fest der Vereinnahmung, bei dem die Araber bloße Statisten sind, dekorativ wie die Kolonnaden eines vergangenen Zeitalters, wie römische Ruinen oder eine Plantage mit alten, exotischen Bäumen.

Doch schon lassen sich hier und da am Mittelmeer Stimmen vernehmen, die behaupten, Algerien sei mehr als nur das Kapitel in einem Buch, das zu schreiben ihm verwehrt werde. Noch scheint niemand sie zu hören. Andere akzeptieren freudig die offiziellen Versionen und wetteifern im Lobgesang auf das zivilisatorische Werk, das sich hier vollzieht. Wieder andere schweigen, weil sie die Vorstellung haben, die Geschichte entfalte sich in einem Paralleluniversum, einer Welt der Könige und Krieger, einer Welt, in der es keinen Platz für sie gäbe, in der sie nichts zu suchen hätten.

Ali selbst glaubt, die Geschichte sei bereits geschrieben und sei in ihrem Fortschreiten lediglich Entfaltung und Offenbarung. Alle seine Handlungen seien keine Möglichkeiten der Veränderung, sondern nur der Enthüllung. Mektoub, Schicksal, es steht geschrieben. Er weiß nicht recht, wo, vielleicht in den Wolken, vielleicht in den Handlinien oder mit winzigen Buchstaben im Körperinneren, vielleicht im Augapfel Gottes. Er glaubt an mektoub, weil es ihm gefällt, weil es bequem ist, nicht alles entscheiden zu müssen. Außerdem glaubt er an mektoub, weil er, noch keine dreißig, unversehens vom Reichtum überrascht wurde und weil er sich bei dem Gedanken, es stehe geschrieben, seines Reichtums wegen nicht so schuldig fühlt.

Das ist vielleicht Alis Pech (wird sich Naïma später sagen, als sie versucht, sich das Leben ihres Großvaters vorzustellen): zu erleben, dass das Glück sich wendet, ohne etwas dafür getan zu haben, seine Hoffnungen erfüllt zu sehen, ohne einen Finger zu rühren. Der Zauber hat sich in seinem Leben eingenistet, und es ist schwierig, sich von ihm frei zu machen – und den Verhaltensweisen, die er mit sich bringt. Das Glück bricht die Steine, sagt man manchmal da oben, in den Bergen. Das hat es für Ali getan.

In den Dreißigerjahren ist er ein armer Jugendlicher aus der Kabylei. Wie vielen Burschen im Dorf widerstrebt es ihm, sich kaputtzuschuften auf den Parzellen der Familie, die winzig sind und trocken wie Sand, oder sich auf den Ländereien eines Kolonisten oder eines reicheren Bauern zu verdingen oder als Hilfsarbeiter in eine Stadt zu gehen, nach Palestro zum Beispiel. Im Bergwerk Bou-Medran hat er es versucht: Die wollten ihn nicht. Offenbar hatte der vieux francaoui – der alte Franzose –, mit dem er gesprochen hat, seinen Vater in der Mokrani-Revolte von 1871 verloren und wollte deshalb keine Eingeborenen um sich haben.

Da er keine feste Stellung hat, macht Ali von allem etwas, er ist eine Art Wanderbauer, ein fliegender Bauer, und das Geld, das er heimbringt, reicht zusammen mit dem, was sein Vater verdient, aus, um die Familie zu ernähren. Es gelingt Ali sogar, genügend zusammenzusparen, um heiraten zu können. Mit neunzehn ehelicht er eine seiner Cousinen, ein zartes junges Mädchen mit einem melancholischen Gesicht. Aus dieser Verbindung gehen zwei Mädchen hervor – sehr schade, kommentiert die Familie bekümmert am Bett der Wöchnerin, die bald darauf vor Scham stirbt. In dem Haus, in dem keine Mutter mehr ist, sagt ein kabylisches Sprichwort, herrscht Nacht, selbst wenn die Lampe brennt. Der junge Ali erträgt die Nacht, wie er die Armut erträgt – indem er sich sagt, dass es geschrieben steht und dass für Gott, der alles sieht, diese Existenz einen höheren Sinn besitzt als all die kleinen Kümmernisse, die sie ihm fortlaufend beschert.

Anfang der Vierzigerjahre zerbricht das prekäre wirtschaftliche Gleichgewicht des Haushalts: Alis Vater kommt bei einem Sturz in den Felsen ums Leben, als er versucht, ein entlaufenes Schaf einzufangen. Daraufhin tritt Ali in die französische Armee ein, die aus der Asche aufersteht und sich an den Schlachten der Alliierten zur Rückeroberung Europas beteiligt. Er ist zweiundzwanzig Jahre alt. Seiner Mutter überlässt er es, sich um seine Brüder und Schwestern sowie seine beiden kleinen Mädchen zu kümmern.

Bei seiner Rückkehr (die Auslassung in meiner Erzählung ist die gleiche, die Ali vornimmt und die Hamid und später Naïma ertragen müssen, wenn sie nach seinen Erinnerungen fragen werden: Diese beiden Jahre werden immer nur mit den beiden Wörtern »der Krieg« überbrückt), bei seiner Rückkehr also findet er wieder das alte Elend vor, das von seiner Pension allerdings etwas gemildert wird.

Im folgenden Frühjahr nimmt er seine beiden kleinen Brüder Djamel und Hamza mit zum von der Schneeschmelze angeschwollenen Wadi, damit sie sich waschen. Die Strömung ist so stark, dass sie sich an die Felsen oder an die Grasbüschel am Ufer klammern müssen, um nicht fortgerissen zu werden. Djamel, der Magerste der drei, fürchtet sich. Die beiden anderen lachen ausgelassen und machen sich über seine Angst lustig; sie ziehen ein bisschen an seinen Beinen, und Djamel, der glaubt, es sei die Strömung, die an ihm zerrt, weint und betet. Und dann:

– Achtung!

Eine dunkle Masse stürzt auf sie herab. Zum Tosen des Wassers und Grollen der gegeneinanderschlagenden Steine gesellt sich das Knirschen des seltsamen Gefährts, das gegen die Felsen schlägt und stromabwärts taumelt. Djamel und Hamza springen aus dem Wasser, doch Ali rührt sich nicht von der Stelle und macht sich nur ganz klein hinter dem Felsen, an den er sich klammert. Das Geschoss kracht gegen seinen Schutzschild, verharrt einen Augenblick bewegungslos, setzt sich wieder in Bewegung, rollt auf die Seite und ist im Begriff, sich erneut von der Strömung forttragen zu lassen. Ali klettert über seinen Rettungswall und versucht, auf dem Kieselboden kauernd, das Objekt festzuhalten, das die Flut ihm zugetragen hat: ein Gerät von frappierender Einfachheit, eine riesige Schraube aus dunklem Holz, die sich in einem schweren Rahmen bewegt, den das Wasser des reißenden Sturzbachs noch nicht hat zertrümmern können.

– Helft mir!, brüllt Ali seine Brüder an.

Von dem, was folgt, wird man in der Familie nur noch im Stil eines Märchens berichten. In einfachen, schmucklosen Sätzen, die sich so leicht und glatt aneinanderreihen, dass sie das erzählende Imperfekt verlangen: Dann zogen sie die Presse aus dem Wasser, setzten sie wieder instand und stellten sie in ihrem Garten auf. Fortan spielte es kaum noch eine Rolle, dass ihr karger Boden unfruchtbar war, denn die anderen kamen mit den Oliven aus ihren Hainen zu ihnen, und sie gewannen das Öl daraus. Bald waren sie reich genug, um ihre eigenen Parzellen zu kaufen. Ali konnte sich wieder eine Frau nehmen und auch seine beiden Brüder verheiraten. Die alte Mutter schied einige Jahre später glücklich und friedlich aus dem Leben.

Ali ist nicht anmaßend genug, um zu glauben, er verdiene sein Schicksal oder er habe die Bedingungen seines Reichtums selbst geschaffen. Er meint immer, das Glück und der Sturzbach hätten ihm die Presse gebracht, dann das Land, den kleinen Verkaufsstand auf dem Gebirgskamm, das regionale Handelsgeschäft und vor allem das Auto und die Wohnung in der Stadt, die dann folgten – unübertreffliche Zeichen des Erfolgs. Infolgedessen denkt er auch, wenn das Unglück zuschlägt, niemand sei schuld.

Das ist, als käme der angeschwollene Strom bis auf den Hof und trüge die Presse wieder davon. Daher lächelt er, wenn er Männer (einige, nicht viele) in den Cafés von Palestro oder Algier sagen hört, dass die Chefs schuld an dem Elend seien, in dem die meisten ihrer Arbeiter und Handlanger lebten, und dass ein anderes Wirtschaftssystem möglich sei – ein System, in dem der, der arbeite, das gleiche oder fast das gleiche Recht auf die Gewinne habe, die er erwirtschafte, wie der, der das Land oder die Maschine besitze – und dann sagte er: »Wer sich gegen den Strom stemmt, muss verrückt sein.« Mektoub. Das Leben besteht aus schicksalhaften Ereignissen und keinen reversiblen historischen Akten.

Alis Zukunft (die zu dem Zeitpunkt, da ich diese Geschichte aufschreibe, für Naïma bereits eine ferne Vergangenheit ist) wird es nicht gelingen, seine Sicht auf die Dinge zu verändern. Er wird stets unfähig sein, der Erzählung seines Lebens die verschiedenen historischen, vielleicht auch politischen, soziologischen oder wirtschaftlichen Elemente einzugliedern, die daraus das Eingangstor zu einer viel umfassenderen Situation machten, der eines kolonisierten Landes oder auch – bescheidener – eines kolonisierten Bauern.

Daher kommt dieser Teil der Geschichte Naïma wie mir wie eine etwas altmodische Bilderserie vor (die Presse, der Esel, der Berggipfel, der Burnus, der Olivenhain, der Sturzbach, die weißen Häuser, die wie Zecken an den Stein- und Zedernhängen kleben), unterbrochen von Sprichwörtern, Sammelbildchen zum Thema Algerien, von einem alten Mann hier und da in seine seltenen Reden gestreut und von seinen Kindern unter Abänderung einiger Wörter wiederholt, bis sie, von der Fantasie seiner Enkelkinder erweitert, vergrößert und abgeändert, ein Land und eine Familiengeschichte bilden.

Das ist auch der Grund, warum die Fiktion so notwendig ist wie die Recherche, weil die beiden alles sind, was bleibt, um das Schweigen zu überbrücken, das in den Lücken zwischen den Bildchen von einer Generation an die andere weitergegeben wird.

Der Wachstum des Besitzes von Ali und seinen Brüdern wird dadurch erleichtert, dass die Familien, die sich mit ihnen die Anbauflächen auf dem Hügelkamm teilen, nichts mit den winzigen und auseinanderliegenden Parzellen anfangen können, die ihnen die Jahre der Enteignung und Beschlagnahmung gelassen haben. Das Land ist so zerstückelt und zerrissen, dass lediglich Not und Elend bleiben. In die Flächen, die einst allen gehörten oder die von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden, ohne dass es dazu irgendwelcher Dokumente oder Worte bedurfte, hat die Kolonialbehörde Holz- und Eisenpflöcke mit bunten Köpfen getrieben, deren Standorte nach dem metrischen System und nicht nach den Erfordernissen des Existenzminimums bestimmt wurden. Die Parzellen sind schwer zu bestellen, aber es ist undenkbar, sie an Franzosen zu verkaufen: Ein Stück des Familienlands fortzugeben ist eine Schande, von der man sich nicht erholt. Die Zeiten sind so hart, dass die Bauern gezwungen sind, ihren Familienbegriff zu erweitern; zuerst auf weit entfernte Cousins, dann auf die Dorfbewohner, auf die vom Hügel oder sogar auf die vom gegenüberliegenden Hang. Kurzum, auf alle, die keine Franzosen sind. Viele Bauern sind nicht nur bereit, ihr Land an Ali zu verkaufen, sondern sie sind ihm auch dankbar dafür, dass er sie vor einem anderen, schändlicheren Verkauf bewahrt, der sie ein für alle Mal aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hätte. Gesegnet seist du, mein Sohn. Ali kauft und ordnet neu. Er vereinigt. Er verlängert. Und Anfang der 1950er-Jahre ist er ein Kartograf, der über die Ländereien verfügen kann, die er zeichnet.

Zu beiden Seiten der geweißten alten Baracke aus Lehmstroh bauen er und seine Brüder zwei neue Häuser. Da wohnen mal die einen, mal die anderen, und die Kinder schlafen überall. Wenn sie sich am Abend im Hauptraum des alten Gebäudes versammeln, scheinen sie manchmal die neuen Erweiterungen rundum zu vergessen und legen sich an Ort und Stelle schlafen. Im Dorf grüßt man sie wie Würdenträger. Man erkennt sie schon von Weitem: Ali und seine beiden Brüder sind jetzt groß und dick, sogar Djamel, den man einst mit einer mickrigen Ziege verglichen hat. Sie sehen aus wie Riesen aus dem Gebirge. Vor allem Alis Gesicht ist fast vollkommen rund. Es ist ein Mond.

– Wenn du Geld hast, zeige es.

So sagt man hier, oben auf dem Berg und unten an seinem Fuß. Das ist ein seltsames Gebot, weil es verlangt, dass man ständig Geld ausgibt, um es so zur Schau zu stellen. Während man zeigt, dass man reich ist, wird es weniger. Weder Ali noch seine Brüder dachten daran, Geld auf die Seite zu legen, damit es »sich mehre« oder den künftigen Generationen nütze, noch nicht einmal, um sich gegen Schicksalsschläge zu sichern. Geld gibt man aus, sobald man es hat. Es wird zu glänzenden Hängebacken, runden Bäuchen, bunten Stoffen, zu Juwelen, deren Größe und Gewicht die europäischen Frauen faszinieren, weshalb sie sie in Vitrinen ausstellen, ohne sie jemals zu tragen. Das Geld an sich ist nichts. Es ist alles, sobald es sich in eine Anhäufung von Objekten verwandelt.

In Alis Familie wird eine jahrhundertealte Geschichte erzählt, die beweist, dass dieses Verhalten von Weisheit zeugt und dass die von den Franzosen gepredigte Sparsamkeit töricht ist. Man erzählte sie, als hätte sie sich gerade erst zugetragen, denn in Alis Haus und in denen, die es umgeben, glaubt man, das Land der Märchen und Sagen beginne, sobald man durch die Tür des Hauses getreten sei oder die Lampe ausblase. Es ist die Geschichte von Krim, dem armen Fellachen, der mitten in der Wüste starb, neben sich das Schafsfell voller Goldstücke, das er eben erst gefunden hatte. Geld kann man nicht essen. Man kann es nicht trinken. Man kann seine Haut damit nicht bedecken, um sich gegen Kälte und Sonne zu schützen. Was für ein Gut ist es? Was für ein Gebieter?

Nach einer alten kabylischen Tradition zählt man niemals Gottes Wohltaten. Man zählt die Männer nicht, die an einer Versammlung teilnehmen. Nicht die Eier in einem Gelege. Nicht die Getreidekörner, die im Tonkrug verwahrt werden. In einigen abgeschiedenen Gebirgsgegenden ist es gänzlich verboten, Zahlen auszusprechen. Als die Franzosen eines Tages kamen, um die Einwohner des Dorfs zu zählen, haben sie sich am Schweigen der alten Münder die Zähne ausgebissen. Wie viele Kinder hast du gehabt? Wie viele sind am Leben geblieben? Wie viele Personen schlafen in diesem Raum? Wie viele, wie viele, wie viele … Die roumis1 verstehen nicht, dass Zählen bedeutet, die Zukunft zu begrenzen, Gott ins Antlitz zu spucken.

Der Reichtum von Ali und seinen Brüdern ist ein Segen, der sich über einen größeren Kreis von Verwandten und Freunden ergießt. Er erzwingt eine erweiterte, konzentrische Solidarität und versammelt den Teil des Dorfs um sie, der ihnen dankbar ist. Aber er macht nicht alle glücklich. Er hat die einstige Vorherrschaft einer anderen Familie beeinträchtigt, die der Amrouches, von denen es heißt, sie seien schon zu der Zeit reich gewesen, als es noch Löwen gab. Die Amrouches wohnen ein wenig tiefer auf dem Bergkamm, in dem Teil, den die Franzosen nicht ganz wahrheitsgemäß das »Zentrum« dieser Kette von sieben mechtas nennen, Weiler, die nacheinander auf dem Fels aufgereiht sind wie Perlen, die sich unregelmäßig auf einer zu langen Schnur verteilen.

Eigentlich gibt es kein Zentrum, keine Mitte, um die sich die Häusertrauben gebildet hätten, selbst der spärliche Weg, der sie verbindet, ist nur eine Illusion: Jede dieser mechtas bildet eine kleine Welt im Schutz ihrer Bäume und ihrer Mauern, aber die französische Verwaltung fasste diese winzigen Universen zu einem Amtsbezirk, einem douar zusammen, der nur in ihrer Vorstellung existiert. Anfangs haben die Amrouches über die Bemühungen von Ali, Djamel und Hamza nur gelacht. Sie haben vorausgesagt, die drei würden nichts zustande bringen: Aus einem armen Bauern werde nie ein tüchtiger Grundbesitzer, ihm fehle es einfach an dem nötigen Verstand. Das Glück oder Unglück sei jedem Einzelnen von Geburt an auf die Stirn geschrieben. Als Alis Geschäft dann von Erfolg gekrönt war, verzogen sie das Gesicht. Schließlich haben sie ihn akzeptiert – oder so getan – und geseufzt, dass Gott eben großzügig sei.

Auch ihretwegen gibt Ali sein Geld so demonstrativ aus. Ihre Erfolge reagieren aufeinander, ihre Geschäfte auch. Wenn der eine seine Lagerhalle vergrößert, stockt der andere seine um eine Etage auf. Wenn sich einer eine Ölpresse zulegt, schafft sich der andere eine Mühle an. Die Notwendigkeit und Wirksamkeit dieser neuen Maschinen und Stauräume mag zweifelhaft sein, aber das interessiert Ali und die Amrouches herzlich wenig: Ihre Anschaffungen sind nicht für das Land und den Boden bestimmt – das wissen sie sehr gut –, sondern für die Familie gegenüber. Welcher Reichtum bemisst sich nicht nach dem Neid des Nachbarn?

Die Rivalität der beiden Familien zieht einen Graben, der zwischen ihnen und zwischen den Dorfleuten verläuft: jedem seinen Clan. Allerdings kommt die Rivalität ohne Hass und Wut zustande. In der ersten Zeit ist es nur eine Frage des Prestiges, der Ehre. Der nif, der Stolz, ist fast alles.

Wenn Ali auf die verflossenen Jahre zurückblickt, hat er den Eindruck, dass der Himmel ihm ein Schicksal vorherbestimmt hat, wie es nur wenigen zuteilwird, und er lächelt, während er die Hände auf dem Bauch faltet. Ja, das alles ist wie ein Märchen.

Wie so häufig in den Märchen, wird das Glück in dem kleinen Königreich nur durch einen kleinen Mangel getrübt: Der König hat keinen Sohn. Alis Frau, die er in zweiter Ehe geheiratet hat, schenkt ihm, nachdem sie sein Bett schon länger als ein Jahr geteilt hat, noch immer keine Kinder. Die beiden Töchter aus seiner ersten Ehe wachsen heran und erinnern ihn jeden Tag mit ihren schrillen Stimmen daran, dass sie keine Jungen sind. Er erträgt die Neckereien seiner Brüder nicht mehr, die beide Vater geworden sind und es sich herausnehmen, seine Männlichkeit zum Gegenstand ihrer Scherze zu machen. Um ehrlich zu sein, er erträgt auch seine Frau nicht mehr – wenn er in sie eindringt, meint er, eine ungewöhnliche Trockenheit zu spüren, stellt er sich ihr Inneres wie einen verdorrten Garten vor, von der Sonne verbrannt. Schließlich verstößt er sie, weil das sein Recht ist. Sie fleht ihn an und weint. Ihre Eltern suchen Ali auf, und auch sie flehen ihn an und weinen. Die Mutter verspricht, dass sie ihrer Tochter wundertätige Pflanzen zu essen geben oder sie zum Gebet an das Grab eines marabout führen werde, den man ihr empfohlen habe. Sie berichtet von dieser Frau und von jener, deren Leiber nach Jahren der Leere am Ende doch noch mit einer Frucht gesegnet worden seien. Sie sagt, dass Ali es doch gar nicht wissen könne: Vielleicht schlummere schon längst ein Kind im Bauch ihrer Tochter, um später aufzuwachen, zur Erntezeit oder sogar im Jahr darauf, das habe es alles schon gegeben. Aber Ali lässt sich nicht erweichen. Er kann es nicht ertragen, dass Hamza schon vor ihm einen Sohn hat.

Die junge Frau kehrt zu ihren Eltern zurück. Da wird sie ihr Leben lang bleiben. Nach der Tradition müsste nun Ali und nicht mehr ihr Vater die Geldsumme festlegen, die ein Mann aufzubringen hätte, um sie zu heiraten. Aber Ali legt nichts fest. Er will kein Geld für sie. Er gäbe sie für ein Maß Gerstenmehl her. Doch die Gelegenheit ergibt sich nicht: Kein Mann will einen verdorrten Bauch heiraten.

Ihre schwarzen, besorgten Augen wandern unablässig zwischen den Gesichtern ihrer Eltern und denen dieses Mannes hin und her, den sie noch nie gesehen hat und der als Abgesandter ihres künftigen Ehemanns auftritt. Hinter den Zügen des Boten versucht sie, diejenigen des anderen zu erraten, dessen, dem ihr Vater sie geben wird (verkaufen wird, wird manchmal roh und grob gesagt, aber daran nimmt niemand Anstoß).

Zwischen ihrem Vater und dem Mann sind auf einem Teppich die Geschenke ihres künftigen Ehemanns aufgebaut – das Diorama des Frauenlebens, des Lebens als Ehefrau, das sie erwartet.

Für ihre Schönheit: Henna, Alaun, Gallapfel, der rosa Stein – el habala nennen sie ihn, weil er verrückt machen kann –, der zur Herstellung von Schönheitsmitteln und Liebestränken dient, Indigo, das man zum Färben, aber auch zum Tätowieren nimmt, Silberschmuck seines Wertes wegen und Kupferschmuck, der nur glänzen soll.

Für ihren Duft: Moschus, Jasminessenz, Rosenessenz, das Innere von Kirschkernen und Gewürznelken, die sie zerstoßen und mischen wird, um daraus eine Parfümpaste herzustellen, getrockneter Lavendel, Zibet.

Für ihre Gesundheit: Benzoe, die Rinde der Nussbaumwurzel, die man für Zahnfleischbehandlungen verwendet, Stephanskraut, das Läuse vertreibt, Süßholzwurzeln, Schwefel zur Behandlung der Krätze, Steinsalz und Quecksilberchlorid, das gegen Magengeschwüre hilft.

Für ihr Sexualleben: Kampfer, der Frauen angeblich vor Schwangerschaften schützt, Steckweide, die man als Aufguss gegen die Syphilis trinkt, die zu Pulver zermahlene Spanische Fliege – ein Aphrodisiakum, das über die Entzündung der Harnwege eine Erektion hervorruft.

Für die Gaumenfreuden: Kreuzkümmel, Ingwer, schwarzer Pfeffer, Muskat, Fenchel, Safran.

Für den Schutz vor Zauberei: gelber Ton, roter Ocker, Storax-Harz, das die bösen Dämonen vertreibt, Zedernholz und kleine Kräuterbündel, sorgsam mit einem Wollfaden zusammengebunden, die man unter Beschwörungen verbrennt.

Sie hätte sicherlich begeistert in die Hände geklatscht angesichts dieses entzückenden Sammelsuriums, dieses Miniaturmarkts, den man in ihrem Haus aufgebaut hat und der sich über den Teppich ergoss, sie hätte sich an den schweren Parfüms berauscht, wenn sie nicht zugleich so große Angst gehabt hätte. Sie ist vierzehn, und sie heiratet Ali, einen Fremden, der zwanzig Jahre älter ist als sie. Sie hat nicht protestiert, als sie ihr das sagten, aber sie würde doch gerne wissen, wie er aussieht. Ist sie ihm schon einmal begegnet, ohne es zu wissen, als sie Wasser holte? Sie findet es schwierig – fast unerträglich –, an diesen Mann zu denken, bevor sie einschläft, ohne ein Gesicht mit seinem Namen verbinden zu können.

Als sie, bewegungsunfähig in ihrer Staffage aus Stoffen und Juwelen, auf das Maultier gehoben wird, hat sie einen Augenblick das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Fast wünscht sie es sich. Aber der Zug setzt sich zum Klang der Flöten, youyous und Tamburine in Bewegung. Sie begegnet dem Blick ihrer Mutter, einer Mischung aus Stolz und Besorgnis (nie hatten die Augen ihrer Mutter einen anderen Ausdruck, wenn sie ihre Kinder ansah). Da richtet sie sich, um die Mutter nicht zu enttäuschen, auf ihrem Reittier auf und entfernt sich vom Haus ihres Vaters, ohne ihre Angst zu zeigen.

Sie weiß nicht, ob ihr der Weg über das Gebirge zu lang oder zu kurz erscheint. Die Bauern und die Hirten, die die festliche Prozession an sich vorbeiziehen sehen, beteiligen sich einen Augenblick an den Freudenkundgebungen und kehren dann zu ihrer Arbeit zurück. Sie denkt – vielleicht –, dass sie gern wie sie wäre, ein Mann oder selbst ein Tier.

Als sie zu Alis Haus kommen, sieht sie ihn endlich: Er steht auf der Türschwelle zwischen seinen beiden Brüdern. Augenblicklich fühlt sie sich erleichtert: Sie findet ihn schön. Natürlich ist er beträchtlich älter als sie – und viel größer, zwei Aspekte, die sie unbewusst miteinander verbindet, als hörte man nie auf zu wachsen und als wäre sie in zwanzig Jahren auch fast zwei Meter groß –, aber er hält sich gerade, sein rundes Gesicht ist offen, seine Kieferknochen sind kräftig und seine Zähne nicht verfault. Die Männer beginnen den Freudensalut, indem sie eine erste Salve in die Luft feuern, um die Ankunft der neuen Ehefrau zu feiern – die meisten haben ihre Jagdgewehre trotz des französischen Verbots behalten. Benommen von dem beißenden und fröhlichen Pulvergeruch, lächelt sie bei dem Gedanken, dass sie es glücklich getroffen hat, und sie lächelt noch immer, als sie sich den khalkhal, den Reif aus massivem Silber, der ihre Verbindung symbolisiert, um den Knöchel legt.

Fortan lebt sie im Haus ihres Ehemanns.

Sie hat neue Brüder, neue Schwestern und, noch vor der Hochzeitsnacht, neue Kinder. Sie ist fast genauso alt wie eine ihrer Stieftöchter, die Alis erste Frau zur Welt gebracht hat. Trotzdem muss sie ihnen gegenüber als Mutter auftreten, sie muss sich Respekt verschaffen, Gehorsam verlangen. Fatima und Rachida, die Frauen der Brüder ihres Mannes, helfen ihr nicht. Von dem Augenblick an, da sie die Schwelle des Hauses überschritten hat, schikanieren sie sie, weil die junge Frau zu hübsch ist (jedenfalls wird sie das später in der kleinen Küche ihrer Sozialbauwohnung erzählen). Fatima hat schon drei Kinder und Rachida zwei. Ihre Körper sind von den Schwangerschaften gezeichnet, schwer und formlos. Den beiden Frauen passt es nicht, dass der des jungen Mädchens, wohlgeformt, rund und gebräunt, ihren eigenen Verfall betont. Sie wollen nicht mit ihr zusammen in der Küche sein. Zwar respektieren sie Ali, der das Familienoberhaupt ist, aber sie suchen immer nach einer Möglichkeit, seiner Frau ihre Ablehnung zu zeigen, ohne ihm gegenüber nicht ehrerbietig genug zu sein. Zögernd tasten sie sich vor auf diesem schmalen Grat, indem sie hier und da eine verletzende Bemerkung, eine kleine Dieberei, die Verweigerung eines Gefallens wagen.

Mit vierzehn Jahren war die Jungverheiratete noch ein Kind. Mit fünfzehn wird sie yema, die Mutter. Auch da schätzt sie sich glücklich: Ihr erstes Kind ist ein Sohn. Die Frauen, von denen sie bei der Geburt umgeben ist, stecken sofort die Köpfe aus der Tür, um es hinauszuschreien: Ali hat einen Sohn! Für seine angeheiratete Familie erwächst daraus die Verpflichtung, ihr größeren Respekt zu bezeugen. Sie hat Ali – gleich beim ersten Mal – einen männlichen Nachkommen geschenkt. Am Bett der Wöchnerin schlucken Rachida und Fatima ihre Enttäuschung herunter und wischen ihr als Zeichen ihres guten Willens den Schweiß von der Stirn, säubern das Kind und wickeln es in Windeln.

Nach stundenlangen Wehen und dann dieser Geburt, die ihren juvenilen Leib entzweizureißen schien, muss die junge Mutter an ihrem Bett alle Familienmitglieder empfangen, die kommen, um sie zu beglückwünschen und mit Geschenken zu überhäufen, ein bunter Reigen von Gesichtern und Opfergaben, die ihr angesichts ihrer Erschöpfung vor den Augen verschwimmen, bis sich plötzlich eine tabzimt herauskristallisiert, eine runde Spange, die mit roten Korallen und mit blauen und grünen Emailverzierungen geschmückt ist, ein traditionelles Geschenk für eine Frau, die einen Jungen zur Welt gebracht hat. Das Exemplar, das Yema erhalten hat, ist so schwer, dass sie es nicht tragen kann, ohne Kopfschmerzen zu bekommen, trotzdem heftet sie es sich voll Freude an die Stirn.

Der Junge, der in der Saison der Saubohnen geboren wurde (das heißt, im Frühjahr 1953, aber man wird ihm erst ein ernst zu nehmendes Geburtsdatum zuschreiben, als man Papiere für die Flucht braucht), heißt Hamid. Yema ist ihrem ersten Sohn mit leidenschaftlicher Liebe zugetan, und ein wenig von dieser Liebe fällt auch für Ali ab. Mehr braucht es nicht, damit ihre Ehe klappt.

Ich liebe ihn wegen der Kinder, die er mir geschenkt hat, wird sie später zu Naïma sagen.

Ali liebt sie aus dem gleichen Grund. Er hat den Eindruck, sich jede zärtliche Regung ihr gegenüber versagt zu haben, bevor der Junge zur Welt kam, doch nach Hamids Geburt war es, als höbe ihm ein Fluss das Herz empor, und er überschüttete seine Frau mit Kosenamen, dankbaren Blicken und Geschenken. Das genügte ihnen allen beiden.

Trotz allen Grolls, trotz allen Zanks, die Familie handelt wie eine geschlossene Gruppe, die kein anderes Ziel hat, als fortzubestehen. Sie strebt nicht nach Glück, kaum nach einem gemeinsamen Tempo, und doch gelingt es ihr. Die Jahreszeiten bestimmen ihren Rhythmus, die gesegneten Leiber der Frauen oder Tiere, die Ernten, die Dorffeste. Die Gruppe lebt in einer zyklischen Zeit, in einer endlosen Wiederholung, und ihre verschiedenen Mitglieder absolvieren gemeinsam die Schleifen der Zeit. Sie sind wie Kleidungsstücke in einer Waschmaschine – von der Trommel mitgeführt, bilden sie am Ende nur noch eine einzige textile Masse, die sich immerfort dreht und dreht.

Ali sitzt im Schatten auf einer der Bänke der tajmaat und beobachtet die Jungen des Dorfes, eine bunt gemischte Horde, in der sich die verschiedensten Altersgruppen, Körpergrößen und Haarfarben mischen, die kupferfarbenen Schöpfe der Amrouche-Kinder, die blonde Mähne des kleinen Belkadi und die pechschwarzen Locken der anderen, Omars zum Beispiel, Hamzas Sohns, den Ali nicht leiden kann, weil er die Unhöflichkeit besaß, vor Hamid geboren zu werden.

Sie bilden einen Kreis um Youcef Tadjer, den Ältesten unter ihnen, einen Jugendlichen, den nur die Armut noch in der Kindheit fixiert. Er hat nie die Verantwortung eines Mannes übernehmen können. Obwohl er durch seine Großmutter mit den Amrouches verwandt ist, weigern die sich, ihm dadurch zu helfen, dass sie ihm Arbeit geben, weil sein Vater ihnen Geld schuldig geblieben ist. Hier sagt man, die Schulden legen sich wie Wachhunde vor das Eingangstor und verwehren dem Reichtum den Zutritt. Obwohl Youcefs Vater schon seit Jahren tot ist, hat der Junge die Schande geerbt und muss sich mit seinen vierzehn Jahren alleine durchschlagen. Er ist Schwarzhändler in Palestro geworden. Halb amüsiert und halb verächtlich pflegt Ali zu sagen: »Man weiß nicht, was er verkauft, und man weiß nicht, was er verdient. Wahrscheinlich nichts, aber das nimmt all seine Zeit in Anspruch.« Youcef kommt immer gerade den Berg hinauf oder herunter, pendelt immer gerade zwischen Dorf und Stadt, erkundigt sich immer gerade nach einem Bus oder einer Karre, versichert immer, dass es dringend, dass es »für die Arbeit« sei, doch trotz aller Hektik hat Youcef nie einen Sou in der Tasche.

Würde ich stundenweise bezahlt, sagt er häufig, wäre ich Millionär.

Da die Männer sich über seine fruchtlosen Bemühungen lustig machen, zieht er die Gesellschaft der Kinder vor, die ihn anbeten. An diesem Tag bilden die Jungen, indem sie mit geneigten Köpfen das Innere des Kreises schützen, zugleich den Saal, in dem sich Youcef produziert, und das Publikum, das er in seinen Bann schlägt. Ali fragt sich, was sie wohl hinter ihren kleinen Körpern verbergen können. Vielleicht rauchen sie. Gelegentlich gibt Youcef ihnen Zigaretten. Eines Tages hat ihn Hamza mit einem Stock verprügelt, weil Omar beim Nach-Hause-Kommen nach Rauch roch. Ali tritt näher, um sich zu vergewissern. Augenblicklich lösen sich die Jungen voneinander, aber laufen nicht fort; sie mögen Ali und seine stets gefüllten Taschen. Sie gehen auseinander, weil die Gegenwart eines Erwachsenen die Existenz des Kreises aufhebt, der nur für die Jungen ein Kreis ist, zusammengehalten durch den Zauber der Kindheit und gesprengt, wenn Erwachsene sich nähern (manchmal macht sie Ali traurig, später wird sie Hamid gelegentlich traurig machen: diese Grenze, die man nur einmal und nur in eine Richtung überschreiten kann).

– Was schaut ihr euch da an?, fragt er.

Sein Neffe Omar zeigt ihm die kleine Fotografie, die von Hand zu Hand gewandert war. Darauf ist ein Mann mit langem Bart in einem europäischen Anzug zu sehen, der mit einem Burnus bedeckt ist. Er trägt einen Fes, der rot sein dürfte, aber auf dem Schwarz-Weiß-Foto noch dunkler aussieht als seine Augenbrauen. Omar hält das Bild in der hohlen Hand, als wäre es eine Reliquie oder ein verletzter Vogel. Lächelnd sieht Youcef ihm dabei zu. Seine Vorderzähne stehen zu weit auseinander, durch diese Lücke stößt er den Rauch seiner Zigarette aus. Als er zu Ali aufschaut, liegt in seinem Blick eine kaum verborgene Herausforderung.

– Du weißt, wer das ist?, fragt Omar.

Ali schüttelt den Kopf.

– Das ist Messali Hadj.

– Youcef sagt, dass er der Vater unserer Nation ist, verkündet einer der Jungen stolz.

– Ach ja? Und was sagt er dann noch, dein Youcef?

Der Jugendliche protestiert nicht gegen dieses indirekte Verhör. Er lässt die Kleinen antworten.

Er sagt, wenn er könnte, würde er nach Ägypten gehen, um sich zum Kämpfer ausbilden zu lassen, sich dem algerischen Aufstand anzuschließen, erklärt einer der Amrouches voller Bewunderung.

– Weißt du denn überhaupt, wo Ägypten liegt?, fragt Ali.

Im nächsten Augenblick schießen zehn Arme in die Höhe und zeigen alle in verschiedene Richtungen.

– Ihr kleinen Dummköpfe, sagt Ali liebevoll. Gibt den Kindern die Fotografie zurück und geht, ohne etwas zu sagen. Youcef ruft ihm hinterher:

– Onkel!

sidi