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Inhalt

1. Ist das noch Liebe, oder helikoptere ich schon?

Oder: Warum dieses Buch geschrieben werden musste

2. Eine Kindheit in den Achtzigern

Oder: Vom Ernstnehmen und Ernstgenommenwerden

3. Die ewige Angst vor der Angst

Oder: »Du verunsicherst das Kind doch nur«

4. Warum wir heute viel besser auf unsere Kinder aufpassen

Oder: »Wer nicht hören will, muss fühlen«

5. »Nun gluck doch nicht immer dauernd auf dem Kind rum«

Oder: Warum es gut ist, dass wir heute so viel Nähe zu unseren Kindern haben

6. Warum es heute leichter ist, Kinder gesund zu ernähren

Oder: »So ein bisschen Zucker hat noch keinem geschadet«

7. »Sollst mal sehen, morgen ist das weg«

Oder: Warum es gut ist, dass wir heute lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zum Kinderarzt gehen

8. Warum es besser ist, Kinder zu beschäftigen

Oder: »Wir haben uns früher noch richtig gelangweilt, und niemand von den Erwachsenen hat sich deshalb gleich um uns gekümmert«

9. »Das muss er doch gar nicht wissen«

Oder: Über das Problem, Kindern gegenüber ehrlich zu sein

10. »EIN Kind ist doch kein Kind«

Oder: Warum es gut ist, dass die Zahl der Einzelkinder heute steigt

11. Finale:

Warum wir endlich in der Lage sind, unsere Kinder bedingungslos zu lieben

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Für Milena und Mattis

4. Warum wir heute viel besser auf unsere Kinder aufpassen

Oder: »Wer nicht hören will, muss fühlen«

Wenn meine Frau und ich uns von Zeit zu Zeit lächelnd ins Gesicht schauen, dann empfinden wir nicht nur das schöne Glück darüber, uns einmal gefunden zu haben, sondern sehen auch jede Menge weniger schöne Narben. Viele kleine, etwas größere und ein paar ganz offensichtliche. Bei mir oben an der Stirn, direkt am Haaransatz, prangt eine Wucherung, die je nach Wetterlage eine spezielle Färbung annimmt. Sie stammt aus dem Jahr 1975, Vater und Sohn spielen Flugzeug, Vater schleudert Sohn an Hand und Fuß durchs Kinderzimmer, drei Runden geht es gut, dann kollidiert der Pilot (ich) mit dem Heizkörper. Durch eine Falschbehandlung des damals wachhabenden Notarztes wuchert die Narbe bis heute.

Mein Gesicht trägt noch weitere Spuren einer unbeschwerten Kindheit: Ein kleiner Schnitt am Nasenflügel (um 1980 beim Eisessen gegen irgendeine Wand gelaufen), dazu eine zeitlich unbestimmbare Narbe am Kinn, die aber nur auffällt, wenn ich glattrasiert bin. Meine Frau hat eine Narbe an der Augenbraue (Tennisschläger, Frontaleinwirkung beim Spielen mit dem Cousin im Urlaub in Griechenland, frühe Achtzigerjahre), eine Narbe an der Unterlippe (Sturz vom Tisch als Kleinkind) sowie einen Schnitt an der linken Wange (Herkunft nicht mehr rekonstruierbar).

In meiner Grundschulklasse hatten die meisten Kinder schon früh Entstellungen im Gesicht, wobei Mirjana (Sprung durch geschlossene Terrassentür, Nase aufgeschlitzt) und Steffen (Köpfer durchs geschlossene Fenster, linkes Auge ausgelaufen) nicht nur ein vergleichbares Unfallschicksal erlitten, sondern auch, was den Grad ihrer Versehrtheit anbelangte, von den anderen mit größtem Respekt behandelt wurden. Fast schade, dass ich als Top-Leistung in meiner Sammlung nur eine Verletzung am Hinterkopf erlitt, die mir Ecki Hauser zufügte, als er einmal einen schweren Wackerstein als Staumittel auf die Wasserrutsche legte, die auf unserem sogenannten Abenteuerspielplatz stand, und übersah, dass ich gerade versuchte, mir unterhalb des Abflusses die Haare zu waschen.

Allen hier beschriebenen Unfällen ist gemeinsam, dass keine Erwachsene beteiligt geschweige denn in Reichweite waren, um Schlimmeres zu verhindern. Man muss Kindern ja nicht das ausgelassene Spielen und Toben madig machen, aber ich empfinde es auch nicht als überängstlichen Eingriff in die kindliche Freiheit, wenn ich die Gelegenheit nutze, einen kiloschweren Felsbrocken, der meiner Meinung nach auf einem Spielplatz sowieso nichts zu suchen hat, am Zusammenprall mit dem Kopf eines Sechsjährigen zu hindern.

Mir hängt dieses ganze Gerede über die angeblich so gesund und ausgelassen aufgewachsenen Landkinder zum Hals heraus. 2007 gab es im Stern eine große Reportage zu diesem Thema, eingeleitet wurde sie wie folgt: »Draußen toben? Mit der Freundin Himmel und Hölle spielen? Auf Bäume klettern? Vorbei. Unsere Kinder hocken drinnen, behütet von besorgten Eltern, und erleben keine Abenteuer mehr. Dabei lernen Kinder am besten, während sie die Welt erobern. Hirnforscher und Psychologen schlagen Alarm.«17 Das Thema waberte durch Talkshows und Erziehungsratgeber, die Diskussion ließ viele großstädtische Eltern mit dem Gefühl zurück, sie würden ihre Kinder um ihre Kindheit bringen und zur Lebensunfähigkeit erziehen. Na klar: Kinder, die auf dem Land aufwachsen, können Gefahren viel besser einschätzen, weil sie im Gegensatz zu den verweichlichten Stadtgören öfter mal kopfüber im Wassergraben landen und das Gehirn dadurch wichtige Entwicklungsschritte macht. Okay, das war jetzt etwas übertrieben. Denn ja, es sind nicht nur die Unfälle im Freien, die Kindern gut vernetzte Hirnstrukturen bescheren, sondern vor allem die Bewegung an der frischen Luft, das Sich-Ausprobieren auf Bekletterbarem, das Erforschen und Bespielen von Wald, Wiese und Tümpel. Das jedoch geht eben einher mit einer erhöhten Unfallgefahr – zumindest wenn kein Erwachsener in der Nähe ist und ein Auge auf den Nachwuchs hat.

Kindergesichter der Sechziger- und Siebzigerjahre waren genauso niedlich wie heutige Kindergesichter, mit dem Unterschied, dass heutige Kindergesichter weniger oft unfallchirurgisch behandelt werden müssen. Es ist eine nicht ganz unwesentliche Tatsache, dass heute deutlich weniger der Unter-15-Jährigen tödlich verunfallen als früher. An dieser Stelle ein paar Zahlen: 1980 starben laut Bundesverband der Unfallkassen 2.588 Kinder nach einem Unfall.18 2002 waren es 487, und der aktuellste Wert, den das Statistische Bundesamt für das Jahr 2015 verkündete, lag bei noch 158. Die tödlichen Unfälle ereigneten sich bei den jüngeren Kindern (bis fünf Jahre) vor allem zu Hause und im Straßenverkehr, bei den Kindern zwischen fünf und 15 Jahren hauptsächlich im Straßenverkehr sowie beim Spielen und Sporttreiben im außerhäuslichen Bereich. Die Unfallkasse berichtet weiter, tödliche Unfälle in Schulen oder Kindertageseinrichtungen seien äußerst selten, was mich zu der Annahme verleitet, dass es eine gute Idee ist, Kinder zu beaufsichtigen. Als Gründe für den signifikanten Rückgang verunfallter Kinder (hier sind die nicht tödlichen eingeschlossen) nennt die Unfallkasse die bessere Notfallversorgung, technische Verbesserungen an Fahrzeugen, Baulichkeiten, Spielgeräten und Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs. Nicht erwähnt wird allerdings, ob ein Zusammenhang zwischen dem Rückgang verunfallter Kinder und der Aufsichtsmoral heutiger Eltern besteht. Der lässt sich aufgrund der Datenlage und der Datenerhebung nicht zweifelsfrei belegen.

Ich könnte hier aber ein paar Quellen nennen. So gibt es unzählige Mama-Blogs, deren Autorinnen Fotos aus ihrer Kindheit posten bei Aktionen, die sie ihren Kindern heute niemals erlauben würden (Menschenpyramide bauen im Kinderzimmer, Pappkarton-Treppenhaus-Rutschen, Eierlikör-Gläser-Auslecken). Bei uns zu Hause hat ein Foto einen Ehrenplatz, das meine Frau im zarten Alter von acht Jahren zeigt, wie sie auf einem Faschingsball als tapferes Schneiderlein glücklich vor sich hintanzt – mit einer riesigen Metallschere (!), die ihr an einer Kordel (!!) um den Hals (!!!) baumelt. Es müssen damals wirklich wahnsinnig entspannte Zeiten geherrscht haben.

Manchmal frage ich mich, ob ich meinem Sohn den Spaß der Kindheit nehme, wenn er auf der Straße ständig zu hören bekommt, er möge aufpassen; so als sei die ganze Welt ein Kriegsgebiet. Allerdings muss ich dann oft an Granulat-Günter denken und rufe meinem Sohn danach noch lauter zu, er solle gefälligst nach links und rechts und vor allem nach vorne gucken. Granulat-Günter kam zu seinem Namen, als das Geschehen auf der U-Bahn-Baustelle neben unserer Schule zu unserem täglichen Schulweghighlight gehörte. Günter wollte immer alles ganz genau wissen, weshalb ihm der Fensterplatz am Bauzaun nicht ausreichte – eines Morgens kletterte er hindurch. Und was dann passierte, erfuhr ich nur vom Hörensagen, weil ich an diesem Tag krank war (was ich angesichts des Geschehenen sehr bereute). Jedenfalls verschätzte sich Günter beim Absprung vom Bauzaunfenster zum Baugrubenabgrund und rutschte einen Berg schwarzen, scharfkantigen Teergranulats hinab, das sich dabei direkt in die vielen Schürfwunden rieb, die er an Armen, Beinen und im Gesicht erlitt. Trotz mehrstündiger Operationen konnten die kleinen Teerstücke von den Ärzten nicht rückstandsfrei entfernt werden, und als Günter aus dem Krankenhaus zurückkam, sah er anders aus als früher und gelangte zu seinem neuen Spitznamen, den er von nun an mit Würde trug.

In diesem Zusammenhang überlege ich, warum Melanie Martenshahn damals nicht Einkaufswagen-Melanie genannte wurde, wo sie doch als Neunjährige einmal im Supermarkt beim Zurückschieben des Einkaufswagens zwischen zwei Einkaufswagenschlangen eingeklemmt und eine Zeit lang von niemandem entdeckt wurde; nicht mal ihre eigene Mutter vermisste sie. Kann es wirklich sein, dass niemand im Supermarkt Melanies im Gitter fixierten Wuschelkopf in den Wagenreihen sah oder schüttelten die Kunden vielleicht nur den Kopf und dachten, was sich diese Gören immer einfallen ließen?

Vielleicht laufen heute viele Unfälle mit Kindern auch deshalb glimpflicher ab, weil die Gesellschaft Kindern gegenüber insgesamt aufmerksamer geworden ist. Auch hier gibt es keine belastbaren Studienergebnisse, die das belegen würden. Bei europaweiten Untersuchungen über die Kinderfreundlichkeit landet Deutschland jedes Mal ganz weit hinten, wenn ich jedoch auf meine persönlichen Erfahrungen und Stichproben aus dem Freundes- und Verwandtenkreis zurückgreife, würde ich sagen: Kindern wird heute mit größerem Verständnis und Achtsamkeit begegnet als früher. Die meisten Hausmeister nehmen heute keinem Kind mehr den Ball weg, den Begriff »Rotzlöffel« hat mein Sohn noch nie aus dem Mund eines Nachbarn gehört (ich als Kind schon, und beim Bolzen wurden wir von einem besonders netten Exemplar zur Beweislage unseres Fehlverhaltens regelmäßig fotografiert). Wenn ich zumindest in unserem Viertel heute ein Kind auf der Straße schreien höre, drehe nicht nur ich mich um, sondern ein Großteil der Passanten. (Fast) niemand schaut böse, sondern gleicht ab, ob ein Eingreifen notwendig ist oder es sich nur um einen handelsüblichen Trotzanfall handelt. Wenn ein Kind vom Laufrad purzelt und weinend am Boden liegt, springt sofort jemand herbei und tröstet, bis die Mutter/der Vater mit den schweren Einkaufstüten in der Hand selbst heran ist, um zu übernehmen.

Als ich nach dem Wasserrutschenspielplatzunfall mit meiner Kopfplatzwunde, einem Wackerstein und Ecki Hauser im Gepäck heulend durch die Straßen nach Hause lief, kam niemand zu Hilfe; nur eine ältere Nachbarin beugte sich über den Balkon und sagte mehr zu sich als zu uns: »Blutet ja gar nicht richtig.«

Als Tatjana Wehrkopp, die im Nebenhaus wohnte und Gummitwist für den einzigen Sinn des Lebens hielt, eines Tages mit dem Saum ihrer Schlaghose in die Fahrradkette ihres Klapprades geriet, machte sie einen atemberaubenden Satz über den Lenker. Die Schlaghose riss dabei nicht, sondern sorgte dafür, dass ihr linkes Bein den Bogen als einziges nicht schaffte. Auch wenn es paradox klingt, aber sie lag halb sitzend neben ihrem Fahrrad und weinte, und wir versprachen, sofort ihre Mutter zu verständigen. Auf dem Weg zu Tatjanas Haus wurden wir dann unglücklicher Weise von weiteren Rettungsmaßnahmen abgehalten, weil Dierk beim Murmeln gerade einen Lauf hatte und uns zurief, wir sollten mal ganz schnell zugucken, wie er Uwe um seine letzten Glaskugeln brachte. Und einem Befehl von Dierk widersetzte man sich nicht. So erfuhr ich erst sehr viel später, dass Tatjana wohl noch sehr lange jammernd neben ihrem Fahrrad saß/lag, bis tatsächlich jemand Hilfe verständigte. Im Krankenhaus wurde schließlich festgestellt, dass gleich an mehreren Gelenkstellen Knochen aus den Verkapselungen gerutscht waren, was mich noch jetzt innerlich zusammenzucken lässt. Das Schlimmste für Tatjana muss gewesen sein, dass mindestens ein halbes Jahr das Gummitwist in der Schublade bleiben musste. Heutige Kinderfahrräder haben serienmäßig einen Eins-a-Kettenschutz, und zum Glück sind auch Schlaghosen und Gummitwist ein längst vergessenes Relikt unserer gefährlichen Kindheit.

Wenn man bedenkt, wie sehr sich die Sicherheitsstandards in so vielen Bereichen unseres Alltags verbessert haben, mutet es komplett irre an, dass ausgerechnet Spielplätze diesen Fortschritt nicht konsequent mitgegangen sind. Wenn meine Frau und ich auf einer Skala von eins bis zehn angeben müssten, wie begeistert wir sind, wenn unser Sohn auf den Spielplatz will, dann würden wir unser Kreuzchen eher nicht bei der Zehn machen. Spielplätze sind für Erwachsene ein Raum, in dem es schwerfällt, seine Würde aufrecht zu erhalten. Man sitzt auf bekritzelten Holzbänken, drückt sich mit dem Rücken an die harte Lehne (die oft mit sehr unschönem Vokabular und Zeichnungen verziert ist) und schaut selbstverständlich nicht aufs Handy, um eine betonte Abgrenzung zu den ignoranten Smartphone-Eltern auszudrücken (während man sich nichts sehnlicher wünscht, als jetzt ein bisschen auf Spiegel Online zu surfen). Stattdessen starrt man auf das eigene Kind und fragt sich, warum Spielplätze der einzige Ort auf der Welt sind, wo sich Minuten wie Stunden anfühlen. Da kann ich mich glücklich schätzen, dass mich mein Sohn leidenschaftlich gern in sein Spiel einbezieht.

Einmal kraxelte ich mit ihm ein Klettergerüst hoch und stellte irgendwann fest, dass es für mich und meine Höhenangst noch Klärungsbedarf gab. Ich entschied mich fürs stille Verweilen, blieb auf einer Holzstrebe sitzen und lernte in dieser Zeit sehr viele Drei- bis Fünfjährige kennen, die nicht an mir vorbeikamen und sehr unterschiedlich darauf reagierten. Ich überlegte, wer um alles in der Welt Spielgeräte entwickelt, bei denen man so tief fallen kann, dass man sich zwangsläufig das Genick bricht, und hörte mindestens alle fünf Minuten irgendwo ein Kind bitterlich weinen, das sich gerade eine Blessur zugefügt hatte.

Für Kinder sind Abenteuerspielplätze genau das, was sie sein sollen: ein Abenteuer. Mal tut es weh, dann kurz trösten lassen und weiter geht der Spaß. Ich dagegen sehe: Klettergerüste versehen mit Seilen und Netzen in hochwertiger Strangulationsqualität, Drehschreiben, die Kinder regelmäßig auf die Steinplatten katapultieren, Reifenschaukeln, die mit exakter Genauigkeit und atemberaubender Regelmäßigkeit so weit ausschlagen, dass umstehende Kleinkinder schwungvoll weggerammt werden. Allein bei dieser Stichprobe vom Klettergerüst aus habe ich drei Kinder gezählt, die schreiend auf dem Boden lagen, nachdem sie der an schweren Ketten hängende und vollbesetzte Truckerreifen erwischt hatte.

Ausgerechnet auf dem Lieblingsspielplatz meines Sohnes, einer weiten Anlage im zentralen Stadtgarten Planten un Blomen, steht ein wahres Horrorgerät, das selbst Joseph-Ignace Guilloutin eine Spur zu heftig gewesen sein dürfte. Es handelt sich dabei um ein würfelförmiges Holzgerüst mit fallbeilartigen Holzpaneelen, die von den Kindern selbstständig hochgezogen werden können, um unter ihnen durchzuschlüpfen. Dabei sind die Holzpaneele so massiv und schwer und rasen entsprechend schnell zu Boden, dass selbst das Genick eines Erwachsenen mühelos zersplittern würde. Dass es noch keine Toten gab, muss ein unglaublicher Zufall sein.

»Kein Spielplatz in Deutschland ist ohne Mängel«, sagte Ralf Diekmann, Spielplatz-Prüfer vom TÜV-Rheinland in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger im Juli 2018.19 Zwar hätten sich die Sicherheitsstandards in den letzten Jahrzehnten stark verbessert, doch noch 2005 habe es bundesweit Spielplätze gegeben, die zu neunzig Prozent in einem maroden Zustand seien. Aber auch heute seien Eltern gut beraten, bevor sie ihr Kind auf dem Spielplatz toben ließen, sich alle Geräte genauer anzugucken.

Spielplätze sind, das ist nach diesen Schilderungen keine Überraschung, auch statistisch belegbar Unfallschwerpunkte. Überraschender finde ich es, dass die meisten Unfälle an Schaukeln (rund ein Drittel aller Spielgeräte) geschehen und nicht an Klettergerüsten. Auf dem offiziellen Spielplatz-Blut-und-Beulen-Ranking folgen nach einer österreichischen Erhebung aus dem Jahr 199520 (es gibt bis heute leider kein aktuelleres und differenziertes Zahlenmaterial) die Rutsche (zwanzig Prozent), dann erst das Klettergerüst (13 Prozent). Den Abschluss bilden Reckstange und Karussell mit je etwa vier Prozent. Die häufigsten Unfallhergänge sind der »Sturz hinab« (57 Prozent), der »Sturz auf gleicher Ebene« (15 Prozent), die »Kollision« (zwölf Prozent) sowie missglückte Sprünge (fünf Prozent). Die häufigsten Verletzungen auf Spielplätzen sind Prellungen (34 Prozent), Hautwunden (24 Prozent), Frakturen der Extremitäten (24,6 Prozent), Verstauchungen (10,7 Prozent) und Gehirnerschütterungen (6,7 Prozent).

Zwar haben sich auch seit 1995 ein paar Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung durchgesetzt, weshalb modernere Spielplätze öfter mit Gummi- und Sandflächen zur Sturzabmilderung ausgestattet sind, dennoch gehört zum Sound der Spielplätze immer auch schmerzverzerrtes Geschrei, das einen bis ins Mark trifft.

In den USA sehen Spielplätze dagegen oft aus wie riesige Gummizellen, ausgestattet mit Spielgeräten, die Polstergarnituren nachempfunden sind. Spielplatzprüfer Diekmann äußerte im Stadt-Anzeiger-Interview weiter, der Spielplatz solle keine heile Welt sein. Hier solle man sich durchaus Schrammen holen, das gehöre zum Heranwachsen dazu. Richtig, das Leben ist kein Hochsicherheitsgefängnis, und eine funktionierende Risikoabschätzung kann nur entwickeln, wer mit einer realen Gefahr konfrontiert wird. Ich bin mir nur nicht sicher, ob eine Oberarmfraktur als Erfahrungswert wirklich zielführend ist. Denn in letzter Konsequenz führt dieser Gedanke, der sogar in der DIN-Norm EN1176 für Spielplätze festgelegt ist (»Verletzungen bis hin zu Brüchen und offenen Wunden dienen der wichtigen Gefahrenein- und Risikoabschätzung«), zu einem Satz aus der Schwarze-Pädagogik-Mottenkiste, den man eigentlich nie mehr hören geschweige denn aussprechen möchte: »Wer nicht hören will, muss fühlen.«

Schade ich also meinem Kind, wenn ich es vor Verletzungen schütze, deren Dimensionen ich nicht abschätzen kann? Beim Straßenverkehr gibt es keine zwei Meinungen, da wird empfohlen, jedes Risiko für das Kind auszuschließen. Wenn wir zum Beispiel einen Kindersitz fürs Auto kaufen, dann haben wir vorher alle Stiftung-Warentest-Rankings auswendig gelernt und wissen, welcher Kindersitz in Sachen Komfort und Sicherheit das Nonplusultra ist. Wer würde, ausgestattet mit diesem Wissen, lieber etwas Geld sparen und dafür auf doppelten Seitenaufprallschutz und spezielle Airbag-Rückstoßsicherung verzichten? Auf dem Spielplatz hingegen gilt der Airbag gemäß der DIN-Norm als pädagogisch unsinnig. Ist das konsistent?

Sicher: Straßenverkehr ist unübersichtlich und ein Auto mit einer Geschwindigkeit unterwegs, die ein Kind nicht überblicken kann, wohingegen auf dem Spielplatz zumindest die meisten Gefahren auch für Kinder sichtbar sind, sodass sie lernen können, damit umzugehen. Wenn ich eine Schaukel gegen den Kopf kriege, mache ich nächstes Mal einen Bogen darum. Wenn ich ungebremst durch die Frontscheibe des Autos fliege, weil ich nicht angeschnallt war, bin ich hingegen vielleicht tot.

Aber: Lernt mein Kind nicht genauso, dass es sich festhalten muss, wenn es vom Klettergerüst auf eine Gummimatte fällt und sich dem hämischen Grinsen seiner Spielkameraden aussetzen muss, weil er offenbar noch »zu klein« zum Klettern ist? Bedarf es dazu unbedingt einer Gehirnerschütterung? Und wenn Verletzungen pädagogisch so sinnvoll sind – wieso findet dann im Sportunterricht kein Reckturnen ohne blaue Matte unter der Stange statt?

Zurück zur Sicherheit beim Autofahren. Die Anschnallpflicht wurde erst Mitte der Siebzigerjahre gegen große Widerstände durchgesetzt, Verstöße blieben lange Zeit straflos; die Diskussionen darüber wurden damals sehr emotional geführt, Männer fürchteten um ihre Männlichkeit, Frauen um ihren Busen, die Republik war tief gespalten.21 Erst im Laufe der Zeit wurde der Gurt auch für Kinder Usus. Und wer erinnert sich nicht, wie es sich anfühlte, im Hochsommer in kurzen Hosen auf den schwarzen Kunstledersitzen Platz zu nehmen, der Gurt schnitt glühend in die Halsaorta, während von den Oberschenkeln ein dezenter Grillwürstchengeruch in die Nase stieg? »Dann schnall dich eben ab«, hieß es dann. Und es war ganz normal. Was sollte passieren? Kein Kind hatte einen Kindersitz; einen wärmeabweisenden, wie der unseres Sohnes, schon mal gar niemand. Eine Kindersitzpflicht gibt es überhaupt erst seit 1993.22 Und auch hier liefern die Unfallstatistiken die besten Argumente. Seit Einführung von Gurt- und Kindersitzpflicht machte die Zahl der Unfalltoten einen mächtigen Satz nach unten.

Deshalb schaue ich mir auf jedem Spielplatz alle Geräte mit der Lupe an, habe ich alle Kindersitzbroschüren studiert und mich für den superteuren Testsieger entschieden. Alles andere könnte ich mir nicht verzeihen. So etwas nenne ich Fürsorge.

Trotzdem lese ich gerade wieder, dass zu viel Fürsorge dem Kind SCHADEN kann. Es ist so absurd: Man will ein guter Vater sein, der sein Kind schützt und vor seelischen und körperlichen Schäden bewahrt. Und dann kommt im Juni 2018 eine neue Studie23 auf den Markt, die einen Zusammenhang zwischen Überfürsorge der Eltern und entwicklungsgestörten Kindern zieht, deren Ergebnis landauf und landab von sämtlichen Zeitungen und Magazinen zitiert wird, damit Millionen Eltern erfahren, dass ihr tief empfundenes Bedürfnis, Schutz zu gewährleisten, in manchen Fällen das Gegenteil bewirkt. Wer die Studie googelt, bekommt auf den ersten zehn Einträgen verschiedener Online-Medien die gleichlautende Headline präsentiert: Zu viel Fürsorge schadet Kindern. Zu viel Fürsorge schadet Kindern. Zu viel Fürsorge schadet Kindern.

Wirklich? Werfen wir noch mal einen Blick in die jährlichen Statistiken über verunfallte Kinder! Sie belegen wissenschaftlich einwandfrei, dass heute in Deutschland noch nie so wenig Kinder bei Unfällen ums Leben kamen, unter sozialer Verwahrlosung litten oder Opfer von Missbrauch wurden wie in früheren Zeiten. Denn heute wird von allen Seiten einfach besser aufgepasst; achtsamere Behörden, achtsamere Gesellschaft, achtsamere Eltern. Das wäre doch mal eine Titelgeschichte für Die Welt, ZEIT oder Spiegel: Weniger tote Kinder dank Helikopter-Eltern.

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Fürsorge in Form von Sicherheitsmaßnahmen rettet euren Kindern das Leben! Und keine Sorge: Kinder lernen, was Schwerkraft ist, selbst wenn sie auf weiche Matten fallen statt auf Beton.

1. Ist das noch Liebe, oder helikoptere ich schon?

Oder: Warum dieses Buch geschrieben werden musste

Ich stehe in der Nähe eines typischen Klettergerüstes aus der Spielplatz-Bootcamp-Ära der Siebzigerjahre (scharfes Metallgestrüpp, darunter scharfkantiger, steinharter Waschbeton) und beobachte angestrengt, wie mein Sohn immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren droht. Ich spüre, wie mein Körper zuckt, weil er hineilen möchte, um da zu sein, wenn mein Sohn fällt. Damit ich ihn auffangen kann und er sich nichts Schlimmeres zuzieht als einen ordentlichen Schreck. Der Fuß meines Sohnes rutscht ab, mein Herz bleibt einen Augenblick lang stehen, mein Sohn fängt sich. Wieder zuckt mein Körper, doch erneut unterdrücke ich den Impuls und bleibe betont gelassen gut fünf Meter entfernt stehen. In diesem Moment verschätzt sich mein Sohn, greift daneben und stürzt ab. Sein Kopf prallt auf den Boden, er schreit. Während ich zu ihm hinhechte, ihn in den Arm nehme und tröste, weil ihm ein übles Horn auf der Stirn wächst, schäme ich mich und fühle mich wie der schlechteste Papa der Welt.

Was ist passiert?

Gehen wir einen Schritt zurück.

Seit einiger Zeit kann man in Deutschland ein Phänomen beobachten, für das es keinen adäquaten Begriff gibt (dazu ist es zu neu) und das ich mal etwas polemisch als »Eltern-Bashing« bezeichnen möchte. Nicht nur auf Spiegel Online oder den Wissensseiten der Süddeutschen Zeitung, sondern auch in den vielen gleichlautenden Erziehungsratgebern, die die Regale deutscher Buchhandlungen füllen und die Bestsellerlisten anführen, liest man seitenlang über die Fehler, die heutige Eltern in der Erziehung angeblich machen. Regelmäßig ist von einer Überfütterung an elterlicher Fürsorge die Rede, die als die größte Gefahr für den Fortbestand der deutschen Gesellschaft ausgemacht wird, von einem als Liebe getarnten Würgegriff. Laut der gängigen Meinung setzen heutige Eltern keine Grenzen mehr, nehmen ihren Kindern dadurch die Orientierungsmöglichkeiten und schaffen es gleichzeitig, den Nachwuchs durch ihre angstgeleitete Überfürsorge so einzuengen, dass er am Ende zum kleinen Egomonster wird, komplett verzogen und lebensunfähig. Der gleichlautende Vorwurf: Die Eltern des 21. Jahrhunderts rauben ihren Kindern die Chance, eigene Erfahrungen zu sammeln und halten sie davon ab, sich artgerecht zu entwickeln.

Irgendwann tauchte der Begriff der »Helikopter-Eltern« auf, der Mütter und Väter bezeichnet, die in einer Mischung aus übertriebener Zuwendung und Angst um ihre Kinder in besonders absurden Bahnen um sie herumschwirren. Es gibt mittlerweile gefühlt zigtausend Bücher, in denen solche Fälle von beinahe hysterischen Eltern geschildert werden, die ihren Kindern Peilsender in die Unterhosen nähen, nicht mehr schlafen können, wenn in der Grundschule die Eins in Chinesisch wackelt, oder die ohnmächtig zusammenbrechen, weil Melitta oder Kaspar oder Cassian (klar, so heißen Helikopter-Kinder) versehentlich in die Nähe einer Tasse Milch geraten sind, die nicht nachweislich nachts bei Mondschein auf einem Demeterhof aus dem Euter kam. Diese Eltern nerven ihr Umfeld mit übergriffigen Forderungen (der Lehrer soll bitte dafür sorgen, dass das Kind je nach Außentemperatur den entsprechenden Pullover trägt; auf dem Kindergeburtstag der Freundin darf bitte nix Süßes verteilt werden) und schaden ihren Kindern nachhaltig.

Ich kenne wirklich viele Eltern, und alle sind auf ihre Art verschieden; es gibt lässige, es gibt ängstliche, es gibt laute, es gibt arrogante, es gibt viel zu nette (denn natürlich: Wenn ein Kind einem anderen Kind die Metallschaufel über den Kopf zieht, sollte der Erziehungsberechtigte eingreifen und die aus welcher Motivation heraus auch immer ausgeführte Attacke nicht mit »Ach, das hat er/sie doch nicht böse gemeint« abtun, obwohl Blut aus der Platzwunde schießt. Wobei ich bezweifle, dass so was tatsächlich so gehäuft vorkommt, wie im gängigen Vorwurf behauptet wird. – Dazu gleich mehr.), und es gibt auch ein paar doofe Eltern. Aber nie habe ich Eltern erlebt, die wirklich so bekloppt sind, wie sie in »Wir-lachen-über-Helikopter-Eltern«-Büchern und -Blogs vorkommen.

Das Problem an diesen Karikaturen ist, dass sie a) letztlich nur befeuern, was der gesellschaftliche Mainstream über Eltern zu denken hat, und b) dass sich eben dieser Mainstream davon provoziert fühlt (was wiederum gut belegt, dass besonders fürsorgliche Eltern anderen ein schlechtes Gewissen zu bereiten scheinen, ähnlich wie Vegetarier sich regelmäßig rechtfertigen müssen, als wäre ihre Ernährungsweise nur dem Ziel entsprungen, Fleischesser als schlechtere Menschen dastehen zu lassen). Helikopter-Eltern sind ein Mythos, ein gern genommenes Totschlagargument, wenn es darum geht zu zeigen, was Eltern heute angeblich alles falsch machen, so wie man die Uhr danach stellen kann, dass bald die nächste »Generation XYZ« gebrandmarkt wird als wie auch immer orientiert und konditioniert. Das Gefährliche daran ist, dass die Helikopter-Debatte das Verhältnis von Eltern zu Kindern beeinflusst, ohne dass es den Vätern und Müttern bewusst ist. Ich jedenfalls frage mich aufgrund der absurden Debatten oft: Ist das noch Liebe oder helikoptere ich schon? Und sicher bin ich nicht der Einzige.

Kommen wir noch mal zurück auf die Spielplatzszene zu Beginn.

Mein Sohn hängt an einem in die Jahre gekommenen Klettergerüst, an dem es viele Verletzungsmöglichkeiten gibt, falls er runterfällt. Mein Körper signalisiert mir sehr deutlich, dass ich eigentlich am liebsten neben und unter meinem Sohn stehen würde, um ihn im Falle des Falles vor Knochenbrüchen, Platzwunden und einer Gehirnerschütterung zu bewahren. Trotzdem bleibe ich in deutlicher Entfernung stehen. Warum?

Damit es keinesfalls so aussieht, als würde ich helikoptermäßig über meinen Sohn wachen, weil ich kein Vertrauen in seine Fähigkeiten besitze. Dadurch würde ich ihn – nach Anti-Helikopter-Meinung – verunsichern und den von mir befürchteten Unfall selbst erst provozieren. Äußerlich bleibe ich also ein vorbildlicher moderner Papa voller Zutrauen in das Klettergeschick meines Sohnes, während ich im Inneren mit der kaum auszuhaltenden Panik kämpfe, er werde gleich kopfüber zu Boden segeln. Aber: Bloß nicht in seine Nähe kommen! Er könnte sich plötzlich einer Gefahr bewusst werden, die er vorher nicht gesehen hat, Angst bekommen und augenblicklich panisch das Gerüst loslassen. Dass mein Sohn sich eher sicherer fühlt, wenn ich dicht bei ihm stehe, und sich sogar Sachen traut, die er sonst nie probieren würde, übersieht die Helikopter-Debatte. Und auch ich zweifele plötzlich daran. Kann doch sein, dass ich mich irre, oder? Was weiß denn schon ein Vater?

Ich war verunsichert, und als mein Sohn Augenblicke später weinend in meinem Arm lag, schämte ich mich, weil ich mich tatsächlich mehr um mein öffentliches Bild gesorgt hatte als um mein fünfjähriges Kind.

An dieser Stelle möchte ich dem Helikopter-Vorwurf folgende Behauptung entgegenstellen: Nie gab es eine Eltern-generation, die fürsorglicher und achtsamer mit ihren Kindern umging, als wir das heute praktizieren. Unsere Kinder stehen im Mittelpunkt unseres Lebens, und ich behaupte, dass es an diesem Punkt nichts gibt, das ihnen schadet. Im Gegenteil: Die Art und Weise, wie wir unseren Kindern begegnen, wird dafür sorgen, dass sie zu achtsamen und verantwortungsbewussten Menschen heranwachsen. Und viel schädlicher als unsere vermeintliche Überbehütung ist die Diskussion darüber.

Eine Auswahl: Im Juni 2018 war im Deutschlandfunk ein Gespräch mit dem Pädagogen Herbert Renz-Polster mit »Zuviel Fürsorge schadet Kindern« überschrieben. Und Josef Kraus, immerhin Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnt auf vielen Kanälen regelmäßig vor gluckenden Eltern und gibt in seinem Buch Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung zu, dass zwar nur ein Sechstel aller Elternpaare überfürsorglich sei (wo werden eigentlich solche Zahlen ermittelt?), die Mehrheit sich also »vernünftig« verhalte – der Schaden an der Allgemeinheit durch verhelikopterte Heranwachsende jedoch immens sei. Eine steile These, die einem verantwortungsbewussten, extrem fürsorglichen, aber eben auch sehr selbstkritischen Vater wie mir allerdings nicht die Frage beantwortet, ab wann aus vernünftiger Vorsicht unvernünftige Überbehütung wird und man in das verschriene Sechstel abdriftet. Im Gegenteil – solche Behauptungen säen Zweifel und führen zu unnötigen Beulen wie im Fall meines Sohnes.

Heute herrscht der weitverbreitete Konsens, dass man Kinder nicht schlägt. Die Grenze ist klar gezogen, da gibt es keine Missverständnisse; aber wo aus einer liebevollen Erziehung eine zu liebevolle wird, darüber gibt es keine Klarheit. Wie auch? Es kann gar keine geben, denn jedes Eltern-Kind-Verhältnis ist so individuell, dass Aussagen darüber totaler Quatsch sind. Sie beeinflussen einen jedoch, und da beginnt das Problem. Manche Kinder brauchen ganz viel Nähe, Zärtlichkeit, Unterstützung, andere eben nicht. Wie viel Zuwendung ein Kind braucht, entscheiden wir Eltern, und wir haben eine natürliche Befähigung dazu. Wer heute aber eines der monströs großen Regale mit Pädagogikliteratur in einer durchschnittlichen Systembuchhandlung betrachtet, könnte zu einer anderen Überzeugung gelangen; zum Beispiel, dass heutige Eltern nach der Geburt zwar mindestens um ein Kind reicher sind, jedoch auch um zwei Gehirne ärmer.

Wer in Biologie gut aufgepasst hat, der weiß, dass die Natur Menschen, die gerade Eltern geworden sind, mit einigen temporären Zusatzskills ausstattet. So wie das in Videospielen funktioniert, wenn der Held per Zaubertrank ein paar Punkte extra auf Stärke, Konstitution und Ausdauer bekommt. Und sollte das in den seltensten Fällen mal nicht greifen, dann gibt es noch den Airbag Kindchenschema. Die immer gültige Gleichung, dass rund und süß in unserem Gehirn den Bitte-sofort-kümmern-Reflex auslöst. Eltern sind von Natur aus kompetent; diese vielleicht banalste Information seit »Der Ball ist rund« muss hier einmal ausgesprochen werden, denn die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hat sie längst verdrängt – und das gilt leider nicht nur für die Experten, sondern auch für viele junge Eltern selbst. Deshalb lesen sie einen aktuellen Ratgeber nach dem anderen, der ihnen jeweils etwas anderes erzählt, dabei aber konsequent signalisiert, dass Eltern ohne Ratgeberliteratur heutzutage unfähig seien, ein Kind großzuziehen.

Es gibt also eine Menge Vorwürfe, die wir uns anhören müssen; wir tanzen um unser Kind herum, wir gängeln es durch zu viel Aufmerksamkeit, wir rollen ihm jede Glasmarmel aus dem Weg. Der ärgerlichste Vorwurf bei alldem lautet, dass wir unseren Kindern gegenüber als Partner auftreten, nicht als Autoritätspersonen. Das sei gefährlich für die spätere Entwicklung des Nachwuchses, weil die wichtige Phase der Abgrenzung praktisch nicht stattfinde.

»Warum Eltern nicht die besten Freunde ihrer Kinder sein sollten«, erklärt eine Erziehungsexpertin auf elternwissen.de und spricht, wie so häufig in solchen Fällen, von einer »schmalen Gratwanderung«, wenn es darum geht, Kindern Autorität entgegenzubringen, aber bitte schön dabei Liebe und Zuneigung nicht zu unterdrücken.

Genau da beginnt der Punkt der Verunsicherung, die in die Intimsphäre meines Kindes und mir hineinwirkt. Denn woran bitte soll ich erkennen, dass ich noch auf dem Grat wandere und nicht schon längst in das ein oder andere Extrem abgerutscht bin? Der Vorwurf steht wie ein rosa Elefant im Raum. Mein Sohn sitzt heulend auf meinem Schoß, er hat blöden Mist gebaut, aber er ist auch hilflos und klammert sich an mir fest. Sollte jetzt nicht der fällige Moment der Abgrenzung beginnen, müsste man jetzt nicht bestrafen, damit er den blöden Mist kein zweites Mal baut? Innerlich aber will ich mich gar nicht abgrenzen, sondern viel lieber nach Verbindung suchen. Was tun?

Ein Ratgeber hätte nun die »richtige« Lösung parat, doch die Entscheidung, wie ich mit dem Fehlverhalten meines Sohnes umgehe, ist eine ganz individuelle und persönliche Entscheidung, die nur aus dem Moment heraus getroffen werden kann. Und manchmal gibt es eben nur falsche und weniger falsche Lösungen. Trotzdem habe ich mich selbst dabei erlebt, wie ich in diesem Moment überlegte, nicht meinem Herzen zu folgen, sondern Jesper Juul, der in einem Zeitungsinterview klare Grenzen fordert, weil sonst – etwas zugespitzt – chronische Weinerlichkeit bis hin zur Lebensunfähigkeit drohe. Ich zog also plötzlich eine Grenze, indem ich energische Worte sprach und meinen Sohn durch eine finstere Miene wissen ließ, was ich von seinem Verhalten hielt. Er weinte umso heftiger und begriff gar nichts mehr – weil ich sonst anders reagiere.

Ich bin der Meinung: Wenn mein Sohn schon selbst weint, weil er Mist gebaut hat, muss ich ihn nicht noch zusätzlich bestrafen. Dennoch hatte ich zugelassen, dass jemand in einer entscheidenden Situation zwischen uns trat und mich auch weiterhin begleitet, weil ich tatsächlich nicht frei bin von der Sorge, zu lieb und zu nachsichtig mit meinem Kind zu sein. Und in meinem Kopf schwirren permanent Fragen herum wie: Mache ich etwas falsch, wenn ich meinen Sohn nach seiner Meinung frage und ihn in Entscheidungen einbeziehe? Mache ich etwas falsch, wenn mein Sohn sehr oft Ja und eher selten Nein zu hören bekommt, wenn er etwas haben möchte? Mache ich etwas falsch, wenn ich, so oft es möglich ist, bei ihm bin, ihn an die Hand nehme oder ihn stundenlang huckepack durch die Straßen trage?

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