Cainstorm Island – Der Gejagte

Marie Golien

Cainstorm Island – Der Gejagte

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Marie Golien

Marie Golien, 1987 in Wiesbaden geboren, studierte Design mit Schwerpunkt interaktive Medien, entwickelte Spiele-Apps und begann parallel zu schreiben. ›Cainstorm Island – Der Gejagte‹ ist ihr Debüt als Romanautorin, für das sie gleich mehrfach nominiert und ausgezeichnet wurde, u.a. für den Paul-Maar-Preis für junge Talente und mit der Goldenen Leslie 2020.

Über das Buch

»Meine Zuschauer lieben die Gefahr. Zumindest, wenn ich sie erlebe und sie durch meine Augen dabei zuschauen dürfen.«

 

Emilios Welt ist geteilt. In Sichtweite, aber unerreichbar, liegt das reiche Asaria, wo die Menschen in klimatisierten Villen wohnen und ihren hochtechnisierten Alltag genießen. Emilio lebt auf Cainstorm Island, überbevölkert, arm und von Gewalt zerfressen. Dort kämpft der 17-Jährige, umgeben von brutalen Gangs, gegen die Schulden seiner Familie. Eines Tages bietet ihm ein Mitarbeiter von Eyevision – einer Firma aus Asaria – einen Deal: Emilio willigt ein, sich einen Chip in den Kopf implantieren zu lassen, der jeden Tag eine halbe Stunde lang überträgt, was er sieht. Seine Videos, waghalsige Kletter- und Trainsurf-Aktionen, kommen an, die Zuschauerzahlen steigen langsam.

Bis sein Leben eine unvorhergesehene Wendung nimmt: Emilio gerät in das Gebiet einer Gang und tötet einen der Anführer in Notwehr. Live und auf Sendung. Das Video verbreitet sich rasend schnell und er wird zum Gejagten. Und zwar nicht nur von der Gang, sondern auch von Eyevision, die sehr eigene Pläne mit Emilio haben …

Impressum

Unveränderte Neuausgabe

© 2019, 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Umschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung von Motiven von Depositphotos

Karte: Katharina Netolitzky

 

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eBook ISBN 978-3-423-43542-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74064-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423435420

Ich hocke mich vor das schiefe Holzkreuz mit den vertrockneten Blumen. Das Kreuz steht noch keine zwei Tage hier und ich fühle mich einen Moment unwohl bei dem Gedanken, diese tragische Geschichte auszuschlachten. Andererseits, der Eisverkäufer ist tot, oder nicht? Was kümmert es ihn? Also lasse ich meine Augen über die roten Flecken wandern, die sich wie Rost über den Boden ziehen. Jemand hat versucht, das Blut zu entfernen, und es dabei nur noch weiter verwischt, bevor die Sonne es in den Asphalt gebrannt hat. Ich hebe den Blick. Lasse ihn über die Hauswand schweifen.

»Seht ihr die riesigen Löcher? Sie haben ihn aus der Nähe erschossen!«

Eine Frau, die schräg neben mir hockt, schaut hoch und mustert mich neugierig. »Mit wem redest du, Junge?«

Ich hatte gehofft, dass sie mich nicht beachtet. Aber es ist auch nicht meine Schuld, dass sie sich ihren Sitzplatz genau dort ausgesucht hat, wo der Mord passiert ist. Ich ignoriere sie. Leuchtend gelbe Neonschnürsenkel halten das Kreuz zusammen, fest verknotet. Ich lese laut: »Fernando! Wir treffen uns wieder! Ruhe in Frieden!«

Wenn man genau hinschaut, sind auf dem grellen Neon

Die Frau bohrt mit einem Stöckchen in den Löchern ihrer Schuhsohle und betrachtet mich belustigt. »Sind hier Leute, die ich nicht sehe, Sherlock?«

Sie sitzt auf einem ausgefransten Tuch, auf dem sie Elektroschrott zum Verkauf aufgehäuft hat. Zerbrochene Monitore, eine vergilbte Tastatur und PCs, aus denen sich Kabel winden. Daneben dösen ein paar Straßenhunde im Schatten und ein Kind mit Bauchladen läuft die flimmernde Straße herunter. Niemand ist in unserer Nähe. Die bleierne Nachmittagshitze hat die Stadt erobert und die meisten Leute in ihre Wohnungen getrieben. Rein äußerlich ist an mir nichts Seltsames zu sehen und ich werde ihr auf keinen Fall von denen erzählen, die gerade zuschauen und zuhören. Sie soll mich ruhig für durchgeknallt halten. Stimmen im Kopf. Ein Fall für die Psychiatrie. Außerdem habe ich keine Zeit für Erklärungen.

Ich zucke mit den Schultern: »Manchmal denke ich laut.«

 

Meine Zuschauer interessieren sich nicht für die Frau, die ihre Augenbrauen jetzt in einer ›Ich glaube dir kein Wort‹-Manier nach oben zieht. »Wer war der Tote? Warum wurde er erschossen?«, wollen sie wissen. Mord und Totschlag

Herzchen und Inschriften sind um das Kreuz auf den befleckten Boden gekritzelt. Mit geübter Langsamkeit lasse ich meinen Blick darübergleiten. Ich habe bei dem ermordeten Typen ein paarmal Eis gekauft. Wasser mit Farbstoff. Netter Kerl, aber high wie ein Astronaut, mit Pupillen groß wie Münzen. Ich kann mir denken, wie die Sache mit Las Culebras abgelaufen ist: Schulden, Versprechungen, Sucht, Drohungen und schließlich ein elender Tod neben seinem Eisstand. Aber das ist eine zu langweilige Geschichte.

»Er hieß Fernando und war in ein Mädchen verliebt, das Mitglied bei Las Culebras war«, erfinde ich.

Die Frau an der Mauer zieht die Augenbrauen so hoch, dass sie fast ihren Haaransatz berühren. »Echt jetzt?«, fragt sie skeptisch.

»Es war ein Geheimnis. Niemand wusste davon.«

Ich gebe ihr keine Zeit, auf meine Lügen zu reagieren, sondern überquere die schmale Straße und beginne, mich an einer stabil aussehenden Regenrinne nach oben zu hangeln, während ich die Geschichte weiterspinne: »… Fernando war in einer anderen Gang und die Schlangen konnten natürlich nicht akzeptieren, dass er mit einer von ihnen zusammen ist. Also haben sie ihn hier in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. Als seine Freundin davon hörte, ist sie ausgerastet. Sie hat alle Waffen in ihr Auto gepackt, die sie finden konnte. Ein Maschinengewehr, Messer. Sogar Handgranaten. Damit ist sie zum Hauptquartier von Las Culebras gefahren und hat so viele Schlangen erschossen, wie sie konnte. Ihre eigenen Leute! Danach hat sie sich ins Meer gestürzt.«

Zufrieden stelle ich fest, dass sie meine Story gekauft haben. Ich ziehe mich aufs Dach und wische mir den Schweiß von der Stirn. Dann schaue ich nach unten und sehe in das schockierte Gesicht der Frau, die zwischen ihrem Elektroschrott sitzt. Dass die Verrückten Regenrinnen hochklettern, scheint ihr neu zu sein.

Meine Zuschauer kommentieren hämisch: »Jetzt musst du dir nur noch Flügel wachsen lassen, dann fallen ihr die Augen aus dem Kopf.«

 

Ich beginne zu rennen. Die Wellblechplatten unter meinen Füßen biegen sich und federn mit einem scharfen Surren zurück. Der Rand des Daches kommt auf mich zu. Der Abgrund ist breiter, als ich ihn in Erinnerung habe, und ich erhöhe mein Tempo. Mit aller Kraft stoße ich mich ab und springe. Unter mir verschwimmen spielende Kinder zu bunten Punkten. Ich erwische die Regenrinne des Nachbarhauses mit den Händen und knalle mit den Turnschuhen unerwartet heftig gegen die Wand. Die Rinne ächzt empört, als hätte ich sie aus ihrem Mittagsschlaf gerissen, und ihre Kante schneidet unangenehm in meine Finger. Ich bete, dass sie mein Gewicht hält.

Entsetzte Emojis mit weit aufgerissenen Augen und Mündern flimmern vor meinem inneren Auge. »Oh nein, fall nicht! Gleich bist du Matsch!« Dahinter weitere Bildchen von Totenköpfen und etwas, das aussieht wie eine zerplatzende Qualle.

Mit zusammengebissenen Zähnen ziehe ich mich nach oben und rolle mich ab.

»Keine Angst, das Krankenhaus steht heute nicht auf meiner To-do-Liste!«

 

Eine struppige Katze hat in der Sonne geschlafen. Von meinem Lärm aufgeschreckt, verschwindet sie mit einem bösen Fauchen. Die hohen Häuser über mir werfen ihre Schatten über den schmalen Hinterhof.

»Okay! Seid ihr bereit für was richtig Gefährliches?«

»Jap, jap!« Lachende Katzen mit Popcorn in den Händen. »Wir sind bereit!«

Aus der Ferne höre ich schrille, sirenenartige Warnsignale, die durch die engen Straßen und Häuserwände tausendfach zurückgeworfen werden. Der Boden vibriert unter meinen Füßen.

»Dann macht euch auf die unglaublichste, gefährlichste und atemberaubendste Bahnfahrt aller Zeiten gefasst!«

Ich steige über aufgeplatzte Müllsäcke. Der Hinterhof ist heruntergekommen. Schwarze Schatten huschen davon.

»Iiiiih! Ratten?«, lese ich.

»Ja, überall! Es gibt so viele, man kann nicht mal eine rauchen, ohne dass eine von denen vorbeikommt und einen Zug will. Aber noch schlimmer ist der Geruch! Seid froh, dass ihr nichts riechen könnt.« Ich ziehe mir den Pulli über die Nase

»Was ist denn das da in der Ecke? Bitte schau da noch mal hin!!«, schreibt jemand.

Ich drehe mich um und sehe zwei zusammengekrümmte Gestalten auf grauen Pappen liegen. Der Stoff ihrer Decken ist so fleckig und verschlissen wie der Boden. Koffer, umwickelt mit Seilen, sind in einer Ecke gestapelt. Daneben sitzt, winzig und still, ein Kind. Vielleicht zwei Jahre alt. Es beobachtet mich, während seine schmutzigen kleinen Fäuste im Dreck kneten. Die Kommentare rasen so schnell an meinem inneren Auge vorbei, dass ich sie kaum noch lesen kann:

»Das arme Kind, OMG furchtbar!«

»Es ist so krass, in welcher Armut ihr lebt. Unvorstellbar.«

Es ist die gleiche Reaktion wie immer, wenn ich ein besonders heruntergekommenes Kind oder einen verzottelten Hund sehe. Für mich gehören diese Bilder so sehr zur Stadt, dass ich sie bisher kaum bewusst wahrgenommen habe. Aber meine Zuschauer kommen nicht von hier. Ihre Heimat liegt hinter dem Meer, auf einem Kontinent namens Asaria. Dass es bei ihnen weder Straßenkinder noch Straßentiere gibt, weiß ich mittlerweile.

Ich blinzele einmal lang, sodass die Kommentare und die traurigen Emojis aus meinem Sichtfeld gewischt werden und ich den Blick frei zum Klettern habe.

»Ich hab leider nichts, was ich dem Kind geben könnte«, sage ich mit Bedauern und blicke nach oben, wo sich die viereckigen Häuser wie unordentliche Schuhkartons aufeinanderstapeln. Erker und Balkone ragen hervor, als hätte sie jemand zufällig an die Fassaden geklebt. Jeder baut hier, wo und wie er möchte. Die obersten Häuser sind auf normalem

Ich schwinge mich auf einen Vorsprung und arbeite mich die Wand hinauf. Die Fußspitzen schiebe ich in einen zentimeterbreiten Riss, während ich mich mit den Händen an einem Fensterbrett nach oben ziehe. Wieder höre ich das ferne Heulen der Zugsirene.

Die Fenster sind mit Gardinen gegen die Hitze verhängt oder mit Brettern vernagelt, sodass ich einigermaßen unbeobachtet bin. Den meisten Leuten ist es egal, ob ich ihre Häuser als Parkourstrecke benutze. Sie sehen es als private Zirkuseinlage, bei der sie mit ihren Nachbarn Wetten abschließen können, ob ich abstürze oder nicht. So richtig sauer ist noch niemand geworden, aber ich will keine überflüssigen Risiken eingehen und nehme die versteckten Wege.

Auf halber Strecke steigt mir der Geruch nach angebranntem Speck in die Nase und ich sehe durch ein Fenster einen dicken Mann, der mit dem Rücken zu mir am Herd steht. Das Fenster ist mit Eisenstäben gesichert, aber die Stäbe stehen weit genug auseinander, um einen Arm hindurchzustrecken.

»Soll ich?«, flüstere ich, die geöffnete Dose mit eingelegter Ananas im Blick, und schalte mit einem langen Blinzeln die Kommentarfunktion wieder ein.

»Jaaaaa! Tu es!!«

Die Bratpfanne des Mannes zischt so laut, dass er nichts mitbekommt. Schnell ziehe ich die Dose zwischen den Stäben hindurch und mache mich davon. Die Wand wieder zurück nach unten zu klettern dauert eine halbe Minute. Meine Zuschauer sind nicht wirklich empfänglich dafür, dieselben Wege zweimal zu sehen. Sie schalten blitzschnell weg, wenn sie sich langweilen. So einfach ist das für sie.

 

»Du kannst es essen«, erkläre ich und mache es ihr langsam und übertrieben pantomimisch vor. Vorsichtig angelt sie sich eine Ananasscheibe aus der Dose. Anscheinend schmeckt es ihr, denn ich bin von einem auf den anderen Augenblick vergessen. Der Hunger in ihren Augen gibt mir einen Stich und für einen Moment sehe ich mich selbst dort sitzen. Meine Zuschauer schicken schniefende Katzen mit Tränen in den Augen.

 

Als ich den höchsten Punkt des Viertels erreicht habe, lese ich in der oberen Ecke der Kommentarfunktion die Zahl meiner Zuschauer ab. Bei Fernandos Kreuz waren es hundertneun – das erste Mal dreistellig. Jetzt sind es hundertzwölf. Gut. Ich habe noch knapp fünfzehn Minuten, bevor sich meine Sendung automatisch abschaltet.

Die Nachmittagssonne leuchtet am blauen Himmel und ein leichter Wind weht vom Meer herüber.

Ich stelle mich an den Rand des Daches und schaue über das Häusermeer. Unter mir, dicht an der Hauswand, verlaufen die Schienen. In einigen Kilometern Entfernung sehe ich den Zug zwischen zwei Häusern auftauchen und wieder verschwinden. Ich habe also noch etwas Zeit.

»Wir wollen ein Bild von dir, EC00, schau doch mal in einen Spiegel! Bitttee!«, schreibt Waldfee und lässt einen Schwall Herzchen folgen.

»Sorry, aber hier ist gerade kein Spiegel. Dafür die beste Aussicht über Milescaleras, die ihr haben könnt.«

Egal in welche Richtung ich mich drehe, bis zum Horizont ist jeder Zentimeter Land bebaut. Rechts von der Stadt liegt das Meer, dunkel und ruhig. In der Schule haben wir gelernt, dass es auf unserem Kontinent noch 39 weitere Städte gibt, die dicht an dicht liegen. Aber es lohnt sich nicht, dort hinzufahren, denn sie sollen genauso überbevölkert und arm sein wie Milescaleras.

»Was sind das für Löcher?«, will Dan wissen. Neben uns, in der Tiefe, erstreckt sich ein Krater, als hätte ein Meteorit in die Stadt eingeschlagen. Auch er ist dicht bebaut. Schmale Treppen führen hinab in das Zwielicht aus Wellblechdächern und Schornsteinen.

»Die Regierung gräbt überall, um Rohstoffe zu finden. Die Krater sind alte Grabungen. Niemand kippt die Erde zurück in die Löcher. Wenn die Baufahrzeuge und Kräne weg sind, bauen die Leute ihre Häuser in die Löcher und auf die

»Sieht aus, als ginge es in die Unterwelt. Wo ist deine Wohnung?«

Tatsächlich wohne ich weder auf einem der Berge noch in einem der finsteren Löcher. Das Viertel, aus dem ich komme, ist auf Stelzen über den Strand gebaut und ragt ein Stück ins Meer hinein. Ich finde, meine Familie hat es dort gut getroffen, auch wenn ab und zu das Wasser so hoch steigt, dass es unsere Wohnung überschwemmt. Ich deute in eine unbestimmte Ferne. »Da hinten, auf dem Berg.«

»Und das kleine, obdachlose Mädchen? Kann der Staat ihr nicht helfen? Jemand muss doch zuständig sein!«

Ich schnaufe: »Der Staat kümmert sich hier um nichts. Schon gar nicht um Obdachlose.« Zumindest hat er meiner Mutter und mir nie geholfen, als wir auf der Straße leben mussten. Die Zeit ist lange vorbei, aber ich erinnere mich noch zu gut an das Autowrack mit den aufgeschlitzten Sitzen und an die zerbrochenen Seitenfenster, durch die der Wind fegte.

»Ich verstehe nicht, wie ihr so leben könnt. Ich meine, mit der Enge und so. Wie viele Leute wohnen hier? 25 Millionen? 35 Millionen? Ich würde klaustrophobisch werden«, schreibt ein KingJames und jemand anders fügt hinzu: »Wieso macht ihr nichts, damit es euch besser geht? Räumt doch mal den Müll von der Straße!«

Manchmal gehen mir die Asarianer auf die Nerven. Bis vor Kurzem hatte ich keine Ahnung, wie es bei ihnen drüben in Asaria aussieht. Normalerweise hält die Regierung alle Infos darüber unter Verschluss, wahrscheinlich um uns hier in unserer dreckigen, überbevölkerten Stadt nicht neidisch zu

Eyevision hat mir zur Begrüßung eine kleine, rot leuchtende Kugel geschenkt, die sie Eyenet nennen. Diese Kugel kann ich an meinen Laptop stecken und werde durch sie indirekt mit Asaria verbunden. Denn durch das Eyenet habe ich nicht nur Zugriff auf meine Videos, sondern auch auf die Videos von Leuten, die in Asaria durch ihre Augen filmen.

Als ich die ersten Videos von drüben gesehen habe, hatte ich das Gefühl, Funksignale einer fernen Dimension zu empfangen. Ein Paralleluniversum, Millionen Lichtjahre weit weg. Dabei liegt Asaria gerade mal 120 Kilometer von unserer Küste entfernt.

Aber die Welt dort drüben ist völlig anders: Wolkenkratzer aus Glas, die sich wie Pflanzen mit der Sonne drehen. Villen und Schlösser, Parks mit Büschen, die unter ihren Blüten fast zusammenbrechen, Wasserfälle und tiefe Wälder mit seltsamen Tieren. Frauen und Männer mit riesigen Hüten und Fächern, die auf geschwungen Stühlen sitzen und aus winzigen Tassen Espresso trinken. Glänzende Autos, die über den Boden zu schweben scheinen. Kutschen, die von riesigen Pferden gezogen werden. Straßen, so sauber, als könnte man von ihnen essen.

Ich habe Nächte damit zugebracht, diese Videos zu schauen und die Asarianer zu enträtseln, wie ein Forscher eine fremde Kultur, die er am Ende doch nie ganz versteht. Was ich sagen kann, ist, dass sie im Grunde sind wie wir, nur

Jedes Straßenkind würde dort drüben auffallen wie hier eine rosa Möwe. Ihre Welt ist für mich so merkwürdig und faszinierend wie für sie das Elend und die Morde in meiner. Mit dem Unterschied, dass ich sofort rübergehen würde, wenn ich könnte. Ob einer von ihnen mich besuchen würde, bezweifle ich.

»Und wo sollen wir den Müll hinräumen? Und was sollen wir gegen die Enge tun? Wie ihr seht, haben wir schon angefangen, über dem Meer zu bauen, weil kein Platz mehr ist«, antworte ich leicht gereizt.

»Zarbon21, du bist echt ein Arsch. EC00, wenn die Regierung dein Haus abreißt, weil sie nach Rohstoffen sucht, kannst du gerne nach Asaria kommen und bei mir wohnen«, bietet mir Waldfee an.

»Danke, aber dann würde ich auch noch meine Familie mitbringen.«

»Kein Problem, meine Eltern haben ein großes Haus.«

Ein anderer User wirft ein: »Ist es für Leute aus der Provinz nicht verboten, nach Asaria zu kommen? Glaube, wir haben sogar Stacheldraht und Maschinengewehre an der Grenze, falls es jemand mit dem Boot versucht.«

»Oh Mann, das war doch auch nur hypothetisch«, schreibt Waldfee und schickt ein paar Katzen, die die Augen verdrehen.

»Schreib nicht Provinz. Mein Kontinent heißt Cainstorm«, antworte ich.

In diesem Moment spüre ich eine Vibration unter meinen Füßen und höre das lang gezogene Schreien der Sirene. Mit

Absprungbereit stelle ich mich an den Rand des Hausdaches. Die Schienen laufen etwa drei Meter unter mir am Haus entlang. Wenn der Zug kommt, kann ich von hier auf sein Dach springen.

Die Bahn kämpft sich schnaufend die Steigung hinauf. Das stumpfe, abgenutzte Metall reflektiert die Nachmittagssonne. Am höchsten Punkt angekommen, scheint sie für eine Sekunde durchatmen zu müssen, pfeifend entweicht die Luft aus ihren Ventilen. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich springe hinüber und schlinge meine Arme um das erhitzte Metall eines der Schornsteine. Die Bahn ringt kreischend nach Atem und stürzt sich den Abhang hinunter. Fahrtwind rauscht in meinen Ohren und presst mir die Luft aus den Lungen.

Obwohl meine Augen durch den Gegenwind tränen, versuche ich sie offen zu lassen, um meinen Zuschauern gute Bilder zu liefern. Häuser, Brücken und Straßen fliegen rechts und links an mir vorbei und werden in die Länge gezogen wie bunte Streifen. Es geht bergab. Hinunter in den Krater. Adrenalin und ein wildes Glücksgefühl explodieren in meinen Adern. Im Moment ist mir alles andere egal. Geldsorgen, neongelbe Schnürsenkel mit blutigen Flecken und psychopathische Kobra-Graffiti rücken in weite Ferne und lösen sich in Bedeutungslosigkeit auf.

Unten angekommen, jagt die Bahn durch die engen, verwinkelten Straßen. Das schrille, sirenenartige Pfeifen und das Rattern der Räder hallen durch die Häuserschluchten. Fußgänger hechten zur Seite und Autofahrer bremsen abrupt. Unwilliges Kreischen der Bremsen. Funken sprühen und die Bahn wird langsamer, als die erste Haltestelle auf uns

Die letzten Meter haben mich viel Kraft gekostet und ich bin froh, dass es gleich 17 Uhr ist. Dann schaltet sich Eyevision automatisch ab. Hinter dem Tunnel wird die Bahn schnaufend langsamer. Zufrieden mit mir selbst und der letzten halben Stunde springe ich vom Dach und lande auf einem zugewucherten Balkon.

 

Das Licht ist dämmrig, als wäre es schon viel später am Tag. Die Geräusche kommen mir hier unten im Krater immer gedämpft vor, als würde die nebelige Düsternis sie verschlucken. Über mir türmen sich die Häuser, die an den Wänden der Abhänge kleben. An den Fenstern und an der Balkonbrüstung kleben Millionen von winzigen Wassertropfen. Ganz oben erstreckt sich der strahlend blaue Himmel.

»Jetzt sind wir in einem der Löcher. Ihr könnt es nicht spüren, aber es ist hier unten bestimmt fünf Grad kälter.«

Die hohen Fenster sind von innen schwarz angemalt. Ich muss also keine Angst haben, dass mich jemand sieht. Trotzdem frage ich mich, wer hier wohnt. Das Gebäude wirkt

»Das war die krasseste Achterbahnfahrt meines Lebens«, hat ein User geschrieben.

Ein anderer freut sich: »Meine Schwester hätte fast gekotzt, als es um die Kurve ging.«

»Warum hält der Zug nicht an den Haltestellen?«, will Zarbon21 wissen.

»Die Züge haben nicht mal Lokführer. Sie fahren einfach immer. Selbst wenn etwas passiert, halten sie nicht an.«

Ich biege um eine Ecke des Balkons und schaue aus dem ersten Stockwerk in einen düsteren Innenhof, der von hohen Backsteingebäuden eingerahmt ist. Wilder Farn und eine dicke Moosschicht überziehen den Betonboden. Ein riesiger gemauerter Schornstein überragt das Ganze. Vielleicht sollte ich da mal hochklettern? Die Häuser starren mich aus ih-ren toten, schwarzen Augen an. Gedämpfter Straßenlärm ist aus der Ferne zu hören, sonst ist es seltsam still. Zu still. Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr. Eine der Türen hat sich geöffnet und heraus gleitet eine Gestalt, geräuschlos wie ein Schatten. Das Mädchen erstarrt in ihrer Bewegung, als es mich sieht. Gehetzt starrt sie mich an.

»Hey, was…«, setze ich an, aber ein Hecheln lässt mich herumfahren. Ein Pitbull stürzt wie ein Pfeil aus einer der Türen, rast an mir vorbei und will nach dem Bein des Mädchens schnappen. Blitzschnell trete ich auf die Leine, die er hinter sich herschleift, reiße den Hund zurück und knote das Leder mit einer Schlinge um einen Pfeiler. Der Hund fährt wütend bellend zu mir herum, aber ich bin schneller, springe aus seiner Reichweite und seine Zähne schnappen ins Leere. Das Mädchen hat ein Bein über das Geländer geschwungen. Ihre Lippen formen nur ein Wort: ›Renn!‹ Dann springt sie und landet im dicken Moos des Hofes. Sie richtet sich auf und verschwindet hinter der nächsten Mauerecke.

»Wo ist sie?« Meine Augen sind wie hypnotisiert auf die rasiermesserscharfe Klinge gerichtet. »Ist sie zu den Bahngleisen? Hä?«

Er steht zu dicht. Ich kann nicht weglaufen. Vorher bohrt er mir das Messer in den Rücken. Also setze ich mein ›Fass mich an und ich schlage dir alle Zähne aus‹-Gesicht auf, blicke ihn direkt an …

Und erstarre.

Auf seiner Stirn prangt eine Schlange mit aufgerissenem Maul. Von ihren Zähnen tropft Gift. Die Worte ›Las Culebras‹, die sich quer über seinen Hals ziehen, muss ich nicht mehr lesen, um zu wissen, wer er ist oder zu wem er gehört. Wie ein böses Omen schiebt sich das kleine Holzkreuz mit den vertrockneten Blumen in meine Gedanken. Er ist einer von denen, die Fernando den Eismann auf dem Gewissen haben.

»Sie ist über die Bahngleise gelaufen«, antworte ich, um Zeit zu gewinnen.

Der Köter zerrt heulend an seiner Leine und Schlangenkopf spuckt auf den Boden. »Du lügst.«

Er ist muskulöser als ich, vielleicht Mitte zwanzig, aber nicht größer. An seinen Bewegungen erkenne ich, dass er unkonzentriert ist. Fast hektisch. Vielleicht hätte ich sogar eine Chance, wenn da nicht das Messer wäre. Ich bin unbewaffnet. Las Culebras erlauben uns nicht, Waffen zu tragen. Wenn sie jemanden mit einem Messer erwischen, der nicht zur Gang gehört, wird er bestraft.

Er zerschneidet die Luft vor meinen Augen, wippt von einem Bein aufs andere und wischt sich mit der freien Hand durchs Gesicht, als könnte er keine Sekunde still stehen. Ich rieche sein Aftershave. Banane. So intensiv, dass es fast seinen sauren Atem, vermischt mit Alkohol, dem Gestank nach Rauch und ungewaschener Kleidung, überdeckt.

»Weil du ihr Freund bist! Was machst du sonst hier?«

»Ich habe sie noch nie gesehen.«

»Naaa klaaar«, höhnt er. »Wie bist du hier überhaupt reingekommen?«

»Über die Schienen. Da war kein Zeichen, dass der Platz euch gehört!«

»Da war aber auch kein Zeichen, dass du hier einfach reinkommen darfst, oder?«

Er grinst breit und entblößt seine fehlenden Schneidezähne. Wie tollwütig sticht er nach mir. Ich weiche aus, die Wand im Rücken, die Klinge streift mich am Arm und schneidet durch den Pullover bis in die Haut. Mein Herz rast. Ich habe mich schon oft geprügelt. Aber nicht mit Leuten, die ein Messer hatten.

Schlangenkopf meint es ernst. Ich sehe es in seinen Augen. Er will mich töten und er hat Spaß dabei. Er greift wieder an und versucht, mir das Messer in die Seite zu rammen. Wieder blocke ich mit meinem Arm und spüre einen Schnitt. Meine Ärmel sind zerfetzt. Blut tropft auf den Boden, ich balle die Hände. Aber er grinst nur sein schneidezahnloses Grinsen.

»Der Blassfisch hat dich hier zum Sterben zurückgelassen, hä?« Seine Augen sind Tunnel des Wahnsinns, Pupillen wie Nadelköpfe, sein Gesicht eine Maske aus Vorfreude und

Ich blocke das Messer, ramme ihm die Faust gegen das Kinn. Er stolpert rückwärts, zieht mich mit sich und wir stürzen gegen das morsche Holz des Geländers. Es ächzt und knallt. Holzsplitter fliegen durch die Luft. Ich falle, schlage im Hof auf weichem, feuchtem Moos auf, rolle ab, will wegrennen, aber Schlangenkopf ist über mir und reißt mich zu Boden.

Etwas Hartes bohrt sich in meinen Rücken. Das Messer. Ich liege auf dem Messer. Er muss es während des Falls verloren haben. Schlangenkopf ist über mir. Sein Gesicht vor Wut verzerrt. Sein Gewicht drückt mich auf den Boden. Brüllend hebt er die Faust. Mit der einen Hand wehre ich verzweifelt seinen Schlag ab, mit der anderen greife ich unter meine Seite, taste nach dem Messer. Von oben höre ich lautes, hysterisches Kläffen. Der Köter glotzt durch die zersplitterte Balkonbrüstung. Schlangenkopf beugt sich nach vorne, seine Hand schließt sich eisern um meinen Hals, mit der anderen schlägt er wieder zu und diesmal trifft er. Entsetzte Katzen-Emojis tanzen vor meinen Augen und ich verliere die Orientierung. Text rast an meinem inneren Auge vorbei und im Nebel meiner Gedanken realisiere ich, dass ich aus Versehen den Chat aktiviert habe. Meine Finger stoßen an das Messer, ich versuche es zu greifen, will es unter meinem Rücken herausziehen. Schlangenkopf bemerkt es nicht. Wütend zischend legt er beide Hände um meinen Hals und

 

Blut fließt aus seinem Mund, tropft auf mein Gesicht. Er blickt zu mir herunter. Erstaunt. Seine Hände um meinen Hals lockern sich, endlich. Seine Arme sinken zu Boden und ich stoße ihn von mir. Kraftlos kippt er zur Seite. Ich rolle weg, springe auf. Er versucht, Luft zu holen, aber jetzt ist er derjenige, der röchelt. Tiefes, schauriges Blubbern kommt aus seinen Lungen.

»Das war ein Fehler … Mordaz … Mordaz …« Seine Stimme ist ein böses, zischendes Flüstern. »Er wird dich zerlegen …«

Schaumiges Husten. Seine Hand formt sich zu einer Art ›C‹. Eine Schlange mit geöffnetem Maul. Zuckend fällt er nach hinten und ich kann nicht sagen, ob er von Krämpfen geschüttelt wird oder wieder lautlos lacht. Mit einem eigenartigen, fast mechanischen Flattern schließen sich seine Augen und die Schlange auf seiner Stirn starrt mich hasserfüllt an. Schweres Atmen, dann Stille. Blut rinnt ins Moos und vermischt sich mit den Wassertropfen. Ein winziger Frosch hüpft aus dem Farn und betrachtet das blutige Szenario gleichgültig.

Ich weiche zurück, blicke auf meine Hände. Mein Kopf ist leer. Meine Kleidung, meine Arme, meine Hände, alles ist voller Blut. Ich habe einen Menschen umgebracht. Entsetzt

 

Nein, korrigiere ich mich. Ich habe einen von Las Culebras umgebracht, und zwar vor laufender Kamera.

Ich fühle mich, als sänke ich auf den Grund des Ozeans. Gewichte an meinen Füßen, schwer wie Blei. Auf meinen Ohren lastet ein seltsamer Druck. Meine Gedanken überschlagen sich in Panik. Wir waren laut. Verdammt laut. Hat uns jemand gehört? Der Pitbull reißt noch immer an seiner Leine und heult dabei ausdauernder als jedes Schlossgespenst. Stumm starren die schwarzen Fenster auf mich herab. Ich muss hier weg. So schnell wie möglich. Ich könnte eine Hauswand hinaufklettern, aber wenn einer von Schlangenkopfs Freunden auftaucht, hänge ich dort wie eine Motte im Scheinwerferlicht. Mein Blick fällt auf eine Metalltür, auf der anderen Seite des Hofes. Ist das Mädchen dadurch verschwunden? Ich laufe auf die Tür zu, albtraumhaft langsam. Sie öffnet sich ohne Widerstand, lautlos. Ich flüchte in die Dunkelheit. Es riecht nach Staub und Dreck. Zitternd taste ich mich an Kisten und zerbrochenen Möbeln entlang, während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. ›Ich lebe und sterbe für Las Culebras‹, ist mit blutroter Farbe an die Wand gesprüht. Ich halte inne. Lausche. Straßenlärm und die Sirenen der Züge dringen gedämpft durch die Wände. Aber da ist noch etwas. Musik. Vielleicht Tango,

Vorsichtig öffne ich sie und mein Herz macht vor Erleichterung einen Satz. Keine messerschwingenden Wahnsinnigen, kein Köter mit Stachelhalsband. Geduckt folge ich den Fußspuren, die über Treppen und durch zugestellte Flure führen, zu einem zerbrochenen Fenster. Glas knirscht unter meinen Füßen. Hat sie es eingeschlagen? Es ist der Weg nach draußen. Ich schwinge mich auf die Fensterbank.

Ein wütender Schrei zerreißt die Stille.

Wummernde Schritte fliegen die Treppe herauf. Ich springe aus dem Fenster, lande auf dem Nachbardach. Mein Gehirn ist so leer, als hätte ein Staubsauger sämtliche Gedanken aufgesaugt und nur den einen einzigen übrig gelassen: Renn. Ich stürze vorwärts, springe über Abgründe, jage kopflos über Terrassen und Dachgärten, über Dächer und Mauern, bis ich das Gefühl habe, meine Lungen müssten zerreißen. Leute starren mir hinterher. Erstaunt. Aber ich achte nicht auf sie. Ich will nur weg. Raus aus dem Krater.

Auf halbem Weg breche ich hinter einem Schornstein zusammen. Atme stoßweise ein und aus. Hitze pulsiert durch meinen Körper, als stünde ich in Flammen. Mit geschlossenen Augen versuche ich, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen. Straßenlärm, Autohupen und Kindergeschrei dringen wie durch Watte zu mir.

 

Ich darf die Nerven nicht verlieren. Ich muss nach Hause, zu meinem Laptop, und das Video löschen. Schlangenkopfs letzte Worte über diesen Mordaz, der mich ›zerlegen‹ wird, jagen mir einen nasskalten Angstschauer über den Rücken und ich spüre Schlangenkopfs Hände wieder um meinen Hals. Ich schüttele die Gedanken ab und ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf.

Das Dach endet an einer Wand, die mir den Weg versperrt. Ich klettere nach unten in die Gasse, haste um eine Ecke und stolpere fast über zwei Kinder, die mit Kreide Häuser auf den Asphalt malen. Sie starren mich erschrocken an, während ich versuche, nicht auf ihre Holzautos zu treten. Beide folgen

Hier unten im Krater herrscht zwar Dämmerlicht, aber die Straßen sind voller Menschen. Frauen sitzen mit ihren Kindern auf Treppenstufen, rauchen und schwatzen. Ein paar Jugendliche jagen einen Hund, und Männer reparieren einen Motor. Ich ziehe mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, aber es ist zwecklos, sich klein und unauffällig machen zu wollen. Die Gassen sind zu schmal, jeder sieht mich. Also versuche ich, so selbstbewusst zu laufen, als sei es völlig normal, von oben bis unten mit Blut bespritzt zu sein. Meine Ärmel sind klebrig. Die roten Flecken ziehen sich den Stoff hinauf, wie langsam wachsender Schimmel.

»Hey, Junge! Bist du in einen Fleischwolf gefallen? Komm her, wir geben dir ein Bier aus.« Gackerndes Lachen.

Ein Mann springt in meinen Weg. »Der braucht mehr als ein Bier«, stellt er fest.

Ich dränge mich an ihm vorbei. »Ich habe Nasenbluten. Schon seit drei Stunden.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein.

Der Mann lässt mich vorbei und ruft mir hinterher: »Seit

Ich hetze weiter und drücke mich möglichst unauffällig in einen Innenhof. Über eine Treppe gelange ich auf einen Dachgarten, ziehe mich vorsichtig über eine Mauer und atme erleichtert aus: Zwischen den Schornsteinen hängt Wäsche an langen Leinen. Ich tauche zwischen den Klamotten hindurch, schnappe mir einen schwarzen Pullover und ziehe ihn über den grauen. Auf dem Schwarz wird das Blut nur schwer zu sehen sein.

Von der Kante des Daches aus kann ich unter mir die Bahnstation sehen. Am liebsten würde ich wieder auf dem Waggondach mitfahren, aber meine Hände zittern und der Blutverlust zieht die Kraft aus mir.

 

Ein paar rostige Autos parken vor der Station. Die meisten Seitenspiegel sind abgebrochen oder eingeschlagen und ich suche, bis ich einen einigermaßen heilen finde, und betrachte mein Gesicht. Unter der Bräune bin ich bleich wie ein Gespenst und in meinen Augen sind rote Adern geplatzt, die mich an einen Zombie mit Schlafproblemen erinnern. Ich tippe mit den Fingern neben mein Auge. Die Haut ist geschwollen, wo mich Schlangenkopf mit der Faust getroffen hat. Aber tief in meinem Inneren spüre ich plötzlich Genugtuung. Ich lebe! Schlangenkopf hatte das Messer und den Hund. Trotzdem ist er es jetzt, der ein Holzkreuz und Blumen braucht. Fernando, ich hoffe, du hast von wo auch immer zugesehen, wie ich diesen Idioten erledigt habe!

 

Die Bahnstation ist voll. Die Leute haben Feierabend und wollen so schnell wie möglich nach Hause. Dicht gedrängt stehen sie auf der schmalen Betonplattform. Meine Arme

Nach endlosen zwanzig Minuten erreiche ich mein Viertel, unten am Strand. Mit wackeligen Beinen stolpere ich auf die Betonplattform. In zehn Minuten werde ich meinen Kanal und das Video gelöscht haben. Niemand wird es dann noch sehen können. Möwen ziehen kreischend ihre Runden und ich sauge die kühle, salzige Luft in meine Lungen wie Medizin.

Hinter dem Bahnsteig erhebt sich eine riesige Betonmauer, die mit leuchtend blauen, verschlungenen Buchstaben bemalt ist: Caramujo, der Name meines Viertels. An vielen Stellen sind Löcher in den Beton geschlagen. Die Bewohner hinter der Mauer haben sich Fenster gebohrt und Wäscheleinen von einem improvisierten Fenster zum anderen gespannt.

Ivy sitzt in einem der unteren Fenster und liest ein Buch. Als sie mich sieht, winkt sie. Ihr langes hellbraunes Haar weht leicht im Wind und ich muss an Rapunzel denken. Ivy und ich waren mal zusammen. Manchmal gehen wir noch zusammen an den Strand oder Eis essen. Angespannt winke ich zurück und grinse dabei so mechanisch wie ein Roboter.

Eine schmale Treppe mit ausgetretenen Stufen führt in das Viertel hinein. Leute kommen mir entgegen, bepackt mit

»Hey, Emilio, du siehst blass aus. Alles klar bei dir?«

Ich halte mir den Bauch und grinse schief: »Hab verdorbenen Fisch gegessen.«

Sie lachen. »Hat der Fisch dir vorher aufs Auge gehauen?« Ihr sorgloses Gelächter schallt hinter mir her.

Die Treppe endet in einer Gasse, gerade breit genug, um einen Fischkarren hindurchzuschieben. Hinter den vergitterten Fenstern ertönt das Geklapper von Geschirr und Essensgeruch zieht über die Straße. Familien sitzen in ihren Höfen in der Abendsonne, unterhalten sich, Leute spielen Gitarre, manche flicken Netze. Die meisten Bewohner von Caramujo sind Muschelsammler, Fischer oder Perlentaucher. Ihre Häuser sind blau oder türkis gestrichen und mit Seeschlangen und Meerjungfrauen bemalt. Caramujo ist eins der besseren Viertel.

Unser Haus liegt tief im Gewirr der Gassen. Das Hoftor steht weit offen und ich höre Kinderlachen. Alles ist so aufreizend normal, dass mir die Begegnung mit Schlangenkopf wie ein schlechter Traum erscheint, der sich etwas zu weit in die Realität geschoben hat. Meine Mutter Carilla und die Nachbarinnen sitzen unter dem alten Olivenbaum auf Planen und sortieren winzige Fische. Mit einem Messer schneiden sie die Bäuche auf und holen bunte Plastiksplitter aus den Mägen. Die Abendsonne lässt die schwarzen Haare meiner Mutter leuchten. Lachend unterhält sie sich mit den