Löw, Mia Das bretonische Haus der Lügen

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ISBN 978-3-492-99146-9
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign
Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von shutterstock.com

 

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Eine Lüge ist wie ein Schneeball:
Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er.

Martin Luther

Prolog

Riquewihr, Elsass, Juli 1985

An diesem Hochsommertag lag eine bleierne Hitze über dem Weinort, der wegen seines unversehrt aus dem sechzehnten Jahrhundert erhaltenen Stadtbilds als eines der schönsten französischen Dörfer galt. Im Stadtkern reihten sich die Fachwerkhäuser zu einer malerischen Kulisse aneinander.

Doch von der Schönheit dieser Perle der elsässischen Weingegend nahm Caroline wenig wahr. Wie getrieben eilte sie durch die Gassen, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Jean hatte ihr einen Stadtplan zukommen lassen, in den er die Adresse eingezeichnet hatte. Und er hatte sie angewiesen, den Wagen unten im Ort zu parken und den Weg bis zu dem etwas außerhalb liegenden Haus zu Fuß zurückzulegen.

Sie trug einen großen Sonnenhut und wirkte in ihrem Modellkleid wie eine elegante Touristin. Niemand hätte sie für eine gesuchte Sympathisantin der Action directe gehalten, einer linksradikalen Untergrundorganisation. Unter ihrer damenhaften Verkleidung lief ihr der Schweiß allerdings den Nacken hinunter. Und das lag nicht nur an der sommerlichen Hitze, sondern an ihrer inneren Anspannung und der Angst, enttarnt zu werden, bevor sie sich freiwillig stellen konnte. Denn nur zu diesem Zweck hatte sie ihr Versteck im Schwarzwald verlassen und war über einen Riesenumweg schließlich im Elsass angekommen, um ihren Geliebten zu treffen. Gemeinsam wollten sie sich den französischen Behörden stellen. Sie war auf dem Weg dorthin über die Bretagne gefahren, um in Evas Ferienhaus noch einmal … sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, ohne in Tränen auszubrechen.

Da fiel ihr ein, dass sie Eva anrufen sollte, sobald sie in Riquewihr angekommen war. Also steuerte sie auf ein Weinlokal zu, das um die Mittagszeit bis auf den letzten Platz besetzt war.

»Darf ich wohl einmal kurz Ihr Telefon benutzen?«, fragte sie in akzentfreiem Französisch, denn sie hatte zwei Jahre Philosophie und Geschichte an der Sorbonne studiert und später an einer internationalen Schule in Paris Deutsch und Geschichte unterrichtet.

Der Kellner reichte ihr das Telefon, und sie wählte Evas mobile Nummer, die sie auswendig kannte. Die Freundin wirkte seltsam hektisch, als wäre sie auf der Flucht. »Wann wirst du denn im Haus sein, Caro?«, wollte sie statt einer Begrüßung wissen.

»In zehn Minuten bin ich dort. Ich melde mich, sobald es vollbracht ist und ich telefonieren darf«, erwiderte Caroline knapp. Sie wollte sich nicht allzu lange in diesem Lokal aufhalten. Ihre Angst, dass man sie fasste, bevor sie freiwillig aussteigen konnte, gewann immer mehr Macht über sie. Wahrscheinlich würde sie erst aufatmen, wenn Jean wie verabredet bei Einbruch der Nacht zu ihr gestoßen war.

Caroline legte ein paar Münzen auf den Tresen und bedankte sich, bevor sie fast fluchtartig das Restaurant verließ. Sie entspannte sich merklich, als sie das Ortszentrum hinter sich gelassen hatte und auf der einsamen Dorfstraße keinem Menschen mehr begegnete. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Elsass nahm sie auch ganz bewusst den typischen Geruch von Holzkohle wahr, der zu jeder Jahreszeit über den elsässischen Weindörfern waberte. Ein wehmütiger Gedanke an die Frankreichreisen mit ihren Eltern, die oft auch durch das Elsass geführt hatten, überkam sie. An damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen war und sie in ihrem Vater den liebevollen Patriarchen gesehen hatte … Damals, als sie nicht geahnt hatte, dass er seinen Reichtum der sogenannten Arisierung zu verdanken hatte. Und dass nicht seine Familie das erfolgreiche Kaufhaus gegründet hatte, sondern die jüdische Familie Weizmann, die enteignet worden war. Später hatte man dann frech behauptet, der Verkauf sei völlig freiwillig erfolgt. Noch immer stieg eiskalte Wut in ihr auf, wenn sie sich vorstellte, wie sich ihr Großvater das Unternehmen seines ärgsten Konkurrenten unter den Nagel gerissen hatte.

Sofort war der Erinnerungsfetzen an romantische Hotels und großartige Essen im Elsass mit den Eltern und den Geschwistern von dem allmächtigen Schatten der Wahrheit überdeckt. Caroline würde den Augenblick nie vergessen, in dem sie begreifen musste, dass ihr liebster Papa sich als Nutznießer am Elend eines Juden entpuppt hatte. Es war zwar ihr Großvater gewesen, der dank seiner Parteizugehörigkeit diesen Deal eingefädelt hatte, aber der Papa hatte ihn brav mitgetragen. Schon damals war er nämlich die rechte Hand seines Vaters gewesen und war an dem schmutzigen Handel beteiligt gewesen. Mehr noch, auch seine Unterschrift prangte unter dem vertraglichen Machwerk. Zuerst hatte Caroline das alles nicht glauben wollen. Nicht ihr Papa, der so viel Gutes tat, der für seine Mitarbeiter soziale Leistungen erbrachte, von denen andere nur träumten. Nicht ihr Papa, den sie eher für einen verkappten Sozialisten gehalten hatte. Doch der junge blasse Fremde, der ihr aufgefallen war, weil er Tag für Tag vor dem Kaufhaus herumgelungert hatte, hatte ihr schließlich die Augen geöffnet. Herr Weizmann hatte ihr äußerst glaubwürdig versichert, das Kaufhaus Manzinger sei bis zum Jahr 1934 im Besitz seiner Familie gewesen. Auf Carolines Verlangen hatte er ihr zum Beweis die entsprechenden Dokumente gezeigt, woraufhin ihr der Bruch mit ihrer Familie unvermeidbar erschienen war. Mit solchen Leuten wollte sie jedenfalls nichts zu tun haben! Obwohl ihr Vater dem jungen Mann sogar unter der Hand eine Entschädigung gezahlt hatte, die dieser angenommen hatte, weil ihm der Rechtsweg wenig erfolgversprechend erschienen war, war Carolines Achtung und Liebe für ihren Vater in Verachtung umgeschlagen. Sie war auf eigenen Wunsch hin noch in demselben Jahr in ein Internat gegangen und hatte mit der Familie innerlich gebrochen. Auch mit ihrer Mutter, die von allem gewusst hatte.

Caroline war damals gerade erst fünfzehn gewesen, aber ihr Vater hatte sie kampflos ziehen lassen. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, die rebellische Tochter gegen ihren Willen im Haus zu halten. Sie wäre dann mit Sicherheit ausgerissen. Unter diesen Voraussetzungen hatte ihr Vater es als die bessere Alternative gesehen, sie in ein Schweizer Internat zu geben. Das verschaffte ihm sogar eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz, war die Eliteschule doch auch in Deutschland wohlbekannt, weil dort die Kinder einiger namhafter Prominenter untergebracht waren, was Caroline allerdings nicht die Bohne interessiert hatte. Zur Schickimicki-Clique, wie Eva und sie diese Mitschülerinnen abfällig bezeichnet hatten, hatte sie Abstand gehalten. Für sie war das Internat die Flucht aus einer Familie, in der die Gier jeden Anstand fraß, wie Caroline ihrem Vater wörtlich vorgeworfen hatte.

Ihre beiden älteren Brüder fanden die Reaktion überspannt, denn schließlich habe der Papa keine Menschen umgebracht, so ihre Argumentation, aber Caroline war hart geblieben. Unter die Brücke aber war sie auch nach ihrem Abitur nicht gezogen, sondern hatte sich das Studium schweren Herzens von ihrem Vater finanzieren lassen. Zwangsläufig, weil sie niemals BAföG bekommen hätte. Dafür hatte sie auf ihr Erbe verzichtet. Von dem Blutgeld, wie sie das nannte, wollte sie keinen Pfennig. Doch daran hatte sich ihre Mutter nicht gehalten, sondern ihr nach dem Herztod ihres Mannes eine stattliche Summe überwiesen, die Caroline lange nicht angerührt hatte. Doch dann, nachdem sie ihren Job an einer internationalen Schule in Paris Hals über Kopf hatte aufgeben müssen, war ihr das Geld sehr zugutegekommen. Natürlich hatte ihre Mutter erwartet, dass sie den Kontakt zur Familie nach dem Tod des Vaters wiederaufnehmen würde, aber Caroline hatte ihr in einem Brief dargelegt, dass sie nicht über ihren Schatten springen könne. Ein einziges Mal nur hatte sie an ihrer Sturheit gezweifelt. Das war am Anfang ihrer Schwangerschaft gewesen, als sie sich die Frage gestellt hatte, wer denn für das Baby sorgen solle, während Jean und sie sich im Untergrund aufhalten mussten. Doch Eva hatte ihr die Idee, das Baby Carolines Mutter anzuvertrauen, rigoros ausgeredet. Stattdessen hatte sie sich bereit erklärt, für das Kind zu sorgen und es wie ein eigenes aufzuziehen, bis sich Caroline wieder selbst um ihr Kind kümmern konnte. Ja, Eva hatte sich sogar eine rechtlich wasserdichte Erklärung von Caroline geben lassen, in der sie für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte, Eva zur Sorgeberechtigten ihres Kindes erklärte. Immer wenn Caroline an ihre kleine Adrienne dachte, wurde ihr speiübel bei dem Gedanken, sie womöglich erst in einigen Jahren wiederzusehen, sollte man sie wider Erwarten zu einer hohen Haftstrafe verurteilen. Wenn sie Jeans Schwüren Glauben schenkte, durfte das eigentlich nicht geschehen. Er war so sicher, dass man sie, wenn er sich mit ihr zusammen stellte, verschonen werde. Die Franzosen waren scharf auf seinen Kopf, nicht auf ihren. Sie galt lediglich als Geliebte von Jean, eine unwichtige Mitläuferin, die nur an einem einzigen Banküberfall beteiligt gewesen war, bei dem überdies wenig Geld erbeutet und niemandem ein Haar gekrümmt worden war. Letzteres war auch das Pfund, mit dem Jean den Behörden gegenüber wuchern konnte. Kein Überfall, an dem er je beteiligt gewesen war, hatte Dritte in Lebensgefahr gebracht. Bei allem Groll Jeans gegen das korrupte System, wie er es nannte, war er tief in seinem Herzen ein Pazifist geblieben, der den Tod von Menschen nicht ernsthaft in Kauf nehmen würde, nicht einmal im Namen der Revolution. Diese innere Gespaltenheit hatte ihn auch in seiner Gruppe zunehmend isoliert. Aber auch jetzt, da er sich selbst stellen wollte, würde er niemanden verraten. Das wussten auch die Genossen.

Carolines Gedanken schweiften erneut zu Eva ab. Natürlich war Adrienne bei Eva und ihrem Mann Martin wesentlich besser aufgehoben als bei ihrer Mutter, zumal die Kleine mit Jannis einen älteren Bruder und somit eine heile Familie hatte. Wobei Caroline arge Zweifel hegte, ob in der Ehe ihrer Freundin wirklich alles im Lot war. Martin kam schon seit vielen Sommern nicht mehr mit nach Ploumanac’h, und ihre Freundin schien diversen Flirts vor Ort gegenüber sehr aufgeschlossen zu sein. Obwohl Caroline wahrlich kein Moralapostel war, befremdete sie Evas Verhalten schon ein wenig, zumal sie Martin irgendwie mochte.

Caroline hatte Eva mit knapp sechzehn in dem Schweizer Internat kennengelernt. Die beiden hatten einander auf Anhieb gemocht. Und Caroline hatte große Hochachtung vor Evas Familie. Evas Großeltern hatten auf ihrem Gutshof bei Köln während des Zweiten Weltkriegs eine jüdische Familie versteckt. Das hatte Caroline mächtig imponiert und ihr endgültig bewiesen, dass man sehr wohl auch anders handeln konnte als ihr Vater, der seiner Lieblingstochter geschworen hatte, er habe doch nicht anders gekonnt. Doch das Argument war durch das mutige Verhalten eines aufrechten Mannes wie Hartmut von Wörbeln ad absurdum geführt worden. Er hatte seine Eltern mit Rat und Tat unterstützt, obwohl er damals Offizier in Hitlers Wehrmacht gewesen war. Caroline war in die Familie der Freundin jedenfalls wie ein zweites Kind aufgenommen worden. Hartmut von Wörbeln schätzte Carolines kritischen Geist, obwohl er ihre politischen Ansichten keinesfalls teilte. Aber die beiden liebten es, schonungslos miteinander zu diskutieren, was in Carolines Elternhaus nicht möglich gewesen wäre.

Caroline hatte seitdem ihre Ferien stets im Haus der Familie von Wörbeln in der Bretagne und die Weihnachtsfeste auf dem Gut bei Köln verbracht. Caroline war kein einziges Mal in all den Jahren in ihr Elternhaus nach Freiburg zurückgekehrt, auch nicht zur pompösen Beerdigung ihres Großvaters, obwohl der Vater in einem Brief ausdrücklich um ihre Anwesenheit gebeten hatte. Sie hatte auf einer Postkarte mit einer sehr klaren Absage geantwortet. Ich weiß, man soll den Toten verzeihen, aber wenn ich seine alten Seilschaften auf dem Friedhof sehe, dann muss ich kotzen. Nur ein einziges Mal war sie nach Freiburg gereist, zur Beerdigung ihres Vaters, aber da hatte sie sich heimlich in die Kirche geschlichen und in der letzten Bank um den Papa getrauert, den sie einst über alles geliebt hatte. Dort hatte sie auch Arthur wiedergesehen, den jüngeren ihrer beiden älteren Brüder. Ihm war sie ewig dankbar, dass er über ihre Anwesenheit in der Kirche geschwiegen hatte, denn die anderen hatten sie mit ihrer lächerlichen Perücke gar nicht erkannt. Vor allem aber hatte er ihr kürzlich das Versteck besorgt, und das, obwohl sie ihm die Wahrheit gestanden hatte. Sie hatte ihn in ihrer Not in seiner Kanzlei angerufen, nachdem sie auch zu ihm nach der Beerdigung des Vaters nie wieder Kontakt aufgenommen hatte. Von Arthur stammte der geniale Vorschlag, sie in der Jagdhütte der Familie im Schwarzwald unterzubringen. Ja, er hatte sie sogar dorthin gefahren. Er war ein feiner Kerl, dem sie auch ohne Zögern Adrienne anvertraut hätte. Aber sie konnte Eva schlecht das Kind wieder wegnehmen. Schließlich hatte sie ihrer Freundin so viel zu verdanken. Allein, dass sie stets großzügig zugelassen hatte, dass Caroline von deren Eltern wie ein eigenes Kind behandelt worden war. Natürlich hatte auch Eva etwas davon gehabt. Sie hatte die Schwester bekommen, die sie sich als Einzelkind immer gewünscht hatte.

Carolines Wahlfamilie waren die von Wörbelns jedenfalls zeitlebens geblieben, wobei Caroline mit den politischen Ansichten von Evas Eltern längst nicht konform ging. Zumindest aber tolerierte sie deren liberale Ansichten.

Auch Eva und sie waren in ihren politischen Einstellungen eher wie Feuer und Wasser. Eva war in Carolines Augen eine unpolitische Ignorantin, die mit ihrem Kreuz für die SPD alle vier Jahre die Reaktion wählte. Caroline hatte sehr zum Kummer der Familie von Wörbeln schon als Jugendliche mit diversen K-Gruppen sympathisiert und war mit den Jahren immer radikaler geworden. Trotzdem war der Kontakt auch während Carolines Studium nicht abgerissen, und sie hatte nach wie vor jeden Sommer im Ferienhaus von Evas Familie in Ploumanac’h verbracht, wenngleich Evas ganzer Lebensstil Caroline immer fremder geworden war. Sie konnte anfangs gar nicht verstehen, dass ihre Freundin den soliden Martin geheiratet hatte, obwohl sie doch einen anderen liebte. Mit Martin hatte sie auch das Gut ihrer Eltern übernommen, nachdem diese eine Finca im warmem Südspanien gekauft und bis zu ihrem Tod dort gelebt hatten. Caroline schätzte Martin zwar wegen seiner Unverstelltheit und Aufrichtigkeit, aber er entsprach so ganz und gar nicht Evas und ihrem gemeinsamen Beuteschema, denn das waren geheimnisvolle und spannende Männer. Mit ihm an ihrer Seite entfernte sich Eva vom aufregenden Leben, das sich die beiden Teenies ausgemalt hatten, wenn sie sich im Internat nachts in ein Bett gekuschelt und sich gegenseitig ihre geheimsten Träume verraten hatten.

Caroline hingegen lebte in einer Wohngemeinschaft in Berlin und hatte einen Assistentenjob an der Uni bei den Soziologen. So zog es sie weniger auf das Gut, in dem Eva und Martin in großbürgerlichem und konventionellem Stil lebten. Die gemeinsamen Sommer mit Eva in der Bretagne aber waren eine Tradition, an der Caroline trotz ihrer unterschiedlichen Entwicklung festhielt.

Dass Caroline ausgerechnet in Evas liberalem Dunstkreis ihre Sympathie für die RAF und die AD entdeckt hatte, war eine Ironie des Schicksals. Die magische Begegnung mit Jean hatte ihr Leben von einem Augenblick zum nächsten von Grund auf verändert. Seine Eltern besaßen ein Ferienhaus in Ploumanac’h ganz in der Nähe von Evas Familie. Schon als sie den attraktiven Franzosen in ihrem ersten Sommer in der Bretagne kennengelernt hatte, war sie schockverliebt gewesen, hatte ihn jedoch nur von ferne angeschwärmt. Aus zwei Gründen war er für sie tabu: Ihm eilte der Ruf eines gefährlichen Schürzenjägers voraus, und Eva war ebenfalls total verschossen in ihn. Dann hatte sie ihn ein paar Sommer lang nicht gesehen, denn er war inzwischen verheiratet, und seine Frau mochte das Haus in der Bretagne nicht. Auf einem von Evas legendären Sommerfesten vor drei Jahren waren sie sich dann wieder begegnet. Es hatte dermaßen gefunkt zwischen ihnen, dass es keinem der Gäste verborgen geblieben war. Auch Eva nicht, die sie intensiv vor dem politisch verwirrten Don Juan gewarnt hatte. Doch allen Warnungen zum Trotz waren sie noch in derselben Nacht ein Paar geworden. »Er wird dir das Herz brechen und dich mit in Abgrund reißen«, hatte Eva ihr am nächsten Morgen düster prophezeit. Stattdessen hatte Jean in ihr die Liebe seines Lebens gefunden, wie er immer wieder betonte. Dabei brauchte er gar nichts zu sagen. Caroline spürte es auch ohne Worte. Sie hatte damals gerade eine Trennung von einem Genossen aus ihrer K-Gruppe hinter sich, der der Meinung war, er müsse unbedingt zwei Frauen gleichzeitig lieben. Caroline hielt das allerdings für vorgeschoben und sah den Grund eher in einer blutjungen Neugenossin, die förmlich an Bernds Lippen hing, wenn er über die Revolution parlierte, und ihn ganz für sich wollte. Bernd war überhaupt ihr erster deutscher Freund gewesen. Im Internat hatte sie einen jungen Mann aus Zürich gehabt, im Studium dann diverse französische Kommilitonen, aber sie war sehr flatterhaft gewesen. Eigentlich stellte sie bei Jean zum ersten Mal infrage, ob die freie Liebe wirklich die sexuelle Erfüllung schlechthin war. Bei ihm, so hatte sie Eva gestanden, fühlte sie sich merkwürdig monogam. Und das mit Ende zwanzig. Bis dahin waren auch Kinder für sie kein Thema gewesen. Nur um Jean nahe zu sein, hatte sie Deutschland und ihren Job an der Uni aufgegeben und die Stelle in Paris angetreten. Alles in der Hoffnung, dass er sich von seiner Frau trennte und zu ihr bekannte. Und das, obwohl sie längst wusste, dass er sich der AD angeschlossen hatte. Das hatte sie nur in keiner Weise abgeschreckt. Im Gegenteil, sie hatte diese Gruppe mit fast verklärt romantischem Blick betrachtet. Auf den Augenblick, dass Jean sich zu ihr auch offiziell bekannte, hatte sie lange warten müssen. Als sie ihm unter Tränen gestanden hatte, dass sie schwanger war, weil sie befürchtete, er sehe darin einen bedauerlichen Unglücksfall, war er schier ausgerastet vor Glück. Er hatte ihr feierlich geschworen, dass es fortan nur noch zwei Frauen in seinem Leben gebe – das Kind, das hoffentlich ein Mädchen würde, und sie! Doch da wurde schon nach ihm gefahndet, und Caroline bereute nachträglich zutiefst, dass sie bei einem der Banküberfälle mitgemacht hatte, um ihm zu imponieren, statt ihn davon abzuhalten.

Inzwischen hatte Caroline das Haus erreicht. Das Fachwerkgebäude lag inmitten eines märchenhaften Rosengartens. Fasziniert öffnete sie die quietschende Eisenpforte und vergaß für einen Augenblick, warum sie gekommen war. Doch der ernüchternde Gedanke, dass dieses Paradies kein Liebesnest für besondere Stunden werden sollte, brachte sie in die Realität zurück.

Sie war sehr erleichtert, als sie die Eingangstür mit dem in einem Blumentopf versteckten Schlüssel erreichte, und verschwand schnell im Haus. Nun war sie in Sicherheit. Jedenfalls glaubte sie das, denn wenn alles gut ging, würden Jean und sie am nächsten Tag gemeinsam nach Straßburg fahren, um sich auf der dortigen Polizeipräfektur zu stellen. Jean hoffte, dass Caroline dann als bloße Mitläuferin straffrei ausgehen und es bei der Bemessung seiner Strafe mildernd bewertet würde, dass er sich freiwillig gestellt hatte. Caroline aber hatte wahnsinnige Angst, dass man ihn trotzdem zu einer längeren Haft verurteilen würde, weil er nicht bereit war, den Behörden auch nur einen anderen aus der Gruppe namentlich zu nennen.

Aber wie sah die Alternative aus? Caroline hatte alles in Gedanken durchgespielt, auch eine Flucht ins Ausland, wohin weder der Arm der deutschen noch der französischen Justiz reichte. Es wäre jedenfalls kein Problem, sich neue Papiere zu beschaffen. Caroline besaß schon jetzt einen gefälschten Pass. Wäre es nur um Jean und sie gegangen, hätte sie eine solche Möglichkeit sicher vorgezogen, aber nicht mit Kind. Sie wollte der kleinen Adrienne kein Leben auf der Flucht zumuten.

Über dieses Haus hatte ihr Jean lediglich verraten, dass es einem Genossen gehörte und man es sonst für konspirative Treffen nutzte. Caroline bereitete allein die Vorstellung daran ein ungutes Gefühl. Jedenfalls machte sie sich nur sehr verhalten daran, die Räume zu erkunden. Dabei stellte sie fest, dass ihr das Haus ausnehmend gut gefiel. Es war nicht nur von außen besonders hübsch, sondern auch innen geschmackvoll eingerichtet. Am liebsten hätte sie unter diesem Dach ein paar friedliche Tage mit Jean und dem Baby verbracht, bevor sie den Gang zum Schafott antraten, wie sie ihren Plan insgeheim nannte, aber das war nur so ein flüchtiger Traum.

 

Caroline sah sich interessiert in der Küche um und war fasziniert von den Wänden mit den alten Delfter Fliesen. Die Sehnsucht nach einem eigenen Zuhause überfiel sie mit aller Macht. Wie gern hätte sie mit Adrienne und Jean ein ganz normales Leben geführt, etwas, das sie vor der Begegnung mit ihrer großen Liebe als komplett öde abgetan hätte.

Caroline nahm den Sonnenhut ab und schüttelte ihre lange blonde Mähne. Im Haus war es angenehm kühl. Sie öffnete neugierig den Kühlschrank und stellte mit Erstaunen fest, dass dort einige Flaschen Kronenbourg lagerten. Ein Hinweis, dass sich im Haus erst kürzlich Leute aufgehalten hatten, schloss sie daraus. Sie griff sich eine Flasche Bier, öffnete sie und nahm einen kräftigen Schluck. Sie hatte solchen Durst, dass sie zügig die ganze Flasche leerte. Mit dem Alkohol im Blut trat eine gewisse Entspannung ein. In diesem Haus war sie in Sicherheit, redete sie sich noch einmal gut zu. Mit der Entspannung kam auch die Müdigkeit. Sie war am frühen Morgen gegen vier Uhr in der Bretagne gestartet und ohne Stau durchgekommen. Fast neun Stunden hatte sie ohne große Pausen hinter dem Steuer gesessen. Auf Evas Rat hin war sie nicht mit dem eigenen Wagen, sondern einem Mietfahrzeug gefahren. Diesen hatte sie unter falschem Namen gemietet, und zwar dem französischen, auf den ihr gefälschter Pass ausgestellt worden war.

Caroline war nur für eine einzige Nacht in Ploumanac’h gewesen. Und schon das war Eva eigentlich nicht recht gewesen. Doch Caroline hatte darauf bestanden, ihre Tochter noch einmal zu sehen. Sie hatte angedroht, sonst über Köln ins Elsass zu fahren und auf den Gutshof zu kommen. Diese Drohung hatte bei Eva Wirkung gezeigt, denn für sie als angesehene Kuratorin wäre es fatal gewesen, mit der Terroristenszene in Verbindung gebracht zu werden. Und wenn man Caroline auf ihrem Gut bei Köln verhaftet hätte … das hätte Eva den Job kosten können. Deshalb hatte die Freundin sofort eingelenkt und war mit Adrienne in die Bretagne gereist. Ihren Sohn Jannis hatte sie beim Vater in Köln gelassen.

Ob dieser Abschiedsbesuch für Carolines Psyche wirklich gut gewesen war, wagte sie allerdings im Nachhinein zu bezweifeln. Sie hatte ihre Tochter zuletzt ein paar Tage nach der Geburt gesehen, und so ein Baby entwickelte sich einfach unglaublich schnell. Die kleine Adrienne hatte zwar jede Bewegung ihrer Mutter mit den Augen verfolgt und mit Lauten begleitet, aber als Caroline sie auf den Arm hatte nehmen wollen, hatte sie gefremdelt und die Hände nach Eva ausgestreckt. Das hatte Caroline einen Stich in ihr Mutterherz versetzt, und sie hatte ihren inneren Groll gegen die Freundin gewandt. Natürlich konnte sie Eva gar nicht genug dafür danken, dass sie ihr Kind so liebevoll betreute, aber sie wirkte auf Caroline manchmal schon recht besitzergreifend. So als wäre Adrienne tatsächlich ihre Tochter. Deshalb war es zum Abschluss des Kurzbesuchs zu einem hässlichen Streit gekommen, in dessen Verlauf Eva ihr vorgeworfen hatte, dass sie Jean mit ihrer Ergebenheit ihm gegenüber nur noch tiefer in den Sumpf der Terrorszene getrieben habe. Und dass es unverantwortlich sei, ihn dazu zu überreden, sich den Behörden zu stellen. Sie, Caroline, habe doch nichts zu verlieren außer ein paar Monaten Haft, aber Jean müsse sicherlich lange einsitzen. Ob sie überhaupt einmal an seine Familie gedacht habe?

Über Caroline waren diese Vorhaltungen wie ein Unwetter aus heiterem Himmel hereingebrochen. »Was schlägst du denn vor?«, hatte sie die Freundin fassungslos gefragt, nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte.

»Bring dich allein in Sicherheit und wart ab, wie sich die Dinge entwickeln! Ich würde einen Anwalt beauftragen, der ein mildes Urteil für dich heraushandelt. Der Kontakt zu Jean ist für deine Zukunft und die von Adrienne nicht förderlich. Ihm nutzt es viel mehr, wenn seine Ehefrau sich für ihn einsetzt. Die Frau ist eine anerkannte Strafverteidigerin.«

»Seine Frau?«, hatte Caroline entgeistert gefragt. »Er hat sich unseretwegen von ihr getrennt. Schon vergessen? Einmal abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich nicht gerade begeistert für ihn kämpfen wird, nimmt er das alles nur auf sich, um mit Adrienne und mir eine Familie zu sein.«

»Pah! Jean ist nicht geboren zum treu sorgenden Ehemann. Ehe du dich versiehst, ist er weitergeflattert. Wach doch endlich auf! Hau ab, solange du noch kannst!«

»Ohne Adrienne? Das hättest du wohl gern. Willst du mich loswerden, um dir mein Kind zu nehmen?« Caroline war selbst erschrocken gewesen, in welch scharfem Ton sie die Freundin anging.

»Spinnst du? Ich mache das alles nur deinetwegen! Wenn du solche Hirngespinste verfolgst, solltest du deine Tochter vielleicht morgen gleich mit zur Polizei nehmen. Gibt bestimmt eine hübsche Mutter-Kind-Zelle …«

Caroline war kreidebleich geworden und bereute zutiefst, die Freundin ungerechterweise angegriffen zu haben.

»Verzeihung, Eva, ich bin nervös. Kannst du mir diesen Unsinn verzeihen?«, bat Caroline inständig.

Eva nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Natürlich bleibt Adrienne bei mir, bis wir eine Garantie haben, dass du nicht im Knast landest. Caro, sei nicht dumm und häng eure Zukunft nicht an einen Hasardeur wie Jean!«

»Aber ich denke, du magst ihn.«

»Sicher, er ist ein Freund der Familie, aber deshalb muss ich doch nicht tatenlos zusehen, wie er dich mit in den Abgrund reißt.«

An dieser Stelle des Disputs war Caroline ganz ruhig geworden, weil sie tief im Innern spürte, dass sie sich auf ihren Geliebten verlassen konnte und dass ihre Entscheidung, sich gemeinsam zu stellen, die einzig richtige war.

»Eva, mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Ich fahre wie verabredet morgen nach Riquewihr. Es wird mir schon nichts passieren. Er hat mir alles in die Karte eingezeichnet, und er wird bei Anbruch der Dunkelheit bei mir sein. Eva, wir haben keine andere Chance. Und ihn zu verlassen, das ist keine Option. Wir gehören zusammen«, hatte Caroline mit fester Stimme erklärt.

»Du rufst aber gleich an, sobald du angekommen bist, ja?«, hatte Eva gefordert.

Das hatte Caroline ihrer Freundin hoch und heilig versprochen, und zu ihrer übergroßen Freude hatte sich Adrienne zum Abschied von ihr auf den Arm nehmen lassen. Caroline hatte das pausbäckige Gesicht mit Küssen geradezu bedeckt. Seitdem war ihre Sehnsucht nach dem betörenden Duft der Babyhaut schier unerträglich geworden. Sie bedauerte zutiefst, dass sie nicht wenigstens ein Kleidungsstück von Adrienne mitgenommen hatte, um daran zu schnuppern. Das Einzige, was sie von ihrer Kleinen besaß, war ein Foto der Neugeborenen in ihrem Arm, das Eva kurz nach der Entbindung gemacht hatte. Caroline fand, dass sie trotz ihrer unübersehbaren Erschöpfung das reine Glück ausstrahlte.

Sie wird Jeans dickes dunkles Haar bekommen, dachte Caroline voller Zärtlichkeit, nachdem sie das abgegriffene Foto aus ihrem Portemonnaie geholt und eine Zeit lang wie ein Wunder angestarrt hatte. Ja, ihre Tochter kam ihr immer noch wie ein Zauberwesen vor.

Caroline wollten beinahe die Augen zufallen, so übermüdet war sie. Sie verließ die Küche, um nach einem geeigneten Schlafplatz Ausschau zu halten. Im Wohnzimmer blieb ihr Blick an einem bequem aussehenden Sofa hängen, das ihr für ein Nickerchen geeignet zu sein schien. Das Einzige, was sie störte, war die große Terrassentür, die zu einem Garten hinter dem Haus führte. Dass man sie von draußen beobachten konnte, während sie schlief, missfiel ihr.

Sie stand noch einmal auf und suchte nach Vorhängen, die sie zuziehen konnte, aber die gab es nicht. Ach, wer soll sich auch schon in den Garten schleichen?, dachte sie und setzte sich entschieden auf das Sofa, um noch eine Zigarette zu rauchen, denn dazu war sie an diesem Tag noch nicht gekommen. Aus ihrer Handtasche holte sie eine Schachtel ihrer extraschlanken Zigaretten und zündete sich eine an. Noch während des Rauchens wurde sie so müde, dass sie die Kippe vorzeitig ausdrückte und sich auf dem Sofa ausstreckte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen war.

Sie wusste nicht genau, wie lange sie geschlafen hatte, als sie wieder aufwachte und sich rundum erfrischt fühlte. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass es immer noch eine halbe Unendlichkeit dauern würde, bis Jean endlich käme. Sie zündete sich eine neue Zigarette an und nahm einen kräftigen Zug.

Als aus dem Garten ein merkwürdiges Geräusch zu ihr drang, zuckte sie erschrocken zusammen. Es hatte sich entfernt wie eine flüsternde Stimme angehört. Sofort war die ganze Panik wieder da. Carolines Herz klopfte bis zum Hals, und sie blieb noch einen Augenblick lang reglos sitzen, bevor sie ganz vorsichtig aufstand, die Zigarette in der Hand.

Ihr Blick richtete sich auf den Garten, aber dort bewegte sich gar nichts. Im Gegenteil, die Rosen strahlten in sämtlichen Farben im Sommerlicht um die Wette. Dort draußen war alles friedlich. Ich sehe schon Gespenster, versuchte Caroline ihre angeschlagenen Nerven zu beruhigen, doch in diesem Augenblick meinte sie, einen Schatten im hinteren Garten verschwinden zu sehen.

Sie wollte den Raum auf schnellstem Weg verlassen und hatte sich gerade umgedreht, als hinter ihr ein ohrenbetäubendes Klirren ertönte, als würden die Scheiben der Terrassentür in tausend Stücke zerbersten. Erschrocken fuhr sie herum. Sie war wie betäubt, als ihr eine dunkle Gestalt auf Französisch zurief, sie solle die Hände heben, doch stattdessen wollte sie sich erst einmal der Kippe entledigen und streckte die Hand mit der brennenden Zigarette aus. Gleichzeitig hörte sie einen Knall, brach im selben Augenblick lautlos zusammen und fiel zu Boden. Wie ein Film, der auf schnellen Vorlauf gestellt war, zog ihr Leben in bizarren Auszügen an ihrem inneren Auge vorüber: Da ist ihr Vater, der ihr zum guten Zeugnis einen Kassettenrekorder schenkt, der Großvater, der ihr voller Stolz die Zeitschrift mit seinem Porträt als Unternehmer des Jahres zeigt, Noah Weizmann, der ihr die Beweisdokumente überreicht, einige Liebhaber im fliegenden Wechsel und schließlich Jean und immer wieder Jean. Doch dann verschwimmt sein Gesicht, und das von Adrienne taucht wie aus dem Nichts auf. Sie riecht ihren Babyduft.

Caroline hatte ein Lächeln auf den Lippen, als der letzte Rest von Leben in ihrem Körper für immer erlosch.

Erster Teil

Evas Fest

1.

Adrienne war früher oft mit dem Zug in die Bretagne gefahren. Damals, als sie noch keinen Führerschein besessen hatte und ihre Adoptivmutter schon vor dem Ferienbeginn ins Haus gefahren war. Doch das lag viele Jahre zurück. Adrienne versuchte nachzurechnen, wann sie das letzte Mal in Ploumanac’h gewesen war. Wenn sie sich recht erinnerte, war sie bei dem großen Zerwürfnis mit Eva mindestens achtzehn Jahre alt gewesen. Auf jeden Fall hatte sie damals ihr Abi bereits in der Tasche gehabt. Vielleicht war sie auch schon neunzehn oder zwanzig gewesen. Ja, das kam der Wahrheit näher, denn sie erinnerte sich daran, dass sie auch einmal mit dem eigenen Wagen nach Ploumanac’h gefahren war. Und ein eigenes Auto hatte sie erst mit neunzehn bekommen. Natürlich, da fiel es ihr wieder ein, sie hatte damals bereits mit dem Medizinstudium begonnen und in Berlin gelebt. Sie musste also bereits zwanzig Jahre alt gewesen sein.

Das Zerwürfnis mit Eva lag wie hinter dicken Nebelschwaden, die sich immer nur partiell auflösten, um einen Erinnerungsfetzen freizugeben, der sich gleich darauf wieder zu einer undurchdringlichen Wand formierte.

Um sich an jedes Detail zu erinnern, dazu war inzwischen auch viel zu viel in Adriennes Leben geschehen. Ihre augenblickliche Gefühlslage wurde komplett durch das Grauen dominiert, das sie bei ihrem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen im Jemen erlebt hatte. Es verging keine Nacht, in der sie nicht von den ausgemergelten sterbenden Kindern träumte, für die jede Hilfe zu spät kam. Und dann die Bomben, die Schwerverletzten, nein, so etwas ging ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn. Im Vergleich dazu wurde alles andere im Leben klein und unwichtig. Doch wenn sie nicht eines Tages im OP kollabiert und sofort mit einem Transporter zur Küste und weiter mit einem Schmuggelboot nach Dschibuti gebracht worden wäre, um von dort nach Deutschland ausgeflogen zu werden, dann hätte sie den Vorhof der Hölle nicht freiwillig verlassen.

Man hatte ihr gleich nach ihrer Rückkehr einen Job an der Charité angeboten, aber sie hatte nur wenige Wochen in der Klinik gearbeitet, dann war sie psychisch zusammengebrochen. Gerade erst hatte sie die zwölfwöchige stationäre Therapie hinter sich gebracht.

Eigentlich sollte sich eine ambulante Behandlung anschließen, aber sie wollte sich erst einmal Klarheit verschaffen, wie es in ihrem Leben überhaupt weitergehen sollte. Seit dem Abschluss ihres Studiums hatte sie mit nur kurzen Unterbrechungen in Krisengebieten gearbeitet und war jedes Mal wieder dorthin gegangen, weil sie in dem geordneten Ablauf eines städtischen Krankenhauses ganz schnell von einer unerträglichen Unruhe gepackt wurde. »Wovor flüchten Sie?«, hatte ihre Therapeutin sie einmal gefragt, aber Adrienne wusste es selbst nicht. Natürlich hatte Frau Dr. Jäger sie auch nach ihrer Kindheit befragt, und Adrienne hatte ihr gebetsmühlenartig versichert, sie habe nur positive Erinnerungen an ihre Adoptiveltern. Nach ihren leiblichen Eltern hatte Frau Dr. Jäger sie nicht befragt, weil es unüblich war, dass diese dem Kind bekannt waren. Manchmal hatte Adrienne den Impuls verspürt, von sich aus die Geschichte ihrer Herkunft anzusprechen, aber sie hatte ihn jedes Mal unterdrückt. Was sollte das auch bringen? Ich habe diese Menschen doch gar nicht gekannt, sagte sie sich in solchen Augenblicken vehement.

Kürzlich hatte man ihr angeboten, nach ihrer Genesung in einer Geburtshilfeklinik in Afghanistan anzufangen. Dort waren die Ärzte ohne Grenzen nach der Zerstörung eines ihrer Krankenhäuser im Jahr 2015 wieder aktiv geworden. Man hatte ihr versichert, dass die Arbeit in der Klinik zurzeit vergleichsweise ungefährlich sei. Und das Angebot reizte sie mehr als eine sichere Stellung an der Charité. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, wenn sie daran dachte, dass sie bald eine Entscheidung treffen musste.

Und natürlich schlich sich auch immer wieder Ruben in ihre Gedanken. Sie hatte sich inmitten des Chaos überhaupt nicht von ihm verabschieden können. Er hatte nicht einmal mitbekommen, wie man sie abtransportiert hatte. Natürlich hatte sie überlegt, ob sie ihm schreiben sollte, aber die ganze Wahrheit hätte sie ihm sowieso nicht offenbart. Denn was sollte sie ihn mit ihrem kleinen Einzelschicksal belasten, während er bis zum Umfallen Menschenleben zu retten versuchte? Ruben war ein Phänomen. Ein blond gelockter Hüne aus dem niederländischen Harderwijk, der andere noch mit seiner guten Laune ansteckte, wenn ringsum die Welt in Scherben lag. Nein, ein Ruben benötigte sicherlich keine therapeutische Behandlung, nachdem er im Höllenschlund in die Fratze des Todes geblickt hatte. Er war selbst vor den schlimmsten Kriegsverletzungen nicht zurückgeschreckt. Wahrscheinlich hätte er sie sogar noch getröstet, wenn er denn überhaupt dazu gekommen wäre, ihr zu schreiben. Auch wenn sie der Gedanke schmerzte, Ruben nie wieder zu sehen, wollte sie ihm niemals das Gefühl geben, dass sich dort im sicheren Deutschland eine Frau nach ihm sehnte …

Als Adrienne einen Blick aus dem Zugfenster auf die vorbeiziehende Landschaft der Bretagne warf, hatte sie fast ein schlechtes Gewissen. Was für ein Frieden dort draußen herrschte! Kaum vorstellbar, dass in dieser Gegend einst die erbitterte Schlacht um die Bretagne getobt hat, dachte Adrienne. Diesen Part der deutsch-französischen Geschichte hatte ihnen Martin nahegebracht. Es gab kein Museum, in das er Jannis und sie nicht geschleppt hatte, und keine Bucht in der Normandie, wo die Alliierten gelandet waren, die sie nicht gemeinsam besucht hatten. Im Geschichtsunterricht hatte sie stets als Expertin in Sachen Zweiter Weltkrieg gegolten, sofern er Schauplätze in Frankreich betraf.

Adrienne blickte immer noch aus dem Fenster. Wenn sie es richtig erinnerte, passierten sie gerade St. Brieuc, wo der Bummelzug aus Rennes früher gehalten hatte, wie überhaupt in jedem kleinen Ort. Nun fuhr der Hochgeschwindigkeitszug bis Lannion durch, von wo aus sie sich ein Taxi nach Ploumanac’h nehmen wollte.

Je näher sie ihrer alten Ferienheimat kam, desto mehr spürte Adrienne eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen. Als sie den Brief mit der Einladung zu Evas Sechzigstem nach Ploumanac’h bekommen hatte, hatte sie das nicht einmal im Ansatz berührt. Sie hatte sich allein von ihrer Sehnsucht nach der rosa Granitküste leiten lassen. Selbst in manch kurzer Nacht im Jemen, in der sie kein Auge zugetan hatte, hatte sie sich an den Strand von Saint Guirec geträumt und war in ihrer Fantasie den Zöllnerpfad bis zum Port de Ploumanac’h gewandert. Und dann war vor ihrem inneren Auge alles zum Leben erwacht. Auf der einen Seite der Panoramablick auf die bizarren Felsformationen und das Schloss Costaérès, das wie eine verwunschene Raubritterburg mitten im Meer thronte, hinter dessen Mauern der Roman Quo Vadis verfasst worden war und das derzeit einem deutschen Komiker gehörte, auf der anderen Seite der Pinienwald. Selbst die aufregende Duftmischung aus Salz und dem Geruch der Pinien, wenn sie an einem heißen Sommertag in der Sonne förmlich brodelten, war ihr manchmal in die Nase gestiegen. Diese Träume waren jedoch nie von Dauer gewesen. In ihrer primitiven Unterkunft aus Stein, die für die vielen Hilfesuchenden, die unter Planen hausten, wie eine Luxusherberge wirken musste, verging keine Nacht, in der sie nicht daran erinnert wurde, dass um sie herum ein grausamer Krieg herrschte. Ein Krieg, der von der Welt dort draußen völlig vergessen zu sein schien. Ob Menschen schrien, Schüsse hallten oder Kinder weinten, sie musste in jeder Minute damit rechnen, von ihrem Lager aufzuspringen, um für den nächsten Einsatz bereit zu sein.

Nein, als der Brief mit der Einladung in ihrer Berliner Wohngemeinschaft angekommen war, in der sie seit Studienzeiten lebte, da hatte sie die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Eva kaum berührt. Was damals geschehen war und sie noch jahrelang gequält hatte, wurde völlig überlagert von ihren jüngsten Erfahrungen. Natürlich konnte sie sich, wenn sie sich ganz intensiv auf die damaligen Ereignisse konzentrierte, auch daran erinnern, mit welchen Worten Eva sie in jenem Sommer aus dem Haus geworfen hatte. »Du bist nicht besser als deine Mutter!«, hatte sie gebrüllt, bevor sie ihr mit äußerster Brutalität die Wahrheit an den Kopf geworfen hatte. »Deine Eltern waren Terroristen! Und sie sind erschossen worden!« Adrienne war Hals über Kopf nach Berlin geflüchtet und hatte sich über Wochen in einem Schockzustand befunden. Vor allem war ihr der Anlass für Evas Ausraster ein Rätsel geblieben. Gut, Jannis und sie hatten sich geküsst, aber was war schon dabei? Das hatte sie Eva an jenem Tag genauso gesagt: »Und wenn, was ist verkehrt daran, wenn Jannis und ich uns ineinander verlieben?« Wie ein Messerstich hatte Evas Antwort Adrienne mitten ins Herz getroffen. »Alles! Nachdem mein Sohn Mirja gerade erst einen Antrag gemacht hat!«

Adrienne hatte damals nicht gewusst, wen sie mehr hasste: Jannis für seine Feigheit, ihr zu verheimlichen, dass er Mirja, die er gar nicht liebte, heiraten würde, Eva für ihre überspannte Reaktion und auch für ihre brutale und viel zu späte Offenheit … oder aber ihre Eltern dafür, dass ihnen der Kampf gegen den Staat wichtiger gewesen war als das eigene Kind. Trauer hatte sie jedenfalls bis zum heutigen Tag über den Tod ihrer Eltern nicht empfunden. Sie hatte die beiden niemals kennengelernt, sondern nur eine Mutter gehabt: Eva. Warum also sollte sie ihrer Adoptivmutter bis in alle Ewigkeit nachtragen, dass sie vor über zehn Jahren ein einziges Mal die Nerven verloren hatte? Schließlich hatte Eva daraufhin mehrfach einzulenken versucht und in unzähligen Briefen geschworen, dass sie Adrienne wie eine leibliche Tochter liebe. Es habe sie nur so geschockt, wie Adrienne sich zwischen Mirja und Jannis habe drängen wollen. Und dass doch auch Mirja wie eine Tochter für sie sei. Sogar zu Mirjas und Jannis’ Hochzeit hatte Eva Adrienne eingeladen. Aber Adrienne hatte gar nicht reagiert, nicht einmal eine Glückwunschkarte hatte sie dem jungen Paar geschickt. Nein, für sie hatte es damals kein Verzeihen gegeben! Sie war schwer gekränkt aus dem Leben ihrer Adoptiveltern und vor allem auch Jannis’ Leben verschwunden.

Aber nun, nach allem, was sie in den langen Jahren der Trennung von ihrer Familie – denn eine andere hatte sie nicht – an Herausforderungen gemeistert hatte, schienen ihr über zehn Jahre eisernes Schweigen Strafe genug zu sein. Und außerdem konnte sie nach ihrer Entlassung aus der Klinik gut ein paar erholsame Tage in der Bretagne gebrauchen.

Adrienne schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit energisch ab. Sie wollte keine alten Geschichten aufwärmen. Trotzdem musste sie plötzlich intensiv an Jannis denken. Erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie nicht nur ihn, sondern auch Mirja wiedersehen würde, was ihr nicht besonders behagte. Aber nun war es zu spät. Gleich würde sie den Bahnhof von Lannion erreichen, und dann trennten sie nicht einmal mehr fünfzehn Kilometer von ihrem Ziel. Das bisschen innere Anspannung, das wohl nach so vielen Jahren ziemlich normal war, konnte sie nicht zur Umkehr bewegen, zumal sich Eva wirklich von ganzem Herzen über ihren Besuch zu freuen schien. Dass bei Adrienne allerdings keine echten Emotionen angesichts des Wiedersehens mit Eva aufkamen, hatte weniger mit deren damaligem Verhalten zu tun als vielmehr mit ihrer posttraumatischen Belastungsstörung. Als solche hatte Adriennes Therapeutin ihr Problem jedenfalls professionell diagnostiziert.

Sie war ja froh, dass das Kind nun einen Namen hatte, denn ihr selbst war schließlich nicht verborgen geblieben, dass sie sich höchst befremdlich verhielt, aber sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Gefühle waren bei ihrer Rückkehr durch die schrecklichen Erlebnisse im Jemen in weiten Teilen wie abgestorben gewesen. Aber weder Adrienne noch ihre Kollegen hatten anfangs begriffen, dass sie professionelle Hilfe benötigte. Dazu hatte es erst eines Vorfalls in der Charité bedurft. Adrienne war nämlich eine Meisterin darin, perfekt zu funktionieren, ganz gleich, wie tief der Schmerz an ihrer Seele fraß. Doch dann war es eines Tages nicht mehr zu verbergen gewesen. An dem Tag nämlich, an dem ihrem Chef, dem sie assistiert hatte, bei einer OP ein Kind unter den Händen weggestorben war. Alle anderen im Saal hatten ihre Gefühle zugelassen. Ihre Kolleginnen hatten hemmungslos geschluchzt, und auch der Chefarzt hatte mit den Tränen kämpfen müssen. Nur sie hatte reagiert wie ein Zombie, nämlich gar nicht. Nach diesem Vorfall hatte ihr Chef sie beiseitegenommen und seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden könne. Er hatte sie noch an demselben Tag zu Frau Dr. Jäger geschickt. Gleich nach dem Erstgespräch hatte die Therapeutin Adrienne in der Klinik stationär aufgenommen.

Nun befand sie sich auf dem Weg der Besserung, aber sie war längst noch nicht wieder die Alte – die emphatische, mutige und starke Adrienne. Sie hoffte natürlich, dass die Heimkehr an den Ort, an dem sie alle Sommer ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte, ihre Genesung fördern würde.

Eine Ansage, dass in Kürze der Bahnhof von Lannion erreicht werde, riss Adrienne aus ihren Gedanken. Sie holte ihren abgewetzten Rucksack, der schon so viele fremde Länder gesehen hatte, aus dem Gepäcknetz, griff nach ihrer eleganten Handtasche, die gar nicht recht zu ihrem sonstigen eher alternativen Outfit passte, und ging mit ihrem Gepäck zur Tür.

Als sie aus dem Zug stieg, musste sie daran denken, wie schön der alte Bahnhof gewesen war, den sie als Jugendliche noch erlebt hatte. Den hatte man vor vielen Jahren abgerissen und durch diesen Bau aus Glas ersetzt. Der Vorplatz lag wie ausgestorben vor ihr, doch in diesem Augenblick bogen gleich mehrere Taxen um die Ecke, sodass Adrienne gar nicht erst auf einen Wagen warten musste. Obwohl es ein heißer Sommernachmittag war, wehte die für die Bretagne typische leichte Brise, die jede Hitze erträglicher machte. Das war das Schöne an der Bretagne. Der Golfstrom brachte mildes Klima mit sich, und der Wind vom Meer verhinderte, dass es je unangenehm heiß wurde.

Adrienne nannte dem Fahrer in bestem Französisch ihr Ziel, lehnte sich bequem auf dem Sitz zurück und ließ die letzten Kilometer ihrer Reise in die Vergangenheit an sich vorbeirauschen. Soweit sie erkennen konnte, hatte sich bis auf ein paar neu angelegte Kreisverkehre und Konsumtempel am Ortsausgang nicht viel verändert.

Als vor ihr das Ortsschild von Ploumanac’h/ Perros Guirec auftauchte, beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich. Was Adrienne früher als lästig empfunden hätte, signalisierte ihr, dass ihre Sensibilität langsam zurückkehrte. Und das empfand sie durchaus als positives Zeichen. Es bestätigte sie in ihrer Hoffnung, die Reise nach Ploumanac’h könne sie wieder zu einem normal fühlenden Wesen machen.

Und dann erblickte sie das Haus. Sie hatte es größer in Erinnerung. Dabei war es in dieser Straße, in der einige Ferienhäuser lagen, das mit Abstand größte Anwesen. Von seiner Schönheit hatte es jedenfalls nichts eingebüßt. Die rosa schimmernden Granitsteine, aus denen es erbaut war, und das dunkelgraue Schieferdach glänzten in der Sonne und tauchten das Maison Granit Rose, wie das Anwesen seit seinem Bau in den späten Sechzigerjahren von ihrer Familie genannt wurde, in ein magisches Licht. Adrienne zauberte dieser Anblick ein Lächeln auf die Lippen. In diesem Moment verspürte sie ein Gefühl von Nachhausekommen. Das berührte sie so tief im Herzen, dass sie einen Kloß im Hals fühlte, so, als wenn sie gleich weinen müsste. Das hatte sie lange nicht mehr empfunden, selbst in dem Augenblick nicht, als ihr der Arzt die Wahrheit gesagt hatte, warum das Kind, das sie erwartete, nicht lebensfähig war. Keine einzige Träne hatte sie um ihr eigenes Schicksal vergossen. Es missfiel ihr außerordentlich, dass ihr das gerade in den Sinn kam – das, was sie für immer aus ihrer Erinnerung streichen wollte.

Sie gab dem Taxifahrer, der sich ungefragt und anerkennend zu dem wunderschönen Anwesen äußerte, ein sattes Trinkgeld, bevor sie leicht benommen von den unverhofft aufkeimenden Emotionen aus dem Wagen stieg.

Vor dem Haus blieb sie abrupt stehen und atmete ein paarmal tief durch. Ihr erstaunter Blick fiel auf das getöpferte Schild an der Pforte. Eva, Martin, Adrienne, Jannis leuchteten ihr die Namen in bunten Farben entgegen. Sie konnte sich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen, wie Eva eines Sommers mit dem Riesentonklumpen und einem kleinen Brennofen nach Hause gekommen war. Aber dass sie das Schild niemals entfernt hatte, verwunderte Adrienne ein wenig. Das war so, als sei die Zeit stehen geblieben. Sie sah Jannis und sich als Kinder in Badezeug und mit Strandspielzeug bewaffnet aus dem Haus rennen, um den Tag am Strand zu verbringen, bei Flut zu baden, bei Ebbe durch das Watt zu wandern und Muscheln zu sammeln. Und dann das Klettern über die rosafarbenen Felsen, obwohl Eva ihnen dies ohne die Aufsicht der Erwachsenen strikt verboten hatte … die Pflaster, die sie sich gegenseitig auf die Haut geklebt hatten, um ihre Kratzer vor Eva zu verbergen.

Adrienne richtete den Blick aufs Meer, das linker Hand einladend in der Sonne schimmerte. Es herrschte also Flut, und sie spürte mit jeder Pore ihres Körpers die Lust, sich in das vertraute Wasser zu stürzen und so lange durch das salzige Nass zu waten, bis sie loskraulen konnte.