Yannic Han Biao Federer

Und alles wie aus Pappmaché

Roman

Suhrkamp

Und alles wie aus Pappmaché

1 Sarah

Cobiara, 2011

Und Sarah wollte damals ja nichts mehr von mir wissen, und ich habe dann auch so getan, als wollte ich nichts mehr von ihr wissen, obwohl ich immer sehr genau bemerkt habe, ob sie da war oder nicht da war, im Jugendzentrum oder auf dem Pausenhof oder im Schwimmbad. Im Jugendzentrum bin ich noch manchmal an ihr vorbeigegangen und habe so getan, als wäre sie nicht da, weil sie so tat, als wäre ich nicht da, und im Pausenhof stand sie immer mit Sevgi herum und manchmal auch mit Sevgis Schwestern und Cousins und deren Freunden, die eigentlich auf der Hauptschule waren, aber manchmal herüberkamen, obwohl sie das gar nicht durften, sie trugen Kappa-Jacken und Fila-Pullover und aufknöpfbare Adidas-Trainingshosen, nur ins Schwimmbad kam Sarah nie, deshalb habe ich sie damals auch nie im Bikini gesehen, und irgendwann war sie dann weg. Es hieß, ihre Eltern hätten sich scheiden lassen und sie sei mit ihrer Mutter nach Freiburg gezogen und gehe jetzt auf das Theodor-Heuss in St. Georgen oder auf das Goethe in der Innenstadt, aber Tobi meinte einmal, sie sei gar nicht zu ihrer Mutter gezogen, sondern in ein Wohnprojekt der Jugendhilfe, weil ihre Mutter Probleme habe. Und obwohl das mit Sarah und mir also nichts wurde und ich sie sonst auch kaum kannte, ist sie mir trotzdem nie ganz aus dem Kopf gegangen, und ab und zu habe ich an sie gedacht und mich gefragt, wie es ihr wohl geht und wie das wäre, wenn wir uns jetzt noch einmal über den Weg liefen, ob ich wieder so täte, als wäre sie nicht da, weil sie so täte, als wäre ich nicht da, und ob wir uns überhaupt erkennen würden, ob wir nicht aneinander vorbeiliefen, ohne es zu merken, weil vielleicht hat sie sich ja total verändert, und ich sehe auch nicht mehr aus wie früher. Aber ich habe sie dann sofort erkannt, weil am Ende habe ich Sarah doch noch im Bikini gesehen, in mehreren Bikinis sogar, Streifen waren da gerade sehr angesagt, und sie stand immer leicht zur Seite gedreht da und lächelte keck über ihre nackte Schulter, ein Bein angewinkelt, und so konnte man sehen, wie das Bikinihöschen geschnitten war, Regular, Wide Banded, Tanga oder Mikrobikini. Das war der erste Mikrobikini, den es bei H&M gab, habe ich gehört, und einige fanden es nicht gut, dass so etwas bei H&M angeboten wurde, weil es junge Frauen unter Druck setze, zu viel Haut zu zeigen, ja, fast nackt durch das Schwimmbad zu gehen, und einige Jahre später habe ich Sarah auch ganz ohne Bikini gesehen, weil es da mit ihrer Karriere schon bergab ging, Tobi meinte, ihr Typ sei einfach nicht mehr gefragt gewesen, ihre feinen Gesichtszüge, der Mund wie aus Glas, ihre schmale Figur, stattdessen sah man auf den Plakaten und in den Prospekten plötzlich nur noch Models mit riesigem Überbiss und ausufernden Oberlippen, und in einem Promiklatschblog habe ich gelesen, dass Sarah wegen irgendwelcher Drogendelikte in Madrid festsaß, und es gab diese Bilder, wie sie ungeschminkt aus einem Jeep steigt, in der InStyle und der Glamour und in Bild der Frau wurden diese Aufnahmen herumgereicht, als wollten sie sagen, guckt mal, wie heruntergekommen die aussieht, wahrscheinlich sind solche Geschichten einfach interessant und spannend für die Leute, bestimmt erregt es sie auch, dass eine, die es so weit geschafft hatte, auch wieder so tief fallen musste. Ich fand das gemein und widerlich, und trotzdem musste ich mir diese Fotos von Sarah immer wieder ansehen, sie hielt sich die ausgestreckte Hand schützend vors Gesicht, aber der Paparazzo hatte die Kamera rechtzeitig angehoben, sodass ihre Hand viel zu tief stand, und das Blitzlicht kam grell und beißend und nicht mehr indirekt und schmeichelnd aus Faltreflektoren oder stoffverhangenen LED-Panels wie bei den Modeshootings. Sarah trug ein graues Tanktop von Calvin Klein, die Schulterknochen stachen ihr hart unter der Haut hervor, ihre Augen waren groß und unglücklich und der Mund sagte oder rief etwas, die Lippen blass und dünn. Ich fand sie aber immer noch schön. Ich meinte, ihrem Gesicht alles ablesen zu können, die verschwitzten Rollkragenpulloverfotografen und die schwatzenden Werbefuzzis, die Produzenten beim Fernsehen, die Nasenbluten bekamen, wenn sie sich aufregten, die pubertierenden Söhne reicher Eltern, die ihr ungeniert an den Hintern griffen, und die Väter, die es etwas unauffälliger taten, die Agenten und Auftraggeber, die durch sie hindurch sahen, die in ihr nichts als eine bewegliche Kleiderpuppe erkennen konnten, und die immer neuen Mädchen um sie her, die sich gegenseitig beäugten, die immer jünger wurden, weil Sarah älter wurde, und die jüngsten kamen aus Russland und der Ukraine, aber auch aus Korea und Greifswald, und am Anfang hatten sie immer verweinte Augen und stierten fortwährend auf ihr billiges Handy, und später wurden die Handys teurer und ihre Gesichtszüge härter. So stelle ich es mir jedenfalls vor, aber ein bisschen bekomme ich es auch in der Agentur mit, weil wir machen zwar nur den Katalog von Jack Wolfskin und irgendwelche Kampagnen gegen Teenieschwangerschaften und die Wochenprospekte von HIT und Rewe, aber zwei Kolleginnen waren früher richtig in der Mode und die erzählen schon mal Geschichten. Und ich gucke mir also diese Bilder von Sarah an, und dann frage ich mich, wie die Dinge wohl gelaufen wären, wenn ich damals Anna nicht beim Spülen geholfen hätte, vielleicht wären Sarah und ich ja zusammengekommen und in der Gegend geblieben, wir hätten drei Kinder bekommen und die würden alle eine Lehre machen, bei der Volksbank oder beim Elektroinstallateur, und wir hätten sonntags doch noch zum Bibelkreis gefunden, hauptsächlich wegen der dörflichen Anbindung, und nach Mailand und Madrid und New York wären wir höchstens einmal im Urlaub gefahren, obwohl man als fünfköpfige Familie ja eher am Lago Maggiore Urlaub macht oder in Andalusien. Aber so ist es nicht gekommen, weil es anders gekommen ist, und als Sarah das erste Mal auf der Settimana della moda in Mailand gebucht war, lernte sie Tommaso kennen, Tobi hat mir davon erzählt, weil ich noch manchmal mit ihm telefoniere, und Tobi weiß davon, weil er kürzlich Sevgi wiedergetroffen hat und sie schlafen jetzt miteinander, obwohl Tobi auch noch mit Lydia zusammen ist, aber Lydia studiert in Hildesheim Kreatives Schreiben und hängt viel in Leipzig und Wien herum, und Tobi glaubt, dass Lydia dort auch mit anderen Typen schläft, und deswegen, sagt er, sei das mit Sevgi völlig in Ordnung, jedenfalls telefoniert Sevgi regelmäßig mit Sarah und Sarah hat ihr immer alles haarklein erzählt und Tobi hat es dann mir erzählt. Tommaso hat Sarah also auf der Settimana della moda in Mailand kennengelernt, und Tommaso trug ein dunkles Hemd und an seinem Handgelenk eine riesige, kantige Uhr von Cartier und er hatte tolle, schläfrige Augen, und sie konnten sich sehr gut auf Englisch unterhalten, weil Tommaso in St Andrews studiert hat, und als auf der Aftershowparty ein russischer Oligarch sich immer näher an Sarah heranschob und seine Hand nicht von ihrer Taille nehmen wollte, stand er plötzlich wieder vor ihr, Sarah sagte, there you are, als wären sie verabredet, und Tommaso spielte mit, sie hakte sich unter und gemeinsam gingen sie in Richtung Ausgang, wo sie Marina trafen, Tommasos ältere Schwester, die einen Kopf kleiner war als er, und Marina machte eine stumme Geste zum Gruß und sah dann wieder in ihr Glas, weil Tommasos Mutter, die etwa normalgroß war und Eleonora hieß, Sarah wortreich zu ihrem Kleid beglückwünschte und ganz euphorisch von der Kollektion sprach, und Eleonora war es auch, die Sarah auf den Familiensitz der Bentivoglios in Cobiara einlud, und ein paar Wochen später war Tommaso in Brüssel auf einem Vernetzungstreffen der Europäischen Volkspartei und von dort fuhr er nach Düsseldorf zu Sarah, und sie waren sofort zusammen.

Und auch wenn sich um den Familiensitz der Bentivoglios eine weitläufige Parkanlage erstreckte und Gaetano Bentivoglio zu Eleonoras fünfzigstem Geburtstag darin eine römische Therme detailgetreu hatte nachbauen lassen, und auch wenn seine geschickten Investitionen ihm einen Sitz im Senat und die enge Freundschaft zum italienischen Ministerpräsidenten gesichert hatten, und auch wenn Tommaso längst in die Partei und Marina in das Familienunternehmen eingeführt worden waren, sodass Gaetano eines Tages die Geschäfte beruhigt in ihre Hände würde legen können, und auch wenn Eleonora sich für all das nicht wirklich interessierte, weil sie sich als Künstlerin verstand und von Zahlen und Machtverhältnissen nicht belästigt werden wollte – aus ihrem Atelier erahnte man nur von Weitem und nur hinter Baumwipfeln die Stadthäuser von Cobiara –, und auch wenn Tommasos Familie also estremamente fortunata war, wie er einmal bei einem Glas Negroni bekannte, stammten die Bentivoglios eigentlich aus äußerst bescheidenen Verhältnissen, denn Gaetano Bentivoglio Senior, Tommasos Großvater, verkaufte noch Spielkarten und Lotterielose und Kalendarien mit dem Konterfei des Duce aus einem hölzernen Bauchladen heraus, doch als das Ladenlokal, von dem er seine Ware bezog, plötzlich schließen musste, weil der Betreiber ein Kommunist war, da wurde Gaetano der neue Pächter, denn der Eigentümer der Immobilie hatte ihn jeden Morgen am Busbahnhof von Cobiara gesehen und später auch bei einer Parteiveranstaltung, und sie hatten getrunken und er hatte pathetisch gerufen: Tano! Du bist ein anständiger Italiener! Und für Gaetano senior war es ein Glücksfall, dass in dieser Zeit viele der Pächter ihre Gewerbelizenzen verloren und er nach und nach weitere Läden übernehmen konnte, und später verschlang das Imperium der Bentivoglios auch Pressegrossisten und Verlagshäuser und Buchhandelsketten, aber angefangen hatte alles, wie gesagt, mit dem Bauchladen von Gaetano Bentivoglio senior, und dieser Bauchladen hing, als Mahnung gewissermaßen, in einer Vitrine im Festsaal des Anwesens. Und vielleicht reagierte Tommaso auch deshalb mit viel Empathie, als Sarah ihm gestand, dass ihre Mutter in einer Einzimmerwohnung in Freiburg Weingarten wohnte und dass das Sozialamt inzwischen auf Sarahs Einkommen aufmerksam geworden war und sie ihrer Mutter nun einen monatlichen Betrag zukommen lassen musste, obwohl sie sich längst fremd geworden waren, und vielleicht fand es Tommaso deshalb auch nicht so schlimm, mit Sarah zwischen den Siamkatzen ihrer Mutter zu stehen und Sarah sagen zu hören, dass sie notfalls eine Putzkraft einstellen müsse, weil der Teppich sich eingefärbt hatte und es nach Katzenpisse stank, und vielleicht war es für Tommaso auch deshalb in Ordnung, wenn er Sarah hin und wieder das ein oder andere erklären musste, etwa, welches Besteck als Erstes zu verwenden war und dass es anschließend auf dem Teller liegen bleiben sollte, um vom Hausangestellten abgeräumt zu werden, und überhaupt, wie man mit einem Hausangestellten sprach.

Den Sommer wollten sie gemeinsam in Cobiara verbringen, hatten sie beschlossen, und Sarah hatte noch ein letztes Shooting in Mailand, und eigentlich wollte Tommaso einen Fahrer schicken, aber der Fahrer kam nicht und Tommaso ging nicht ans Telefon, weil er in irgendwelchen Meetings festsaß, also fuhr Sarah mit dem Taxi zum Hauptbahnhof, der Zug war klimatisiert und die erste Klasse geräumig und nicht sehr voll, aber im Kopfbahnhof von Neapel ergossen sich die Abteile auf den Bahnsteig, und dicht gedrängt strömte alles in Richtung Ausgang, wo sich Bettler in den Weg stellten, eine Frau trug ein weites Kopftuch und hielt Sarah eine faltige, schmutzige Hand entgegen, mit der Linken zog sie im rechten Moment das Tuch aus dem Gesicht, und sie hatte keine Nase und starrte sie an und zeigte dabei ein breites, fast entschuldigendes Grinsen, und sie legte den Kopf fragend zur Seite, dabei öffneten sich ihre Gesichtslöcher, und Sarah stierte auf diese dunklen Hohlräume, auf das vernarbte Fleisch darin, und erst auf der anderen Straßenseite bemerkte sie den kalten Schweiß in ihrem Nacken, deshalb hatte sie auch die Taxis vor dem Bahnhofsgebäude übersehen, aber auf dem groben Pflaster wurde das Gedränge nicht weniger, fliegende Händler überall, sie zeigten blinkende iPhones und Lenovo-Laptops, und aus einer Seitenstraße stierte eine verfallene Barockkirche heraus, deren Eingänge mit grobem Basalt zugemauert worden waren, vermutlich zur Abwehr von Hausbesetzern und Obdachlosen, und auf der Piazza Museo ein größenwahnsinniger klassizistischer Stadtpalast mit riesigen, verzierten Bogengängen und darunter schmutzige Matratzen und schmutzige Menschen und schmutzige Hände, die sich den vorbeiziehenden Passanten entgegenreckten, in einer Ecke stank es ganz besonders, und erst dachte Sarah, es seien Hundehaufen, aber dann dachte sie, wir sind hier nicht in Wien. Und endlich ein Taxi, das Kopfsteinpflaster hämmerte von unten gegen die Reifen, die Straßen wurden steiler und wanden sich die Hänge des Vesuvs hinauf, und in Cobiara stolze Bürgerhäuser, perfekt in Stand gehaltene Fassaden, Orangenbäume in den Straßenzügen, pralle Früchte, zwischen den Grünflächen prächtige Blumenbeete und Bewässerungsanlagen und über allem eine feuchtwarme, übervolle Süße, die so dicht in der Luft lag, dass Sarah für einen Moment schummrig wurde. Ein Bediensteter öffnete das Tor, und Gaetano Bentivoglio kam ihr entgegen, verstört, weil sie mit Zug und Taxi hatte fahren müssen, Tommaso noch immer unterwegs und nicht erreichbar, und wie zur Entschädigung ließ er eiskalten Negroni und dicke, grüne Oliven auf die Veranda bringen. Tief unten lag das dichte, enge Straßengewirr von Neapel und dahinter der Hafen und dahinter das Meer, und Sarah aß einige Oliven und trank vom bitteren Aperitif, und es ging besser und Gaetano sagte, dort ist der Dom und dort Castel dell’Ovo, und es war sehr schön und wie eine Postkarte, Gaetano nickte und lächelte und sagte, guarda bene, sieh dir alles genau an, denn bald schon könne sich dies Paradies in eine tote Einöde verwandeln, in ein klaffendes Erdloch, und er lachte, denn die Leute sähen immerzu auf den Vesuv und raunten sich zu, er sei fällig, jetzt oder in hundert Jahren, und das sagten sie der Villen wegen, die hier am Hang stünden, der Sozialneid, endlich müssten auch einmal die Reichen dran glauben. Aber der Vesuv sei eigentlich nur ein kleiner Pickel, der auf einem riesigen Furunkel sitze, und der Golf von Neapel, so schön er jetzt auch in der Sonne liege, sei in Wirklichkeit ein einziger Vulkankrater und darunter, unter dem Meeresgrund, eine riesige, ja unermessliche Magmakammer, und die europäische Kontinentalplatte rase auf die afrikanische zu, der Druck steige von Tag zu Tag, und irgendwann müsse er explodieren, jetzt oder in hundert Jahren, und wenn der Tag komme, sei nicht nur Neapel weg, sondern ganz Kampanien, der Himmel werde sich verdunkeln und die Temperatur fallen, und zwar überall, und wenn Afrika nicht rechtzeitig eine riesige Mauer baue, werde es alsbald überschwemmt werden von den Flüchtlingsströmen aus Europa. Und Eleonora stand in der Tür und lachte und sagte: Tano! Du und deine Geschichten!

Im August flimmert die Luft über dem Asphalt, die Zeitschriftenläden und Bäckereien und Salumerien bleiben für Wochen geschlossen und die Straßen sind gesäumt von ihren Roll- und Scherengittern, der Verkehr halbiert sich und die Büros arbeiten, wenn überhaupt, mit halber Kraft, und alles fährt ans Meer und wartet ab, bis die Temperaturen wieder erträglich werden, und auch Tommaso hatte geglaubt, im August nicht mehr wöchentlich nach Rom zu müssen, aber dann war Nino, ein guter Freund der Familie und einer von fünf stellvertretenden Parteivorsitzenden, in eine Verkehrskontrolle geraten, weil er seinen Fahrer nach Hause geschickt hatte und mit zwei Prostituierten auf dem Rücksitz und jeder Menge Kokain im Blut durch die römischen Vorstädte gekurvt war, und Tommaso war der Meinung, dass der Carabiniere, der ihn festgenommen hatte, ein Kommunist gewesen sei, weil er auch noch Ninos Bestechungsversuch zur Anzeige gebracht hatte, es war ein Desaster, die Prostituierten waren Clandestini, illegale Einwanderer aus Nigeria, eine von ihnen vermutlich minderjährig, und die Zeitungen voller hämischer Kommentare wegen der scharfen Einwanderungsgesetze, die Nino selbst über Jahre gefordert hatte, Tommaso musste also mitten im August mehrfach und für mehrere Tage nach Rom fahren, und manchmal konnte Sarah ihn abends in den Nachrichten sehen, er stand dann immer rechts neben Angelino Alfano, der konzentriert seine Beschwichtigungen ins Mikrophon sprach. Sarah verbrachte deswegen viel Zeit mit Eleonora, die als junge Frau an der Kunstakademie studiert hatte, sogar bei de Chirico hatte sie gelernt, bevor er starb, und bei einer ihrer ersten Ausstellungen in Trastevere war plötzlich so ein geleckter Unternehmer neben ihr gestanden und hatte in breitem Cobiarese ihre Bilder gelobt und sie hatte ihn erst nicht leiden können, aber er hatte alles aufgekauft, selbst die Gemälde, die bereits vorgemerkt worden waren, er verdoppelte einfach den Preis, und sie fand das arrogant und eitel und es war ihr gar nicht recht, denn gerade als junge Künstlerin wäre es wichtig gewesen, ihre Werke zu streuen und sie nicht einfach im Keller eines einzigen verrückten Sammlers verschwinden zu sehen, aber der Galerist war in heller Aufregung und Gaetano bekam, was er wollte, und am Ende auch Eleonora selbst. Und sie lächelte, und Sarah verstand, dass das Gaetanos Art der Brautwerbung gewesen war, und Eleonora malte noch immer, wenn auch nur für sich selbst, sie führte Sarah durch die klimatisierten Katakomben des Anwesens, in denen ihre Gemälde lagerten, und wenn Sarah abends de Chirico in der Google-Bildersuche eingab, verstand sie Eleonoras Kunst besser, die langen Schatten, die Verzerrung des Raumes auf einen nicht mehr im Bild liegenden Fluchtpunkt hin, die geisterhaft leeren Gesichter der Zeichenpuppen. Eines Nachmittags bat Eleonora, Sarah malen zu dürfen, und Sarah war geschmeichelt und merkte erst später, welche Arbeit damit verbunden war, keine geworfenen Haare und keine für wenige Momente gehaltenen Posen, sondern stundenlanges Sitzen in der immergleichen Haltung, bis ihr alles weh tat, und doch war es ein eigenartiger Kitzel, die stilisierten Säulen des Innenhofes, vor denen sie posiert hatte, davor ihr Abbild, das sich weicher und klarer aus der Leinwand hob, als sie es vom Shootingfootage und den retuschierten Abzügen gewohnt war. Und bald war Eleonora ganz versunken, und sie arbeiteten jeden Tag, sodass Sarah kaum noch an den Strand kam, selbst wenn Tommaso zu Hause war, bat Eleonora sie für ein oder zwei Stunden auf das Podest, das einige Hausangestellte morgens im Atelier aufstellten und abends wieder abbauten, und es hatte etwas sehr Intimes, Eleonoras tiefen, konzentrierten Atem von jenseits der Leinwand zu hören, bis sie endlich wieder dahinter auftauchte und Sarahs Körper studierte, Körperteil um Körperteil, und je öfter und je länger sie von Eleonora gemalt wurde, desto weicher wurde Sarah und desto mehr kam sie ins Fließen, und auf einer fünf mal fünf Meter großen Leinwand lag Sarah mit geöffneten Beinen da und blickte den Betrachter fragend an, sie hielt eine bräunlich angelaufene Birne in der Linken, hinter ihr ein scharfkantig geschnittener Kirchturm, der alles hart überschattete. Tommaso fand es erotisch, aber als Marina das Gemälde zu sehen bekam, erkannte Sarah die Verachtung in ihrem Blick, sie müsse das verstehen, erklärte Eleonora später, Marina sei ihrem Bruder immer sehr nah gewesen, sie habe ihn immer beschützt, habe Tommaso, als er noch klein war, in den Schlaf gesungen und sei kaum je von seiner Seite gewichen, sie seien gemeinsam unterrichtet worden, trotz des Altersunterschiedes, und auch heute berieten sie die Ausrichtung von Unternehmen und Partei stets zu zweit, noch ehe sie mit Gaetano sprächen. Es wurde September, und Tommaso fuhr mit Sarah an den abgeschirmten Privatstrand der Bentivoglios, und als die Sonne unterging, kam Wind auf, dass Sarahs Kleid ihm ins Gesicht schlug, während er vor ihr kniete, und es war ganz kitschig. Einige Tage verbrachten sie in Paris, dann musste Tommaso nach Rom und Sarah nach Warschau zu einem Shooting, aber eine Nacht noch wollten sie in der Familienresidenz in Cobiara verbringen, um die Verlobung angemessen zu feiern, und während des Essens sprach vor allem Eleonora und Gaetano blinzelte gnädig vom Tischende her. In der Nacht hörte Sarah ein scharrendes Geräusch auf dem Flur, sie zog einen Morgenmantel über und ging hinaus, und da stand Marina vor ihr, gerötete Augen, die Schminke verschmiert, und sie fragte mit rauer Stimme, ob es Sarah denn wenigstens gefalle, ihre Möse überall in die Kamera zu halten, und sie kam ganz nah an Sarah heran, ob es ihre Hurerei gewesen sei, die Sarahs Mutter in den Wahnsinn getrieben habe, und Sarah machte eine Bewegung und Marina taumelte, fiel, und plötzlich stand Tommaso in der Tür und Marina kroch zu ihm und zog sich an ihm hoch, ihre Atmung ging spastisch und sie konnte kaum sprechen. Eleonora war aus dem Ostflügel gekommen und stand für einen Moment nur da und betrachtete Marina an der Brust ihres Bruders und Sarah blass mit dem Rücken zur Wand, und Eleonora führte Marina zurück auf ihre Etage und sagte, Gaetano werde sofort Benito anrufen, Benito war der Arzt der Familie, bei dem Sarah später auch eine Hormontherapie machen musste, und getrennt haben sich Sarah und Tommaso erst einige Jahre später, da hatte sie schon zwei Kinder geboren und trotzdem noch eine tolle Figur, und die Bentivoglios hatten Sarah noch sehr lange vorspielen können, dass Marina nur manchmal ihre nervösen Aussetzer habe, erst während der zweiten Schwangerschaft wusste sie wirklich Bescheid, weil die gemeinsamen Dienstreisen von Marina und Tommaso immer häufiger wurden und länger und weil sie auf dem Weg nach Davos einen Abstecher an den Strand von Antigua machten und weil Marina immer weniger in der Lage war, sich zurückzuhalten, und immer aggressiver wurde, weil sie ihren Bruder eben ganz für sich wollte, und Tobi meinte, Sevgi sei davon überzeugt, dass das mit den Drogen in Madrid eine Falle gewesen sei, weil Sarah wirklich nie etwas mit Drogen zu tun gehabt habe, und wegen dieser Drogensache habe Sarah im Sorgerechtsstreit mit den Bentivoglios sofort alles verloren, und so hätten die Bentivoglios am Ende bekommen, was sie wahrscheinlich von vornherein gewollt hätten, nämlich genetisch unbelasteten Nachwuchs für den Clan, und ansonsten sei ja alles in der Familie geblieben. Und soweit ich weiß, wird Sarah demnächst hier in der Nähe in eine Einrichtung kommen, und Tobi meinte Nervenzusammenbruch, und ich dachte, vielleicht gehe ich mal vorbei und bringe Blumen.