Rößner, Susanne Ein Sommer, der nach Liebe schmeckt

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Für Christine und Paolo, Lisa und Daniele
Danke, dass ihr euch auf dieses Abenteuer eingelassen habt.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München (Brot und Weinranken)
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Prolog

»Darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?« Lars unterstrich die Wichtigkeit seiner Worte, indem er sich von seinem Stuhl erhob und mit einem kleinen, noch unbenutzten Dessertlöffel an sein Weinglas klopfte.

Alle Blicke wandten sich ihm zu, und so merkte niemand, dass Anna ihre Lippen für einen winzigen Augenblick zusammenpresste. Sie mochte es nicht, wenn Lars eine seiner Ankündigungen machte. Vor allem wenn er, wie diesmal auch, vorher nicht mit ihr absprach, was er dem kleinen Kreis, der hauptsächlich aus seinen Freunden bestand, zu sagen hatte. Meist kam dabei etwas heraus, was Anna entweder überrumpelte oder, schlimmer noch, vor den Kopf stieß.

»Anna? Liebling?«

Anna schreckte hoch. Als sie merkte, dass sieben Augenpaare erwartungsvoll in ihre Richtung blickten, überzog ein Hauch von Röte ihr Gesicht. Verlegen tupfte sie sich mit ihrer Serviette den Mund ab. »Entschuldigt bitte«, sagte sie schnell. »Mir ist gerade ein Gespräch mit einem Kunden durch den Kopf gegangen.«

Alle nickten verständnisvoll, nur ihre beste Freundin Isabella musterte sie mit einem wissenden Lächeln. Ihr war klar, dass Anna über alles Mögliche gegrübelt haben mochte, in der Firma hingegen war sie in Gedanken aber mit Sicherheit nicht gewesen.

Isabella war die einzige Person aus Annas Freundeskreis, die wenigstens ansatzweise Lars’ Gefallen gefunden hatte. Alle anderen waren ihm zu wild, zu unangepasst, und zudem tat er sich schwer im Umgang mit Menschen, die nichts zu sagen hatten. Und das waren seiner Meinung nach so ziemlich alle Bekannte, die Anna ihm in den drei Jahren ihrer Beziehung vorgestellt hatte.

»Um eines gleich vorwegzunehmen«, setzte Lars an, »Anna kann es nicht leiden, wenn ich etwas aushecke. Insbesondere dann nicht, wenn meine Idee sie auch nur im Entferntesten betrifft, ich ihr aber nichts davon verrate, bis ich Nägel mit Köpfen gemacht habe. Deswegen muss ich mich bei dir entschuldigen, Liebling.« Lars zwinkerte ihr zu und hob sein Glas. »Auf Anna.«

Folgsam streckten die anderen ihre Gläser in Annas Richtung und stimmten in den Trinkspruch ein.

Unter dem Tisch spürte Anna, wie sich Isabellas Bein gegen ihres drückte. Die Berührung signalisierte ihr, dass sie nicht alleine war. Ich bin für dich da. Immer. Tief durchatmen, so übel wird es schon nicht werden.

Anna biss sich auf die Unterlippe. Und ob es schlimm war. Vermutlich sogar schlimmer als alles Bisherige. Sie ahnte, was gleich kommen würde: Lars’ Vermutungen zufolge mehrten sich die Gerüchte in der Kanzlei, in der er als Rechtsanwalt arbeitete, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihm eine Partnerschaft angeboten wurde. Und nun war es offensichtlich so weit. Auch wenn es natürlich großartig war, dass er von seinen Chefs so geschätzt wurde; das damit einhergehende großspurige Gehabe, das Lars die nächsten Wochen, wenn nicht gar Monate an den Tag legen würde, war ihr aber ausgesprochen zuwider. Trotzdem verstand sie, dass er stolz auf sich war. Es war ihm wichtig, und sie würde ihm seinen Erfolg nicht verleiden. Sie lächelte zuckersüß. »Danke, Lars. Du bist ein Schatz.«

»Dann wäre das ja geklärt.« Lars strahlte. »Und damit komme ich jetzt einfach zum Punkt.« Er kam um den Tisch herum und ging ohne Vorwarnung vor Anna auf die Knie.

»Anna, du weißt, ich liebe dich. So sehr, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen möchte. Ich bin mir sogar so sicher, dass ich all unsere Freunde als Zeugen dabeihaben möchte, wenn ich verkünde, dass ich dich heiraten möchte.«

Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. Anna sah Lars mit großen Augen an, noch nicht in der Lage zu begreifen, was er gerade gesagt hatte. Und auch die kleine Runde, die gebannt an seinen Lippen gehangen hatte, brauchte einen Moment, um zu verstehen.

»Oh, Schatz.« Mehr brachte Anna in ihrer Überraschung nicht heraus. Mit einem Heiratsantrag hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Sie war so überrumpelt, dass sie automatisch ihr Gesicht verzog und mit Mühe etwas zustande brachte, das wie ein Lächeln aussah.

Bevor Lars jedoch merken konnte, was in seiner Freundin vorging, brach ein ohrenbetäubender Jubel aus.

»Wie großartig!«

»Klasse. Herzlichen Glückwunsch euch beiden!«

»Mann, Lars, alter Junge, du bist ein richtiger Schelm. Gratuliere!« Begeistert klopfte Lars’ bester Freund Robert ihm auf die Schulter, kaum dass der sich wieder erhoben hatte, bevor die anderen sich nach vorne drängen und ebenfalls gratulieren konnten. In der Euphorie, die das Grüppchen erfasst hatte, schien kaum jemand wahrzunehmen, dass sich einige von ihnen zwischen das glückliche Paar geschoben und damit Anna unwissentlich eine Verschnaufpause verschafft hatten, die sie dafür nutzen konnte, ihre Überraschung hinter einer Begeisterung zu verstecken, die in ihrer Maskenhaftigkeit mehr einem Grinsen glich. Und so merkte nur eine einzige Person, dass das Lächeln auf Annas Gesicht ihre Augen nicht erreichte.

Isabella kannte Anna gut genug, um zu erkennen, dass ihre Freundin kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Wenn sie Annas Miene richtig deutete, waren es allerdings keine Freudentränen. Kurzerhand stand sie auf, zog Anna vom Stuhl und sagte laut: »Wunderbar! Lass dich drücken.«

Sie zog Anna fest an sich und flüsterte in ihr Ohr: »Du machst das super. Einfach weiteratmen. Ein und aus. Prima. Und jetzt wirfst du Lars einen verliebten Blick und eine Kusshand zu. Er sieht nämlich schon die ganze Zeit her und wartet auf eine Reaktion von dir.«

Nachdem Anna Isabellas Anweisungen wie mechanisch befolgt und Lars sich beruhigt wieder seinen Freunden zugewandt hatte, umarmte Isabella Anna erneut in einem gespielten Freudenausbruch und drehte sie fast unmerklich so weit herum, bis Anna mit dem Rücken zu den anderen stand.

»Gnadenfrist«, wisperte Isabella. »Im Moment kann dich keiner sehen. Du hast geschätzte fünfzehn Sekunden, in denen du aufhören kannst, so zu tun, als ob Lars dir gerade die Sterne vom Himmel geholt hat. Falls jemand herüberkommt, warne ich dich rechtzeitig. Dann musst du wieder gute Miene zu diesem etwas seltsamen Spiel machen.«

Nun musste Anna tatsächlich kichern. Und dann fand sie das Ganze derart absurd, dass sie den restlichen Abend nicht mehr damit aufhören konnte.

Kapitel 1

Drei Tage später traf Anna sich nach der Arbeit mit ihrer Clique im Biergarten. Das Buschtelefon hatte ganze Arbeit geleistet und auch die Freunde zusammengetrommelt, die weder von Anna selbst noch von Isabella über den außerordentlichen Hergang des Abends informiert worden waren.

»Wie geht’s dir? Jetzt, wo du Königliche Hoheit wirst?«, wollte Elli wissen, die Lars am allerwenigsten ausstehen konnte und ihn immer als selbstverliebten Prinzen betitelte.

»Hör bloß auf«, winkte Anna ab. »Und lass uns bitte warten, bis die anderen hier sind, sonst muss ich alles fünf Mal erzählen.«

Als Hannes, der wie immer eine halbe Stunde zu spät kam, endlich eintrudelte, lagen Ellis Nerven blank.

»Jetzt erzähl schon«, forderte sie Anna auf, nachdem sie aus dem mitgebrachten Picknickkorb eine Reihe von Köstlichkeiten hervorgezaubert hatte.

»Mmh, ist das lecker!«, sagte Anna genüßlich. Sie liebte die Tradition, eigenes Essen in die nicht bewirtschafteten Teile der Münchner Biergärten mitbringen zu dürfen. Vor allem, wenn die Inhaberin eines feinen kleinen Partyservices ihren großen Korb mit den schönsten Leckereien vollgepackt hatte. Nur die Getränke musste man vor Ort kaufen, das war ein ungeschriebenes Gesetz.

»Wenn du nicht sofort mit der Sprache rausrückst, bekommst du aber nichts hiervon«, scherzte Elli und hielt Anna eine Keramikdose vor die Nase, aus der es geradezu himmlisch duftete.

»Ohh.« Verzückt schnupperte Anna und verdrehte vor Wonne die Augen. »Was ist das denn?«

»Das verrate ich dir nicht.«

Seufzend legte Anna die knusprige Breze auf das weiß-rosa Tischtuch mit den hübschen gestickten Herzen, das Elli auf dem Biertisch ausgebreitet hatte. Sie kam sich mit einem Mal kindisch vor. Und doch hätte sie viel darum gegeben, nicht darüber reden zu müssen, was Lars’ Antrag – wenn man es denn so nennen konnte, da es vielmehr ein Beschluss gewesen war – in ihr ausgelöst hatte.

Sie trank einen Schluck von ihrem Radler und holte tief Luft. Als ihre Freunde zu lachen anfingen, sah sie irritiert auf. »Was ist denn?«

Isabella, die neben ihr saß, legte einen Arm um Annas Schultern und drückte sie an sich. »Du bist einfach süß. Die Einzige, die das nicht merkt, bist aber du selbst. Und jetzt erzähl endlich.«

 

»Und wisst ihr, was das Schlimmste an der Sache ist?«, fragte Anna mit einem schrägen Lächeln, nachdem sie einen vollumfänglichen Bericht über den Verlauf des besagten Abends abgeliefert hatte. »Dass Lars bis jetzt nicht gemerkt hat, dass er mich nie gefragt hat, ob ich ihn überhaupt heiraten will. Er hat verkündet, dass er mich genug liebt, um sein Leben mit mir zu verbringen, und das war’s.«

»Was meine Meinung von ihm nur bestätigt.« Hannes machte aus seiner Abneigung kein Hehl.

»Wie meinst du das?«, fragte Anna, obwohl sie bereits wusste, dass Lars ihre Freunde des Öfteren vor den Kopf gestoßen hatte.

»Ich denke, dass er ein versnobter Schnösel ist. Dabei ist er so ein Langweiler.«

Isabella tat es in der Seele weh zu sehen, wie Anna unter der Kritik litt. Auch wenn jedem klar war, dass Lars es sich selbst zuzuschreiben hatte, dass er bei Annas Freunden unten durch war; schließlich war er es gewesen, der von Anfang an klar und deutlich kommuniziert hatte, dass ihr Freundeskreis dem seinem das Wasser nicht reichen konnte. Anna hatte eine Zeit lang versucht, zwischen allen Beteiligten zu vermitteln, und untersagt, dass die eine Seite schlecht über die andere redete, doch schließlich hatte sie eingesehen, dass es keinen Weg gab, alle unter einen Hut zu bringen. Außerdem machte es ihr deutlich mehr Spaß, wenn sie ihre Freunde alleine traf. Das zumindest hatte sie sich nicht nehmen lassen und Lars’ Einwände unmissverständlich im Keim erstickt: »Ganz ehrlich, es ist mir zwar alles andere als egal, dass ihr euch nicht leiden könnt, aber ich werde keinen einzigen meiner Freunde aus meinem Leben streichen, egal, wie schräg er vielleicht drauf sein mag.« Die Anspielung galt insbesondere Grazia, die ausgefallene Outfits liebte. Ob das eine Bikerkluft war, die sie mit einer edlen Bluse kombinierte, oder ob sie im Flower-Power-Look herumlief. Den Vogel hatte sie jedoch abgeschossen, als sie auf einer der wenigen Partys, auf der beide Freundeskreise vertreten waren, mit einem coolen, bodenlangen schwarzen Mantel auftauchte, unter dem sie ein Rüschenhemd, hautenge schwarze Leggins und Overkneestiefel trug. Ein schwarzer, mit Swarovskisteinen besetzter Zylinder hatte das Outfit vervollständigt. Dass sie dazu ein Gesicht wie ein Engel hatte, ließ sie so unwirklich erscheinen, dass niemand den Blick von ihr hatte wenden können.

 

»Das heißt, du hast ihm noch keine Antwort darauf gegeben?«, fragte Grazia neugierig.

Anna schüttelte den Kopf. »So wenig, wie er mich gefragt hat, so wenig kann er sich wohl vorstellen, dass ich ihn vielleicht überhaupt nicht heiraten will.«

»Und was heißt das nun?«, hakte Elli nach. »Willst du oder willst du nicht?«

Unentschlossen zuckte Anna mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Doch«, intervenierte Grazia. »Du weißt es genau. Du willst es nur nicht wahrhaben.«

»Das kapiere ich nicht«, gestand Hannes. »Ich meine, woher willst du es denn besser wissen als unser kleiner Unglücksrabe hier?«

»Also hör mal, wie kannst du so was auch nur fragen?«, empörte sich Isabella, wobei ihr Zwinkern verriet, dass sie es nicht so ernst meinte. »Die durchschnittliche Frau träumt ab der ersten Barbiepuppe davon, irgendwann den einen, einzigen, ja einzigartigen Prinzen zu treffen, der um ihre Hand anhält. Nicht umsonst macht eine ganze Branche ein Riesentrara und schwindelerregende Umsätze mit dem schönsten Tag im Leben. Heutzutage organisiert man sogar einen Hochzeitsplaner, wenn man etwas auf sich hält.« Sie verdrehte die Augen. »Und nun ist Anna genau das passiert: Der reiche, gut aussehende Prinz kniet vor ihr, gesteht ihr seine ewige Liebe und verkündet, dass er sein restliches Leben an ihrer Seite verbringen will.« Sie machte eine kleine Pause und wandte sich dann direkt an Anna. »Und wenn das dein Herz nicht zum Hüpfen bringt, du vor lauter Glückshormonen nicht schon beim ersten Hahnenschrei aus den Federn springst oder wenigstens noch im Bett Kataloge mit Hochzeitskleidern durchblätterst, ist die Rechnung ganz einfach: Du willst nicht heiraten. Und zwar aus einem guten Grund.« Isabella atmete tief ein, dann sah sie Anna fest in die Augen. »Weil Lars eben nicht der Prinz ist, von dem du dein Leben lang geträumt hast.«

Mit einem Mal senkte sich eine seltsame Stille über den Tisch.

»Aber das würde ja bedeuten …«, sagte Grazia nach einer Weile mit belegter Stimme. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Wenn Isabella recht hat, bleibt dir im Grunde genommen nur noch ein Weg. Und zwar, dass du dich von ihm trennst.«

»Spinnst du?«

»Großartige Idee!«

»Findest du nicht, dass du etwas übertreibst?«

Elli, Hannes und Isabella redeten auf einmal wild durcheinander.

»Hey, hey, langsam.« Grazia hob beschwichtigend die Hände. »Nicht alle auf einmal.« Sie sah Anna nachdenklich an. »Nein, ich spinne nicht. Aber wenn Lars nicht der Richtige ist, wäre es ein Fehler, mit ihm zusammenzubleiben. Weil du dir damit doch die Chance, den Menschen kennenzulernen, mit dem du wirklich dein Leben verbringen willst, gründlich verbaust.« Sie wandte sich an Hannes und drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger. »Und du halte dich zurück. Wir alle wissen, was du von Lars hältst. Das interessiert aber gerade keinen hier.«

»So ein Blödsinn«, entgegnete er. »Du kannst ihn doch genauso wenig ausstehen.«

»Das muss ich aber nicht alle naselang kundtun«, sagte Grazia spitz. »Das ist nämlich ziemlich verletzend, capito?«

»Hört auf, bitte.« Anna stützte ihr Kinn auf die Hände. »Ihr habt irgendwie alle recht. Zumindest was seine schlechten Seiten anbelangt. Aber die hat doch jeder von uns, oder nicht?« Als alle folgsam nickten, fuhr sie fort. »Na also. Und Lars hat auch viele gute Seiten.«

»Und zwar welche? Au!« Hannes sah Isabella böse an, die ihm unter dem Tisch prompt gegens Schienbein getreten hatte. »Ich meine das ernst. Ich will von Anna wissen, was sie an ihm mag.«

Isabella kniff die Lippen zusammen und verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass er das auch anders hätte formulieren können.

»Ich finde die Frage gut«, bestätigte Grazia. »Erzähl uns, was dir an Lars gefällt.«

»Er ist zuverlässig und aufmerksam, wir mögen die gleichen Sportarten wie Langlaufen, Schwimmen, Wandern und Radfahren, kochen gern zusammen, lieben die gleichen Filme, gehen gern in Museen …« Anna hielt inne, als ihr auffiel, dass die anderen ihr förmlich an den Lippen hingen und offensichtlich nur darauf warteten, dass sie endlich von Liebe sprach.

»Das hört sich nicht wirklich überzeugend an, was?«, fragte sie schließlich.

»Hmm, doch, doch, das tut es«, versuchte Isabella, sie wieder aufzurichten. »Wenn es nur um eine Freundschaft ginge, wäre das absolut großartig. Aber es geht darum, ob du an diesem einzigartigen Tag – und das sollte er doch wirklich sein«, betonte sie mit einem Blick auf Grazia, »zu einem Mann Ja sagen willst, den du ganz offensichtlich nicht liebst.«

»Du irrst dich«, widersprach Anna, nachdem sie eine Weile über Isabellas Worte nachgedacht hatte. »Ich liebe ihn schon. Vielleicht auf eine andere Art und Weise, als wir uns das mit dem Prinzen vorgestellt haben. Nichtsdestotrotz empfinde ich viel für ihn. Dennoch habt ihr mit euren Bedenken natürlich recht. Tief in meinem Inneren wünsche ich mir immer noch den edlen Ritter mitsamt seinem weißen Pferd, der mein Herz höherschlagen lässt, wenn ich nur an ihn denke.«

»Was bist du nur für eine süße Träumerin.« Grazia lächelte angesichts der verklärten Miene ihrer Freundin. »Ich wünsche dir von Herzen, dass du genau diesen Gesichtsausdruck zur Schau trägst, wenn du vor dem Traualtar stehst. Aber ich bezweifle, dass das so sein wird, wenn du Lars heiratest.«

Hannes nahm Anna in den Arm und flüsterte in ihr Ohr: »Sei mir nicht böse, dass ich so allergisch auf deinen Typen reagiere. Aber du weißt auch, dass er sich das selbst zuzuschreiben hat, richtig?« Er schob sie wieder ein kleines Stück von sich weg und sah ihr fest in die Augen. »Und du weißt hoffentlich auch, dass ich dir, genau wie die drei Mädels, nur das Beste wünsche. Also bitte überleg dir genau, ob du dir das antun willst. Von uns glaubt nämlich wirklich niemand daran, dass er der Mann ist, der dich glücklich machen wird.«

 

»Schlaf noch ein paar Nächte drüber«, riet ihr Isabella, als die kleine Runde sich auflöste. »Aber triff bald eine Entscheidung. Es wäre ja Lars gegenüber auch nur fair, wenn er so bald wie möglich erfährt, dass du ihn vielleicht gar nicht heiraten willst, oder?« Und als Anna nickte, fügte sie hinzu: »Kopf hoch, Würmchen. Schlimmer als jetzt kommt es nicht mehr, und das ist ja auch schon mal was.«

Wie gut, dass in diesem Augenblick niemand wusste, wie schlimm alles noch werden würde.

 

Am nächsten Morgen wachte Anna tatsächlich mit dem ersten Hahnenschrei auf. Prompt fühlte sie sich wie gerädert, was unter anderem daran lag, dass sie bis tief in die Nacht hinein wach gelegen und gegrübelt hatte. Sie drehte sich auf die linke Seite und öffnete die Augen. Lars lag neben ihr, ruhig wie immer. Nur sein Brustkorb, der sich langsam hob und wieder senkte, sowie der kleine Finger seiner rechten Hand, der ab und zu zuckte, verrieten, dass der Mann neben ihr noch lebte. Bisher war sie überglücklich gewesen, dass er nicht schnarchte. Er trank selten Alkohol und wenn, dann nur in Maßen, da er es hasste, die Kontrolle zu verlieren. Vermutlich hätte er es sogar als Kontrollverlust bezeichnet, wenn er geschnarcht hätte. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte er am selben Tag, an dem er davon erfahren hätte, einen Termin im Schlaflabor ausgemacht.

Schuldbewusst ertappte sich Anna dabei, dass es ihr mit einem Mal lieber gewesen wäre, er würde sägen wie ein Holzfäller. Dann hätte sie wenigstens einen guten Grund, sauer auf ihn zu sein.

Leise schlug sie die Decke zurück und tapste ins angrenzende Bad. Obwohl sie vor bereits zwei Jahren zu Lars in die große Dachterrassenwohnung gezogen war, die seine Eltern als Kapitalanlage gekauft hatten und ihm zu einem mehr als günstigen Mietzins überließen, war sie jeden Tag aufs Neue von dem Luxus überrascht, den allein das Badezimmer ausstrahlte. Die Wände waren mit großen hellsandfarbenen Steinplatten gefliest, die schwellenlose Duschkabine war so groß, dass fünf Personen darin Platz gefunden hätten, und selbst der Abfluss, ein schmaler, etwa fünfzig Zentimeter langer Schlitz an der Wand, wirkte elegant. Dass die Toilette sich diskret in einem Nebenzimmer verbarg, war ebenso selbstverständlich wie das gemütliche, cremefarbene Loungesofa, das der großen Badewanne gegenüberstand.

Nachdem sie die Toilette benutzt, sich die Hände gewaschen und die Zähne geputzt hatte, setzte sie sich auf das Sofa und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Obwohl sie die halbe Nacht nachgedacht hatte, war ihr keine zündende Idee gekommen, welcher der richtige Weg war, und vermutlich würde sie auch in der nächsten halben Stunde kein Geistesblitz streifen. Deshalb beschloss sie mit einem Blick auf die Uhr, dass sie noch genügend Zeit hatte, um das kleine Fitnessstudio zu benutzen, das Lars am anderen Ende des Flurs eingerichtet hatte, bevor sie sich duschte. Nur vorher noch fünf Minuten die Augen schließen und in sich hineinfühlen.

 

»Hier bist du.« Lars rüttelte vorsichtig an Annas Schulter. »Ich dachte schon, du wärst getürmt, weil es hier so ruhig war.«

Schlaftrunken richtete Anna sich auf. Einen Moment lang hatte sie keine Ahnung, wo sie war. Dann merkte sie, dass sie im Badezimmer eingeschlafen war und Lars sie erwartungsvoll ansah. Offensichtlich hatte er einen Spaß gemacht, über den sie sich nun gebührend amüsieren sollte.

»Großartig«, umschiffte sie geistesgegenwärtig seinen Scherz und ließ dabei offen, ob sie das Wetter meinte oder seinen Witz, wenn sein Spruch diese Bezeichnung überhaupt verdient hatte. »Wie spät ist es?«

»Halb acht.«

»Oh nein!«, murmelte Anna. Schlagartig wurde ihr klar, dass die Zeit weder für eine Dusche noch für eine Aussprache reichen würde. Mit einem Satz sprang sie auf, rannte ins Ankleidezimmer, das das Schlafzimmer mit dem Bad verband, zog eine kurze weiße Leinenbluse und einen geblümten Sommerrock hervor und stürmte zurück zum Waschbecken. Lars’ Protest, der es nicht leiden konnte, wenn er das Badezimmer nicht für sich alleine hatte, auch wenn er sich zwanzig Minuten nicht aus der Dusche rühren würde, ignorierte sie.

»Dreh dich halt um, wenn du mich nicht sehen magst«, brummte Anna, zog eine Schranktür auf und holte einen Waschlappen hervor. Nachdem sie mit ihrer Katzenwäsche, einem flüchtigen Schminken und Anziehen fertig war, ging sie in die offene Küche und betätigte den chromglänzenden Vollautomaten. Sie hatte ihren Kaffee kaum ausgetrunken, als Lars, nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen, ins Wohnzimmer kam.

 

Anna warf einen raschen Blick auf die Uhr. Mist. Wenn sie nicht auf der Stelle verschwand, bekam sie ein Problem. Ein Interessent hatte sich für halb neun Uhr angesagt, und sie sollte ihm zwei Vorschläge für die Umgestaltung seiner Büroräume präsentieren. »Tut mir leid, ich muss los, sonst erwische ich meinen Bus nicht mehr.« Sie stellte ihre Kaffeetasse kurzerhand auf die Spüle, warf Lars eine Kusshand zu, dann stürmte sie aus der Wohnung.

In letzter Sekunde hatte sie es geschafft, in den Bus zu springen, als auch schon ihr Handy piepste. Ohne hinzusehen wusste sie, dass die SMS von Lars war. Er war der Einzige in ihrem Freundeskreis, der sich der Benutzung von WhatsApp vehement verschloss und ihr jede Woche mindestens einen Vortrag über Datenschutz hielt. Als wenn sie das nicht selbst wüsste. Dass sie niemals vertrauliche Dinge über ihr Telefon verschickte, interessierte ihn nicht, deswegen hatte sie irgendwann aufgegeben, ihm zu widersprechen.

Als das Telefon noch zwei weitere Male piepste, zog sie es schließlich doch aus ihrer Tasche. Sie war kurz davor, ihn anzurufen und zu fragen, wie seine Auffassung einer respektvollen Beziehung damit zusammenpasste, dass er so lange eine Nachricht nach der anderen schickte, bis sie endlich darauf antworten würde.

Über die Kaffeetasse reden wir noch! Du weißt doch, dass ich es nicht gerne sehe, wenn benutztes Geschirr in der Spüle steht!

Ich weiß genau, dass du meine Nachricht mitbekommen hast, also bitte antworte mir.

Sie zu ignorieren macht es auch nicht besser.

»Ist ja schon recht«, murmelte Anna unwillig. Obwohl sie zugeben musste, dass eine stets picobello aufgeräumte Wohnung durchaus etwas Positives hatte, fand sie trotzdem, dass Lars’ Ordnungswahn grenzwertig war. Früher war sie nach der Arbeit einfach aus ihren Klamotten geschlüpft, hatte das, was nicht in die Wäsche musste, locker über einen Stuhl gehängt und den Rest im Vorbeigehen in die kleine Wäschetonne geworfen, ohne die Teile vorab nach Weiß-, Bunt- und Feinwäsche zu sortieren. Doch das hatte sich mit dem Einzug in Lars’ Wohnung grundlegend geändert. Er betrachtete allein den nicht weggeräumten Kaffeebecher als Todsünde, von achtlos hingeworfenen Wäschestücken ganz zu schweigen. Seit Anna ihren Freunden erzählt hatte, was für ein Ordnungsfanatiker Lars war, hieß die Wohnung bei ihnen seither nur noch das Museum.

Bevor Anna den Bus in Trudering verließ, um in die U-Bahn umzusteigen, piepste es schon wieder.

Übrigens: Sei heute nach der Arbeit bitte pünktlich. Ich habe eine Überraschung für dich.

Annas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass etwas Erfreuliches auf sie zukommen würde, von der zu erwartenden Diskussion wegen des Geschirrs ganz zu schweigen. Und von Überraschungen hatte sie derzeit die Nase gehörig voll.

 

Kurz nach siebzehn Uhr streckte Anna ihren Kopf in Hannes’ Büro. Er war nicht nur ihr Chef und der Inhaber des kleinen Innenarchitekturbüros, er war in den Jahren, in denen sie für ihn arbeitete, ein guter Freund geworden. Als er sie in der Tür stehen sah, überzog ein Lächeln sein Gesicht. Da er telefonierte, winkte er sie mit dem Stift, den er in der Hand hielt, herein, deutete auf einen freien Stuhl und musterte sie mit einem seltsamen Ausdruck.

»Aha. Ja, das kann sein.« Er blätterte in seinem Kalender, zog die Stirn in Falten, dann sagte er knapp: »Das wird wohl gehen müssen.« Er verdrehte die Augen, als er seinen Gesprächspartner trotz mehrmaliger Versuche nicht unterbrechen konnte. Als Anna den Mund verzog und auf die Uhr deutete, hielt er kurzerhand den Telefonhörer zu. Da der Anrufer inzwischen angefangen hatte, von seinem letzten Urlaub in Tansania zu erzählen, reichte es, wenn Hannes gelegentlich ein anerkennendes toll oder großartig einwarf.

»Ich wollte unbedingt noch mit dir reden«, flüsterte er eindringlich. »Aber ich muss mit Magnus Staller noch ein paar Details klären«, beantwortete er auch gleich die Frage, die Anna ins Gesicht geschrieben stand. Der hartnäckige Anrufer war ihr derzeit wichtigster Kunde. »Das lässt sich nicht aufschieben, weil er in zwanzig Minuten nach Rom fliegt. Kannst du noch etwas warten?«

»Nein«, bedauerte Anna. »Ich muss in fünf Minuten los. Lars hat mich schon heute früh eindringlich darum gebeten, pünktlich nach Hause zu kommen.«

»Mist.« Hannes verzog den Mund, als ob er Zahnschmerzen hätte. »Keine Chance?«

»Wenn es irgendwo brennt, bleibe ich natürlich.« Anna nickte zur Bekräftigung ihrer Worte. »Ansonsten würde ich es gerne auf morgen verschieben, sonst kann ich mich nachher auf einen von Lars’ berühmten Vorträgen gefasst machen.«

»Mist«, sagte Hannes erneut. »Aber, um deine Frage zu beantworten: Nein, es brennt nichts. Es wäre etwas Privates gewesen. Aber geh besser, bevor du Ärger bekommst.«

 

Obwohl Anna Hannes’ Verhalten ziemlich merkwürdig fand, hatte sie es bereits wieder vergessen, als sie in die überfüllte U-Bahn stieg. Dass zu Hause eine Überraschung auf sie wartete, von der sie nicht die geringste Ahnung hatte, welcher Natur auch immer sie sein mochte, lag ihr schon den ganzen Tag wie ein Stein im Magen. Zu gut kannte sie Lars’ mangelnde Feinfühligkeit, dementsprechend konnte es von einer Weltreise über einen Hund alles bedeuten. Wobei sie Letzteres eigentlich ausschloss, da sie das Thema im Vorjahr ausführlich durchgekaut hatten, als er eines Tages mit einem niedlichen Welpen auf dem Sofa auf sie gewartet hatte. Ihren sofortigen Einwand, dass sie, obwohl sie sich in den entzückenden Pudel sofort hätte verlieben können, mit einer nicht zu unterschätzenden Allergie gestraft war, hatte er mit einem Achselzucken und den Worten, dass es schon nicht so schlimm werden würde, abgetan. Als ihm am nächsten Morgen dann ein verquollenes und fast nicht mehr wiederzuerkennendes Gesicht entgegenblickte, hatte er den kleinen Rüden wieder zurück zum Züchter gebracht.

 

Anna atmete tief durch, wappnete sich für das, was gleich auf sie zukommen würde, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Als sie, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, eine schrille Stimme aus dem Wohnzimmer vernahm, war sie drauf und dran, wieder den Rückzug anzutreten. Doch just in diesem Augenblick kam ihr Schwiegervater in spe aus der Gästetoilette und hätte sie fast über den Haufen gerannt.

»Ach, hallo Anna«, begrüßte er sie freundlich.

»Hallo Jürgen«, piepste sie und räusperte sich, um den Frosch in ihrem Hals hinunterzuschlucken. »Was machst du denn hier?«

»Lars hat uns vorgestern angerufen und uns die freudige Nachricht verkündet«, sagte Jürgen Schmitz verlegen. »Und du kennst ja meine Frau. Sie hat natürlich sofort darauf bestanden, dass wir …«

Was das gewesen sein könnte, ließ er unter den Tisch fallen, da Lars in den Flur kam und die beiden erstaunt musterte. »Dachte ich es mir doch, dass ich euch reden gehört habe«, sagte er leichthin und gab Anna einen Kuss. »Tja, dann hast du deine Überraschung quasi schon ausgepackt.«

»Ah, ach so. Ja, das ist ja ganz großartig«, sagte Anna und bemühte sich, ein erfreutes Gesicht aufzusetzen, was ihr mit Blick auf Lars’ Mutter, die nun ebenfalls zu ihnen in den Flur trat, mehr schlecht als recht gelang.

»Hallo, Anna.« Kühl reichte ihr Lore Schmitz die Hand.

»Hallo, Frau Schmitz.« Im Gegensatz zu Lars’ freundlichem Vater, der Anna gleich am ersten Tag das Du angeboten hatte, konnte sie sich bislang nicht dazu überwinden, die affektierte Mittfünfzigerin mit ihrem Vornamen anzusprechen. Einerseits war es ihr sowieso nie angeboten worden, andererseits fand sie, dass es sich nicht gehörte, egal, was ihre Freunde dazu sagten.

»Also hör mal«, hatte sich Isabella ereifert. »Das kann ja wohl nicht sein, dass sie dich duzt, und du musst Frau Sowieso zu ihr sagen.«

»Zum einen duzt sie mich nicht, sondern nennt mich nur ungefragt beim Vornamen. Zugegebenermaßen ohne mir das Gleiche angeboten zu haben. Zum anderen bin ich froh, wenn ich sie mit dem Nachnamen ansprechen kann. Ich mag sie einfach nicht«, hatte Anna entgegnet.

»Ja, dann wollen wir mal auf die Terrasse gehen«, unterbrach Lars etwas steif Annas Gedanken. Er schien zu spüren, dass seine Überraschung noch nicht den gewünschten Effekt bei seiner Verlobten ausgelöst hatte. Aber das würde sich gleich ändern, dessen war er sich gewiss.

»Was feiern wir denn?«, fragte Anna etwas fassungslos, als sie den Eiskühler sah, in dem eine Flasche Champagner stand.

»Das ist ja wohl kaum eine ernst gemeinte Frage«, sagte Lore Schmitz pikiert. »Eure Verlobung natürlich. Und dass wir gekommen sind, um euch beiden bei der Vorbereitung der Hochzeitsfeier behilflich zu sein.«

»Aber wir haben doch noch gar keinen Termin.« Hilflos blickte Anna zu Lars. Das alles konnte einfach nicht wahr sein. Unmerklich wanderte ihre rechte Hand zu ihrem linken Unterarm, wo sie sich kurz, aber heftig zwickte.

Doch Lars lächelte sie noch immer wohlwollend an. »Deswegen bekommst du jetzt Unterstützung. Das ist klasse, oder? Mama hat extra ihren Sylturlaub sausen lassen, um dir zu helfen.«

»Ach, dann bleibt ihr länger in München?«, fragte Anna und hoffte, dass das nicht der Fall war.

»Vorerst haben wir zwei Wochen eingeplant«, informierte Lore sie spitz. »Wir werden ja sehen, wie weit wir in der Zeit kommen.«

»Prima«, stammelte Anna. »Und wo übernachtet ihr?«

»Bei uns natürlich, Schatz«, sagte Lars, der die Frage nicht im Geringsten nachvollziehen konnte. »Schließlich haben wir genügend Platz.«

 

Nachdem Lars die Champagnerflasche geöffnet und sie alle auf die bevorstehende Hochzeit angestoßen hatten, entschuldigte Anna sich eine halbe Stunde später mit Kopfschmerzen und lief ins Bad. Sie ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt aus dem Hahn rann, dann spritzte sie sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Dass sie ihr Telefon mitgenommen hatte, war keinem der Anwesenden aufgefallen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, flüsterte sie in den Hörer. »Das ist ein totaler Albtraum, und ich habe keine Ahnung, wie ich da wieder rauskommen soll.«

Zuerst hatte sie versucht, Isabella anzurufen, hatte aber nur deren Mailbox erreicht. Grazia dagegen war sofort ans Telefon gegangen und hatte zum Glück Zeit, Anna zuzuhören.

»Du machst jetzt einfach gute Miene zum bösen Spiel, hörst du? Geh wieder raus, bleib bei deiner Behauptung, dass es dir nicht gut geht, und wenn du es gar nicht mehr erträgst, gehst du ins Bett. Lass dich bloß nicht dazu hinreißen, Lars vor seinen Eltern den Kopf zu waschen.« Auch wenn es genau das war, was Grazia in so einem Fall getan hätte. Aber Grazia war eben Grazia, und Anna würde einen derartigen Auftritt ewig bereuen.

 

»Geht es dir besser?«, fragte Lars besorgt, als Anna sich wenig später wieder zu ihnen setzte.

»Nein«, sagte Anna kläglich. »In der Arbeit war heute einiges los, und das war dann alles zusammen etwas viel.«

»Zumindest darüber musst du dir im Moment keine Gedanken machen«, sagte Lars kryptisch. »Was den Stress in der Arbeit anbelangt, meine ich.«

»Wieso?«, fragte Anna irritiert. »Was meinst du damit?«

»Dass er in weiser Voraussicht dafür gesorgt hat, dass sie den Rest der Woche freihaben«, fiel Lore ihrem Sohn ins Wort. Ihr gefiel es sichtlich, vor Anna darüber informiert worden zu sein. Schließlich war sie Lars’ Mutter und damit noch immer die wichtigste Frau in seinem Leben.

»Du hast was?«, wandte Anna sich an Lars. Sie tat sich schwer, den Sinn von Lore Schmitz’ Worten zu erfassen.

»Ich habe mit deinem Chef telefoniert.« Lars grinste schief. Als er Annas schockierte Miene sah, kam ihm für einen Augenblick der Gedanke, dass seine Idee vielleicht doch nicht so brillant gewesen war. Doch er wischte ihn schnell wieder beiseite. »Er ist auch meiner Meinung, dass du jetzt Zeit für dich und die ganzen Vorbereitungen brauchst.«

Anna war sich sicher, dass Hannes ganz und gar nicht Lars’ Meinung gewesen war. Aber immerhin wurde ihr nun klar, weshalb er beinahe verzweifelt gewirkt hatte, dass sie nicht länger bleiben konnte. Wenn das Telefonat nicht dazwischengekommen wäre, hätte er sie vorgewarnt, was sie zu Hause erwartete. Sie biss sich auf die Unterlippe und rief sich Grazias Worte in Erinnerung. Wenn du das ganze Trara nicht mehr erträgst, stellst du dir eben vor, du wärst Schauspielerin im Theater und würdest eine Rolle spielen. Und tatsächlich, das half.

 

»Also dann.« Jürgen hob erneut sein Glas. »Auf euch. Und wir haben auch noch eine Überraschung.« Er warf seiner Frau einen vielsagenden Blick zu.

Folgsam fasste Lore hinter sich und angelte nach ihrer Handtasche. Als sie sie zu fassen bekam, öffnete sie den Reißverschluss, sah hinein und zog einen Umschlag heraus. Bevor sie ihn an ihren Mann weiterreichte, musterte sie Anna mit zusammengekniffenen Augen. Alles an ihr signalisierte, dass sie die Verbindung zwar nicht unbedingt missbilligte, sich aber durchaus eine bessere Partie für ihren Sohn gewünscht hätte.

Jürgen nahm den Umschlag und wollte ihn Anna, die neben ihm saß, in die Hand drücken, wurde jedoch durch einen Tritt gegen sein Schienbein gestoppt.

»Ich finde, Lars sollte ihn öffnen«, sagte Lore säuerlich zu ihrem Mann. »Letzten Endes wird es ja sein …« Sie ließ den Satz unvollendet, da Jürgen warnend den Kopf schüttelte.

Schließlich nahm Anna das Kuvert, das Jürgen ihr noch immer vor die Nase hielt, und reichte es an Lars weiter. »Das ist doch kein Problem«, sagte sie und wünschte sich weit weg. Ihr wäre es am liebsten gewesen, wenn nicht schon im Vorfeld irgendwelche Geschenke verteilt worden wären, aber da sie keine Ahnung hatte, um was es ging, hielt sie doch besser den Mund.

Lars bemerkte Annas gequälten Gesichtsausdruck nicht. Er grinste seine Mutter begeistert an, nahm ein Messer, schob es genüsslich in den Falz und schlitzte das Papier langsam und ordentlich auf. Als er eine Hochglanzbroschüre hervorzog, blickte er voller Erstaunen auf. »Das ist nicht euer Ernst!«

 

Als Anna geschlagene drei Stunden später im Bad stand und sich die Wimperntusche von den Augen wischte, war sie so erschöpft, als hätte sie den Mount Everest bestiegen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass es einen derart auslaugen konnte, wenn man über Stunden hinweg gute Laune vortäuschen und seinen eigentlichen Gefühlen zuwider handeln musste. Jetzt wollte sie nur noch ins Bett, ihr kleines weiches Kopfkissen fest umarmen und sich in den Schlaf weinen.

»Na, was sagst du? Sind meine Eltern nicht großartig?«

Anna schrak zusammen. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie nicht gehört hatte, wie Lars hereingekommen und hinter sie getreten war. Jetzt umarmte er sie und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sein Mund suchte ihren Hals, doch als er anfing, an der zarten Haut zu knabbern, wurde es Anna zu viel.

»Bitte nicht«, sagte sie leise. »Ich hatte den ganzen Abend über fürchterliche Kopfschmerzen, und mittlerweile habe ich das Gefühl, dass mein Schädel gleich explodiert.«

»Schade«, sagte er enttäuscht. »Aber wenigstens verstehe ich jetzt, weshalb du die ganze Zeit so still warst.« Er drehte sie zu sich herum. »Was sagst du denn nun zu der Überraschung, die sich meine Eltern ausgedacht haben?«

»Lars, bitte. Lass mich jetzt einfach, ja? Wir reden morgen darüber.«

»Kannst du nicht einfach eine Tablette nehmen?«, blieb er hartnäckig. Nach den überaus angenehmen Überraschungen, die seine Eltern für das frisch verlobte Paar im Gepäck gehabt hatten, war ihm noch sehr danach, der Zukunft vorzugreifen und an der Familienplanung zu arbeiten.

Kapitel 2

Hannes maß sie mit einem Blick, den sie nur schwer einordnen konnte. »Hallo Anna«, sagte er schließlich mit einem Lächeln. »Willst du nicht reinkommen?«

Sie stieß sich vom Türrahmen ab, durchquerte mit wenigen Schritten den Raum und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Er griff nach dem Telefonhörer und tippte auf eine Kurzwahltaste. »Ich will die nächste halbe Stunde nicht gestört werden. Und«, er hob den Blick und sah Anna an, »bring uns doch bitte zwei Cappuccini und eine Flasche Wasser.«

Bis die Getränke kamen, zeigte Hannes Anna den Ausdruck einer E-Mail, die am Vormittag gekommen war. Ein zufriedener Geschäftspartner bedankte sich und lobte das inzwischen abgeschlossene Projekt in höchsten Tönen.

»Das ist alles dein Verdienst.« Hannes lächelte ihr zu. »Wärst du mit deiner Idee nicht so überzeugend gewesen, hätte ich den Laden vermutlich längst dichtmachen müssen. Aber seit dem letzten Jahr schreiben wir schwarze Zahlen. Endlich. Deswegen wird es auch Zeit, dass wir darüber reden, wie ich dir das angemessen vergüten kann.«

Anna wurde rot vor Freude. Für einen Moment vergaß sie den vergangenen Abend, der ihr eine schlaflose Nacht beschert hatte. Hannes spielte darauf an, dass sie vor einigen Jahren wie aus dem Nichts mit einer Hartnäckigkeit, die ihresgleichen suchte, bei ihm hereingeschneit war, darauf beharrt hatte, den Firmeninhaber zu sprechen, und ihm dann eine Idee unterbreitet hatte, die ihn sprachlos gemacht hatte.

»Das ist ja alles gut und schön«, hatte er damals gesagt. »Um ehrlich zu sein, finde ich die Idee sogar großartig. Ach was, großartig. Sie ist brillant. Es gibt nur einen Haken dabei: Diesen Vorschlag umzusetzen kostet Geld. Viel Geld. Und das ist so ziemlich das Einzige, das wir hier nicht haben. Kommen Sie mal mit.« Er stand auf, hielt ihr galant die Tür auf, führte sie durch die Räume der alten Fabrikhalle, die er angemietet hatte, und stellte sie einer guten Handvoll Mitarbeitern vor, die an Zeichenpulten oder ihren Rechnern an verschiedenen Entwürfen arbeiteten.

»Wir halten uns über Wasser, weil wir allesamt Enthusiasten sind. Isabella zum Beispiel hat ein Hochbegabtenstipendium, was sie ihren Eltern aber verschwiegen hat, da die ihren Worten zufolge in Geld schwimmen und sie monatlich mit einem nicht zu unterschätzenden Betrag unterstützen. Deswegen arbeitet sie meist unentgeltlich. Gerald hat ebenfalls schon mehrfach auf sein Gehalt verzichtet.« Bedauernd strich er sich über sein kleines rotes Bärtchen. »Wir alle träumen davon, dass wir eines Tages große Firmen oder gern auch Privatpersonen im Bereich Innenarchitektur und Raumaustattung beraten dürfen. Und wir sind uns sicher, dass das irgendwann auch so weit sein wird. Um ehrlich zu sein, ist es bis dahin noch ein ziemlich weiter Weg. Aber ich bin davon überzeugt, dass ein so innovativer Vorschlag wie der, den Sie mir gerade unterbreitet haben, einen großen Beitrag dazu leisten könnte, unserem Traum näher zu kommen. Aber leider fehlt das Geld, eine weitere Person einzustellen, von den Mitteln, um Ihre Idee umzusetzen, ganz zu schweigen.«

Hannes Mitarbeiter wurden bei seinen Worten hellhörig. »Um welche Idee geht es denn?«, fragte Isabella neugierig. »Oder ist das topsecret?«

»Na ja, offen gesagt will ich natürlich nicht, dass jemand sie klaut und hinter meinem Rücken selbst verwirklicht«, gestand Anna verlegen. »Aber da man sie sowieso nicht schützen kann, ist es vermutlich wurscht.«

»Dann setzen Sie sich doch zu uns. Wir wollten gerade Mittag machen. Das, was wir haben, passt zwar nicht unbedingt zusammen, aber es reicht zumindest für uns alle. Und dann berichten Sie uns von Ihrer Idee.«

 

Genüsslich biss Anna in eine Scheibe Brot, die sie dick mit Sardellenpaste bestrichen hatte. Bevor sie jedoch zu erzählen anfangen konnte, meldete Isabella sich zu Wort.

»Wenn wir hier schon so zwanglos zusammensitzen, könnten wir uns doch duzen, oder? Ich meine, wir sind schließlich alle ungefähr im gleichen Alter, und ich fand Anna schon auf den ersten Blick total nett.« Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, als ihre Kollegen zu lachen anfingen.

»Isabella trägt das Herz auf der Zunge«, erklärte Hannes vergnügt. »Und ihr Bauchgefühl ist einfach unschlagbar. Wenn sie jemanden mag und ihm das Du anbietet, gilt das für uns alle.«

Anna wurde plötzlich warm vor Freude. Die kleine Truppe war so sympathisch, dass sich ihre Bedenken, jemand könnte ihre Idee stehlen, in Luft auflösten. Sie legte ihr Brot zurück auf den Teller, holte tief Luft und fing an zu erzählen.

»Ich habe eine Ausbildung zur Raumausstatterin gemacht, bevor ich Innenarchitektur studiert habe. Schon als Kind haben mich Häuser und Räume interessiert, und immer, wenn ich an einem Rohbau vorbeikam, bin ich heimlich ins Innere geschlüpft und habe mir vorgestellt, wie ich die Räume einrichten würde. Oftmals habe ich mir sogar gedacht, dass ich eine völlig andere Raumaufteilung vornehmen würde«, erklärte sie ihren Berufswunsch. »Als ich mit dem Studium fertig war, sind meine Träume aber ziemlich schnell geplatzt«, gestand sie freimütig. »Oder halt, nicht geplatzt, ich musste sie auf später verschieben, weil ich gemerkt habe, dass ich meinen Vorstellungen nicht in dem Maß freien Lauf lassen kann, wie ich das eigentlich wollte. Zumindest in der Stelle bei einem Innenarchitekten, die ich direkt nach dem Studium über Beziehungen bekommen habe. Leider kam es nach zweieinhalb Jahren zu größeren Differenzen, und ich wurde vor ein paar Wochen gekündigt.« Anna senkte verlegen den Blick. Vielleicht war es nicht die beste Bewerbung, zuzugeben, dass man gerade gefeuert worden war.

Doch dann begannen ihre Augen zu leuchten. »Heute glaube ich aber, dass es das Beste war, was mir passieren konnte. Ich habe mich dort nämlich nie so richtig wohlgefühlt, weil ich tief in meinem Inneren gespürt habe, dass es nicht das ist, was ich mein Leben lang machen möchte. Deswegen denke ich schon seit längerer Zeit darüber nach, was ich wirklich will.«

Gebannt hingen die anderen an Annas Lippen und hatten darüber ganz vergessen weiterzuessen.

»Nun spann uns nicht so auf die Folter«, bat Isabella.

Anna lächelte. »Ich bin der Überzeugung, dass viele Angestellte viel lieber in die Arbeit gehen würden, wenn ihre Büroräume so gestaltet wären, dass sie sich dort wohler fühlen als zu Hause. Und ich glaube, dass sie dann auch weniger krank wären«, fing sie an, ihre Idee zu erläutern.

»Allerdings kostet das ziemlich viel Geld, das die meisten Arbeitgeber nicht zu investieren bereit sind«, warf Hannes ein.

»Genau«, bestätigte Anna. »Deswegen würde ich mir die Chance wünschen, ein paar Büros mit geringen Mitteln auf Vordermann bringen zu können und damit eine Referenz für weitere Interessenten zu schaffen.«

»Geringe Mittel hört sich gut an«, bestätigte Gerald. »Nur wie willst du das hinbekommen?«

»Indem ich die Wünsche der jeweiligen Mitarbeiter, deren Räume neu gestaltet werden sollen, abfrage und dann Flohmärkte und Wohnungsauflösungen abklappere. Das, was dem Geschmack entspricht, kann in der Regel viel günstiger renoviert als neu gekauft werden.«

»Denkst du, dass sich wirklich viele Arbeitgeber darauf einlassen, dass du ihnen anstelle ihrer zwar langweiligen, aber doch funktionalen Einrichtung abgenutzten Krempel hinstellst?«, überzeichnete Isabella ihre Vorstellung von gebrauchten Möbeln.

»Mein Ziel ist es ja nicht, ganz München davon zu überzeugen«, erwiderte Anna nachdenklich. »Aber ich bin mir sicher, dass gerade die Inhaber von kleineren Firmen für meine Argumente empfänglich sein könnten. Schließlich ist es für die besonders hart, wenn sie Ausfälle durch Krankheit oder Unlust haben.«

 

Anna machte eine Pause und gab den anderen Zeit, über ihre Worte nachzudenken.

»Ich finde das großartig«, sagte Isabella nach einer Weile aufgeregt. »Wenn man das den Leuten verklickern könnte und es Schule machen würde, würden uns die Klienten sicher die Bude einrennen.«

Ganz so euphorisch betrachtete Gerald die Angelegenheit zwar nicht, aber auch er war überzeugt, dass sich etwas daraus machen ließ. »Bist du schon bei anderen Firmen vorstellig geworden?«, fragte er neugierig.

»Um ehrlich zu sein: Ja, ich habe fast schon die ganze Stadt abgeklappert, allerdings erst mal mit der Vorgabe, dass ich einen Job suche. Bei den meisten Firmen haben mich aber schon die Empfangsdamen abgewimmelt.«

»Ähm.« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Isabellas Lippen. »Irgendwie ist das auch etwas unkonventionell, findest du nicht? Ich meine, eigentlich schickt man doch erst mal ein schriftliches Stellengesuch, bevor man mit einer Bewerbungsmappe hausieren geht.«

»Wirklich?« Anna machte große Augen. »Das wusste ich gar nicht.«

Als der kleinen Gruppe nach ein paar Sekunden aufging, dass in den Augen ihrer Besucherin der Schalk blitzte, fingen sie allesamt an zu kichern.

Isabella wischte sich eine Lachträne aus dem rechten Auge. »Mensch, Hannes, Anna würde doch super zu uns passen. Können wir das nicht irgendwie hinbekommen?«

Hannes verzog sein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Ihm war bereits etwas Ähnliches durch den Kopf gegangen, er hatte nur keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten. Bevor er jedoch auf Isabellas Frage antworten konnte, winkte Anna ab.

»Sag nichts, bitte. Ich habe schon verstanden, dass die Kohle knapp ist und ihr es euch nicht leisten könnt, angesichts der bescheidenen Auftragslage noch eine weitere Mitesserin durchzufüttern.«

Schon wieder kicherten alle, doch Anna ließ sich nicht beirren. Sie wandte sich an Isabella. »Es tut mir leid, dass ich dich vorhin aufgezogen habe. Dass ich nicht wusste, dass man Bewerbungen schriftlich schickt, meine ich. Bis heute wusste ich ehrlich gesagt nicht, weshalb ich das nie gemacht habe und warum es mir genauer gesagt sogar völlig zuwider war. Aber jetzt bin ich dem Rätsel ein Stück weit näher gekommen.« Mit glänzenden Augen sah sie in die Runde. »Im Grunde meines Herzens wollte ich schon vor dem letzten Job nie in einem großen, modernen Architekturbüro arbeiten, in dem man nur ein Rädchen unter vielen ist. Oder einen Einzelkämpfer als Chef haben, der einen abwechselnd tyrannisiert und angräbt, oder was auch immer. Irgendwie fügen sich jetzt aber ein paar Puzzleteile ineinander.« Sie holte tief Luft. Es war mal wieder wie mit dem Huhn und dem Ei, wo auch niemand sagen konnte, was denn nun zuerst da gewesen sein musste.

Plötzlich wurde Anna sich bewusst, dass ihre Gedanken abgedriftet waren, die anderen sie aber immer noch gespannt ansahen. »Entschuldigung«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich bin nicht auf der Suche nach einem Job, der über die Miete hinaus ein fettes Gehalt bezahlt, sondern nach einem Platz, an dem ich mich wohlfühle. Und an dem die Menschen sich gegenseitig guttun«, fügte sie leise hinzu. Ein warmes Gefühl machte sich in ihrer Herzgegend breit, als sie spürte, dass sie diesen Ort soeben gefunden hatte. »Darf ich euch einen Vorschlag machen?«