Malvaldi, Marco Eine Leiche für den Barista

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Für Gino und Giovanna, die sich das verdient haben

 

Aus dem Italienischen von Luis Ruby

 

© Marco Malvaldi 2016
Titel der italienischen Originalausgabe:
»La battaglia navale«, Sellerio Editore, Palermo 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Werner Irro
Covergestaltung und -motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

 

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Zitat

Im Osten gibt es keine Pressefreiheit,
im Westen gibt es keine Freiheit von der Presse.

Martina Navratilova

Anfang

Kein Zweifel: In den vergangenen zwei Jahren hat sich das Bocacito zum elegantesten Restaurant von Pineta entwickelt.

Die runden Tische bieten viel Platz und stehen in großzügigem Abstand, die Tischdecken hängen tadellos drapiert, wodurch noch deutlicher hervortritt, wie perfekt sie gebügelt sind; ein Verdienst von Aldos Obsession, sie direkt auf dem Tisch bügeln zu lassen.

Die Einrichtung ist erstklassig: Gläser aus Bleikristall, in der Mitte des Tischs frische Tulpen und Teller aus edlem Wedgwood-Porzellan, die zugleich einiges Fassungsvermögen bieten. Als der Vertreter nämlich Tavolone Risottoteller präsentierte, auf die etwa eigroße Portionen gepasst hätten, beschied ihm der Koch: Wissen Sie was, das Spa ist auf der anderen Straßenseite, das hier ist ein Restaurant.

Auch die Speisekarte vermählt auf raffinierte Weise Tradition und Innovation, zwei Schlagwörter, die in einem Restaurant unserer Tage, das etwas auf sich hält, keinesfalls fehlen dürfen, wie auch das Siegel »Produkte aus der Region«; das ist ebenfalls Tavolone zu verdanken, der sich zwei Jahre lang die Sendung Masterchef angesehen hat, um schließlich zum Erfinder neuartiger Kreationen zu werden, darunter »Mein kantonesischer Reis« (in Erbsenpüree gekochter Reis mit Würfeln von Prager Schinken, marinierten Eidotterkrümeln und Sojasoßenperlen) sowie das »Umgekehrte Tiramisù« (in gezuckertem Espresso gekochte Maccheroni, die anschließend in Tiramisù-Creme sautiert, mit Schokoladenraspeln bestreut und warm serviert werden). Von Pilade stammt die freundlich hinterfotzige Hypothese, das Umgekehrte Tiramisù sei ein Vorschlag Aldos gewesen, Frucht einer Reflexion über die Manneskraft von Achtzigjährigen, was jedoch nur böses Gerede zu sein scheint.

Die Atmosphäre ist rundum gediegen und vornehm, mit Barockmusik im Hintergrund und Bücherregalen, in denen die größten Meisterwerke der Kochkunst aller Zeiten zur Schau gestellt werden, von Apicius über Nobu bis zu Brillat-Savarin, bei sorgsamer Nichtbeachtung Jamie Olivers. Unter den durchaus elitären Werken stechen einige Titel hervor, die womöglich ein wenig fantastisch anmuten, etwa Lecker wie der Penis: Die Rezepte von Moana Pozzi oder Das Kochen des weißen Mannes (Untertitel: 48 Rezepte aus der kannibalistischen Tradition Zentralafrikas) – ein kleiner Beitrag Massimos, der sich die genannten Bände von einem Buchbinder in San Miniato hat anfertigen lassen.

Auch unter dem Personal sticht ein Element hervor, mit Haaren von einem Rotton, wie er die Männer ihre Ehefrauen vergessen lässt, und zwei Titten von einem Schwung und Umfang, wie sie die Männer ihre Würde vergessen lassen.

Kurzum, ein außerordentliches Lokal, behaglich und erlesen.

Nur zwei Details fallen aus dem Rahmen.

Erstens ein Fernsehgerät, auf dem die Lokalnachrichten laufen, wo just in diesem Augenblick eine außer Rand und Band geratene Menge, alle mit entblößtem Oberkörper, schwarz-blaue Fahnen schwenkt, Menschen, denen es wahrscheinlich nicht nur an Selbstkontrolle fehlt, sondern auch an einem festen Job. Schuld daran ist einzig und allein der AC Pisa, der fünf Spieltage vor Saisonende den Aufstieg in die zweite Liga geschafft hat, zum maßlosen Jubel sonst unauffälliger Teile der Bevölkerung.

Die außer Rand und Band geratene Menge, empfindungslos gegenüber der Eleganz des Lokals, in das ihr Bild übertragen wird, schwenkt nicht nur Banner, sie stimmt auch Sprechgesänge an. Wäre am Fernseher nicht der Ton abgestellt, so würde im Restaurant der unvermeidliche Chor widerhallen: »Von Pisa übers Meer erschallt das Jubellied/wenn’s eines schönen Morgens Livorno nicht mehr gibt«.

Aber zum Glück ist der Fernseher stumm, und der Raum liegt still da.

Oder besser gesagt, er läge still da, wenn nicht in regelmäßigen Abständen aus dem angrenzenden Etablissement der dumpfe Aufprall eines Billardqueues herüberschallte, der gegen eine Kugel stößt, gefolgt von der nicht zu überhörenden Stimme eines alten Mannes namens Ampelio, der mit der gewohnten Liebenswürdigkeit (»Ha, das hat gepasst wie ein Finger im Arsch«) die Qualität des Stoßes kommentiert.

Denn da ist nichts zu machen.

Du kannst die weißesten Tischdecken des Universums verwenden, kannst so erlesen dekorieren, wie man es sich nur vorstellen kann, und Gerichte auftragen, die einer Königshochzeit würdig wären; aber du kommst nicht um die Tatsache herum, dass du in Pineta bist, und in Pineta wirst du auch bleiben.

 

»Na dann, wir sind da«, sagte Aldo mit verkrampftem Enthusiasmus.

»Ja, wir sind da«, wiederholte Massimo, die Augen fest auf den Fernseher gerichtet. »Wir sind da, und da bleiben wir auch.«

»Ganz klar. Wir bleiben da. Die anderen kommen her. Das ist hier schließlich ein Restaurant. Urlauber und andere Leute, denen nicht nach Kochen ist, setzen sich an den Tisch, wir warten ihnen auf, und am Ende zahlen sie.«

»Und jammern über die Rechnung.«

Eine kurze Stille trat ein, die nicht einmal Ampelio sich zu stören erlaubte. Reiner Zufall, versteht sich.

»Massimo, wir haben schon darüber geredet«, sagte Aldo nach einem Augenblick mit geduldiger Miene. »Wir hatten ein Lokal mit ganz bestimmten Eigenschaften im Sinn. Bistroküche, moderate Preise zu Mittag . . .«

»Und Touristenküche am Abend. Ich weiß. Das hast du mir schon ein Googol Mal gesagt. Du hattest Glück, dass das Restaurant über den Winter zu war, deshalb habe ich dich das nur als Gast sagen hören und nicht als Geschäftspartner. Einem Gast könnte ich nie antworten, was ich dir als Geschäftspartner gerne gesagt hätte.«

»Also mal ehrlich, die Gäste schickst du oft genug zum Teufel.«

»Da hast du recht. Aber diesmal müsste ich eigentlich dich als Geschäftspartner zum Teufel schicken. Wer hatte noch mal die Idee mit der Bistroküche?«

»Ja, ich muss zugeben, das ist nicht so gelaufen, wie wir es uns erhofft hatten«, gab Aldo zurück und betonte das »Wir« mit einer Gelassenheit, die nicht eines gewissen Fatalismus entbehrte.

»Nein, es ist nicht so gelaufen, wie wir es uns erhofft hatten«, sagte Massimo und deutete mit einer Handbewegung auf den Fernseher, wo die in schwarz-blaue Fahnen gehüllten Arbeitslosen fast schon tonlos, aber doch lautstark die stets gültige Parole »Livorno ist scheiße, scha-na-na-na-na« hinausposaunten. »Wenn diese Rindviecher da unsere potenziellen Gäste sein sollen . . .«

»Bistrogastronomie, gemäßigte Preise zu Mittag und exquisitere Angebote am Abend«, wiederholte Aldo getreu seiner Rolle als Kenner der Materie, wenn auch nicht ganz frisch in der Arterie. »Aber das hat nicht funktioniert. Jetzt versuchen wir’s mit etwas anderem. Hab Vertrauen!«

»Zum Glück hast du nicht gesagt, ich soll ruhig Blut bewahren. Der Letzte, der mir mit diesem Spruch kam . . .«

»Da, da ist er! Komm schon, mach den Ton an!«

Mit einer raschen Bewegung des Daumens gab Massimo dem Fernsehgerät die Sprache zurück. Auf dem Bildschirm war jetzt ein Koch zu sehen, der so dick war wie zwei zusammengebundene Köche, die Hände auf eine Arbeitsplatte aus gebürstetem Stahl gestützt.

Eine lakonische Aufschrift wies ihn aus als »Otello Brondi ›Tavolone‹, Restaurant Bocacito, Pineta«.

»Tag, Leute! Heute koche ich euch mal Tintenfischkutteln auf meine Art.«

Es folgte ein Überblick über die Zubereitung des Gerichts, wobei die wichtigsten Punkte von Tavolone mit leicht hochtrabenden Anweisungen begleitet wurden (»Man ergreife die Tintenfische und zerteile sie in Streifen«), die Aldo, hätte er sie persönlich entgegennehmen müssen, gewiss auf die Lunge geschlagen hätten. Aber da sie aus dem Fernseher kamen und der Name seines Restaurants in der Bildunterschrift deutlich zu lesen war, zauberten sie ihm ein befriedigtes Lächeln ins Gesicht.

In dreißig Sekunden waren die kleinen Tintenfische so aufgearbeitet, dass sie Kutteln glichen, und wurden von Tavolones fleischigen Fingern mit barocker Sorgfalt angerichtet, nicht ohne ein Sträußchen Petersilie auf der Seite. Sodann wurde der Teller abgestellt und unmittelbar danach auch der Fernseher.

»Ich muss schon sagen, Tavolone hat sich ganz schön gemacht«, sagte Aldo, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Aus den Zutaten der volkstümlichen Küche entwickelt er wahre Meisterwerke. Neuerdings hat er’s ja mit Tintenfischen . . .«

»Wischnu sei Dank«, bemerkte Massimo und rückte den Stuhl wieder an seinen Platz, denn darauf, dass Aldo das selbst tut, kann man lange warten. »Wenn er sich Langusten in den Kopf setzt, müssten wir die Preise erheblich erhöhen.«

»Massimo, hör mal zu. Wir haben es auf eine Weise versucht, das ging etwas mühsam. Jetzt probieren wir etwas anderes. Die Dinge sind, wie sie sind, und nicht, wie man sie gerne hätte.«

»Eben. Ich weiß genau, dass ein Haute-Cuisine-Restaurant ein Fass ohne Boden ist, und ausgerechnet zu Saisonbeginn muss ich das unsere dir überlassen und für eine Woche in Urlaub fahren.«

Aldo seufzte.

»Punkt eins: Ein Haute-Cuisine-Restaurant ist in erster Linie wegen der Personalkosten ein Fass ohne Boden. Hier sind wir aber nur zu viert: Tiziana und ich im Speiseraum, Tavolone und Natascha in der Küche.«

»Wo sie auch bleiben sollte«, sagte Massimo, während er an die bittere Enttäuschung zurückdachte, die sich kurz nach Aldos Ankündigung eingestellt hatte: »Ich habe jemanden als Spülkraft gefunden, eine junge Ukrainerin, sie heißt Natascha.« Die Alten hatten sich allesamt die Zwillingsschwester der Stefanenko ausgemalt, nur um sich stattdessen der weiblichen Version des Genossen Tschernenko gegenüberzusehen.

»Ja, da ist sie gut aufgehoben. Sie ist tüchtig, schnell und genau, sie bügelt die Tischdecken, dass es eine Freude ist, sie ist pünktlich und verlangt keine Gehaltserhöhung. Jedenfalls sind wir, was die Personalkosten angeht, das sparsamste Restaurant Europas. Auch dank Tiziana, die hier wesentlich mehr Zeit verbringt, als ihr Arbeitsvertrag vorsieht. Was mich zu Punkt zwei führt.«

»Ja, ich weiß.« Massimo seufzte theatralisch. »Sie ist wieder mit Marchino zusammen, der unter den zahlreichen Anwärtern auf diese Ehre nun wahrlich der hässlichste und dümmste ist. Aber was will man machen?«

»Du gar nichts und ich auch nicht«, erwiderte Aldo. »Wer mit wem ins Bett geht, kümmert mich nicht die Bohne, ich bin doch nicht der Herr Erzbischof. Punkt zwei lautet, dass auch du viel zu viel Zeit hier verbringst. Du brauchst eine Verschnaufpause.«

»Da redet der Richtige. Du lebst doch praktisch hier. Im Restaurant arbeitest du, und in der Freizeit bist du in der Bar, also etwa zehn Meter weiter. Demnächst übernachtest du auch noch auf dem Billardtisch.«

»Wenn du einen mit Matratze anschaffst, gerne. Ich bin ein alter Mann, und mein Rücken ist krumm wie eine Bergstraße. Ich bin alt, verwitwet und allein.« Pause.

Eine längere Pause als diejenigen, die Aldo aus physiologischen Gründen einzulegen pflegte, sodass Massimo für einen Moment erschrak. Aber eben nur für einen Moment.

»Du dagegen bist jung und hast zwar die Angewohnheit, deine Mitmenschen blöd anzureden, aber neuerdings auch eine Freundin.«

»Von wegen jung. Ich bin über vierzig.«

»Willst du mit mir tauschen?«

»Mit deiner Gegenwart nicht. Mit deiner Vergangenheit, wenn ich so drüber nachdenke . . .«

»Das Einzige, was mir in letzter Zeit passiert ist, waren passierte Tomaten, Manitu verzeihe mir das Wortspiel. Deine Gegenwart sieht ganz anders aus: Du bist mit einer hübschen jungen Frau liiert, die fleißig ist, kein Blatt vor den Mund nimmt und eine derart kurze Zündschnur hat, dass du wirklich nicht wagen solltest, einen vor sechs Monaten gebuchten Urlaub zu verschieben. Die fesselt dich sonst an den Boiler im Badezimmer und fährt alleine los. Und das wäre auch gerechtfertigt.«

»Ja, in dem Fall sollte ich vielleicht . . .«

»Ich erspare dir die maßlose Pein, einem anderen Menschen recht geben zu müssen. Hör einfach auf mich, fahr in Urlaub und lass dich eine Woche lang nicht blicken. Hier ist doch sowieso nichts los«, sagte Aldo in einem Ton, der aufrichtig, gelassen und beruhigend klang.

Nur dass er eines vergaß.

Nämlich dass wir uns, wie eingangs erwähnt, in Pineta befinden.

An einem Ort, wo einmal im Jahr jemand umgebracht wird.

Eins

». . . So weit also die feierliche Ansprache des Präsidenten an die Fans. Sein Programm lautet: von Anfang an einen Markt entwickeln, der es Pisa erlaubt, den Klassenerhalt in der Serie B zu schaffen, vielleicht sogar mit höheren Ambitionen, die unsere Mannschaft dorthin zurückbringen, wo sie ihren angestammten Platz hat. Doch das alles beginnt erst morgen. Heute ist für Pisa der Tag der drei ›S‹: S wie Serie B, S wie spektakulärer Erfolg, S wie Sektkorkenknallen.«

Mit einem letzten dümmlichen Lächeln senkte der Journalist das Mikrofon, während um ihn herum ein knappes Dutzend Kurzarbeiter hüpfte und sang, beglückt davon, einmal nicht den Montag vom Sonntag unterscheiden zu können.

»Eins hat er noch vergessen, S wie ›saudumm‹«, bemerkte Pilade weit weniger enthusiastisch. »Was gibt’s denn da zu jubeln . . .«

»Wirklich wahr.« Aldo schüttelte den Kopf. »Wenn man bedenkt, dass wir zu Zeiten Anconetanis eine Macht waren.«

»Hör ihn dir an«, schnaubte Ampelio und drehte sich vom Fernseher weg. »Wir pfeifen schon auf dem letzten Loch, ein Haufen Leute ist noch schlechter dran – deshalb strampeln sie sich ja ab, um zu uns zu kommen –, und er quatscht von Romeo Anconetani.«

»Ich habe nur auf das geantwortet, was Pilade gesagt hat«, verteidigte sich Aldo und zog die Schultern hoch. »Bei der WM 98, ich weiß es noch genau, da waren der Kapitän von Brasilien und der Kapitän von Argentinien beides ehemalige Spieler von Pisa.«

»Ja, das waren noch Zeiten«, stimmte Ampelio zu. »Jetzt kommt vielleicht der Kapitän von Libyen zu uns und der von Syrien. Aber nicht im Fußball, sondern im Tontaubenschießen. Und die schießen nicht auf Scheiben, sondern auf Leute.«

Ein Augenblick der Stille folgte.

Nach den Regeln des Kontrapunkts in der Bar müsste sich in diesem Moment eigentlich der Rechte Rentner einschalten, ein grundlegendes Instrument in einschlägigen Kompositionen, und eine schöne Modulation in Dur über das Thema spielen: »Die Muslime sind doch alle Verbrecher – vom Irak bis nach Saukerl-Arabien –, die gehören alle rausgeschmissen, gehören die, anstatt dass man dieses Pack weiter massenweise hereinlässt, sehen Sie doch auch so?« Aber auch die Alten blieben an dieser Stelle kurz stumm, im Wissen, dass dies bis vor Kurzem der Moment von Gino Rimediotti gewesen wäre.

So wie es Gino bis vor Kurzem zugekommen wäre, die wichtigsten Nachrichten aus dem Tirreno vorzulesen, mit einer Stimme, die in Großbuchstaben unerbittlich voranschritt, es sei denn, sie stieß auf eine unbotmäßige Vokabel aus einer fremden Sprache.

Nur gibt es diese Stimme unglücklicherweise nicht mehr.

Verehrte Leserin, schütteln Sie nicht den Kopf. Und Sie, lieber Leser, nehmen Sie die Hand wieder aus der Tasche. Ich habe gesagt, die Stimme gibt es nicht mehr. Die Stimme und nur die Stimme. Rimediotti selbst ist weiterhin da; er kann nur nicht mehr reden wie früher. Das liegt an einem Eingriff an seiner Halsschlagader, bei dem brandgefährliche atherosklerotische Ablagerungen entfernt werden mussten. Die Operation ist gut verlaufen, weshalb das Gehirn des guten Gino weiterhin eine ausreichende Blutzufuhr bekommt. Allerdings musste sich der Chirurg, um an den Arterien herumfuhrwerken zu können, erst einen Weg durch Muskeln, Nerven und anderes physiologisches Material bahnen. Daher hat Rimediotti jetzt zum Sprechen eine kleine Taste zu drücken, so wie bei einem Radio, jedoch einem, das jämmerlich eingestellt ist.

Der krumme Finger senkte sich auf die Taste, und einen Augenblick später brachte Rimediotti hervor:

»Ghhörfrn-alle-rausfwsgeworrfen.«

»Ach, so ein Glück«, bemerkte Pilade und wandte ebenfalls die Augen vom Fernseher ab. »Da ist ja der Rächer in der Nacht. Gino, wir haben 2016, nicht 1936.«

»Schfwson-gut. Dasfw-heißt – ich-denk-dasfw-schon-seitfwachtzig-Jahren. Hab-ich-schfwson-immer-gedacht.«

»Eben«, mischte sich Ampelio ins Gespräch. »Also, ich würde ja von dem Chirurgen mein Geld zurückverlangen. Erstens denkst du immer noch so einen erbärmlichen Blödsinn zusammen wie vorher. Und zweitens hat dir der Mann Röhren eingesetzt. Wir haben 2016, da geht das doch alles mit Transistor.«

»Apropos Transistor, schau mal kurz auf den Fernseher.«

»Wieso, hat das Bild Streifen?«

»Nee, aber ist das nicht dein Haus?«

Ampelio drehte synchron zu den drei anderen den Kopf. Auf dem Bildschirm war nicht direkt Ampelios Haus zu sehen, aber ein Ort in unmittelbarer Nähe, der Strand von Sassi Amari, eine der weniger hässlichen Buchten von Pineta. Ein kleiner Sandstrand im Schutz einiger spitzer Felsen, der zu fortgeschrittener Frühjahrszeit ein idealer Badeplatz gewesen wäre. Nur dass wir a) erst Ende April haben, und da ist es noch ein bisschen kalt, b) in der Nähe des Hafens von Livorno sind, und da ist das Wasser nicht sonderlich sauber, und c) uns in Pineta befinden, und deshalb liegt eine Leiche am Strand.

Rund um die Leiche, die man unter eine Plane gebettet hatte, gingen mehrere Gestalten irgendwelchen Aufgaben nach, während aus dem Off eine Stimme informierte:

»Die tragische Entdeckung machte ein Fischer am heutigen Vormittag, als er an seiner üblichen Angelstelle bei den Klippen die Leiche der Frau bemerkte. Der leblose Körper, geschunden von den Klippen, auf die ihn die Gezeiten geworfen hatten, nachdem er für unbestimmte Zeit im Wasser getrieben war, wurde anschließend von den zuständigen Mitarbeitern des Gerichtsmedizinischen Instituts geborgen . . .«

»Wasfws, schwemmt’s-die-Fflücht-lingjetzfwschon-bisfwshierher?«

»Na klar. Wo die wohl herkam, aus Sardinien?«

»Hm, man kann nie wissen«, analysierte Aldo. »Auf Sardinien gibt’s ja auch ’nen Haufen Muslime. Aber soweit ich weiß, machen die alle auf Scheich. Da kommt so leicht keiner nach Pineta.«

»Leck-michfws . . .«

»Es handelt sich um den Leichnam einer Frau, dem Augenschein nach zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Genaueres zu sagen ist angesichts des Zustands der Leiche schwierig. Im gesamten Umland wird um Mithilfe bei der Identifizierung der jungen Frau gebeten. Sachdienliche Hinweise . . .«

». . . erfolgen bitte schleunigst, ich muss nämlich verreisen«, sagte eine Stimme, während sich hinter ihr die Glastür schloss.

»Oh, Signorina Alice. Wie geht’s?«

Bevor sie antwortete, trat Alice zu dem Hocker am Tresen und legte ihre Handtasche darauf, einen Lederbeutel von quasi-lateinamerikanischer Machart und beunruhigenden Ausmaßen. Dann stieß sie einen erleichterten Seufzer aus und sah Aldo an.

In einem Punkt war Alice Martelli, seit über zwei Jahren stellvertretende Polizeichefin von Pineta und seit etwas weniger als einem Jahr Massimos offizielle Freundin, sich mit besagtem festen Freund völlig einig: Sie hassten sinnlose Fragen. Eine solide Grundlage für eine entstehende Beziehung, da die beiden in allen anderen zentralen Punkten – wünschenswerte Anzahl von Freunden, politische Haltung, Kleidungsstil und anderes – einander exakt entgegengesetzt schienen.

»Wie es einem so geht mit einer nicht identifizierten Leiche am Bein, wenn man eigentlich für eine Woche nach Portugal will.«

»Na, Portugal ist doch auch nächste Woche noch da.«

»Ampelio, ich weiß, zu Ihrer Zeit bei der Eisenbahn hat man achtmal im Jahr Urlaub gemacht, mit einem Tag Vorankündigung. Aber sehen Sie, ich arbeite bei der Polizei. Wenn ich meinen Urlaub nicht ein Jahr vorher beantrage, bekomme ich keinen. Und manchmal reicht noch nicht mal ein Jahr Vorlauf.«

Gewiss würde die Kommissarin die Unterhaltung gerne fortsetzen; als sinnloses Gerede wird bekanntlich oft das der anderen angesehen. Doch just in diesem Augenblick ging tief unten in ihrer Handtasche der Walkürenritt los.

Hätte man zu Ampelios Zeiten aus einer ledernen Handtasche Wagnermusik dröhnen hören, so hätte wahrscheinlich jemand den Exorzisten gerufen. Heutzutage kann so etwas nicht einmal die schreckhafteste Jungfer erschüttern, geschweige denn Alice.

Erst griff die junge Frau mit der Hand in die Tasche; nachdem sie ein paar Sekunden lang darin herumgewühlt hatte, steckte sie entschlossen den ganzen Arm hinein. Nach ein paar weiteren Sekunden kam sie zu dem Schluss, dass das immer noch nicht ausreiche, und öffnete das Ding so grazil wie ein Yeti-Orthopäde. Schließlich steckte sie den Kopf in den Spalt und tauchte kurz darauf wieder auf, das Mobiltelefon bereits am Ohr.

»Ja, bitte?«

Im nächsten Moment betrachtete sie ihr Handy enttäuscht.

»Ich wüsste ja gern, warum die Leute es so eilig haben. Lassen es dreimal klingeln und legen wieder auf.«

»Ehrlich gesagt, klingelt das Ding seit zehn Minuten. Da stand das vietnamesische Dorf längst in Flammen«, schaltete sich Massimo ein, der soeben aus dem hinteren Teil des Lokals zum Tresen gekommen war. »Na, was soll’s, gegen Wagner habe ich nichts. Der passt so gut zu Rimediottis neuer Stimme. Wer war’s überhaupt?«

»Dir auch Guten Tag, Schatz«, sagte Alice, die noch immer auf ihr Mobiltelefon starrte. »Das war der Gerichtsmediziner, den kann ich nachher zurückrufen. Von dort läuft normalerweise keiner weg. Machst du mir erst mal einen Cappuccino?«

Während Alice ihr Handy behutsam auf den Tresen legte, sah Aldo sie missbilligend an.

»Sind bei der Polizei eigentlich alle so unsensibel?«

»Mehr oder weniger.« Alice nickte zerknirscht. »Das ergibt sich mit der Zeit.«

»Weißt du, das ist sowieso eine Frage der Perspektive«, sagte Massimo und deutete, während er die Milch aufschäumte, mit dem Kinn gen Fernseher, wo Rimediotti gerade ein Spätvormittagsprogramm eingestellt hatte, das eine durchgehende Reihe von Unglücksfällen versprach. »Für euch ist das da Unterhaltung, für sie ist es Arbeit.«

»Pff, Unterhaltung«, protestierte Ampelio. »Das ist Information. Ich lebe hier.«

»Habe ich schon gemerkt«, sagte Massimo und stellte der Kommissarin eine Tasse mit weißem, schokoladebestäubtem Schaum hin. »Bitte sehr, ein Cappuccino, wie ihn sich der Große Architekt vorgestellt hat, als er die Welt erschuf. Teilchen dazu?«

»Nein danke. Ich habe beschlossen, bis zu unserer Abreise brav zu sein. Wir werden in Portugal sowieso ganz schön zulegen. Ich glaube, man kann in keinem anderen Land so gut frühstücken wie dort.«

»Beshhher-alshh-in-Ithhalien?«, fragte Gino und schaffte es dabei, ungläubig zu klingen, trotz der niedrigen Auflösung.

»Sie haben keine Ahnung, Gino. Da gibt es zum Beispiel dieses Kloster, Belém, mit seinen einzigartigen Törtchen. Pastéis de Belém. Davon könnte ich eine ganze Wagenladung verputzen. Wenn ich zwei Monate in Lissabon verbrächte, wäre ich auf der Hinreise Michelle Hunziker und bei der Rückkehr Platinette.«

»Na, zum Glück fahrt ihr bloß für eine Woche hin«, warf Ampelio ein. »Hier zahlt ja schon Pilade mit seiner Wampe Gebühren für die Nutzung von öffentlichem Grund. Sie hätten uns gerade noch gefehlt.«

»Du könntest auch mal nach Lissabon fahren«, gab Pilade gelassen zurück. »Soll wirklich schön sein. Du könntest auch gleich dortbleiben.«