Thurn, Hansjörg Earth - Die Verschwörung

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Peter Thannisch
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Jan Stromme / Getty Images (Stadt); Shutterstock.com (Lichteffekt und Binärcode)

 

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An einem Tag, an dem niemand aus den Reihen der Menschheit mehr hungern muss. An dem keines ihrer Kinder mehr ausgebeutet wird. An einem Tag, als endlich die Grenzen zwischen den Kulturen gefallen sind, die Grenzen der Herkunft, der Religion oder Hautfarbe, die Grenzen zwischen Mann und Frau. An einem Tag, an dem die große Schlacht geschlagen und die Trauer um die Toten noch frisch ist. An dem es wieder Wälder gibt und die Tiere die Würde des Daseins zurückerlangt haben. An dem jeder einzelne Mensch begriffen haben wird, dass die Natur selbst das Maß aller Dinge ist. An einem Tag, an dem die Sprache wieder genutzt wird, um Verständnis zu schaffen und nicht Zwist. Und an dem die Erinnerung an den Wert der Freiheit noch wach ist und das Gewissen der Menschheit prägen kann. An diesem Tag wird ihr Zorn umso größer sein. Ihr wütender Ruf wird über die Ebenen der Kontinente hallen, und er wird lauten: Warum erst jetzt?

Auszug aus einer überlieferten Rede von Elias Jafaar

1

Das Leben schien an diesem 21. Juni 2019 für Brit Kuttner perfekt zu sein. Für genau eine Stunde lang.

In dieser einen Stunde schien die Sonne über Berlin und machte den Regen der letzten Tage vergessen. Brit hatte beschlossen, den Rest des Tages blauzumachen, was selten genug bei ihr vorkam. Sie studierte Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität und hatte gerade die letzten zwei Stunden in Professor Kepplers Vorlesung »Philosophie und Management« verbracht. Obwohl gerade erst Mitte vierzig, verkörperte Keppler mit seiner geknöpften Strickjacke, aus der die Ärmel seines Hemdes in wunderbarer Asymmetrie herausragten, einen typischen schrulligen Professor.

In den Augen der meisten Studentinnen machte ihn das sexy, genauso wie die traumwandlerische Sicherheit, mit der er sich in jeder Disziplin der Philosophie bewegte. Die meisten Studentinnen waren allerdings auch jünger als Brit mit ihren sechsundzwanzig Jahren.

Wenn es etwas gab, das Brit aus Kepplers Vorlesungen mitnahm, das sie als sexy bezeichnet hätte, dann waren es einzelne Sätze, die oft den Rest ihres Tages beherrschten.

»Gemessen an dem, was möglich ist, bietet die Wirklichkeit uns immer nur Durchschnittliches.« Das war der Satz des heutigen Tages, mit dem sie während der nächsten Stunden an der Spree entlangschlendern wollte. Brit brauchte diese Sätze. Sie bahnten sich jedes Mal beharrlich den Weg durch ihren Kopf, und sie genoss es, diese Sätze von allen Seiten zu betrachten. Mit jeder neuen Sichtweise konnte solch ein Satz bedeutsamer werden. Irgendwann spürte sie diese Sätze dann sogar, an dieser bestimmten Stelle hinter ihrem Brustbein, etwas über dem Solarplexus, nicht ganz mittig, sondern leicht nach links verschoben, wo sie ein besonderes Gefühl auslösten.

Dass Sätze so etwas bewirken konnten, hatte Brit schon als kleines Mädchen erlebt, und anfangs hatte sie anderen Menschen auch davon erzählt. Doch die Reaktionen waren immer irritierend, häufig gefror die Mimik ihres Gegenübers, die Stirn in Falten gezogen und die Augen in einer Art verengt, die das Suchen nach Antworten und Formulierungen kennzeichnet.

Das war allerdings auch in der Zeit gewesen, als Lisa keinen Hehl aus Brits häufig wechselnden Therapien gemacht hatte. Damals hatte Brit Lisa auch noch »Mutter« genannt und nicht »Lisa«. Erst später hatte Brit Lisa gebeten, niemandem mehr von den ständigen Besuchen bei Psychologen und Therapeuten zu erzählen, und irgendwann hatte Brit diese dann sowieso eingestellt. Doch seit damals wusste sie, dass gute Sätze an guten Tagen an diese gewisse Stelle in ihrer Brust kriechen konnten und die Freisetzung von Endorphinen bewirkten.

Sie mochte diese Momente sehr. Was sie dabei empfand, musste das sein, nach dem die gesamte Menschheit in allen Kulturepochen Jagd gemacht hatte: Glück. Zumindest nahm Brit das an, nach den Beschreibungen, die sie von diesem Zustand gelesen hatte.

Die Aussicht, einen solchen Endorphinschub mit dem heutigen Satz von Professor Keppler im Sonnenlicht an der Spree zu erreichen, war es wert, den Rest des Tages blauzumachen. Sie verstand Zusammenhänge und Theorien meist schneller und besser als ihre Kommilitonen, und sie machte sich keine Sorgen, wenn sie ab und an einige Vorlesungen verpasste. Ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Disziplin und ihr Logikverständnis waren etwas, auf das sie sich schon immer hatte verlassen können.

Brit schlenderte über den Campus und begann, ihren Kopf mit dem heutigen Satz zu füllen. »Gemessen an dem, was möglich ist, bietet die Wirklichkeit uns immer nur Durchschnittliches.« Zunächst hatte Brit gedacht, dass sich das ganze Sehnen der Menschheit in diesem Satz spiegelte. Die ewige Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, das Träumen von den Dingen, die sich nicht im unmittelbaren Hier und Jetzt des jeweiligen Menschen befanden. Doch schon nach den ersten Schritten verwarf sie diese Interpretation wieder. Es steckte mehr in diesem Satz. Etwas, das nicht die gesamte Menschheit zu fassen bereit war und vielleicht nur dem Verständnis einiger weniger überlassen war: das Bewusstsein um die Grenzen der Wirklichkeit. Nur wenige konnten diese Grenzen spüren und eine Idee von dem entwickeln, was dahinter sein mochte. Die trivialen Antworten dafür waren schon seit Urzeiten die Religionen der Völker. Aber diese Antworten erstickten alle weiteren Fragen, und deshalb mochte Brit sie nicht. Sie verlor sich beim Weg über den Campus darin, den Grenzen der Wirklichkeit nachzuspüren und die unterschiedlichsten Ideen für die endlose Weite hinter dieser Grenze durchzuspielen. Und dann sprach sie der junge Mann an.

Er mochte so alt sein wie sie, vielleicht unwesentlich älter. Seinen Hoodie hatte er ins Gesicht gezogen, fast bis an die Sonnenbrille, die seine Augen verdeckte. Sein Kinn war mit einem leichten Bartschatten bedeckt, etwas zu dünn, um der aktuellen Bartmode junger Studenten zu entsprechen, aber seine Gesichtszüge waren gut konturiert, so wie es bei Sportlern und flinken Rednern üblich ist, die ein gutes Verhältnis von Gesichtsmuskulatur und Fettgewebe an Wangen und Hals halten können. Er lächelte sie an.

Sie blickte fragend, nur eine Sekunde lang, doch lang genug, dass er seinen Satz wiederholte.

»Du bist Brit Kuttner. Wir müssen reden.«

Sie scannte ihn weiter. Die Sonnenbrille war ein No-Name-Produkt, was ihr sympathisch war. Unter seinem Hoodie ragten die weißen Kabel von In-Ear-Kopfhörern hervor; eines führte zu seinem rechten Ohr, das andere endete mit undefinierbarem Verlauf neben seinem Hals. Die Sneakers, die abgetragene Jeans, das aufs Nötigste gestrippte Fahrrad, all das ergab für Brit ein Bild eines jungen Mannes, der sich eher im Umfeld der Uni bewegte als in deren Vorlesungen.

»In einer halben Stunde auf der Monbijoubrücke, an der Museumsinsel. Es ist wichtig. Du gehörst zu uns.« Der junge Mann sagte diesen letzten Satz mit spürbarer Betonung auf jedem Wort. Dann schwang er sich aufs Fahrrad und radelte davon.

Brit sah ihm nach. Und plötzlich spürte sie eine Freisetzung von Endorphinen in ihrem Inneren. Sie war irritiert. Menschen und deren Verhalten drangen sonst nur zeitversetzt zu ihr durch. Je unbekannter sie waren, desto langsamer. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie es immer mit einer fehlerhaften Synchronisation ausländischer Filme verglichen, wenn der Ton erst einen Moment nach den dazugehörenden Lippenbewegungen zu hören war. Mit der Zeit hatte das bewirkt, dass sich Brit von Fremden fernhielt und Kontakt nur zu den Leuten suchte, deren übliches Verhalten sie abgespeichert hatte.

Dass ein Fremder eine Endorphinwirkung auf sie haben konnte, war völlig neu.

Damit begann die zweite Hälfte dieser perfekten Stunde in Brits Leben am 21. Juni.

 

Das Chaos ihrer Gedanken, das sie auf dem kurzen Weg bis zur Spree begleitete, war zwar aufwühlend, aber nicht unangenehm. Der zertretene Rasen am Spreeufer war noch immer etwas feucht vom Regen der letzten Tage, und auf manchen Halmen glitzerten Tropfen im Licht der Sonne, die in etwa einer Stunde ihren Zenit erreichen würde.

Brit bemühte sich, mit ihren hellen Sportschuhen den Rasen zu meiden und nur die Flecken kahlen Bodens zu betreten, wobei sie in deren Muster die soeben erlebte Begegnung mit dem jungen Mann zu ordnen versuchte. Seine Kleidung und sein Auftreten hatten ihre übliche Scheu Fremden gegenüber sicherlich etwas herabgesetzt. Brit wusste von sich, dass sie weniger defensiv auf Menschen reagierte, die eine reduzierte Massenkompatibilität aufwiesen. Oder einfacher gesagt: Mit Außenseitern kam sie besser klar.

Das allein konnte aber noch nicht der Grund für die plötzliche Endorphinausschüttung gewesen sein. Von anderen Frauen hatte sie gehört, dass bestimmte männliche Merkmale solche Reaktionen bei ihnen auslösten, sogenannte Triggerreize. Darüber hatte Brit damals nachgelesen in dem Bemühen, eine theoretische Umleitung zu gewissen Verhaltensmustern junger Frauen zu erlernen. Bei dem jungen Mann vor der Uni hätten das zum Beispiel seine hellblauen Augen sein können, die für zwei Sekunden zwischen Hoodie und Sonnenbrille sichtbar gewesen waren. Aber egal, wie intensiv Brit diesen Gedanken in ihrem Kopf hin und her drehte, er verblasste immer wieder, bevor er jenen Raum in ihrer Brust knapp oberhalb des Solarplexus erreichte.

Doch etwas anderes landete dort, ohne dass sie es mit der üblichen Mühe bearbeitet hätte. Der Satz: »Du gehörst zu uns.«

 

Brit blickte von der Monbijoubrücke lange auf das Wasser der Spree, auf der die Reflexionen der Sonne in einem angenehmen Rhythmus tanzten und ihre Gedanken frei machten für die nächste Betrachtung. »Du gehörst zu uns.« Für Menschen wie Brit, deren dissoziative Störung bewirkte, dass sie ihre emotionale Umwelt wie durch einen Wattefilter wahrnahmen, war Einsamkeit meist ein belastendes Problem, und der Wunsch nach Zugehörigkeit wurde oft zu einer zwanghaften Fixierung, an deren Verwirklichung sie sich oft ihr Leben lang vergeblich abarbeiteten. Brits frühere Therapeuten hatten ihr daher immer zu vermitteln versucht, das Empfinden von Einsamkeit als Teil ihres Ichs zu akzeptieren und sich nicht im ständigen Kampf dagegen zu erschöpfen.

Brit hatte sie dafür alle gehasst. Sie hasste den Gedanken, dass irgendetwas in ihrer Welt unabänderlich sein sollte, und hatte fortan sämtliche Therapien aus ihrem Leben verbannt. In den Seminaren von Professor Keppler beschäftigte sie sich dann mit Theorien, wonach sich in die Welt gesetzte Hypothesen unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen in Fakten verwandeln konnten. Für die meisten Studenten war dies nichts als ein kleines philosophisches Gedankenspiel, doch für Brit bedeutete es mehr – die Hoffnung darauf, dass Unmögliches denkbar war und dass ihr lebenslanger Kampf gegen die Einsamkeit nicht zwangsläufig vergeblich sein musste.

Es war mehr ein Instinkt, der Brit aufblicken ließ. Der junge Mann mit dem Hoodie kam genau in diesem Moment auf seinem Fahrrad an und blieb ihr gegenüber stehen. Er sah sie an, dann zog er sein Smartphone heraus und telefonierte über den Ohrstöpsel unter seinem Hoodie. Brit war etwa dreißig Meter von ihm entfernt und konnte seinen Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, denn sein Kopf war nach unten geneigt, als wolle er auf diese Weise sein Telefonat vor anderen verbergen.

Jedenfalls war er für einen Moment abgelenkt und bemerkte den schwarzen Lieferwagen nicht, der mit weit überhöhtem Tempo plötzlich auf seine Straßenseite raste und ihn erfasste …

 

Brit sah, wie der junge Mann in einem gewaltigen Aufprall verschwand und nur sein Fahrrad hoch über den Lieferwagen geschleudert wurde. Der Lieferwagen raste mit unvermindertem Tempo weiter, und das Fahrrad krachte hinter ihm scheppernd auf die Straße.

Der junge Mann war aus Brits Blickfeld verschwunden, und automatisch ging sie los, suchte mit ihren Blicken dabei hastig die Stelle ab, wo er Sekunden zuvor noch gestanden und telefoniert hatte.

Sie entdeckte ihn schließlich mit verdrehten Gliedmaßen halb unter einen parkenden Wagen gequetscht, aber da war sie noch gut zwanzig Meter von ihm entfernt. Zu weit, um das Gesicht des anderen Mannes erkennen zu können, der ein Basecap trug, mit schnellen Schritten den Unfallort erreichte und das lädierte Smartphone des überfahrenen jungen Mannes von der Straße aufhob. Dann eilte er davon, verschwand zwischen den Passanten, die nun von allen Seiten auf die Unfallstelle zuströmten.

Als Brit dort ankam, war sie eine von vielen, die um den leblosen Körper des jungen Mannes herumstanden. Die Brille war ihm vom Gesicht gerissen worden, und sein Gesicht sah sanft und leblos aus in der Umrahmung des Hoodies. Er war tot.

Brit ging ein Stück abseits. Sie setzte sich in den Rinnstein und sah den Tauben zu, wie sie gurrend um Stücke von Brot auf dem Gehweg herumpickten. Sie fokussierte die Vögel, konzentrierte sich auf jede ihrer Bewegungen, bis sie jenen Tunnel aufgebaut hatte, der ihr schon seit früher Kindheit geholfen hatte, Dinge aus ihrem Kopf zu verbannen, die sie nicht begreifen konnte.

2

Khaled Jafaar war dreiunddreißig und damit der jüngste Dozent an der Universität Münster. Die häufigste Frage im Anschluss an seine Vorlesungen war immer, ob er als Deutsch-Palästinenser beschnitten war oder nicht. Sie wurde ihm ausschließlich von den jungen Studentinnen gestellt, die seine Vorlesungen bevölkerten.

Die zweithäufigste Frage war, ob sein Fachbereich »Informationsethik« nicht in seinen Grundzügen schon reaktionär und fortschrittsfeindlich wäre. Diese Frage wurde ihm grundsätzlich von Klugscheißern und stromlinienförmigen Karrieristen gestellt, von denen die Uni nur so überquoll.

Wie immer nahm Khaled den Seitenausgang und machte, dass er wegkam vom Campus. Er hatte sich damit abgefunden, dass er mit seinen dreiunddreißig Jahren Marotten entwickelte, die er früher als bieder abgetan hätte. Inzwischen liebte er es, so früh wie möglich zu Milena und ihrem gemeinsamen Haus mit Garten im Münsteraner Randgebiet heimzukommen. »Heimzukommen« war dabei das Zauberwort.

Ein Zauberwort, das er augenblicklich wieder infrage stellte, als er in dem für die Dozenten reservierten Bereich des Parkplatzes auf seinen Wagen zuging. »Fuck Arabs« stand da in hässlichen großen Buchstaben, die mit schwarzer Farbe auf die Seite seines betagten Nissans gesprayt worden waren.

Augenblicklich wurde sein Brustkorb enger, und er blieb stehen, um Luft zu holen. Es war diese unerträgliche Mischung aus spontaner Wut und der beklemmenden Unfähigkeit, eine geeignete Reaktion darauf in sich zu finden. Solange er denken konnte, hatte diese Mischung sein Leben bestimmt.

Als Teenager war es besonders schlimm gewesen. Ein Spruch, eine Bemerkung, eine gekritzelte Beleidigung auf seinem Schulheft oder auf den neu gekauften Sneakers, und die Wut war in Khaled hochgestiegen. Eine Wut, die immer die gleichen Bilder in ihm hervorrief. Gewalttätige Bilder, wie er mit den bloßen Fäusten breite Schneisen in die Reihen seiner Widersacher prügelte.

Es war nie dazu gekommen. Selbst dann nicht, als die Bemerkungen zu Pöbeleien wurden. Denn er hatte früh erkannt, dass seine Fäuste zu schwach waren für eine effiziente Antwort. Sein Intellekt dagegen war ausgeprägt, sodass er diesen im Laufe der Jahre zur Waffe gemacht hatte. Dennoch blieben ihm diese Momente erhalten, in denen er mit angehaltener Wut stehen bleiben musste und nicht mehr weiterwusste.

Das »Fuck Arabs« war auf dem Nissan unübersehbar, und Khaled stieg schnell ein, startete überhastet und fuhr vom Parkplatz. Als er in die Straße einbog und damit schutzlos den Blicken der vorbeischlendernden Studenten ausgeliefert war, überlegte er kurz, ob er sein Tempo verlangsamen und ihren Blicken mit Trotz standhalten sollte. Möglicherweise hätte das den Täter entlarvt, der deutlich anders auf »Fuck Arabs« reagieren würde als die anderen, woraufhin Khaled den Wagen hätte bremsen können, um herauszuspringen und seine unerfahrene Faust mitten ins Gesicht des Täters zu rammen. Es war eine Möglichkeit, die ihm kurz durch den Kopf schoss, aber wie so oft reichte ihm der bloße Gedanke an eine mögliche Gegenwehr, um wieder zufriedener zu werden. Er gab schließlich Gas, um die Uni schnell hinter sich zu lassen, ohne dass er einen einzigen der Studenten am Straßenrand angeschaut hätte.

Nach unzähligen ähnlichen Situationen mit immer gleichem Ablauf hatte er verstanden, dass er niemals der geworden wäre, der er inzwischen war, wenn er auch nur ein einziges Mal von seiner Faust Gebrauch gemacht hätte. Khaleds Wut entlud sich anders: in der Anhäufung von Wissen und Fähigkeiten. Schon mit vierzehn kannte er sich in Programmiersprachen besser aus als seine Mitschüler in ihrer Muttersprache. Er schrieb kleine Programme, die seinen Mitschülern halfen, bei den Klausuren zu betrügen, und er hatte es geliebt, die Schule zu schwänzen, um sich übers Netz das Wissen anzueignen, das seine Lehrer derweil mit der Langeweile der Routine in der dreifachen Zeit in den Klassenzimmern predigten.

Anfang zwanzig hatte Khaled einen lernfähigen Algorithmus entwickelt, der half, die Vorschläge der großen Internetsuchmaschinen zu umgehen und differenziertere Ergebnisse zu erzielen, die das Meinungsbild eines Users mit kontroversen Informationen unterfütterten. Er nannte seine Software »Gecko«, weil sie flink und unkalkulierbar war und wie das gleichnamige Reptil in schwer zugängliche Bereiche des Netzes kriechen konnte. Gecko war stylish und hip und wurde sofort ein Renner. Khaled war plötzlich ein Geheimtipp in der Insidergemeinde der Netz-Aposteln.

Er war dreiundzwanzig, als man bei seiner Mutter einen nicht operablen Hirntumor feststellte. Noch am gleichen Tag kontaktierte ihn ein Frankfurter Anwalt, um ihm im Auftrag von Google einhunderttausend Euro für Gecko anzubieten. Khaled nahm das Angebot an, um seiner Mutter mit dem Geld ein schönes letztes Lebensjahr zu ermöglichen. Seither hatte er nie wieder programmiert und stattdessen die akademische Laufbahn eingeschlagen, Milena geheiratet und war mit ihr vor zwei Jahren in die Hundertvierzig-Quadratmeter-Wohnung mit Garten gezogen.

 

»Hey!«, war das erste Wort, das Milena ihm zur Begrüßung zuwarf, als er aus seinem kleinen Nissan stieg. Das »Fuck Arabs« stand auf der dem Haus zugewandten Seite. »Hey.« Er liebte dieses Wort, mit dem sie so freizügig um sich warf wie mit ihrem Lächeln. Er liebte ihre Sommersprossen, die Haarsträhnen in ihrer Stirn, und er liebte ihre Trippelschritte, mit denen sie Anlauf holte, um ihn anzuspringen, weil sie ihre Freude auf ihn so schwer unter Kontrolle halten konnte.

Ihr »Hey« konnte verliebt, fröhlich, sexy oder enttäuscht klingen. An diesem Tag war es mitfühlend, und ihre Umarmung war die passende Begleitung dazu. Sie kannte ihn gut, sie wusste, wie sehr ihm diese gesprayte Unflätigkeit zusetzte. Sie wusste auch, dass er jetzt nicht darüber reden wollte, und sie respektierte das. Allein dafür liebte er sie mehr als alles andere.

Das war so von ihrer ersten Begegnung an. Und die Entscheidung, mit ihr zusammen in biedere hundertvierzig Quadratmeter mit Garten zu ziehen, war einfach folgerichtig gewesen. Milena liebte die Häuslichkeit. Sie war zwar als Grafikerin bei einer Agentur für Stadtmarketing angestellt, aber in der letzten Zeit hatte sie zunehmend ihren Arbeitsplatz in das Obergeschoss des Hauses verlagert.

Um den Neidern innerhalb ihrer Agentur den Wind aus den Segeln zu nehmen, war der heutige Abend geplant. Ein Barbecue in ihrem Garten, zu dem die sogenannten »Friends & Family« der Agentur eingeladen waren, um ihnen bei Straußensteaks und exotischem Bier verständlich zu machen, dass dieses private Arbeitsumfeld sinnvoll und förderlich für Milenas Kreativität war.

 

Drei Stunden später war Khaled bereit für die Party. »Stell dich der Sache«, war der entscheidende Satz aus Milenas unerschöpflichem Verständnis- und Redepotenzial gewesen.

Anfangs hatte Khaled vergeblich versucht, mit Benzin und Reinigungsmitteln das »Fuck Arabs« vom Lack seines Wagens zu entfernen, danach wollte er den Nissan in einiger Entfernung parken, ja zog sogar in Erwägung, ihn kurzerhand zu einem Schrottplatz zu fahren, was nur daran gescheitert war, dass ihm Googles Suchalgorithmus auf seine entsprechende Anfrage hin keine Ergebnisse in erreichbarer Nähe geliefert hatte. Der eine Satz von Milena war seine Rettung gewesen.

»Stell dich der Sache«, hatte sie gesagt. »Meine Kollegen kommen alle aus dem Marketing, halten sich für weltoffen, originell und blitzgescheit. Du kannst sicher sein, dass jeder einzelne von ihnen spontan in ein Verhaltensdilemma gerät, wenn vor unserem Haus der Wagen mit dieser Beleidigung steht. Da müssen sich meine lieben Kollegen erst einmal herauswinden. Die Party verspricht, originell zu werden.«

 

Später stand Khaled im Garten am Grill, auf dem blutiges Fleisch lag, und genoss die Situation. Es waren ausnahmslos die Männer, die seine Nähe suchten, mit sicherem Halt an exotischem Flaschenbier aus handverlesenen Brauereien, von denen der normale Biertrinker ganz sicher noch nie gehört hatte. Man übertraf sich gegenseitig in mehr oder weniger gelungenen Aphorismen zum Thema »Fuck Arabs«, trank gemeinsam und wurde nicht müde, sich auf die Schultern zu klopfen. Es war eine Männershow, und Khaled war der Mittelpunkt.

Milena warf ihm einen Blick zu und wusste, dass diese Party eine neue Benchmark innerhalb ihrer Agentur setzte und ihr ganz sicher den angestrebten Heimarbeitsplatz ermöglichen würde. Als Khaled ihren Blick erwiderte, spürten sie beide, dass es an der Zeit war, den gemeinsamen Triumph zu feiern.

Sie trafen sich im Badezimmer, das groß war und durch ein Fenster den Blick auf den Garten mit den Partygästen gewährte, die nur durch die schmalen Lamellen der Jalousie von ihnen getrennt waren.

Der Sex war stürmisch, und Khaled hielt Milena dabei absichtlich so, dass sie von jedem ihrer Kollegen gesehen werden konnte, wenn dieser nur nah genug ans Fenster trat.

 

Als Khaled das Bad verließ, um in den Garten zurückzukehren, klingelte es an der Haustür. Er öffnete.

»Bist du Khaled Jafaar?« Die junge Frau, die das fragte, war etwa dreißig Jahre alt. Sie hatte strähniges schwarzes Haar, das längere Zeit mit keinem Shampoo in Kontakt gekommen war, und trug ein schwarzes Jackett über ihrer Jeans. »Ich bin Esther. Dein Vater schickt mich.«

Khaled spürte, wie aller Triumph der letzten Minuten augenblicklich aus seinem Körper wich und er sich unwillkürlich verkrampfte.

»Mein Vater hat vor ziemlich langer Zeit beschlossen, aus meinem Leben zu verschwinden. Ich glaube nicht, dass Sie hier richtig sind.«

Er wollte die Tür schließen, aber die Frau stellte ihren Fuß dazwischen. »Er steckt in Schwierigkeiten und will dich sehen.«

Sie hielt Khaled ein Smartphone unter die Nase. Ein Film war darauf zu sehen, der einen Mann Mitte fünfzig mit arabischem Aussehen und flinken Augen zeigte, hinter ihm die Ausläufer eines kargen Wüstendorfs. Der Mann sprach in die Kamera, und er schien Khaled direkt anzuschauen.

»Hallo, Sohn. Ich brauch deine Hilfe …«

Dann brach der Film ab.

3

Irgendwann war Brit einfach mitgenommen worden. Sie erinnerte sich noch, dass sie den Tauben zugeschaut hatte und dass Polizisten kamen, die ihr Fragen stellten. Nach was genau, wusste sie nicht mehr, aber es hatte mit einem ausgedruckten Foto zu tun, das der tote Mann in der Tasche bei sich trug. Ein Foto, auf dem sie selbst zu sehen war. Genau genommen nur ihr Gesichtsausdruck, eingefroren in einem Moment, als sie nach hinten blickte, ganz so, als fürchtete sie etwas, dort, in Richtung Kamera. Eine Haarsträhne hing ihr quer in die Stirn. Und auch wenn nicht viel mehr auf dem Foto zu sehen war, beunruhigte es Brit dennoch. Denn sie konnte sich nicht erinnern, jemals mit einem solchen Gesichtsausdruck fotografiert worden zu sein.

Die Polizei befragte sämtliche Passanten am Unfallort, die möglicherweise etwas von dem Unfall und dessen Hergang mitbekommen hatten. Die Befragung von Brit gaben sie rasch auf, weil sie schlichtweg keine Antwort gab und nur die Tauben anstarrte. Sie dachten zuerst, sie sei eine Drogensüchtige, doch dann fand man dieses Foto von ihr in der Tasche des Toten, und von da an war Brit von besonderer Bedeutung.

Als auch die weiteren Kontaktversuche fehlschlugen, nahmen die Beamten Brits Ausweis und ließen ihre Identität überprüfen. Die Polizisten gingen davon aus, dass sie mit dem Opfer bekannt war und durch den Unfall einen Schock erlitten hatte. Sie forderten über die anwesenden Sanitäter ärztliche Hilfe an, doch zu ihrer Überraschung kam von ihrer Dienststelle die Anweisung, Brit Kuttner mit aufs Revier zu bringen, damit sie von dort abgeholt werden konnte.

Brit verbrachte nur wenig Zeit auf dem Revier, ihr Tunnel, in den sie sich zurückgezogen hatte, löste sich langsam auf, und als Lisa kam, erlebte sie wieder einmal diese merkwürdige Art von Respekt, die gewöhnliche Polizeibeamte ihrer Mutter entgegenbrachten. Nicht, dass Lisa das eingefordert hätte. Im Gegenteil legte sie stets Wert darauf, nicht aufzufallen. Ihre Frisur war unauffällig, ihre Kleidung war unauffällig, ihre Art zu reden war unauffällig. Aber meist ging ihrem Eintreffen ein Anruf voraus, der sie als Mitarbeiterin des BKA ankündigte, der gegenüber man sich kooperativ zeigen solle.

»Hast du ihn gekannt?«, fragte sie Brit noch auf dem Revier.

»Nein.«

»Aber er hat sich mit dir treffen wollen, oder?«

»Kann sein. Wer war er?« Brit hatte sich angewöhnt, Lisas Fragen immer gleich mit einer Gegenfrage zu begegnen. Es hatte in der Pubertät angefangen, ein Trick, um sich nicht in die Defensive drängen zu lassen von dieser Frau, für die Verhörsituationen zum beruflichen Alltag gehörten.

Lisa setzte sich neben Brit und nahm sie in den Arm. Brit genoss das, und in diesem Moment verschwanden auch die letzten Reste des Tunnels.

»Kommst du mit, nach Hause?« Brit wohnte schon lange nicht mehr bei Lisa, aber Lisa konnte es sich nicht abgewöhnen, die große Wohnung in Pankow als »Zuhause« zu bezeichnen. Es gab Tage, da rebellierte Brit dagegen. An diesem Tag ließ sie es geschehen und nickte einfach.

 

Sie saßen eine gefühlte Ewigkeit in der Küche der Erdgeschosswohnung in Pankow, und Lisa wurde nicht müde, Brit mit Keksen und Jasmintee zu umsorgen. Doch hinter all den Gesprächsansätzen über Studium, Mode und Männerbekanntschaften lauerte immer die gleiche Frage: Warum hatte sich Brit mit dem jungen Mann mit dem Hoodie treffen wollen?

Brit konnte nicht mehr dazu sagen als auf der gemeinsamen Fahrt nach Pankow, aber das schien Lisa nicht zu reichen. Brit hatte in all den Jahren gelernt, die leicht zusammengezogenen Augenbrauen Lisas dahingehend zu deuten, dass ein Thema vorübergehend zurückgestellt, keinesfalls aber erledigt war, und hatte dafür Maßnahmen zur Gegenwehr entwickelt.

Demonstrativ ließ sie ihre Lieblingskekse, die Lisa eigens aufgetischt hatte, unbeachtet und ging stattdessen mehrfach zum Kühlschrank, um sich einen Teelöffel voll Quark zu gönnen. Quark war früher Lisas bevorzugtes Heilmittel gewesen, wenn die kleine Brit mal wieder über Magenschmerzen klagte. Ihre Mutter hatte die Wirkung immer mit der besonders heilenden Zusammensetzung von Milcheiweiß und gutem Geschmack erklärt und damit einen Placeboeffekt angesteuert, der für die Dauer von Brits Kindheit die gewünschte Wirkung erzielte. Als Brit allmählich erwachsen wurde und Lisa das eine oder andere Mal versuchte, die Wirkung von Quark als rein psychologisch zu entlarven, verweigerte sich Brit dem beharrlich. Schließlich gab ihre Mutter es auf und reagierte nur noch mit hilfloser Resignation, wenn Brit mitten in laufenden Gesprächen an den Kühlschrank ging, um sich Quark zu holen. Es wurde nie wieder darüber gesprochen, warum sie das tat, doch entstand zwischen beiden Frauen ein subtiles Kräftemessen.

Mit dem fünften Löffel Quark schaffte es Brit diesmal, Lisas Befragung zu beenden.

»Willst du dich etwas hinlegen? Kannst auch die Nacht hierbleiben, wenn du magst.«

Dies war der befreiende Satz, auf den Brit gewartet hatte. Sie nahm solche Angebote in ihrem früheren Zuhause gern an, hätte aber nie den Mut gefunden, ihrer Mutter die entsprechende Frage zu stellen.

 

Sie wachte auf, als es bereits Abend war. Sie lag auf der Couch gegenüber der abgebeizten Kommode mit der Fotogalerie, die Brits Kindheit illustrierte: Lisa mit Brit im Kinderwagen, Lisa mit Brit auf dem Spielplatz, Lisa mit Brit beim Picknick. Alle Bilder hatten unterschiedliche Rahmen und zeigten Lisa und Brit. Nur auf einem sah man Brit mit Lisa und Fred im Sonnenschein am Spreeufer, und Brit war auf dem Foto noch so klein, dass sie nur mit Mühe auf eigenen Beinen stehen konnte. Sie hatte kaum noch Erinnerungen an Fred, irgendwann war er einfach aus ihrem Bewusstsein verschwunden. Lisa hatte ihr nur erklärt, er hätte nicht die Kraft für ein Kind gehabt, das nicht sein eigenes war. Brit dachte nie weiter darüber nach. Lisa war ihr Familie genug, der einzige Platz, den Fred noch in ihrem Leben hatte, bestand aus einem Foto in dieser kleinen Erinnerungsgalerie.

Brit stand auf, um sich einen weiteren Tee aus der Küche zu holen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass Lisa draußen auf der Straße mit zwei Männern in dunklen Anzügen redete. Vermutlich gab es weitere Fragen bezüglich des Mannes mit dem Hoodie, und ihre Mutter tat gerade ihr Möglichstes, um Fragen und Fragesteller von Brit fernzuhalten. Starke, tapfere Lisa. Das war das Bild, das Brit ihre gesamte Kindheit hindurch von ihr gehabt hatte. Sämtliche Gutenachtgeschichten drehten sich immer darum, dass Muttertiere das Nest beschützten und auf ihre kleinen Kinder achtgaben.

Brit schlenderte in die Küche, trank den Rest kalten Tees, weil sie keine Lust hatte, neuen aufzusetzen, und ließ den Blick schweifen. Seit sie vor sechs Jahren ausgezogen war, hatte Lisa kaum etwas verändert. Selbst Brits Kinderzeichnungen hingen noch verblichen an der Tafel aus Kork. Brit schmunzelte darüber, so wie sie es schon Hunderte Male getan hatte.

Brit ging weiter und sah im Arbeitszimmer ihrer Mutter Licht brennen. Ein übervoller Schreibtisch und ein Bügelbrett, auf dem immerzu eine von Lisas Blusen lag, die sie zu der Kombination aus Jackett und Hose zu tragen pflegte. Damit waren die Eckpunkte von Lisas Leben abgesteckt.

Dann fiel Brits Blick auf den Schreibtisch, und sie sah ein ausgedrucktes Foto von einer Überwachungskamera neben einem braunen Ordner. Das Foto zeigte einen Mann mit einem Hoodie, und Brit erkannte ihn augenblicklich wieder. Neugierig ging sie näher, schob das Foto beiseite und warf einen Blick auf die Akte, die darunter lag. Selbst als alle Welt auf papierlose Daten umgestiegen war, war ihre Mutter nicht von Akten, Heftern und Ausdrucken abzubringen gewesen. Oft hatten sie kreuz und quer im Arbeitszimmer gelegen, und Lisa hockte dazwischen, um sich Notizen zu machen.

Das fett gedruckte Wort, das unter dem Briefkopf des BKA stand und diese Akte kennzeichnete, lautete »Earth«. Brit konnte nicht das Geringste damit anfangen. Sie nahm einen Schluck kalten Tees und blätterte eher beiläufig die Mappe durch. Ein angehefteter brauner Umschlag enthielt ein weiteres Foto, dessen obere Ecke ein kleines Stück herausschaute.

Warum Brit das Foto aus dem Umschlag zog und damit gegen alle Regeln verstieß, die zwischen ihr und Lisa galten, hätte sie später nicht zu sagen vermocht. Jedenfalls lag das Foto plötzlich vor ihr auf dem Schreibtisch. Brit starrte darauf. Das Bild zeigte sie selbst. Sie ging über eine Straße, neben ihr ein junger Mann mit dunklen Haaren und arabischem Aussehen. Ihr Blick war auf etwas gerichtet, das sich hinter ihr außerhalb der Aufnahme befand, und eine einzelne Haarsträhne hing ihr in die Stirn.

Brit erinnerte sich an das Foto, das ihr die Polizisten auf der Straße gezeigt hatten. Es war eine Ausschnittvergrößerung dieses Bildes, das nun vor ihr lag. Aber das war nicht das Wesentliche. Viel irritierender war, dass sie auf dem Foto ein Baby auf dem Arm trug. In ihrem ganzen Leben hatte Brit noch kein Baby auf dem Arm gehabt. Der bloße Anblick verursachte eine merkwürdige Regung hinter ihrem Solarplexus.

 

Das Geräusch an der Tür verriet Brit, dass Lisa zurück war. Sie schob das Foto wieder in den Umschlag, klappte die Akte zu und eilte aus dem Arbeitszimmer. Als Lisa die Wohnung betrat, stand Brit bereits in der Küche.

»Schon wach?« Lisa wirkte etwas angestrengt von dem Gespräch, das sie draußen geführt hatte.

»Ich hatte Durst, wollte mir einen Tee holen.«

»Wenn du willst, bestellen wir uns etwas. Thai oder Pasta, was meinst du?« Während Lisa das sagte, ging sie weiter in ihr Arbeitszimmer.

»Ich weiß nicht, ich glaube, ich kann jetzt nichts essen.« In diesem Moment fiel Brit auf, dass sie ihren Teebecher nicht mehr bei sich hatte.

Lisa kam aus dem Arbeitszimmer zurück, in der Hand den Becher. An ihrem Blick sah Brit sofort, was der nächste Satz sein würde.

»Du hast es gesehen?«

4

»Hat sie nichts davon gesagt, warum du dorthin kommen sollst?«

Alle Gäste waren bereits gegangen, und Milena und Khaled saßen auf der Terrasse inmitten von leeren Flaschen und einer Landschaft aus schmutzigem Geschirr.

»Nein, nichts. Sie sagte nur, dass er sie vor zwei Tagen angerufen hat.«

»Esther?«

»Ja, so heißt sie. Hat sie zumindest gesagt. Sie meinte noch, sie sei eine Zeit lang seine Geliebte gewesen.«

»Seine Geliebte?« Milena schüttelte den Kopf und zog an der Zigarette. Sie rauchte selten, eigentlich nur auf Partys. Dass sie noch rauchte, wenn eine Party vorüber war, kam so gut wie nie vor.

»Keine Ahnung. Ich hab schon lange aufgehört, darüber nachzudenken, was von seinen Geschichten ich glauben soll und was nicht. Wird schon so sein, dass er die eine oder andere Geliebte hat. Ob diese Esther eine davon ist, kann ich nicht sagen, und es interessiert mich auch nicht.«

»Aber er hat sie angerufen und ihr gesagt, dass du nach Gaza kommen sollst?«

»Ja.«

»Warum Gaza?«

»Das ist seine Heimat. Dort ist er aufgewachsen. Er hat ja ein Leben gehabt, bevor er nach Deutschland gekommen ist und meine Mutter kennenlernte.«

»Du hast so gut wie nie über ihn gesprochen.«

»Wird sich auch nicht ändern. Es war damals seine Entscheidung abzuhauen, nicht meine.«

»Das heißt also, du willst nicht dorthin?«

»Ich weiß nicht, Milena. Vermutlich hätte ich gesagt, er soll sich zum Teufel scheren, wenn er mich selbst kontaktiert hätte. Aber diese Esther scheint okay zu sein. Und sie meinte, es sei ernst. Sie war es wohl auch, die ihn zu dieser Videobotschaft überredet hat.«

»Zu zwei Sätzen.«

»Immerhin mehr, als ich zwanzig Jahre lang von ihm gehört habe. Obwohl er sein ganzes Leben in Schwierigkeiten gewesen ist. Wo immer eine rebellische Bewegung einen brillanten Denker gebraucht hat, mit dem sie sich schmücken konnte, war er dabei.«

»Das klingt ein bisschen zynisch, was du da sagst.«

»Sein ganzes Leben war zynisch. Seine Familie zu verlassen, um sich irgendeiner beschissenen Subkultur anzuschließen, das ist zynisch.«

»Du hast mal erzählt, dass er eine Menge riskiert hat für seine Sache.«

»Für seine Sache, allerdings. Für seine Familie hat er nichts riskiert.«

»Hey …« Da war es wieder, dieses »Hey«. Sie sah ihn an und schob ihre kalten Hände unter sein Shirt. Khaled fröstelte leicht, genoss aber dennoch ihre Berührung. »Mach es, wenn du denkst, dass es wichtig ist.« Wie immer versprach ihr Blick ihm ewiges Glück, und in diesem Moment beschloss er, am nächsten Tag nach Gaza zu reisen.

 

Lisa und Brit saßen noch lange in der Küche.

»Was ist das für eine Akte?«, fragte Britt.

Lisa druckste herum, sie wusste, dass sie sämtliche Regeln brach, wenn sie Brit etwas über laufende Ermittlungen erzählte. Aber Brit bohrte weiter, und letztlich meinte auch Lisa, dass ihre Tochter nach dem Erlebnis am Vormittag das Recht hatte, zu erfahren, womit sich ihre Abteilung »Polizeilicher Staatsschutz« beim BKA seit einigen Tagen beschäftigte.

Bei einer neuen Runde Jasmintee begann Lisa zu erzählen, und diesmal stand Brit kein einziges Mal auf, um aus dem Kühlschrank Quark zu holen.

Earth war eine Gruppe linker Aktivisten, spezialisiert aufs Hacken und Aktionen im Internet. Das Zentrum der Gruppe wurde in Berlin vermutet, aber Earth galt inzwischen als globale Gruppierung mit Anhängern und Helfern in zahllosen Ländern. Die Organisation hatte Wurzeln in den Demokratisierungsbewegungen des Arabischen Frühlings und sympathisierte mit der weltweiten Occupy-Bewegung. Und Earth stand unter Beobachtung des BKA, aber die Hacker waren geschickt und den IT-Spezialisten des Bundeskriminalamts meist um eine Nasenlänge voraus. Außerdem war Earth irgendwann als weitgehend harmlose Gruppierung naiver Weltverbesserer eingestuft worden. Es hatte also keinen Grund gegeben, die Überwachung zu intensivieren.

»Und dann?« Brit hatte die Gedankengänge ihrer Mutter oft genug begleitet, um zu wissen, dass der entscheidende Punkt noch fehlte.

»In den letzten zwei Wochen sind in Deutschland drei ihrer Mitglieder bei scheinbaren Unfällen ums Leben gekommen. Nach Auskunft befreundeter Nachrichtendienste gibt es auch Opfer in anderen Ländern.«

»Aber was hab ich damit zu tun? Ich habe noch nie von dieser Gruppe gehört.«

»Ein junger Mann wurde letzte Woche an der Station Wittenbergplatz vor eine einfahrende U-Bahn gestoßen. Es stand auch in der Zeitung.«

»Ja, hab ich gelesen. Aber es hieß, es sei ein Selbstmord gewesen.«

»So die offizielle Verlautbarung. Die Überwachungskameras zeigten aber einen ziemlich eindeutigen Tatverlauf. Das Opfer war ein Mitglied von Earth, und in seiner Brieftasche wurde dieses Foto von dir mit dem Kind auf dem Arm gefunden.«

»Mit einem Baby und einem Mann, den ich im ganzen Leben noch nie gesehen habe.«

»Richtig. Wir gehen davon aus, dass es eine geschickte Fotomontage ist. Aber das ist nicht die eigentliche Frage …«

»… sondern: Warum gibt es dieses Bild überhaupt?«, führte Brit den Satz zu Ende. Es zeichnete sie aus, dass sie die Gedankengänge ihres Gegenübers schnell übernehmen und weiterspinnen konnte. Bei ihrer Mutter fiel es ihr besonders leicht, sich in ihr logisches und analysierendes Gedankensystem einzuklinken.

»Warum gibt es dieses Bild überhaupt?«, wiederholte sie und fügte dann hinzu: »Wer hat es gemacht, und welches Interesse verfolgt er damit? Das sind die Fragen.«

Lisa nahm einen Schluck Tee, der inzwischen nicht mehr dampfte, und blickte Brit einen Moment lang über den Rand ihres Bechers hinweg an. Falls es eine unausgesprochene Frage an ihre Tochter sein sollte, zu verraten, ob sie in irgendeinem Zusammenhang mit der Hacker-Gruppierung stand, so ließ Brit diese Frage unbeantwortet. Mehr noch machte der Blick, den sie ihrer Mutter zurückwarf, deutlich, dass sie auf unausgesprochene Fragen mit demonstrativer Nicht-Reaktion reagieren würde. Lisa wusste das. Das war Brits Art.

»Das Foto sieht aus, als sei ich auf der Flucht vor irgendetwas«, sagte Brit schließlich. »Ich laufe über eine Straße, mit diesem Mann und dem Baby …«

»Ich nehme an, du kannst dich nicht erinnern, ob oder wann du jemals in einem solchen Moment fotografiert worden bist? Ich meine den Gesichtsausdruck als Grundlage für diese Fotomontage …«

»Ich kann mich sogar gut erinnern, garantiert noch nie mit einem solchen Gesichtsausdruck fotografiert worden zu sein.«

»Wir haben es von unseren Spezialisten prüfen lassen auf die üblichen Fehler bei Fotomontagen: anderer Lichteinfall auf den Gesichtern zum Beispiel oder eine unterschiedliche Bewegungsunschärfe, die auf die verschiedenen Originalbilder zurückzuführen ist. Die Ergebnisse waren negativ.«

»Heißt?«

»Das heißt, dass alle Bestandteile dieses Bildes unter exakt den gleichen Lichtbedingungen und bei demselben Bewegungsverhalten aufgenommen worden sind.«

»Klingt ziemlich unwahrscheinlich. Wisst ihr, wer der Mann auf dem Bild ist?« Diese Frage hatte Brit schon die ganze Zeit unter den Nägeln gebrannt, aber sie wollte Lisa nicht zu sehr drängen. Ihrer Erfahrung nach war auf diese Weise mehr aus ihrer Mutter herauszuholen. Dann kam es vor, dass Lisas Verhalten als Mutter das der vereidigten Polizeibeamtin zurückdrängte und sie Dinge preisgab, die eigentlich unter Verschluss waren.

Aber Lisa sagte nichts an diesem Tag. Mehr noch, sie log, dass die Identität des Mannes komplett unbekannt wäre, obwohl das BKA seinen Namen bereits seit dem Tag nach dem angeblichen Selbstmord in der Station Wittenbergplatz kannte. Er hieß Khaled Jafaar und war Dozent für Informationsethik an der Universität Münster.

Sie erwähnte auch nicht, dass Khaled Jafaar seither unter Beobachtung stand, auch wenn es vorerst nur das sogenannte »kleine« Überwachungsverfahren war, also Mobilfunk, Internet, Kreditkartenbewegungen. So wie von diesem Tag an auch Brit, Tochter einer Kriminalhauptkommissarin des BKA, beobachtet wurde. Ein Verfahren, dem Lisa nur nach einigem Zögern zugestimmt hatte.

»Und was war das heute?«, wollte Brit wissen.

»Opfer Nummer vier in Deutschland. Er hieß Tobias Henke, in der Hackerszene bekannt unter dem Pseudonym ›Spillboard‹. Dass er eine Ausschnittvergrößerung dieses U-Bahn-Fotos bei sich hatte, hast du mitbekommen, oder?«

Brit nickte.

»Wir nehmen an, dass er dich damit identifizieren wollte. Aber wir wissen nicht, warum und was das alles soll.«

Brit spürte, dass Lisa die Wahrheit sagte.

»Hör zu, Schatz, du solltest vorsichtig sein. Und mir wäre, ehrlich gesagt, wohler, wenn du für eine Weile wieder zu mir ziehen würdest.«

Brit lehnte ab. Die Vorstellung, wieder bei ihrer Mutter zu wohnen und sich all den Verhaltensmustern und Kommunikationsritualen unterordnen zu müssen, denen sie nur mit großer Kraftanstrengung entflohen war, verursachten ihr sogar körperliches Unbehagen. Sie wollte zurück in ihre WG, wo mit Anna und Timo das herrlich normale Leben auf sie wartete und die Probleme dieser Welt ihre maximale Amplitude bei der Verantwortlichkeit für die Bewältigung des Berges ungespülten Geschirrs erreichten.

5

Nach nur zwei Stunden Schlaf und einem furchtbar überfüllten Zug erreichte Khaled in Düsseldorf noch die Lufthansa-Maschine nach Tel Aviv, deren Plätze nur zur Hälfte gebucht waren. Khaled hatte einen Fensterplatz und die Sitzreihe für sich allein, weshalb er die Schuhe auszog und dem eingefrorenen Lächeln der Stewardess zum Trotz die Beine auf die Polster legte, um besser schlafen zu können. Von den fünfeinhalb Flugstunden verschlief er drei, und die restliche Zeit verbrachte er damit, an seinen Vater zu denken, den Blick auf die dichte Wolkendecke unter dem Flugzeug gerichtet.

Er unterteilte seine Kindheit in die Zeit, als Ben Jafaar noch Teil der Familie gewesen war, und jener nach seinem Verschwinden. Das Bild, das ihm dabei immer wieder durch den Kopf schoss, sobald er dem Phänomen »Vater« Buchstaben und einen Namen gab, war eine Erinnerung an gemeinsames Skifahren. Die dunklen Haare und der ebenso dunkle Mantel des Vaters inmitten einer geradezu lächerlich bunten Vielfalt von anderen Skilangläufern. Vielleicht war dieses besondere Aussehen, das Khaled damals als Sechsjähriger wahrgenommen hatte, der Grund dafür, dass ihm dieses Bild in Erinnerung geblieben war. Vielleicht war es auch das tölpelhafte Ungeschick, mit dem sich der Vater auf den schmalen Brettern fortbewegt hatte. Der Vater, der sonst in sämtlichen Bereichen ein geradezu einschüchterndes Können an den Tag gelegt hatte. Ein Können, das der kleine Khaled immerzu bewundert und das ihn davon überzeugt hatte, sein Leben lang klein und unscheinbar bleiben zu müssen.

Das hatte sich geändert, als Khaleds Lebensalter zweistellig geworden war und er erkannte, dass der Vater sich ausschließlich in Disziplinen bewegte, in denen er erfahren und gut war. Alles andere mied er tunlichst. In dieser Zeit begann das Podest, auf dem der Vater in Khaleds Augen stand, zu wanken, und das Bild vom ungeschickten Vater im Schnee wurde zum überlebenswichtigen Mantra für einen Jungen, der die väterliche Übermacht abschütteln musste, um selbst zum Mann zu werden.

 

Die Maschine landete in Tel Aviv kurz vor zwei Uhr Ortszeit, und nach einer ebenso nervenden wie ermüdenden Einreiseprozedur trat Khaled schließlich bei dreißig Grad Lufttemperatur in das helle Sonnenlicht.

Es war sein dritter Besuch in Gaza. Das erste Mal war im Alter von sechzehn gewesen, als seine Mutter ihn gedrängt hatte, die Wurzeln seiner väterlichen Vorfahren kennenzulernen, um ein fundiertes Politikverständnis aufbauen zu können. Beim zweiten Mal war er dreiundzwanzig Jahre alt, als er, mit gewissem Stolz auf seine palästinensischen Wurzeln, seinen vorrangig unpolitischen Kommilitonen zeigen wollte, dass auch ein Informatikstudent über politisches Bewusstsein verfügen konnte. Dieser letzte Besuch war allerdings anders verlaufen, als es sich Khaled vorgestellt hatte.

Mit sechzehn hatte er Gaza noch als einschüchternden »Melting Pot« unterschiedlichster Menschen und Gesinnungen empfunden. Alles war in seinen Augen laut, bunt und anders als in Deutschland. Mit dreiundzwanzig fiel ihm auf, wie sehr auch dieser Teil der Welt allen anderen ähnelte. Es ging auch in Gaza um die gleiche Mode, den gleichen Konsum, die gleichen Ablenkungen. Zwar gab es von allem etwas weniger, dafür war der Umgang damit umso lauter. Besonders die Armut in den Außenbezirken führte dazu, dass der allgegenwärtige Schrei nach Konsum und Entertainment umso aggressiver durch die Straßen hallte. In den flinken und begierigen Augen der Straßenkinder glaubte er das gesamte Ausmaß der Wehrlosigkeit zu erkennen, das die Menschheit zum zwangsläufigen Opfer der Unterhaltungskultur werden ließ. Nach jenem Besuch in Gaza entschied er sich, sein Erfolg versprechendes Informatikstudium gegen den Fachbereich Philosophie einzutauschen. Das hatte er nie bereut.

Das Taxi brachte ihn zum Grenzübergang Beit Hanour, wo die Israelis mit quälender Genauigkeit die Kontrollen vornahmen. Der deutsche Reisepass ermöglichte Khaled das, was den meisten Palästinensern unmöglich war: das Überqueren der Grenze in einer halbwegs erträglichen Zeit.

Als er im City Star Hotel eincheckte, fing die dunstige Luft über Gaza-Stadt gerade die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein. Es war ein sauberes Hotel. Gebaut für die Journalisten und Geschäftsleute, die mitten in Gaza den gleichen anonymen Komfort erwarteten, den es inzwischen in den Stadthotels überall auf der Welt gab.

Khaled begab sich auf sein Zimmer, das aussah wie aus einem Katalog für Hoteleinrichtungen, öffnete das Fenster und hörte den Muezzin. Am nächsten Tag wollte er weiterreisen in den Norden von Rafah, wo Ben Jafaar aufgewachsen war.

Damals war dort nichts als ein staubiges Dorf gewesen.

6

Brit verbrachte den Vormittag in ihrer WG, um bei einem ausgedehnten Frühstück mit Anna und Timo eine Entscheidung zu fällen. Sollte sie etwas unternehmen, nur weil sie das Gefühl hatte, von irgendwem für irgendetwas benutzt zu werden, von dem sie nicht genau sagen konnte, was es war? Oder sollte sie einfach darüber hinwegsehen, dass ihre Persönlichkeitsrechte gerade massiv missachtet wurden?

Timo und Anna verstanden nicht wirklich, was Brit genau meinte, was sie aber nicht davon abhielt, mit Leidenschaft und Ausdauer darüber zu diskutieren.

Diese morgendlichen Diskussionen waren inzwischen zu einer Institution geworden, und auch wenn die beiden häufig an ihren Themen vorbeischossen und sich die Gespräche im Kreis drehten, hatte Brit immer das Gefühl, dass sie durch das bloße Diskutieren ihre Meinung klären und verfestigen konnte.

Timo war BWL-Student im sechsten Semester, der aber die letzten drei Semester kaum noch an der Uni gewesen war und stattdessen Pläne schmiedete, mit geschickten Firmengründungen in der Dritten Welt einen Teil der Entwicklungsgelder, die dorthin flossen, für sich abzuzwacken. Brit war sich sicher, dass es nie so weit kommen würde, weil Timos Planungstalent regelmäßig schon an dem WG-internen Geschirrspüldienst scheiterte. Aber er war ein netter Kerl mit einer angenehmen Vorliebe für übergroße Joints, und Brit genoss seine Gegenwart.

Anna war Friseurin, jedoch arbeitslos, seit sie sich entschlossen hatte, Dreadlocks zu tragen und sich der Benutzung von Shampoo zu widersetzen. Das war etwa der Zeitpunkt gewesen, als sie Timo getroffen und den guten Sex mit ihm zu schätzen gelernt hatte. Sie war in die WG gezogen und teilte mit ihm seither den Rhythmus langer Nächte, die meist bis zum gemeinsamen Frühstück mit Brit andauerten und in einen durchschlafenen Tag mündeten.