Giampietro, Nicoletta Niemand weiß, dass du hier bist

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Originalausgabe
© Piper Verlag GmbH, München 2019
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Widmung

 

Für meine Eltern, José-Marie Bougan Giampietro und Guido Giampietro

Im Andenken an Ferruccio Valech

Teil 1

1

Ich war seit einer Woche in Siena, als statt Mamma das Telegramm eintraf. Es war der 8. August 1942.

Ich hatte noch nie ein Telegramm bekommen, nicht einmal eins gesehen, aber ich wusste, um was es sich handelte. Ein Telegramm war schnell, knapp geschrieben und teuer, und es überbrachte wichtige Nachrichten. Meist schlechte.

Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass etwas nicht stimmte. Zu Hause in Tripolis hatten wir den schönsten Strand der Welt vor der Haustür, wieso sollten wir in den Urlaub nach Siena fahren, wo es kein Meer gibt? Tatsächlich nagte tief in mir ein leiser Verdacht. Aber ich verdrängte alle Zweifel und fragte nicht weiter nach. Ich hatte Angst vor der Antwort.

Die Antwort steckte nun in dem kleinen, gelben Umschlag, den Zia Chiara vom Boten der Regie Poste Italiane in Empfang nahm.

»Ist es von Mamma?«, fragte ich.

Zia Chiara nickte, drehte sich wortlos um und eilte, ohne das Licht anzumachen, den Gang hinunter zum Wohnzimmer. Ich blieb dicht hinter ihr. Ich wollte nicht zurückgelassen werden, nicht in diesem dunklen Gang, der sich an mehreren Zimmern vorbeischlängelte. Die alte Wohnung war so verwinkelt und düster, dass ich mich immer noch darin verirrte.

Wir traten ins Wohnzimmer, gefolgt von Cesarina, die mit einem nassen Tuch in den Händen aus der Küche herauswatschelte. Das Wohnzimmer war der einzige Raum, der auf mich nicht wie ein Museumssaal oder ein Burgverlies wirkte. Es war auch der einzige Raum, in dem die Fensterläden den ganzen Tag geöffnet waren. In den anderen blieben sie geschlossen, um die antiken Möbel und die Wandfresken vor dem Licht zu schützen. Ein Esstisch für zwölf thronte in der Mitte. Zwei Geschirrkommoden standen an der rechten Wand, eine doppelte Fenstertür führte auf die Terrasse aus roten Ziegelsteinen. In der Ecke neben dem Fenster befand sich der Kamin. Und neben dem Kamin, in einem Sessel, der einmal gelb gewesen sein musste, döste Nonno. Als wir hereinkamen, öffnete er die Augen. Zia Chiara überreichte es ihm.

»Von Luisa«, antwortete sie auf seine stumme Frage.

Nonno öffnete den Umschlag mit dem Brieföffner, setzte die Brille auf die Nase und las. Meine Hände zuckten auf und ab. Wie lange brauchte man, um ein Telegramm zu lesen?

Als ich Nonno am Tag meiner Ankunft zum ersten Mal gesehen hatte, konnte ich nur auf seine knochigen Beine starren, die sich unter einer Wolldecke abzeichneten, auf seine schlaffen Wangen, auf das dünne weiße Haar und den Schnurrbart, der bis unter die Mundwinkel hing. Sah so ein Offizier des Großen Krieges aus?

Trotzdem wollte ich ihm zeigen, dass ich ein gut ausgebildeter und kampfbereiter Balilla war. Ich schlug die Hacken zusammen und salutierte. Leider konnte ich mich im letzten Augenblick nicht entscheiden, ob militärisch oder römisch. Meine rechte Hand bewegte sich zur Stirn, schoss nach vorne, schnellte wieder zurück zum Gesicht. Eine heiße Welle von Scham flutete mein Gesicht vom Hals bis zu den Ohren. Nonnos Schnurrbart zitterte, und seine grauen Augen glitzerten mild unter Augenbrauen wie Holzwolle. Er winkte mich zu sich, küsste mich auf beide Wangen und umarmte mich fester, als ich erwartet hatte. Er roch angenehm, nach Rasierwasser und Pfeifentabak.

Nonno legte das Telegramm auf den Schoß und sah uns über den Brillenrand hinweg ernst an.

»Umberto wurde an die Front geschickt.«

»O weh«, rief Cesarina aus und bekreuzigte sich.

Zia Chiara schnappte sich das Telegramm. Ihre Augen flogen über den Text.

»Also doch. Verdammt.«

Ich verstand die Aufregung nicht. Papà war Offizier, Major der Pioniere, natürlich musste er an die Front, es herrschte doch Krieg. Man konnte sich eher darüber wundern, dass es nicht schon früher geschehen war. Die wichtigere Frage war eine andere.

»Und Mamma?«, fragte ich. »Wann kommt sie?«

Zia Chiara gab mir das Telegramm. Der Text war kurz: »Umberto eingezogen. Ägyptische Front. Gespräche laufen. Brief folgt.«

An die ägyptische Front! Mein Herz schlug einen Purzelbaum. Papà würde mit Rommel kämpfen!

Rommel, der Wüstenfuchs! Er war der Befehlshaber der deutschen Truppen in Nordafrika. Einen derart wagemutigen General gab es in der ganzen italienischen Armee nicht. Fast hätten wir Libyen an die Engländer verloren. Dann, im März 41, kam Rommel mit dem Afrikakorps, wie der Gibli, der Wüstenwind, und fegte den Feind weg.

Cesarina rollte sich das Küchentuch um die Hände.

»Wie kann das sein? Er ist doch kriegsunfähig!«

»Kriegsuntauglich«, verbesserte Zia Chiara. Zia Chiara war Grundschullehrerin. Auch in den Sommerferien. »Tja, inzwischen nehmen sie wohl auch Lahme und Einäugige.«

»Papà ist nicht lahm«, schrie ich sie an. »Und schon gar nicht untauglich.«

Zia Chiara zuckte und zog die Augenbrauen zusammen.

»Das heißt nicht, dass er nichts taugt«, sagte sie, als würde sie etwas erklären, was jedes halbwegs begabte Kleinkind verstehen müsste. »Wir wissen alle, dass er ein hervorragender Ingenieur und ein mutiger Offizier ist. Aber für den Dienst an der Waffe müssen Soldaten gesund und körperlich unversehrt sein. Und das ist er nicht.«

»Doch! Man merkt fast nichts, er kann ganz normal arbeiten und dem Vaterland dienen.«

»Es gibt viele Arten, dem Vaterland zu dienen, Lorenzo«, sagte Nonno. »Nicht alle Soldaten und Offiziere kämpfen an der Front. Ein Krieg erfordert eine große Organisation, und die geschieht im Hintergrund, im Stab, im Kriegsministerium. Dafür braucht man besonders gute Männer, Männer, die die richtigen Entscheidungen treffen. Dort wäre Papà sinnvoller eingesetzt.«

Das konnte Papà ganz bestimmt nicht wollen. Es wäre kein richtiger Krieg!

»Warum wurde er dann eingezogen?«, fragte Cesarina, während sie das Küchentuch zu einer immer festeren Wurst wrang.

Nonnos warnender Blick an Zia Chiara war so kurz, dass ich nicht sicher war, ihn überhaupt gesehen zu haben.

»Unsere Truppen haben große Verluste erlitten«, sagte er. »Sie brauchen jetzt besonders gute Offiziere für die Operation in Nordafrika. Das wird der Grund sein.«

»Aber dieser Herr vom Ministerium hatte doch versprochen, sich darum zu kümmern«, sagte Cesarina.

Zia Chiara schnaubte.

»Meinst du Eugenio Bruni? Der will sich die Hände nicht schmutzig machen.«

Deshalb war Mamma also in Rom geblieben und hatte mich allein nach Siena weitergeschickt. Sie wollte mich nicht dabeihaben, wenn sie sich mit Onkel Eugenio verbündete, um Papà nach Italien zu holen! Onkel Eugenio war Mammas Großcousin und bezeichnete sich als Faschist der ersten Stunde, weil er schon vor der faschistischen Revolution Mitglied der Partei gewesen war. Inzwischen hatte er einen wichtigen Posten in der Regierung. Das behauptete er jedenfalls. Und gerade er sollte Mamma helfen, Papà von seiner patriotischen Pflicht fernzuhalten? So was konnten sich nur Weiber ausdenken.

Meine Gedanken überschlugen sich. Hätte Mammas Plan geklappt, wären wir nach Rom umgezogen. Wir hätten Tripolis verlassen. Unsere schöne, helle Wohnung mit den haushohen Palmen davor. Den schönsten Strand am Mittelmeer. Meine Schule, alle meine Freunde, die noch dort waren. Aber vor allem Hakim.

Alles war so schnell gegangen, dass ich gar keine Möglichkeit hatte, über die Ereignisse nachzudenken, geschweige denn, sie zu begreifen. Erst am Abend vor der Abreise hatte Mamma mir eröffnet, dass wir die Sommerferien bei Nonno und Zia Chiara verbringen würden. Ich hatte nicht einmal die Zeit gehabt, mich von Hakim zu verabschieden.

Zia Chiara ging auf und ab wie ein Tiger im Käfig.

»Dieser Krieg ist purer Wahnsinn! Wir hätten uns raushalten können, aber nein, Mussolini musste unbedingt mit Hitler Krieg spielen.«

»Chiara! Bitte«, zischte Nonno. Sein Blick schoss zwischen ihr und mir hin und her. Aber Zia Chiara war in Fahrt gekommen.

»Was denn bitte? Wir waren von Anfang an erbärmlich ausgerüstet und miserabel vorbereitet! Abessinien haben wir verloren. Wir verzetteln uns in Griechenland, in Albanien und jetzt auch noch in Russland, von unserem Abenteuer in Ägypten ganz zu schweigen. Ohne die Deutschen hätten uns die Engländer längst aus Libyen rausgeworfen. Sie haben zehn unserer Divisionen vernichtet, und wie viele italienische Soldaten dabei getötet wurden, weiß niemand genau, weil wir nicht einmal in der Lage sind, sie zu zählen!«

Es war verboten, so zu sprechen. Es war … Verrat!

Cesarina hielt sich mit aufgerissenen Augen an ihrem Küchentuch fest. Nonno schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne.

»Schweig! In diesem Haus werden unsere Truppen respektiert.«

Zia Chiaras Wangen leuchteten rot, und ihre feinen Nasenflügel flatterten im hektischen Rhythmus ihrer Atmung. Plötzlich, und zu meiner großen Verwirrung, füllten sich ihre grünen Augen mit Tränen. Sie senkte den Kopf.

»Entschuldige, Babbo«, flüsterte sie. »Ich wollte nicht respektlos sein. Nicht dir gegenüber.«

Nonno seufzte, während der Zorn aus seinem Blick verflog.

»Lass uns Luisas Brief abwarten. Dann werden wir mehr wissen und alles besser verstehen«, sagte er müde.

»Wir können sie fragen, wenn sie mich abholt«, sagte ich.

»Dich abholt?«

»Ja. Wenn wir nach Hause fahren.«

Nonno und Zia Chiara sahen sich an.

»Lorenzo, was haben dir deine Eltern erzählt?«, fragte Zia Chiara.

Ich wollte forsch klingen, aber meine Stimme kiekste.

»Dass wir die Sommerferien bei euch verbringen.«

Zia Chiara schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Ich fasse es nicht.«

»Chiara …«, flüsterte Nonno.

»Was heißt hier ›Chiara‹? Sie schicken uns den Jungen und erklären ihm nichts? Tut mir leid, ich finde das nicht gut. Und ich verstehe es auch nicht. Er hat das Recht, informiert zu werden.«

Ich war über ihren Ausbruch noch so schockiert, dass meine Hände zitterten, aber in diesem Augenblick hätte ich sie umarmen können.

Papà liebte sie innig. Er bekam immer einen sanftmütigen Blick, wenn er von seiner kleinen Schwester erzählte, und in diesem Moment fiel mir auf, wie ähnlich sie ihm sah. Sie hatte das gleiche schmale Gesicht, das gleiche Lächeln mit den gleichen geraden Zähnen, sogar den gleichen forschen Gang. Sie war nur viel heller, mit einer Haut wie Mandelmilch und kurzen, rotblonden Locken, auf denen eine marineblaue Baskenmütze saß, wenn sie auf die Straße ging. Und sie hatte noch mehr Sommersprossen als ich.

»Vielleicht wollten sie Lorenzo nicht verunsichern, solange die Dinge nicht geklärt sind«, sagte Nonno.

»Was hätten sie mir sagen sollen?«, fragte ich. Aber ich ahnte es schon.

Als wir nach vierundzwanzig Stunden auf dem Schiff und weiteren vierzehn Stunden im Zug endlich in Rom angekommen waren, hatte Mamma gesagt, dass sie für einige wichtige Termine in Rom bleiben müsse. Sie versprach, bald nachzukommen, und schickte mich mit dem Zug nach Siena. Allein. Mit einem Koffer, der viel zu groß für einen Sommerurlaub war.

Nonno nahm meine Hände zwischen seine.

»Für den Fall, dass dein Vater nicht nach Rom versetzt wurde, war abgesprochen, dass du hier in Siena bleibst. In Sicherheit. Tripolis ist zu gefährlich geworden.«

Ich wollte schreien. Aber ich konnte nur krächzen.

»Wie lange?«

Nonno hätte vielleicht gesagt: Bis die Engländer weg aus Nordafrika sind, oder: Bis es ruhiger ist. Aber nicht Zia Chiara.

»Bis der Krieg zu Ende ist«, sagte sie gnadenlos.

Und das war noch lange nicht in Sicht. Das befürchtete inzwischen sogar ich.

 

Seit Stunden lag ich unter dem zu warmen Laken und starrte an die Zimmerdecke, die sich drei Meter über mir wölbte. Trotz der Sperrstunde diskutierten drei Männern vor der Bar del Ponte über Fußball. Ihre Stimmen, durch die hohen Häuser verstärkt wie durch ein Sprachrohr, prallten gegen die Wände meines Zimmers. Doch ich verstand kein Wort. Meine Gedanken waren noch lauter als sie.

Meine Mutter wollte aus Libyen weggehen.

Gerade jetzt, wo wir die Chance hatten, Ägypten zu erobern und die Engländer für immer aus Nordafrika zu vertreiben? Wie feige war das? Libyen gehörte zu Italien! Es war seit 1912 unsere Kolonie. Jemand musste bleiben und sie verteidigen.

Mein Freund Fabio und ich hatten nur Verachtung für die Familien übrig, die Libyen verlassen hatten. Mehr als die Hälfte meiner Schulkameraden waren in den letzten Monaten von heute auf morgen verschwunden. Dann, zwei Tage vor unserer Abreise, als ich Fabio abholen wollte, stand ich vor verschlossener Tür. Die Fensterläden waren zu. Niemand antwortete auf mein Klingeln.

Jetzt waren auch wir weg, ohne uns zu verabschieden, wie Diebe. Und Mamma war zu feige gewesen, es mir zu sagen. Natürlich hätte ich mich gewehrt! Ich wäre weggelaufen und hätte mich bei Hakim versteckt, im Dorf der Askari, wo ich ihn besucht hatte, als Mamma bei einer Freundin war und es nicht merken konnte. Damals hatte seine Frau Aischa eine Tonschüssel mit einem Berg blonden Couscous und einer feuerscharfen Soße zwischen uns gestellt. Hakim und ich hockten auf dem Boden und aßen mit den Händen, während sie sich um das Baby kümmerte, das in einer Holzkiste krähte. Aischa war sechzehn Jahre alt und hatte Augen wie Holzkohlen. Aber Mamma sah es nicht gern, dass ich Hakim besuchte. Es verderbe meine guten Manieren, wenn ich mich wie ein kleiner Araber benahm.

Was machte Hakim jetzt? Ich kniff die Augen zu, um die Tränen zu unterdrücken.

Ich war mit ihm am Hafen gewesen, als die ersten deutschen Truppen vor eineinhalb Jahren in Tripolis ankamen. Die deutschen Soldaten hatten kleine Näschen und Gesichter, die in der Sonne rot wurden und sich schälten.

»Wie du«, neckte mich Hakim.

Aber sie waren groß und wirkten verbissener, gefährlicher, vor allem disziplinierter als unsere Männer. Sie sangen einstimmig furchterregende Lieder und marschierten in perfekten Reihen, als wären sie an Eisenstangen gebunden.

Und sie hatten Rommel. Jeder Junge träumte davon, unter ihm zu dienen. Und jetzt würde mein Vater an seiner Seite kämpfen.

Zwei Jahre vor Kriegsbeginn, in einem Dorf im Süden Libyens, wo er den Bau einer Bewässerungsanlage betreute, hatte sich Papà mit Hirnhautentzündung angesteckt. Als er wieder gesund wurde, war er auf dem linken Auge fast blind. Aber das hinderte ihn nicht daran, seiner Arbeit als Militäringenieur nachzukommen. Jeder sagte, wie gut er darin war. Ein Offizier wie er war ein kostbarer Gewinn für unsere gemeinsame Armee. Nichts würde sie bremsen.

Ich stand wieder auf, kniete mich vors Bett und faltete die Hände zum Gebet. Ich rezitierte still ein Paternoster und ein Ave-Maria, dann öffnete ich die Augen und schaute zu der mit Fresken bemalten Decke, ohne sie zu sehen.

»Herr, schütze unseren Duce Benito Mussolini und unsere tapferen Soldaten und führe sie zum Sieg. Bitte schütze Papà, hilf ihm, ein Held zu werden, und lass ihn gesund wieder nach Hause kommen. Schütze Mamma, Nonno und Cesarina. Ah ja, und auch Zia Chiara. Und bitte auch Hakim, auch wenn er nicht an dich, sondern an Allah glaubt.« Ich zögerte, dann flüsterte ich: »Bitte mach, dass Mamma mich abholt und mich zurück nach Tripolis bringt. Amen.«

Auf der Straße war es ruhig geworden, nur das Mondlicht sickerte durch die Schlitze der Fensterläden. Meine Augen fielen zu. Und flogen wieder auf.

Wusste Papà, dass Mamma ihn nach Rom holen wollte?

Was verstand eine Frau schon von Krieg und militärischer Pflicht? Es lag in ihrer Natur, ihren Mann vor Gefahr und Tod bewahren zu wollen. Aber Papà konnte etwas so Ehrloses nicht wollen. Oder doch?

Nach den Kriegsberichten im Radio sprachen meine Eltern manchmal leise miteinander und verstummten, wenn ich mich näherte. Sie klangen besorgt. Sogar mutlos.

Glaubten sie etwa nicht mehr an den Sieg?

Ich jedenfalls glaubte daran. Seit dem Tag vor zwei Jahren, als der Duce den Eintritt Italiens in den Krieg gegen die Franzosen und die Engländer angekündigt hatte. Am 10. Juni 1940. Ich hatte gerade die zweite Klasse beendet. Es war ein heißer Nachmittag, und die Luft knisterte wie das Radio. Unsere Nachbarn waren zu Besuch. Die Damen saßen auf der Couch und im Sessel vor dem Radio, einem Ungetüm aus verziertem dunklem Holz. Die Männer standen drum herum mit geradem Rücken und rausgestreckter Brust. Papà war in Uniform. Wir Kinder hüpften umher vor Aufregung, immer wieder von unseren Müttern ermahnt. Haarige Fliegen summten um unsere verschwitzten Köpfe.

Die Übertragung aus Rom war schlecht, und ich verstand kein Wort. Ich hörte aber, wie die riesige Menschenmenge immer wieder brüllte: »Duce! Duce!« Dann drehte Papà das Radio auf volle Lautstärke.

»Italienisches Volk«, knarzte Mussolinis Stimme. »Zu den Waffen! Beweise deine Hartnäckigkeit, deinen Mut, dein Herz!«

Die Menschenmenge auf der Piazza Venezia brach in tosenden Jubel aus. Die Erwachsenen jauchzten und klatschten, und wir machten Luftsprünge, als hätten wir Federn unter den Füßen. Der Duce hatte uns den Sieg versprochen. »Vinceremo«, brüllte er fast jeden Tag im Radio. Es wurde zu unserem Kampfschrei.

 

Mamma und Zia Chiara hatten keine Ahnung vom Krieg. Jetzt, mit den Deutschen zusammen, unter der Führung Rommels und meines Vaters, würden wir siegen. Wir würden die Engländer ins Meer zurückwerfen. Papà würde ein Held sein.

2

Die Sonne drang durch die angelehnten Fensterläden und kitzelte meine Nase. Ich öffnete die Augen. Doch nicht die Sonne hatte mich geweckt, sondern schnelle Schritte auf dem Flur. Jeden Morgen verließ Zia Chiara das Haus mit ihrer schweren, abgewetzten Aktentasche, von der sie sich kaum trennte, und war stundenlang weg.

Der Wecker zeigte fünf nach halb acht. Es waren Ferien, was machte sie so früh? Bis jetzt hatte es mich nicht interessiert, aber ihre ungeheuerlichen Äußerungen vom Vortag machten mich misstrauisch. Eine gute Faschistin sagte solche Dinge nicht.

Die Straße war schon wach. In der Bar del Ponte schnaufte die Kaffeemaschine, und die Espressotassen klapperten. Ein vorbeifahrendes Fahrrad klingelte schrill, und jemand schimpfte ihm hinterher. Das Scheppern eines eisernen Rollladens übertönte für einen Moment alle anderen Geräusche. Ich hörte Wasser aufs Pflaster klatschen, dann das Schaben eines Reisigbesens, als die Krämerin die Straße vor ihrem Laden nass fegte. Es roch nach schlechtem Ersatzkaffee und feuchten Pflastersteinen.

Zia Chiara sagte nie, wohin sie ging. Als ich sie einmal fragte, antwortete sie nur mit dem Stirnrunzeln einer Lehrerin, die nicht belästigt werden will. Ich sollte mich nicht einmischen. Warum?

Ich ignorierte die Waschschüssel auf dem gusseisernen Gestell, die Cesarina jeden Tag mit frischem Wasser füllte, zog mich hastig an, setzte die Brille auf die Nase und rannte aus dem Zimmer.

Im Flur vor den anderen Schlafzimmern zögerte ich. Mein Zimmer war am weitesten vom Wohnbereich entfernt, von der Küche, von der Haustür, einfach von allem. Dazwischen lag eine verwinkelte, finstere Strecke, die ich Niemandsland nannte und die an der Kapelle vorbeiführte.

Die Kapelle war der kleinste und schmalste Raum. Sie bot gerade genug Platz für einen kleinen Steinaltar und vier Stühle. An den Seitenwänden hingen Zeichnungen vom Kreuzweg und ein Ölgemälde von Jesus. Sie duftete nach Staub und Weihrauch und hätte mir richtig gut gefallen, wäre der Zar nicht gewesen.

Der Zar schaute von einem Gemälde, das die komplette Wand über dem Altar bedeckte. Er trug ein schwarzes Gewand, das ihm bis zu den Füßen reichte, mit einem goldenen Band vom Kragen bis zum Saum, und eine Krone aus Gold und rotem Samt mit einem Kreuz obendrauf. Er sah genauso aus wie Zar Iwan der Schreckliche.

Nonno behauptete, er stelle Jesus am Kreuz dar, aber ich glaubte ihm nicht. Auf allen Bildern, die ich kannte, war Jesus ein schöner Mann mit langen Locken und blauen Augen voller Liebe. Der Zar hatte einen Bart wie ein Wegelagerer und Augen wie der Teufel. Sie starrten mich an, ohne Gnade, und verfolgten mich, egal, wo ich mich hinstellte.

Die Tür der Kapelle ging schlecht zu, ein Spalt blieb immer offen. Wenn ich daran vorbeiging, spürte ich, wie die Augen des Zaren nach mir spähten. Und mit ihm die Wesen der Finsternis, die er hervorlockte.

Zia Chiara machte die Wohnungstür auf und wieder zu, dann lief sie die Treppe hinunter. Ich rannte an der Kapelle vorbei.

 

Als ich den Kopf durch das Haustor steckte, bog Zia Chiara gerade in die Gasse gegenüber ein, die den lustigen Namen Cane e Gatto trug. Ich wartete, bis ihre Schritte leiser wurden, und folgte ihr.

Die Straße war so eng, dass die Sonnenstrahlen an den oberen Etagen der Häuser hängen blieben. Die Luft war kühl und klamm, wie in einem Keller. Es roch fremd. Tripolis roch nach heißen Steinen und Staub, nach Müll und sonnengetrockneten Kräutern, nach Steppe und nach Meer. Hier roch alles alt, die Pflastersteine, die Häuser, sogar der Unrat in den Ecken. Es roch nach Zeit, nach unendlich viel Zeit. Ich fühlte auf einmal, wie weit ich von zu Hause weg war.

Ich konnte mich nicht an Siena erinnern. Früher, als wir noch in Neapel lebten, kamen wir oft hierher. Dann, als ich drei Jahre alt war, wurde Papà nach Tripolis versetzt, und Mamma und ich gingen mit.

Papà hatte mir erzählt, dass Siena wie eine riesige Ritterburg war, mit jahrhundertealten Palazzi, Türmen und einer Mauer, die die ganze Stadt umschloss. Ich hatte mir eine Zauberwelt vorgestellt, mit Rittern in glänzenden Rüstungen und Burgfräuleins mit spitzen Schleierhüten. Doch die Straßen hier waren mit Pferdeäpfeln und Ochsenfladen verdreckt, und die Menschen trugen graue Klamotten, die ihnen zu groß geworden waren. Die Steine waren so alt und so dicht gemauert, dass die Geister der Menschen, die über Jahrhunderte hier gestorben waren, nicht entfliehen konnten. Ich spürte sie überall.

Zia Chiara lief in ihrem Stechschritt schon weit vor mir. Ich musste mich beeilen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Am Ende einer langen, engen Gasse verschwand sie in einem Eingang. Das Haus sah aus wie die anderen, mit altem, gelblichem Putz, der breite Flecken der Ziegelsteinmauer bloßlegte, und einem schweren Holztor. Als ich eintrat, hörte ich, wie weiter oben vorsichtig eine Tür geschlossen wurde.

Und jetzt? Was hatte ich mir vorgestellt? Ganz allein im Namen des Duce die Wohnung zu stürmen?

Irgendwo im Treppenhaus brannte eine schwache Glühbirne. Ich war neugierig. Auf Zehenspitzen lief ich die Treppe hinauf zur dritten Etage. Es gab zwei Türen. Hinter der ersten wohnte eine Familie Bianchi. Auf dem Schild der zweiten Tür stand der Name Cabibbe. Der Name sagte mir etwas. Wo hatte ich ihn nur gehört?

Plötzlich war die Stimme einer Frau hinter der Tür zu hören. Und die meiner Tante. So leise wie möglich lief ich wieder nach unten und rannte hinaus auf die Straße. Zia Chiara würde bestimmt zurück nach Hause gehen, also lief ich in die andere Richtung auf eine sonnenüberflutete Piazza. Ich blinzelte, von der plötzlichen Helligkeit geblendet. Es war ein riesiger, halbrunder Platz, umgeben von alten Palazzi. Der Boden aus roten Pflastersteinen war merkwürdig nach unten gewölbt, und acht Streifen aus weißen Steinen verliefen von der Mitte der flachen Seite bis zum Rand, wo das türkisfarbene Wasser eines Marmorbrunnens in der Sonne leuchtete. Ein scharfer, schmaler Schatten schnitt den Platz schräg in zwei Hälften, bis zum Brunnen und darüber hinaus.

Ein dunkelroter Turm, schlank und gerade wie ein Bleistift, ragte so hoch in den Himmel, als wollte er die Wolken aufspießen. Er war noch höher als das Minarett der großen Moschee von Tripolis! Einige Krähen umflogen schreiend die weiße Krone, in deren Spitze eine Glocke hing.

»Lorenzo! Was machst du hier?«

Zia Chiara stand mit strengem Gesicht vor mir. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

»Soll ich bis zum Ende des Krieges zu Hause hocken?«, sagte ich mit gespielter Empörung. »Ich bin schon zwölf!«

Ich durfte nicht allein auf die Straße. Das hatte Nonno festgelegt, weil Cesarina bei der Vorstellung beinahe einen Herzinfarkt bekommen hatte.

Zia Chiara sah mich an, als könnte sie in meinen Schädel hineinschauen.

»Du bist mir gefolgt«, sagte sie.

Sie musterte mich. Diese Augenfarbe kannte ich sonst nur von Katzen.

»Warum?«

Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie ein Befehl. Ich hatte keine vernünftige Antwort. Ich ärgerte mich. Sie hatte doch etwas zu verbergen, nicht ich! Unwillkürlich schaute ich auf die ausgebeulte Aktentasche.

»Er heißt Torre del Mangia.«

»Wie bitte?«, fragte ich verdattert.

»Der Turm. Und der prächtige Palazzo, zu dem er gehört, ist der Palazzo Pubblico, das Rathaus.« Sie machte eine Kreisbewegung mit dem Arm. »Wir stehen auf der Piazza del Campo.«

Ich sah sie mit großen Augen an. Ich verstand diesen abrupten Wechsel nicht.

»Komm mit.« Sie machte sich mit resoluten Schritten auf den Weg. Ich trabte ihr hinterher.

»Wohin gehen wir?«

»Ich zeige dir die Stadt, damit du dich auch zurechtfindest.«

Ich blieb vor Überraschung stehen.

»Heißt das, ich habe kein Ausgehverbot mehr?«

»So ist es. Ich fand es sowieso Quatsch. Cesarina und Nonno sind mit Kindern eben etwas aus der Übung. Das macht sie übervorsichtig.«

 

»Wir müssen noch ein paar Lebensmittel einkaufen«, sagte Zia Chiara fast drei Stunden später. Unbeeindruckt von der brütenden Hitze war sie wie ein Eichhörnchen durch die Stadt gesaust. Dabei hatte sie mich mit einer solchen Fülle von Informationen überschüttet, dass mein Gehirn kurz vor der Verflüssigung stand. Drei Viertel davon hatte ich schon wieder vergessen.

Der Lebensmittelladen befand sich im Haus neben unserem. Wir schoben den Fliegenvorhang aus geflochtenem Stroh beiseite und traten ein. Es war angenehm kühl, und es roch wunderbar nach geräucherter Wurst, altem Käse und Gewürzen, nach Seife und Keksen.

Wahrscheinlich hatten die Waren über die Jahre ihre Duftmarke hinterlassen, denn zu sehen war kaum etwas davon. In den Regalen gähnten große Lücken zwischen Kartons und Verpackungen mit Pasta, Reis, Milchpulver und Waschmittel. In der Theke lagen traurig nur eine ergraute Salami, ein magerer Schinkenknochen, einige Packungen Schmelzkäse und noch weniger Tüten Ersatzkaffee. Davor halb leere Leinensäcke mit Bohnen, Kichererbsen und Mehl. Weißes Mehl war nicht dabei.

»Signorina Guerrini«, rief die Krämerin. »Welche Ehre. Guten Tag.«

»Guten Tag, Signora Tacconi«, antwortete Zia Chiara trocken.

Signora Tacconi hatte Hängebacken und eine Knollennase, auf deren Spitze eine Halbbrille aus Horn balancierte. Ihre Haare waren in einem engen, schwarzen Dutt gefangen, und über Bauch und Busen spannte sich eine weiße Schürze so groß wie eine Tischdecke. Als sie mich entdeckte, klatschte sie in die Hände.

»Na, wen haben wir denn da? Den kleinen Lorenzuccio?«, säuselte sie. »Du bist ein richtig großer Junge geworden! Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, konntest du gerade laufen.« Sie wandte sich Zia Chiara zu, als sei ich des Sprechens nicht mächtig. »Wie alt ist der kleine Schatz, neun?«

»Ich bin zwölf«, sagte ich empört.

Signora Tacconi machte runde Augen.

»Schon zwölf? Du musst aber mehr Pasta essen, mein Junge, wenn du so groß und stark wie mein Franco werden willst. Franco, komm her!«

Ich würde mehr essen, wenn Sie uns was Besseres verkaufen würden, hätte ich ihr am liebsten gesagt.

Ein Junge schlurfte widerwillig herbei. Er war einen Kopf größer als ich und hatte den Brustkorb eines Ringers, einen Bürstenschnitt wie ein Soldat und runde rosige Backen. Seine dunkelbraunen Augen musterten mich durch dichte Wimpern. Signora Tacconi drückte ihn an sich.

»Ist er nicht eine Pracht? Zwölf Jahre, aber man hat ihn schon für einen Avanguardista gehalten.«

Angeberin. Um zu den Avanguardisti zu gehören, hätte er mindestens vierzehn sein müssen. Mit zwölf war er noch ein Balilla. Genau wie ich.

»Wie schön«, sagte Zia Chiara. Sie kramte die Lebensmittelkarten aus ihrer Tasche hervor.

»Ilaria, kommst du bitte? Wir haben Kundschaft«, rief Signora Tacconi ins Hinterzimmer. Sie wandte sich wieder zu uns. »Sie hilft mir während der Schulferien.«

In diesem Augenblick wurde jeder Gedanke aus meinem Gehirn gefegt. Es war, als würde das Licht um mich herum verblassen, um sich auf ein Gesicht wie aus Porzellan zu verdichten. Ein zierliches Mädchen trat in den Laden und schritt mit der Eleganz eines Rehs auf den Ladentisch zu.

»Guten Tag, Signorina Guerrini.«

Sie hatte ein feines Näschen, ganz anders als die robusten Zinken, mit denen hier fast jeder bestückt war. Ihr Haar drapierte sich um die Schultern wie ein Samtvorhang und glänzte dunkelbraun.

»Hallo, Ilaria, schön, dich wiederzusehen«, sagte Zia Chiara. »Wie läuft es auf dem Gymnasium?«

»Ganz gut, danke«, antwortete Ilaria. »Außer in Mathe. Es ist viel schwieriger als in der Mittelschule.«

»Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du nicht weiterweißt.«

Ich stand noch in der Mitte des Ladens, mit baumelnden Armen und hängendem Unterkiefer. Wie dämlich musste ich aussehen? Zia Chiara zog mich nach vorn.

»Das ist Lorenzo, mein Neffe. Er wird eine Weile bei uns wohnen.« Sie sah mich an: »Ilaria war in der Grundschule meine Schülerin.«

Ilaria lächelte mich an. In ihren Augen tanzte ein goldener Schimmer. Ich senkte den Blick und erspähte dabei eine zarte Wölbung unter ihrer Bluse. Mein Herz machte einen Kopfsprung.

Was war mit mir los?

Inzwischen hatte Zia Chiara mit dem Einkauf begonnen. Während Signora Tacconi mit der Waage hantierte, die Preise aufschrieb, die Marken aus den Karten heraustrennte und ununterbrochen plapperte, holte Ilaria die Sachen aus den Regalen und füllte Papiertüten. Ich konnte meine Augen nicht von ihr abwenden.

»Lorenzo«, rief Zia Chiara.

Ich fuhr zusammen. »Öh … Was?«

»Signora Tacconi sagt, es wäre schön, wenn ihr beiden miteinander spielt. Ich habe vorgeschlagen, dass Franco morgen Nachmittag zu uns kommt.«

Ich riss den Blick von Ilaria los und sah Franco an. Er knabberte an einer Scheibe Mortadella und maß mich durch Schlitzaugen. Es gab weit und breit keine Mortadella im Laden.

 

Ich drückte den rechten Flügel unseres Eingangstors auf und hielt es mit dem Rücken offen, um Zia Chiara reinzulassen.

Der Entrone des Hauses war sehr groß, früher hatte angeblich eine ganze Pferdekutsche darin Platz gefunden. Das Tor aus dunklem Eichenholz war dick wie mein Arm, und an beiden Flügeln hingen schwarze Torklopfer aus Gusseisen. Drinnen war es dämmerig, denn die Wände waren aus dunkelroten Ziegeln. Von der Decke hing eine hässliche Laterne aus gelbem Glas. Eine mannshohe weiße Säule zierte das Geländer der steinernen Treppe. Darauf hockte ein weißer Löwe aus Stein, der unter seiner Pranke das Familienwappen festhielt. Unsere Familie war, wie mir Nonno erklärt hatte, seit dem Mittelalter adelig. Sie war einmal sehr reich gewesen, bis ein Ururonkel das Familienvermögen in schlechte Geschäfte gesteckt und vernichtet hatte. Nur dieses Haus war gerettet worden. Nonno und Chiara hatten sich in die große Wohnung auf der zweiten Etage zurückgezogen und den Rest vermietet.

Ich ging auf die Treppe zu, aber Zia Chiara hielt mich zurück. Sie setzte die Taschen auf dem Boden ab, lief an der Säule vorbei und schloss das Tor auf, das sich am hinteren Ende des Entrone befand.

»Das ist die Rimessa«, erklärte sie. »Sie war früher für eine Kutsche gedacht, aber jetzt benutzen wir sie als Lagerraum.«

Hinter der Tür standen alte Möbel, Kisten und Körbe, Stapel von Zeitschriften, leere Bilderrahmen, Werkzeug und vieles mehr. Über allem lag eine feine Staubschicht.

Zia Chiara holte hinter dem größten Schrank einen Tretroller hervor. Da, wo der rote Lack abgeblättert war, waren Rostflecken entstanden. Zia Chiara wischte mit einem Lappen den Staub ab.

»Er gehörte deinem Vater«, sagte sie. »Eigentlich bist du ein bisschen zu alt für einen Roller. Aber er wird dich unabhängiger machen. Und mit etwas Farbe sieht er aus wie neu.«

 

Erst als wir die Treppe hinaufliefen, wurde mir bewusst, wie geschickt mich Zia Chiara abgelenkt hatte. Aber wenn sie dachte, ich hätte es vergessen, täuschte sie sich. Und die Wahrheit steckte in ihrer mysteriösen Ledertasche, da war ich mir sicher.

Zia Chiara setzte die Mütze ab und stellte die Tasche neben dem Schirmständer ab. Wie unvorsichtig. Ich brauchte nur eine ungestörte Minute, um ihren Inhalt zu untersuchen. Sobald sie mit etwas anderem beschäftigt war …

Ich hatte gerade die Tür zugemacht, als jemand klopfte. Es war ein Nachhilfeschüler. Zia Chiara führte ihn in ihr Büro direkt neben dem Eingang.

Ohne mich eines Blickes zu würdigen, griff sie nach ihrer Tasche und verschwand hinter der Tür.

3

»Wie siehst du denn aus?«, schrie Cesarina auf, als ich den Cucinone betrat.

Der Cucinone war groß wie ein Saal. Ein gemauerter Herd nahm die Hälfte der einen Wand ein, die andere Hälfte belegte ein riesiges steinernes Waschbecken mit einem altmodischen Wasserhahn aus Messing, der direkt aus der Wand ragte. Hier wurde nur noch die Wäsche gewaschen. Und gebadet, in einer emaillierten Blechwanne.

Cesarina zog mich zum Waschbecken.

»Ist schon gut«, protestierte ich, »ich wollte mir gerade die Hände waschen.«

»Die Hände! Man sollte dich komplett einweichen. Schau dich an! Wo bist du gewesen?«

»In der Rimessa. Ich hab den Roller abgeschmirgelt. Es ist nur Staub.«

»Mff. Ein Glück, dass heute Badetag ist.«

In Tripolis hatten wir ein richtiges Badezimmer mit fließendem Wasser. In Siena gab es nur im Cucinone und im Klo fließendes Wasser, das natürlich eisig kalt war. Kein Wunder, dass nur am Samstagabend gebadet wurde. Aber es war noch nicht einmal Mittag.

»Wolltest du schon das Bad bereiten?«, fragte ich, während ich Hände, Arme und Gesicht schrubbte.

»Nein, ich muss Wäsche waschen. Bei dieser Hitze braucht ihr alle saubere Hemden und Blusen. Vor allem du. Morgen ist Gottesdienst. Gib mir dein Hemd, Popino.«

Cesarina war kaum größer als ich, rund und weich, mit üppigen Hüften und Busen. Alles an ihr war grau: die hochgeknöpfte Bluse, der weite Rock, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte und ihr die Form einer Glocke verlieh, der lose Dutt am Hinterkopf, die wässrigen Augen, die mich aus einem Nest von weichen Falten anhimmelten. Am Tag meiner Ankunft hatte sie mich an ihre Brust gedrückt, die nach Kernseife und Tomatensoße duftete, fest und voller Zuneigung. Ich hatte sie sofort geliebt.

Cesarina füllte drei Metallkübel mit Wasser, drückte mir einen in die Hände und nahm die zwei anderen. Zusammen trugen wir sie in die Küche. Nur in der Küche wurde der Herd befeuert, um Kohle zu sparen.

Ich musste den Kübel mit beiden Händen tragen. Nach nur wenigen Schritten zog es zwischen meinen Schulterblättern, und meine Arme zitterten so sehr, dass bei jedem Schritt etwas Wasser herausschwappte. Cesarina trug die beiden anderen wie Bierkrüge, ohne einen Tropfen zu vergießen. Ich hievte meinen Kübel auf den Herd.

»Wie kannst du so stark sein, Cesarina?«

Sie kam mir doch so alt vor mit ihrem krummen Rücken. Sie setzte sich seufzend auf den Holzstuhl und zupfte an meiner Nase.

»Harte Arbeit macht stark. Und ich habe mein ganzes langes Leben hart gearbeitet, seit ich eine Cittina von sechs Jahren war.«

Cittini hießen die kleinen Kinder in Siena, das hatte ich inzwischen gelernt. Die Sienesen hatten viele lustige Wörter, die es nirgendwo sonst gab, und sprachen merkwürdig gehechelt, alle K-Laute sprachen sie wie Hs aus.

»Mit sechs Jahren?«, wunderte ich mich.

»Da wurde ich schon mit den Schafen in die Berge geschickt.«

»Ganz allein?«

»Ganz allein. Im Winter musste ich vor Sonnenaufgang raus. Wehe, ich brachte sie nicht alle heil nach Hause. Da hätte es Prügel gesetzt.« Sie stand wieder auf. »Das Wasser kocht.«

Sie erlaubte mir nicht, das kochende Wasser zu tragen. Sie trug die drei Kübel selbst in den Cucinone, kippte das heiße Wasser in den Blechbottich, der im Waschbecken bereit stand, goss etwas kaltes Wasser dazu und steckte das Waschbrett hinein. Cesarina spülte die Wäsche aus, steckte sie ins heiße Wasser und begann, sie Stück für Stück mit Kernseife einzureiben. Schnell und routiniert rieb und bürstete sie, bis sie weiß vor Schaum war. Ihre Hände wurden weinrot. Nach einer Weile fragte ich:

»Hat es dir damals Spaß gemacht, die Schafe zu hüten?«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Ich wäre lieber in die Schule gegangen.«

Ich hatte sie nie mit einem Buch oder einer Zeitung gesehen. Konnte sie überhaupt lesen und schreiben? Ich traute mich nicht zu fragen.

Es war schwer, sich Cesarina als sechsjähriges Kind vorzustellen. Ich malte mir aus, allein mit einer Schafherde in den dunklen Bergen zu sein. Die eisige Winterluft auf meinen nackten Beinen, die Steine unter den Füßen, den Stock, mit dem ich den Weg suchte und die Tiere vor mir hertrieb. Ich hörte ihr Blöken und roch den schweren Duft ihrer Wolle. Und fühlte, wie die Schatten der Nacht ihre gekrallten Finger nach mir streckten.

»Lorenzo! Bist du eingeschlafen?«

Ich fuhr zusammen. »Entschuldigung.«

»Gib mir dein Hemd, habe ich gesagt.«

Ich zog das Hemd aus. Sie legte es ins Wasser.

»Morgen kommt Franco zum Spielen«, sagte ich.

»Wer ist das?«

»Der Sohn von Signora Tacconi.«

Sie unterbrach ihre Arbeit und machte ein Gesicht, als hätte sie an meinen Socken gerochen.

»Seit wann spielst du mit Krämerkindern?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Es war Signora Tacconis Idee, und Zia Chiara hat Ja gesagt.«

Cesarina schrubbte mein Hemd, als wollte sie damit das Waschbrett glatt reiben.

»Verflixter Krieg«, grummelte sie und warf das Hemd in den Spülbottich. »Bringt die gute alte Ordnung ganz durcheinander.«

Sie spülte die Wäsche mit klarem Wasser, wrang sie aus und legte sie in einen großen Weidenkorb, den wir zusammen auf die Dachterrasse trugen.

Bis zum Dach waren es viele Stufen, und Cesarina pfiff wie ein Teekessel, als wir die Terrassentür erreichten. Aus der Tasche ihrer Schürze holte sie einen eisernen Ring, an dem mehrere schwarze Schlüssel hingen.

Die Treppe führte einige Stufen weiter zu einer kleinen Holztür.

»Was ist da oben?«, fragte ich.

»Nur ein kleiner Dachboden.«

»Darf ich gucken?«

Sie öffnete den Ring und gab mir den kleinsten Schlüssel. Ich rannte die letzten Stufen hinauf und öffnete vorsichtig die Tür. Die staubige, aufgeheizte Luft nahm mir fast den Atem.

Es war ein Kämmerchen von vielleicht zweieinhalb mal zwei Metern, direkt unter den Stützbalken und den Dachziegeln. Das Dach bildete eine steile Schräge bis zum Boden. Eine kleine Fenstergaube war darin eingebaut worden. Staubkörnchen tanzten in der hellen Lichtsäule, die durch das Fenster schräg auf den Boden fiel, obwohl das Glas vor Staub und Vogeldreck ganz matt war. Einige Holzkisten und Kartons stapelten sich unter einer dichten, hellgrauen Staubdecke. Hinter den Kisten steckte eine alte Matratze.

Als ich eintrat, hinterließen meine Schuhe deutliche Abdrücke. Ich benutzte ein Stück Holz, um den Vorhang aus Spinnweben zu beseitigen, und öffnete das Fenster. Frische Luft strömte mir entgegen. Das Dach des Nachbarhauses lag weniger als einen Meter unter mir, tiefrot und heiß in der Mittagssonne, sanft geneigt und unwiderstehlich. Ich quetschte mich nach draußen und ließ mich langsam hinuntergleiten.

Ich wagte zwei vorsichtige Schritte. Die Dachziegel klapperten leise, aber sie waren trocken und rau und gaben mir guten Halt. An manchen Stellen waren sie mit gelben Flechten bewachsen, die in der Sonne wie riesige Butterblumen leuchteten. Ich kletterte auf den Dachfirst und setzte mich rittlings darauf.

Unter mir erstreckten sich die Dächer der Stadt, ineinander verschachtelt wie Bausteine eines gigantischen Baukastens. Ich war überrascht, wie klein die Welt war, von oben gesehen. In der Ferne streckte sich der Torre del Mangia mit seiner strahlend weißen Spitze in den Himmel. Etwas weiter hinten ragten die Kuppel und der schwarz-weiß gestreifte Kirchturm des Doms zwischen den Dächern hervor.

Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab. Ein Ochsenkarren und ein Militärlastwagen, die durch eins der Stadttore fuhren, wirkten wie Miniaturen einer Modelleisenbahn. Das Tor hieß Porta Romana, hatte mir Zia Chiara erklärt, weil es sich nach Süden, Richtung Rom öffnete. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont ein Meer von gelbgrünen Hügeln. Zypressen und kleine Wäldchen warfen dunkelgrüne Tupfer auf die abgeernteten Felder. Eine meterhohe Mauer umschloss die ganze Stadt.

Ich war gefangen in einer Stadt, die selbst eingemauert war.

Ich hörte ein leises Geräusch. Am anderen Ende des Dachfirsts saß eine rote Katze. Sie schaute mich mit moosgrünen Augen an und bewegte die Schwanzspitze wie einen Finger hin und her. Ich streckte ihr die Hand entgegen.

»Micio, komm her!«

Die Katze drehte das linke Ohr nach unten und schaute mich an, ohne zu blinzeln. Aber sie kam nicht.

Ich kramte in meiner Hosentasche ein halb vertrocknetes Stück Fett aus meinem Taschentuch hervor. Zum Mittagessen hatte es Fleisch gegeben, für jeden eine Scheibe, dünn, grau und zäh wie ein Gürtel, mit einer faden Soße aus wenig Öl und viel Wasser. Cesarina hatte mir das Stück mit dem meisten Fett gegeben. Sie hatte es gut gemeint, aber ich hasste es, ich musste würgen davon. Ich hatte es in mein Taschentuch gespuckt, als sie gerade nicht guckte.

»Hast du Hunger?«

Die Katze richtete beide Ohren nach vorne. Ich rutschte ihr etwas entgegen und streckte die Hand nach ihr aus.

»Komm, es ist lecker.«

Sie machte einen Schritt auf mich zu. Ihr Schwanz stand kerzengerade, nur seine Spitze zitterte vor Aufregung. Die Versuchung war groß. Das Misstrauen noch größer.

»Komm, trau dich doch«, flüsterte ich.

Ich schob mich noch ein bisschen vor und setzte das Stück Fett auf einen Firstziegel, dann rutschte ich wieder zurück. Ohne den Blick von mir abzuwenden, bewegte sich die Katze vorsichtig darauf zu. Mit jedem Schritt machte sie sich flacher, bis sie für die letzten Zentimeter auf dem Bauch robbte. Die feinen Schlitze ihrer Pupillen weiteten sich, bis sie ganz rund waren. Ich bewegte keinen Muskel. Blitzschnell schnappte sie sich die Beute und rannte das Dach hinunter. Kurz vor der Regenrinne blieb sie stehen und schwenkte den Kopf hin und her, um den zähen Brocken zu kauen. Dann sprang sie aufs Nachbardach und verschwand.

Als ich mich durch das Fenster zurück auf den Dachboden zwängte, fiel der Schlüssel zu Boden. Ich hob ihn auf, schob ihn wieder in die Hosentasche und stellte mit Staunen fest, dass dort schon ein Schlüssel steckte. Es gab also einen zweiten Schlüssel, der irgendwo versteckt am Fensterrahmen gehangen hatte. Er sah genauso aus wie der, den mir Cesarina gegeben hatte. Ich probierte ihn aus. Er passte.

»Hast du gut abgeschlossen?«, fragte Cesarina, als ich ihr ihren Schlüssel zurückgab. Ich nickte.

»Tolle Aussicht da oben.«

»Du bist nicht aufs Dach gestiegen, will ich hoffen?«

»Nein«, antwortete ich viel zu schnell. Um sie abzulenken, fügte ich hinzu: »Ich habe eine rote Katze gesehen.«

»Tatsächlich? Es muss eine der letzten sein.«

»Wieso?«

Sie hängte eine Bluse von Zia Chiara auf die Leine, steckte eine Wäscheklammer darauf und streckte mir die Hand entgegen, damit ich ihr eine zweite reichte.

»Die meisten Katzen sind als Dachhasen im Topf gelandet.«

Kein Wunder, dass die Katze misstrauisch war.

»Man kann doch Katzen nicht essen!«

»Gib mir die Klammer, mir schläft gleich der Arm ein. Natürlich kann man Katzen essen. Sie schmecken sogar gut. Und in der Not …«

Ich reichte ihr eine Wäscheklammer nach der anderen, während sie die restliche Wäsche aufhängte. Wie viel Not hatte Cesarina als Kind erfahren, in ihren ärmlichen Bergen?

»Das war wahrscheinlich ein Kater«, sagte sie.

»Was?«, fragte ich, aus meinen Gedanken herausgerissen.

»Deine Katze. Rote Katzen sind meistens männlich.« Sie hob den leeren Korb auf. »So, und jetzt schnell nach unten. Ich muss kochen, und du musst baden.« Sie rümpfte die Nase: »Du riechst wie ein abgehangener Fasan.«

 

Samstags aßen wir später zu Abend, denn das Baden nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch, und vor dem Essen wurde in der Kapelle der Rosenkranz gebetet, wie jeden Abend. Ohne den Rosenkranz aufgesagt zu haben, kochte Cesarina nicht. Ich setzte mich immer so weit wie möglich vom Zar entfernt auf den letzten Stuhl. Dann begannen wir laut zu rezitieren, jeder mit seiner eigenen Perlenkette in den Händen, fünf Ave-Maria, ein Paternoster, ein Credo und bei der nächsten Perle noch mal von vorn, die ganze Kette durch. Eine mordslangweilige Prozedur. Der Zar schaute mich streng an, aber das diabolische Leuchten in seinen Augen war erloschen, wenn wir alle zusammen in der Kapelle saßen.

Nach dem Abendessen schaltete Nonno das Radio an, das auf einem niedrigen Tisch neben seinem Sessel stand. Ich setzte mich auf den Boden vor das Radio und wartete auf die Kriegsmeldungen, meine einzige Verbindung zu Papà.

Auf dem Mittelmeer um Malta tobte eine große Seeschlacht um die Versorgungswege für Nordafrika. Unsere Truppen durften nicht von der Heimat abgeschnitten werden. Der Sprecher sprach vom bevorstehenden Sieg. Es konnte auch nicht anders sein.

Anschließend kam eine Musiksendung, die mich nicht interessierte. Ich ging auf den Balkon, um Mammas Brief, der endlich angekommen war, zum vierten Mal, und diesmal in Ruhe, zu lesen.

»Mein liebster Lorenzo, ich hoffe, es geht dir gut bei Nonno, Zia Chiara und Cesarina, und ich gehe davon aus, dass du immer höflich und respektvoll zu allen bist. Ich wollte längst bei euch sein, aber leider dauert alles länger als geplant. Nonno und Zia Chiara werden dir inzwischen erklärt haben, dass Papà und ich beschlossen haben, Tripolis für die Dauer des Krieges zu verlassen. Es ist zu gefährlich geworden, dort zu bleiben. Ich weiß, wie schwer es für dich ist, und ich hätte es dir lieber selbst erklärt, aber es ist wichtig, dass ich noch eine Weile in Rom bleibe. Onkel Eugenio konnte nicht rechtzeitig verhindern, dass dein Vater eingezogen wurde, aber er hat versprochen, sich dafür einzusetzen, dass er bald versetzt wird. Dafür müssen wir noch einige Gespräche mit den zuständigen Leuten führen.

Ich habe Nachrichten von Papà bekommen. Es geht ihm gut, und er ist zuversichtlich, dass die nächste Offensive in Nordafrika erfolgreich sein wird.

Ich versuche, so bald wie möglich zu euch nach Siena zu kommen. Bis dahin sei ein braver und gehorsamer Junge. Und vergiss nicht, deinen Papà und die Soldaten, die uns tapfer und ehrenvoll verteidigen, in deine Abendgebete einzuschließen. Ich umarme dich ganz fest, mein lieber Schatz.«

 

Ich hielt den Brief an meine Nase und atmete tief ein, aber ich roch nur Papier, trockene Tinte und die grobe Kernseife, mit der ich mir vor dem Essen die Hände gewaschen hatte. Mammas Duft war verflogen.

In unserer Wohnung in Tripolis hatten meine Eltern einen Salottino arabo, mit Möbeln und Objekten, die sie auf dem Souk von Tripolis gekauft hatten. Sitzkissen aus Leder, Duftlampen, reich verzierte Silberschalen und vieles mehr. Ich begleitete Mamma gern, wenn sie auf die Suche nach neuen Schätzen ging. Dabei trug sie Kleider, die verschmutzt werden durften, aber sie legte Wert darauf, auch auf dem Markt elegant und korrekt auszusehen. Wir Italiener sollten nie unsere Vorbildfunktion vergessen, meinte sie.

Wir fuhren in einer der vielen halb offenen Pferdekutschen mit faltbarem Dach, die von allen als Taxi benutzt wurden. Der Kutscher verbeugte sich und bedankte sich in gebrochenem Italienisch für das gute Trinkgeld, und wir betraten den Souk zu Fuß. Trockene Grasmatten waren auf Holzgerüsten über den engen Gässchen befestigt und spendeten Schatten. Viele Männer trugen wallende, helle Djellabas und sogar Turbane. Die wenigen Frauen hielten ihre dunklen Gewänder mit einer Hand vor dem Gesicht zusammen und schauten mit nur einem Auge durch den kleinen Schlitz.

Kleinste Läden drängten sich dicht an dicht, bis in die letzte Ecke überfüllt mit märchenhaften Waren, und meine Augen wussten nicht, wo sie zuerst haltmachen sollten. Bei den bunten Tüchern und Kaftanen aus Seide, den Babuschen aus Bast und Samt, den kunstvoll verzierten Lederwaren, den auf Hochglanz polierten Teekesseln aus Kupfer, den Girlanden von goldenen Armbändern. Auf groben Holztischen türmten sich Gewürze in allen Schattierungen von gelb, rot, braun, grün und schwarz, wie die Dünen einer vielfarbigen Wüste. Ihre Düfte verwoben sich in der Luft, prickelten in meiner Nase, legten sich mit einer herben Note auf meine Lippen. Die Rufe der Händler, das grelle Feilschen in ratterndem Arabisch, das Hämmern des Silberschmieds, der in seiner dämmerigen Bude Pünktchen für Pünktchen filigrane Muster auf seine Silberware meißelte. Es war eine laute, verstörende Zauberwelt. Mamma hielt mich fest an der Hand, auch als ich schon viel zu groß dafür war, aus Angst, mich im Gedränge zu verlieren.

Bevor wir nach Hause gingen, bekam ich einen Ringkrapfen. Danach roch meine rechte Hand stundenlang nach Öl. Die linke duftete nach Mammas Hand.