Piperno, Alessandro Wo die Geschichte endet

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de/literatur

 

Übersetzung aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

 

Deutsche Erstausgabe
© Mondadori Libri S.p.A., Mailand, 2016
Titel der italienischen Originalausgabe: »Dove la storia finisce« bei Mondadori Libri S.p.A., Mailand, 2016
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: GettyImages/ © Bill Diodato

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Widmung

Im Gedenken an Enrico Guaraldo

Erster Teil

Das Recht auf Heimkehr

1

Federica Zevi wusste, dass sie mit ihren neunundvierzig Jahren für Witwer, Geschiedene und eingefleischte Singles eine passable Alternative zu den begehrten und immer weniger verfügbaren Dreißigjährigen darstellte. In den seltenen Momenten der Selbstwertschätzung fühlte sie sich wie ein Jaguar aus dritter Hand, den die Vorbesitzer regelmäßig haben warten lassen.

Schon seit geraumer Zeit hatte kein Mann sie mehr nackt gesehen; sie fürchtete, dass sie, sollte dies geschehen, in den Augen des Verwegenen das erkennen würde, was Spiegel, Waage und die Blicke der jungen Mädchen ihr immer unverhohlener suggerierten: Nach Jahren in züchtiger Bedeckung war ihr Körper ausrangiert.

Der zeitliche Zusammenhang zwischen ihrer rabiaten Selbstentwertung und dem Entschluss ihres Ehemanns, nach sechzehn Jahren im kalifornischen Exil nach Rom zurückzukehren, entging ihr nicht. Es kam ihr so vor, als hätte sie im Leben nichts anderes getan, als zu warten, schon bevor sie ihn kennengelernt hatte und auch während der sorglosen Ehejahre. Ganz zu schweigen von der Zeit danach, als er sich, von Gläubigern und Kreditgebern bedrängt, aus dem Staub gemacht hatte. Hellsichtig hatte sie sich gesagt, dass es zu spät sein würde, wenn sie ihn nicht vor fünfzig wiedersah. Deshalb hatte sie die lang ersehnte Mail, in der Matteo seine Rückkehr nach Hause ankündigte, so erschüttert. Je näher der Zeitpunkt rückte, desto mehr verdichtete sich ihre Angst, dass er sie, wenn er sie vor sich sah, nicht wiedererkennen würde.

In den letzten Wochen hatte Federica mehr geweint als in ihrem ganzen übrigen Leben – als sie im Radio einen Schlager aus ihrer Jugendzeit hörte, als sie im Fernsehen sah, wie ein Gepard ein Gazellenjunges riss, als sie auf dem Bürgersteig eine Mutter mit ihrem Kind beobachtete; sie hatte geweint, als sie Martinas alte Schulbücher ordnete, als sie die Stimme des ehemaligen Präsidenten der Republik hörte, als sie einen Bericht über die fortschreitende Wüstenbildung am Horn von Afrika verfasste.

Die schmachvollsten Tränen hatte sie am Abend zuvor am Telefon vergossen, als ihr Vater versucht hatte, ihr das Versprechen abzuringen, dass sie sich, falls der Schurke sich tatsächlich melden sollte, weigern würde, ihn zu treffen.

»Papa, ich bin fünfzig, ich brauche deinen Segen nicht, wenn ich mit einem Jungen ausgehen will.«

Pikiert hatte der Vater sie daran erinnert, dass der fragliche Junge mehr Ehefrauen hatte als ein Emir; und sie hatte darauf verzichtet, das Maß vollzumachen, und ihm nicht eröffnet, dass zu den drei Signore Zevi kürzlich noch eine vierte hinzugekommen war.

»Versprich mir wenigstens, dass du die Scheidung verlangen wirst.«

»Du weißt ja gar nicht, wie nützlich dieses unscheinbare Ringlein für eine Frau in meinem Alter ist. Eine todsichere Abschreckungswaffe.«

»Sag das nicht. Auch du hast ein Recht auf … Was ist denn aus dem Dings geworden?«

»Ich weiß nicht, von wem du sprichst.«

»Von dem Architekten, dem Witwer. Ein seriöser Mann.«

»Architekt, Witwer, seriös. Ist das nicht deprimierend?«

»Ja, wenn dir polygame Bankrotteure lieber sind.«

Während der Vater seine übliche Litanei herunterbetete, hatte sie angefangen, leise zu weinen. Sie hatte so lange geweint wie nötig, auch noch nachdem sie aufgelegt hatte.

Die ganze Angelegenheit war faul. Der Vater gefiel sich in dem Glauben, es sei Matteo, der ihr die Scheidung verweigerte, und sie ließ es dabei bewenden. Federica strich gern die Vorteile ihrer Position als altgediente und konziliante Ehefrau heraus, ließ aber die Freuden, die sie ihr bescherte, beiseite. In Wahrheit fühlte sie sich in der Rolle der Signora Zevi so wohl, dass sie die Vorstellung, diese mit ein paar Unbekannten zu teilen, gern ertrug, und sei es auch um den Preis der Gesetzwidrigkeit und der Selbsterniedrigung. Sie hatte diese Rolle seit dem Moment an Weihnachten vor vielen Jahren begehrt, da ihr Blick erstmals auf diesen blendend aussehenden jungen Mann im Skianzug gefallen war. Er und sein Clan (wie sollte man das anders nennen?) hatten das Hotel in den Dolomiten fast gänzlich in Beschlag genommen, sodass Federica und ihre Freundin nur mit Mühe und Not noch ein Zimmer bekommen hatten.

Ein Skiurlaub gehörte zu der Art von Vergnügungen, die ihrem Vater besonders verhasst waren. Nachdem er seinen Universitätslehrstuhl für einen Parlamentssitz in den Reihen der Kommunistischen Partei aufgegeben hatte, war er nur noch unduldsamer gegen jede Form des bürgerlichen Zeitvertreibs geworden. Bis dahin war es Federica nicht schwergefallen, den Part von Papas Liebling auszufüllen. In der Schule hatte sie so hervorragende Noten gehabt, dass ihr in der neunten Klasse eine Auszeichnung verliehen worden war, samt Medaille, die ihr der Bürgermeister höchstpersönlich an die Brust geheftet hatte. In dem renommierten staatlichen Gymnasium, das nur ein paar Schritte von zu Hause und ebenso weit vom Parlament entfernt war, hatte sie die richtigen Klassenkameraden gefunden: wohlerzogen, schüchtern bis zur Tollpatschigkeit, aber auch sektiererisch, arrogant, die eigenen Privilegien verachtend, entschlossen, sie sich durch gute Noten und frühzeitige politische Aktivität zu verdienen. Aus diesem Pool künftiger Lehrstuhlinhaber, Parlamentarier, Gewerkschafter hatte Federica ihre ersten Freunde gefischt. Obwohl ihr Vater sie für anmaßende Hohlköpfe hielt, konnte er nicht leugnen, dass Federica mit ihrer Wahl versucht hatte, bei ihm Gefallen zu finden.

Nachdem sie ihre Dissertation über David Copperfield verteidigt hatte, verließ sie ihren dritten Freund. Gemäß einer alten Sitte änderte sich die Welt, nur der Vater blieb unbeweglich und zwang sie, sich ebenso zu verhalten. Auf politischer Ebene litt er unter dem Wunsch des Genossen Gorbatschow nach Transparenz, auf privater Ebene musste er das Verlangen seiner einzigen Tochter erdulden, sich zu emanzipieren. Der Skiurlaub war eine Art Perestroika.

Während ihres ersten Spaziergangs auf der Piazzetta von Madonna di Campiglio hatte Federica Gelegenheit, die romantischen Stimuli zu würdigen, die der Spätkapitalismus bereithält. Sie fühlte sich wie ein Dickens’sches Waisenkind, das dank seines Wohltäters endlich in den Laden mit den Leckereien eintreten kann, die es lange vom Gehsteig aus bewundert hat. Schneebedeckte Spitzdächer, geschnitzte Holzbalkone mit blinkender Beleuchtung, Schaufenster, die eine ideale, von Kaschmir, Kaminfeuer und heißem Kakao gewärmte Menschheit zelebrierten. Federica empfand so viele Dinge auf einmal, dass sie Mühe hatte, die bewegendste Emotion herauszufiltern. Das Hochgefühl der Freiheit? Oder die Frustration, dass sie nicht wusste, was damit anfangen?

Frühmorgens fuhren sie mit der Seilbahn bis zu dem Chalet bei den Skiliften. Während sie dort an einem Tisch saß, sah Federica ihre Freundin mit dem Lift zwischen Tannen und Lärchen entschwinden. Sie bestellte einen Earl Grey und holte Clarissa von Samuel Richardson hervor: Wenn das so weiterging, würde sie das Buch vor Ende der Ferien ausgelesen haben. Sie hatte eine Schwäche für Romane, die den Namen ihrer Heldin im Titel tragen. Pamela, Moll, Emma, Thérèse, Nana. Jede dieser Frauengestalten hatte ihr ein Beispiel dafür geliefert, was es heißt, sich dem Unglück nicht zu beugen. Ihr Doktorvater hatte alles darangesetzt, ihr diese Unart, sich mit der Heldin zu identifizieren, auszutreiben; für die Zeit der Dissertation hatte sie sich überzeugen lassen, aber mit Clarissa wurde sie rückfällig.

Ein Vierteljahrhundert war seit jenem strahlenden Wintermorgen vergangen. Sie hatte alles vergessen, außer der Seite 304 in der Penguin-Classics-Ausgabe. Dort kannte sie jeden Absatz, die Verteilung der Dialoge, die Semikola. Und doch hatte vom Inhalt nichts eine Spur hinterlassen, außer jenem »But« am Beginn des zweiten Absatzes; in einem ungewöhnlich gut ausgeleuchteten Areal ihres Gehirns hatte diese Seite tausend Schlachten überstanden, und zwar aus einem bestimmten Grund – weil sie sie Dutzende Male gelesen hatte. Sie hatte immer wieder angefangen, wurde abgelenkt und fing wieder von vorne an. Schwierig, sich zu konzentrieren, während dieser junge Vater im Skianzug seinen Sohn zu überzeugen versuchte, dass er ihn nicht mitnehmen könne. Sie saßen zwei, drei Tische entfernt: Vater, Mutter, Sohn, und gehörten zu der Gruppe, die das Hotel fast gänzlich besetzt hatte.

»Das ist eine schwarze Piste«, sagte der Mann. »Du kannst gerade mal den Berg hinaufkraxeln und im Schneepflug fahren.«

Was könnte sexyer sein als ein Vater, der mit seinem Sohn verhandelt, weil der ihn nicht gehen lassen will? Federica setzte alles daran, ihren Blick auf der Buchseite zu halten, doch eine unwiderstehliche Kraft lenkte ihn auf das Leben vor ihr. Der Junge glich seiner Mutter: lockiges Haar, volle Lippen, ein unbestimmtes orientalisches Flair. Den Schnitt der Augen hatte er vom Vater, auch ihre changierende Farbe (sie wandelten sich wie der Himmel, würde sie später feststellen), grün, türkis, silbergrau wie die Südsee.

»Was ist eine schwarze Piste?«, fragte der Junge und hielt den Vater am Finger fest.

»Das ist etwas für erfahrene Skifahrer, extrem steil, gefährlich, aber sehr lustig.«

Ungefähr an diesem Punkt kam Federica der Verdacht, dass der Mann sich nicht länger an seinen Sohn wandte. So absurd das scheinen mochte, er meinte sie. Hatte er bemerkt, dass sie die Familie beobachtete, und wollte sie auf ihren Platz verweisen? Vielleicht war es der Anfang eines Dialogs? Doch zu welchem Zweck? Gott, wie gut er aussah! Mit seinen hellbraunen Haaren und den beginnenden Geheimratsecken glich er Stefano Casiraghi, dem Ehemann von Caroline von Monaco, damals (vor der Tragödie) unumschränkter Star der Illustrierten. Warum flirtete ein solcher Typ mit ihr?

Auf einmal schien die Verlegenheit eine völlig neue Form der Freude bereitzuhalten, die nur entfernt mit der mit dreizehn entdeckten Lust zu tun hatte, von den Jungs begehrt zu werden, die viel intimer war und einen anscheinend weinen, aber auch verrückt auflachen ließ. Sie kehrte zu ihrem »But« im zweiten Absatz zurück. Die Zeilen tanzten, sie konnte die einzelnen Buchstaben kaum unterscheiden, ganz zu schweigen vom Sinn des Satzes. Auf einmal bedeutete Lesen, sich aus einem dichten, trüben Netz zu befreien, während die warnende innere Stimme den zudringlichen Tonfall von Clarissa annahm. Sie war es, die ihr befahl zu zahlen und zu gehen. Und wenn Clarissa das sagte, die vergewaltigt, nicht aber in ihrer Tugend beschädigt worden war …

»Komm, Giorgio, lass Papa in Ruhe.« Die Mutter wurde ungeduldig.

»Und wann nimmst du mich mit auf die schwarze Piste?«, fragte der Junge hartnäckig.

»Wenn du so weitermachst wie bisher, nächstes Jahr«, log der Mann.

»Wie lange ist es denn bis zum nächsten Jahr?«

Der Vater lächelte. Auch Federica tat es, aber wie sehr war ihr zum Weinen zumute! Wäre sie die Mutter gewesen, sie hätte das Kind wie einen Teddybären an sich gedrückt. Die Unangemessenheit dieses Gedankens verwirrte sie.

»Nicht lange«, log der Typ wieder und erhob sich.

»Versprichst du mir, dass ich nächstes Jahr mit auf die schwarze Piste kommen darf?«

»Versprochen.«

Da ließ der Sohn den Mann los, aber sein Blick folgte ihm so weit wie möglich, und auch noch ein wenig darüber hinaus. Was der arme Kleine nicht wissen konnte: Die Ursache, weshalb der Vater sein Versprechen nicht wahr machen würde, saß wenige Schritte entfernt, die gewissenhafte Vierundzwanzigjährige, die Romane aus dem 19. Jahrhundert verschlang, die widerstrebende Progressistin – eine unverdächtige Person, die nie jemandem etwas zuleide getan hatte, außer gelegentlich sich selbst.

In der Tat war Federica im Begriff, entgegen allen bewährten Prinzipien eine Kühnheit und eine Bedenkenlosigkeit an den Tag zu legen, die ihr niemand zugetraut hätte. Ungeachtet der Risiken und jeden Anstands sollte sie diesen verheirateten Mann bis zum Ende der Ferien mindestens ein halbes Dutzend Mal vögeln, in ihrem Zimmer, in seinem, in der Sauna, sogar im Umkleideraum des Swimmingpools. In Rom sollten weitere heimliche Treffen folgen und verheerende und zugleich begeisternde Konsequenzen zeitigen: eine Scheidung, eine neue Ehe, die Geburt Martinas.

Obwohl Federica eine Weile lang nicht imstande gewesen war, Giorgios Blick standzuhalten, der in der Zwischenzeit ein Mann und ein besserer Skifahrer als Matteo geworden war, würde sie alles, was sie in jenen Ferien und in den darauffolgenden Monaten getan hatte, ganz genauso wieder tun. Die Jahre ihrer Ehe waren das Beste, was ihr das Leben beschert hatte. Ein fröhliches Jahrzehnt, eingerahmt von zwei groben Zusammenstößen mit ihrem Vater, an die Federica sich aus gegensätzlichen Gründen ungern erinnerte.

Beim ersten Mal hatte sie sich behauptet, indem sie das unbestreitbare Recht auf Glück geltend gemacht hatte. Na schön, wer Frau und Kind wegen einer auf der Skipiste aufgegabelten Frau verließ, war gewiss kein Inbegriff von Vertrauenswürdigkeit. Und auch für sie war es eine unerträgliche Last, die Ursache für eine Scheidung gewesen zu sein. Doch es gab einen Grund, weshalb sie, obwohl alles gegen diese Verbindung sprach, so entschieden war. Wie oft kam es im Leben schon vor, dass Wunsch und Möglichkeit übereinstimmten? Sie hatte beides absichtlich nebeneinandergestellt, in dem Bewusstsein, dass im sittenstrengen Vokabular des Vaters weder für das eine noch für das andere Platz war, dass man ihn also auf ideologischem Terrain herausfordern musste.

Wenn Federica damals die größere Anzahl an schlagfertigen – und brillanten – Bemerkungen für sich hatte verzeichnen können, hatte er sich in der zweiten Auseinandersetzung zehn Jahre später seine Revanche geholt. Sie hatte ihn um Geld gebeten, eine beträchtliche Summe, mit der Matteo seine Geschäfte hätte sanieren wollen. Der Vater war bereit, ihr alles Erdenkliche zu bieten – Zuflucht, Ratschläge, Vorwürfe, Mitleid, extreme Lösungen –, aber kein Geld. Das könne Federica vergessen. Habe es ihr nicht genügt, eine Universitätslaufbahn gegen ein Hausfrauendasein an der Seite dieses Elenden einzutauschen? Jetzt wolle sie auch noch die Ersparnisse der Familie aufs Spiel setzen. Und wofür? Damit dieser Schurke sich brüsten könne, er habe nicht nur seine Frau zugrunde gerichtet und die Zukunft seiner Tochter gefährdet, sondern auch den einzigen Menschen, der ihnen ein Auskommen sichern konnte, ins Elend gestürzt. Nein, Geld würde er keines geben – nicht, weil er knausrig sei. Vielmehr brauche man das Geld, um die bevorstehenden Schläge abzufedern. Man müsse sich ja keine Illusionen machen, das Beste, was Matteo blühen könne, sei Gefängnis, das Schlimmste, mit einem Loch im Kopf aus dem Fluss gefischt zu werden. Dann wäre es an ihm, sich um die Mädchen zu kümmern. Eines Tages würden sie es ihm danken, dass er das Geld nicht verplempert hatte, um jemandem zu helfen, der nicht nur keinerlei Solidarität verdiente, sondern schon jetzt ruiniert war.

»Weißt du wenigstens, wem er all das Geld schuldet?«

Die Frage hatte sie erstarren lassen. Sie beleuchtete eine der Lücken, die sie nicht hatte füllen wollen, angefangen bei dem Nachmittag vor ein paar Monaten, als ihre Kreditkarten sie vor der Verkäuferin eines Handtaschengeschäfts im Stich gelassen hatte. Ganz zu schweigen von dem Mal, da eine Freundin sie gefragt hatte, ob sie wisse, dass ein Kerl Matteo auf offener Straße übel beschimpft hätte.

Federica wusste nicht, wem ihr Mann das Geld schuldete, aus dem einfachen Grund, dass sie überhaupt nichts von ihm wusste, außer dass er er war und dass ihr das genügte. Aber nach dem Tonfall ihres Vaters zu urteilen, war der Gläubiger wohl kein umgänglicher Typ.

»Besser, du weißt es nicht.«

Er sprach langsam, mit gedämpfter Stimme. Er schätzte es nicht, bestimmte Themen in dem Büro zu erörtern, das er vor wenigen Wochen bezogen hatte. Er hatte seinen Sitz im Parlament aufgegeben und war eine Weile zur akademischen Lehrtätigkeit zurückgekehrt, bis seine ehemaligen Genossen in der Partei ihn zum Verfassungsrichter hatten wählen lassen. Die ganze Geschichte mit Matteo war ihm peinlich. Verdammt noch mal, ein Richter am Verfassungsgericht, eine Leuchte der Wissenschaft, ehemaliger Parlamentsabgeordneter, ein Mann von legendärer Nüchternheit, verwickelt in die undurchsichtigen Geschäfte eines verkommenen Schwiegersohns! Seit einiger Zeit taten in diesem verfluchten Land alle nichts anderes, als die wenigen reinen Dinge in den Schmutz zu ziehen. Er war besorgt, seinetwegen, wegen der Tochter und der nunmehr neunjährigen Enkelin.

Federica hatte ihn angesehen, und er hatte ihr leidgetan. Er war kein einfacher Vater, war es nie gewesen. Seinen Erwartungen zu genügen war eine schreckliche Aufgabe, vor allem für ihn selbst. Es lag etwas Rührendes in seiner Überzeugung, im Recht zu sein. Carla, seine alte Sekretärin, hatte Federica anvertraut, dass der Richter das schlichteste Büro in diesem prunkvollen Barockpalast verlangt hätte, ein Verschlag im Vergleich zu der Pracht ringsum. Seine Magerkeit, umspielt von dem Anzug aus leichtem Flanell, verriet den hieratischen Traum zu verschwinden, sich nach und nach in der Atmosphäre aufzulösen.

Als sie ihn so zerbrechlich und verloren vor sich sah, begriff Federica den Unterschied zwischen den beiden Männern in ihrem Leben und die Tragweite ihrer Wahl. Die Existenz des Vaters schwankte zwischen Sehnsucht nach fernen Dingen und der messianischen Erwartung einer Zukunft, in der alle gelernt haben würden, das Richtige zu tun. Er verklärte die Vergangenheit und erwartete sich eine Menge von der Zukunft, eben weil die Gegenwart für ihn nichtig war. Matteo hingegen hasste langfristige Pläne und ließ sich von der Last der Fehler nicht erdrücken. Immun gegen Erinnerungen und Vorahnungen, hatte er einen ruhigen Schlaf, einen gesegneten Appetit, und im Bett saß jeder Stoß.

An diesem Junimorgen nach der x-ten schwierigen Nacht, als Federica auf dem Handy zwei verpasste Anrufe und eine Nachricht von Matteo sah, der soeben in Rom gelandet und verärgert war, weil niemand ihn abgeholt hatte, empfand sie wie nie zuvor die ganze Ungerechtigkeit dieser Jahre, die sie damit zugebracht hatte, auf ihn zu warten.

2

Nichts von alledem, was er sich vorgestellt hatte, ähnelte der Erleichterung, die er vor dem Pissoir im Terminal 3 des Flughafens Fiumicino verspürte. Als ob er erst jetzt, bei Entleerung seiner Blase, gewahr würde, in welchem Alarmzustand er die letzten sechzehn Jahre gelebt hatte.

Während er sich unter die dahineilende Menge mischte, wurde er von einer Regung patriotischen Stolzes erfasst. Ineffizienz und Nachlässigkeit waren ihm so eigen, dass er sich fast in den Liegestuhl gesetzt hätte, den jemand (wer?) neben dem Taxistand aufgestellt hatte. Das morgendliche Licht hatte nicht die Strahlkraft der Sonnenaufgänge in Los Angeles. Dafür zeichnete sich oberhalb der mehrstöckigen Parkhäuser alles sehr klar ab, flammengesäumte Wolken sahen aus wie verschneite Berghänge bei Sonnenuntergang. Als er während des Landeanflugs leere Strände und die Heckwellen von Motorbooten erblickt hatte, war ein liebevolles Gemeinschaftsgefühl über ihn gekommen. Man vergisst allzu leicht, dass Rom eine Stadt am Meer ist.

Kalifornien hatte er seinerzeit gewählt, weil es unter den Orten, die seinem Geburtsort ähnelten, am weitesten entfernt war von dem Idioten, der ihm an den Kragen wollte. Nichts von dem, was er seither auf die Beine gestellt hatte, glich einer Geschichte von Wiedergeburt und Erlösung. Im Wesentlichen hatte er Jobs akkumuliert, die seine Vorfahren (und vermutlich auch seine Nachkommen) verabscheuen und missbilligen würden.

Weder die einen noch die anderen waren gekommen, um ihn abzuholen. Vielleicht wussten sie gar nichts von seiner Ankunft. Ein paar Stunden früher, während des Zwischenstopps am Flughafen Boston Logan, hatte er die Aufforderung der Flugbegleiterin, die Handys abzuschalten, missachtet und versucht, ein halbes Dutzend Leute zu erreichen, zwei ehemalige Ehefrauen, die Kinder, den Freund aus Kindertagen, und nur Letzterer hatte geantwortet.

Dabei hatte es ihm nie missfallen, Matteo Zevi zu sein. Keiner der vielen Fehler, die er in etwas mehr als einem halben Jahrhundert des Lebens angehäuft hatte, hatte ihn dazu gebracht, sich mit der Schärfe zu beurteilen, mit der andere ihn zu beurteilen pflegten. Waren nicht immer die anderen das Problem gewesen?

Angefangen bei den folgsamsten Verbündeten, Giorgio, den er mit seiner ersten Frau gehabt hatte, Martina, das Geschenk der zweiten. Diese Kinder von verschiedenen Frauen und einem unzuverlässigen Vater, die zumindest er, Matteo, als biologischen Kollateralschaden hinnahm, hatten sich nicht nur vom affektiven Standpunkt aus als gewinnbringende Investition erwiesen. Schade, dass ihre geschwisterliche Verbundenheit seit einiger Zeit neue Nahrung in einer Art gemeinsamer Abneigung ihm gegenüber gefunden hatte. Giorgio beantwortete seine Anrufe seit mindestens sechs Monaten nicht mehr; Martina ließ sich widerwillig herbei, rief jedoch nie zurück.

Er genoss die Einfahrt in die Stadt vom Rücksitz eines Taxis aus. Der Fahrer trug Bermudas in Tarnfarben und ein gelbes T-Shirt; unter dem linken Ärmel, der fast bis zum Schlüsselbein aufgerollt war, blitzte eine Tätowierung von Bruce Lee hervor, die Fäuste erhoben. Wenn der Taxifahrer die Wasserflasche zum Mund führte – das tat er oft und trank in kleinen Schlucken –, hatte der König des Kung-Fu die Beine in der Luft.

Moderne Bauten, Ruinen, Flecken mediterraner Macchia gingen ineinander über, und Träume mischten sich unter Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen. Der Wagen holperte über die Baumwurzeln, die den Asphalt aufwarfen; Kletterpflanzen überwucherten Tore und Umfassungsmauern; Insektenschwärme belagerten die Mülltonnen, als ob die Natur die Stadt und ihre Bewohner besiegt hätte.

Plötzlich sah er zu seiner Linken das Schaufenster, vor dem ihm der erste Kuss abgerungen worden war. Die Glückliche war die Tochter des Geschäftsinhabers gewesen, eines Mannes, dessen Tochter in der Öffentlichkeit (aber auch im Privaten) zu küssen, nicht ratsam war. Zwei Jahre älter als er, ihm aber um drei in der Entwicklung voraus, mindestens zehn Jahre reifer an Erfahrung war dieses Mädchen, dessen Namen Matteo sich jetzt in Erinnerung zu rufen versuchte, eine jener wilden Gestalten, wie sie Kindheitserinnerungen bevölkern. Sie hatte die Initiative ergreifen müssen. Gleich darauf war Matteo nach Hause gelaufen, um sich die Zähne zu putzen. Das Einzige, was er von Manuela (so hieß sie!) wusste, war, dass sie bei einem Autounfall ihren Sohn verloren hatte.

Anstelle der Reinigung war hier jetzt ein Geschäft für glutenfreie Lebensmittel. Überall suchte Matteo nach sensationellen Neuerungen, die seine lange Abwesenheit unterstreichen würden, aber auch nach vertrauten Details, die das Gefühl abschwächen konnten, zu spät zur eigenen Beerdigung gekommen zu sein. Erzittern ließen ihn vor allem die vergessenen Dinge, das schmucklose Schild des Bestattungsunternehmens, die zweifarbigen Bürsten der Autowaschanlage, das Quietschen der Busse beim Bremsen.

Für jeden von uns gibt es einen Ort, nicht allzu weit von zu Hause entfernt, aber auch wieder nicht zu nah, der uns, wenn er am Horizont auftaucht, zusammenfahren lässt wie ein Kind, das sich in der Menschenmenge eines Einkaufszentrums verlaufen hat und endlich den Mantel der Mutter entdeckt. Matteo erkannte, dass dieser Ort für ihn die Latteria am Anfang der Via Alessandro Poerio war. Als er sie sah, spürte er, wie sein Blut mächtig zu den koronaren Bypässen strömte, die ihm unlängst eingesetzt worden waren und die er mit dreiundachtzig abbezahlt haben würde. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was er empfand, als er dort an einem Tischchen sitzend Tati Almagià erblickte, grauhaarig mit Rabbinerbart, wesentlich älter wirkend als er, im Gesicht den Ausdruck von jemandem, der eben einen guten Witz gemacht hat.

Er bat den Taxifahrer anzuhalten. Er zahlte, packte den Reisesack und trabte auf den alten Freund zu.

»Wollten wir uns nicht bei dir im Büro treffen?«

»Aber wenn ich doch ein Leben lang hier sitze und auf dich warte wie ein Idiot.«

Hier hatten sie sich verabredet, um gemeinsam in die Schule zu gehen; hierher waren sie an den Winternachmittagen nach dem Tennisunterricht auf ein Tramezzino und eine Cola gekommen; hier hatten sie sich Ende Juni voneinander verabschiedet und eine Granita di caffè getrunken, um sich dann im September beim letzten Eis des Sommers wiederzutreffen; hier hatten sie im Oktober ein Sandwich mit Hühnersalat gegessen und die Fastenregeln des Jom Kippur gebrochen.

Gestärkt durch Latte macchiato, Cappuccino und Cornetti informierte Matteo Tati über die letzten Katastrophen. Er hatte die Arbeit im Fitnessstudio verloren, der Kühler am Auto war kaputtgegangen, er war in ein anderes Viertel gezogen. Das allein in den letzten sechs Wochen. Er erzählte ihm von Sandrine, seiner neuen Frau, einer Französin mit künstlerischen Ambitionen. Sie brauchte einen Ehemann mit amerikanischem Pass und er zwanzigtausend Dollar: Sie waren sich schnell einig geworden. Leider entpuppte sie sich als so lästig, dass seine früheren Ehefrauen im Vergleich dazu …

Ohne die zwei oder drei Mal, die Tati nach Kalifornien gereist war, wären es sechzehn Jahre gewesen, dass sie sich nicht gesehen hatten. Tatis letzter Besuch reduzierte den Zeitraum auf fünf Jahre. Jedenfalls eine Ewigkeit, wenn man bedachte, dass ihre Freundschaft bis zu Matteos überstürzter Abreise nicht weniger eng gewesen war als die Verbindung ihrer Väter. Tatis und Matteos Väter hatten in der Synagoge nebeneinandergesessen, auf den Rängen des Fußballstadions, im Konzertsaal von Santa Cecilia; sie waren der eingeschworenste Zweier des Ruderklubs Lazio gewesen; jeden Sommer hatten sie gemeinsam Urlaub in der südlichen Maremma gemacht und sich dort fast jeden Abend einen großen Wolfsbarsch im Salzmantel geteilt. Die Söhne hatten das Erbe dieser familiären Bindung so lange wie möglich aufrechterhalten. Es gab kein Bildungserlebnis und keine schädliche Erfahrung, die sie nicht geteilt hätten: die erste Zigarette, den ersten Rausch, das erste mütterliche Schulschiff. Doch keine ihrer jugendlichen Unternehmungen konnte es mit dem Telefonat aufnehmen, in dem Tati Matteo vor ein paar Jahren von der Diagnose eines Melanoms in Kenntnis gesetzt hatte. Mit einem Schlag hatte die Vorstellung, der Freund könne für immer verschwinden, einfach nicht mehr da sein, um auf ihn zu warten und sich an seiner statt um Giorgio und Martina zu kümmern, auf sie achtzugeben und sie zu beschützen, sein Exil absurder und verzweifelter gemacht. Matteo hatte verlangt, nach jedem Termin der Chemotherapie angerufen zu werden, auch wenn es in Los Angeles dann mitten in der Nacht war.

Tatis Magerkeit war die sichtbarste Folge der überwundenen Krankheit; seine Haut sah aus wie die Schale eines im Kühlschrank verschrumpelten Pfirsichs. Etwas an dem neuen Tati erinnerte an einen Bauchredner.

Nach einiger Zeit jedoch plätscherte die Unterhaltung in den ruhigen Gewässern der Erinnerung dahin. Sie mussten sehr lachen über das eine Mal am Meer, als Matteos Mutter Tati in Unterhosen mit einem Mädchen erwischt hatte und, ohne mit der Wimper zu zucken, zu ihm gesagt hatte: »Wenn du schon mal da bist, könntest du deinem Vater bitte ausrichten, dass die Canasta-Partie heute Abend ausfällt.«

»Nun, sie war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.«

»Sie war es, die mir die erste Zigarette anbot«, bestätigte Tati zufrieden. »Wenn ich an meine altmodischen Eltern denke!«

»Zur Bar-Mizwa hat sie mir eine Packung Präservative mit Bananengeschmack geschenkt«, legte Matteo nach.

»Aber sag mal, wie hast du das gemacht?«

»Was?«

»Eine solche Mutter in Rage zu bringen.«

Seitdem ein Aneurysma ihren Ehemann an der Aufschlaglinie eines Tennisplatzes niedergestreckt hatte, hatte Lia Zevi alles darangesetzt, Matteo ein Beispiel dafür zu geben, wie man mit den Widrigkeiten des Schicksals fertigwird. Sie war eine junge Witwe gewesen mit einem sechsjährigen Bengel, den sie großziehen, und einem berühmten Großhandel für Haushaltswaren, den sie weiterführen musste. Alles hätte sie sich vorstellen können, nicht aber den verwirrenden Gebrauch, den ihr Teo von der Freiheit machen würde, die sie ihn zu lieben gelehrt hatte. Er hatte sich so frei gefühlt, alles über den Haufen zu werfen, mit dem Gestus eines Kunstsammlers Ehefrauen zu horten, einen Typen um einen Kredit anzugehen, der bekannt war für seine geringe Neigung, seinen Schuldnern die Schulden zu erlassen, bei Nacht und Nebel zu fliehen wie ein Verbrecher, dabei kleine Kinder, gedemütigte Frauen und eine fassungslose Mutter zurücklassend, bereit, seine Exilantenhände mit den Stigmata des Elends und der Illegalität zeichnen zu lassen.

Nein, zur Beerdigung der Mutter hatte Matteo nicht kommen wollen, das war zu gefährlich. Dann hatte Gott seine Finger im Spiel gehabt: sein Gläubiger, derjenige, der ihm fast zwanzig Jahre lang die Heimkehr verwehrt hatte, war Lia Zevi auf den Friedhof nachgefolgt, von einem Tag auf den anderen, ohne Erben und ohne testamentarische Verfügung. Das waren zwei gute Gründe, mit dem ersten Flug nach Hause zurückzukehren, seine Mutter und sein schlimmster Feind waren nicht mehr da und erwarteten ihn nicht mehr.

Aber nicht von der Mutter wollte er sprechen. Noch weniger vom willkommenen Tod dieses Scheißkerls. Sondern von der Haltung seiner Kinder.

»Ich sage ja nicht, dass ich eine Blaskapelle zur Begrüßung erwarte, aber wenigstens ans Telefon könnten sie gehen! Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie wissen, dass ich hier bin.«

»Sie wissen es.«

»Und?«

»Und was?«

»Warum antworten sie nicht? Warum rufen sie nicht zurück?«

»Martina ist am Meer bei der Silbernen Hochzeit ihrer Schwiegereltern. Und Giorgio will nicht einmal deinen Namen hören.«

Ach ja, und warum? Im Grunde war zwischen ihm und seinem Erstgeborenen immer alles glattgelaufen. Loyal, sanftmütig, der beste Sohn der Welt. Er kam ihn in Kalifornien besuchen, sie amüsierten sich, sie hatten eine wirklich gute Zeit miteinander. Beim letzten Mal hatte Giorgio ihm eine Fahrt mit der Limousine nach Las Vegas spendiert und Karten für ein Gedenkkonzert für Ricky Nelson … Und jetzt schloss er ihn von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben aus.

»Ist es wegen Sandrine? Das ist doch keine Ehe, das ist ein Geschäft.«

»Das ist vielleicht eines der Dinge, die du mit ihm klären solltest.«

»Und wie soll ich das machen, wenn er nicht mit mir spricht? Warum sagst du ihm nicht, er soll mich anrufen? Auf dich hört er.«

»Er sagt, du hättest nicht zurückkommen sollen. Er hätte dich gebeten, es nicht zu tun.«

»Ich habe mehr als ein Drittel meines Lebens fern von alldem verbracht, was ich liebe. Mancher Mörder bekommt eine geringere Strafe.«

»Du kennst deinen Sohn …«

»Meine Mutter ist nicht mehr. Ich hatte keine Gelegenheit, mich von ihr zu verabschieden.«

So schnell kann es gehen: Du lässt dich zu gewissen Gefühlsäußerungen hinreißen, um deinen Gesprächspartner zu rühren, und schon bist du selbst gerührt.

»Weißt du, was in zwanzig Jahren alles passiert?« (Seit einer gewissen Zeit neigte er dazu, die Dauer seines Exils aufzurunden.) »Siehst du den Typen an der Kasse?«, ereiferte er sich.

»Den Sohn der Besitzerin?«

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte er einen Schnuller im Mund.«

In der Tat hatte ihm in den letzten sechzehn Jahren kein Ereignis planetarischen Ausmaßes solches Bauchgrimmen bereitet wie die jüngste Haltung seiner Kinder, der einzigen Menschen auf der Welt, die nie gewagt hatten, ihn zu verurteilen, obwohl sie alles Recht dazu gehabt hätten, der einzigen, die ihn geliebt hatten, so wie er war, ohne sich darum zu scheren, was er hätte sein können oder sollen. Und die kehrten ihm nun den Rücken.

»Lass ihnen Zeit. Du hast ja keine Vorstellung, was sie durchgemacht haben.«

Und er? Was wussten sie schon, was er erlitten hatte, wenn er selbst es im Rückblick kaum fassen konnte? Was glaubten sie denn? Das Geld, das er durch den Verkauf der alten Rolex-Uhren aus Familienbesitz aufgetrieben hatte, war fast sofort verbraucht gewesen. Vor der Eheschließung mit Pamela und der Greencard hatte er jahrelang in der Illegalität gelebt, in italienischen Restaurants aufgespielt, für kleine Pornofilmproduktionen Caterings organisiert und für ein orthodoxes Lokal in West Hollywood koschere Cupcakes zubereitet.

Hatten sie eine Vorstellung von den Demütigungen, die er hatte einstecken müssen? Wie an jenem Abend, als er ohne Benzin im Tank und mit knurrendem Magen dagestanden hatte, acht Dollar und dreizehn Cent im Portemonnaie. Wenn er sich fürs Essen entschied, wusste er nicht, wie er zum Pornoset kommen sollte; wenn er beschloss, dass dieser Scheißjob das Wichtigste war, musste er sich ein Herz fassen und die dritte Mahlzeit an diesem Tag ausfallen lassen. Essen oder Benzin? Treibstoff für den Wagen oder Nahrung für den eigenen ausgezehrten Organismus? Waren sie je mit einem solchen Dilemma konfrontiert gewesen? Aber genau deswegen verzieh er ihnen, einen Flug ohne Fallschirm kann man sich eben nicht vorstellen.

»Was soll ich tun?«

»Geh zu ihm. Versuch’s auf die spielerische Tour. Das ist deine Stärke.«

Es war, als mischte sich eine Wolke von Unwillen und Anklage unter die feuchte Luft dieses fortgeschrittenen Vormittags, als wären die Flitterwochen zwischen ihm und seiner Stadt vorbei. War das möglich? Matteo stellte sich vor, Giorgio in seinem Megarestaurant, dem Orient Express, zu besuchen und ihn zu vermöbeln. Oder in der Villa von Martinas Schwiegereltern aufzukreuzen und eine Szene hinzulegen, die diese kleine Snobistin nie mehr vergessen würde. Er konnte das nicht tun, er hatte kein Auto und auch nicht das erforderliche Maß an Dreistigkeit und Groll. Die Unmöglichkeit (das Schicksal der Elenden) nagelte ihn hier fest. Da konnte er seinen Unmut auch gleich an Tati auslassen. Der mit seinen schönen Sätzen voll gesundem Menschenverstand. »Versuch’s auf die spielerische Tour.« »Das ist vielleicht eines der Dinge, die du mit ihm klären musst.« Weißt du, wohin du dir deinen Großmut stecken kannst?

Vorsicht, kultiviert und geschärft im Elend, riet ihm zur Zurückhaltung. Okay, es war absurd, den Mann zu beschimpfen, der ihn vor der mörderischen Wut eines Wucherers gerettet hatte. Der ihn in schwierigen Momenten bedingungslos unterstützt hatte, auch aus der Ferne. Der sich seiner Familie angenommen hatte. Das war aber doch der Punkt, oder? Wie seltsam, diese Schwäche Tatis für die Zevis! War es möglich, dass in Matteo erst jetzt der Verdacht aufkam, Tati könne seine Auswanderung begünstigt haben, um ihn dann dazu zu bringen, seine Heimkehr aufzuschieben? Und jetzt wiegelte er seine Kinder gegen ihn auf. Nicht explizit, sondern mit der ihm eigenen Hinterhältigkeit. Matteo wusste um die Versuche von Tati und Ada, Kinder zu bekommen; es hatte nie geklappt. War das das Problem?

Du konntest keine eigene Familie haben, und darum hast du dir meine unter den Nagel gerissen. Du hattest keine Skrupel, Martina zum Altar zu führen und in Giorgios Restaurant öffentlich aufzutreten. Mit all deinem Verständnis, deiner Fortschrittlichkeit, dem Glauben an den Allmächtigen, mit deinem Geld muss es dir wie der blanke Hohn erschienen sein, dass dieser elende, abgerissene Vagabund so viel Gnade erfahren hat, während du leer ausgegangen bist.

»Hör mal, machen wir es doch so«, sagte Tati versöhnlich. »Ich bringe dich jetzt nach Hause.«

»Zu dir?«

»Zu deiner Mutter. Du nimmst ein schönes Bad, ruhst dich aus, und wir sehen uns später. Ich habe sauber machen lassen und dir einen weißen Bademantel gekauft. Unterdessen telefoniere ich ein bisschen, und ich verspreche dir, dass ich wenigstens einen von den beiden dazu bringe, bis morgen früh bei dir anzurufen. Und dann ist da ja noch Federica. Sie kann es kaum erwarten, dich in die Arme zu schließen. Auch sie setzt sich für dich ein.«

Die Wohnung lag ein paar Häuserblocks entfernt. Es war nicht der Ort, an dem Matteo geboren war, aber dort war er aufgewachsen. Um sich ein Alter in Würde zu ermöglichen, hatte Signora Zevi die Wohnung verkauft, zu einem Preis unter dem Marktwert, sich dafür aber das Wohnrecht auf Lebenszeit gesichert. Bürokratische Hürden hinderten das junge Käuferpaar, vor der Testamentseröffnung einzuziehen. In der Zwischenzeit würde Matteo dort wohnen können. Wie immer hatte Tati an alles gedacht.

Die Aussicht auf ein heißes Bad und ein Schläfchen im Bett seiner Kindheit (der Jetlag lastete wie Blei auf seinen Lidern) munterte Matteo auf. Wie hatte er an Tati zweifeln können? Wer sonst wusste von seiner Schwäche für weiße Bademäntel? Mit Sicherheit keine seiner Frauen, auch die Kinder nicht (gar nicht daran zu denken), und noch weniger die kalifornischen Freunde. Nicht einmal seine Mutter hätte es gewusst, wenn sie noch imstande gewesen wäre, etwas zu wissen. Tati wohl, er wusste es.

3

Dies war der Augenblick des Tages, da Martina die ganze Peinlichkeit des Verheiratetseins spürte.

Jeden Morgen, mehr oder weniger zur selben Zeit, nach einem Frühstück bestehend aus Magerjoghurt, reifen Kiwis und Kellogg’s Cornflakes, hatte sie das dringende Bedürfnis, sich zurückzuziehen und wie bestimmte wilde Tiere, die ihre Nahrung an unzugänglichen Stellen zu sich nehmen, ihre physiologischen Bedürfnisse an einem stillen Ort zu verrichten, mit dem nötigen Sicherheitsabstand von indiskreten Ohren oder Nasen.

Dabei entstammte sie einer Familie, war in einer Epoche und einem Land groß geworden, die sie gelehrt hatten, sich für ihr Menschsein nicht zu schämen. Die eigene Nacktheit war ihr ebenso wenig peinlich wie die der anderen. Nach zwei oder drei Fehlstarts hatte sie im Feld gelernt, dass Sex Spaß machen kann, wenn man ihn oft und ohne Prüderie praktiziert. Ihr Appetit war lebhaft wie der eines Allesfressers. Der Alkoholismus war für sie wie für viele ihrer Altersgenossen ein Schreckgespenst, vor dem man sich hüten musste. Sie gehörte der Generation von Mädchen an, deren ältere Schwestern sich ihre Weltanschauung auf der Grundlage der Drehbücher von Nora Ephron und Darren Star gebildet hatten. Mit achtzehn hatte sie begeistert die Zehn Gebote des gemeinen Biests unterschrieben, die Benny (ihre beste Freundin und künftige Schwägerin) im Netz verbreitete:

 

  1. Du sollst keinen Gott haben neben dir.
  2. Denk daran, das Shoppen zu heiligen.
  3. Heirate nicht den Erstbesten.
  4. Begehe unzüchtige Handlungen
    (wenn dein Er einen schweren Tag hatte).
  5. Misstraue romantischen Männern.
  6. Halt dich nach Mitternacht von Häagen-Dazs fern.
  7. Meide hohe Absätze zu Jeans.
  8. Lebe so, als wäre immer der Vortag von
    etwas.
  9. Begehre den Mann der anderen
    (aber lerne, deinen eigenen zu genießen).
  10. Bereue nichts.

 

So viele Ratschläge, so viele schöne Regeln, aber keine, die ihr sagte, wie sie die Peinlichkeit des Toilettengangs umgehen konnte. Nach der Hochzeit hatte sie effiziente Strategien entwickelt, die das Problem aber doch nicht lösten. Ein verlässlicher Stoffwechsel erlaubte ihr, sich die Dinge einzuteilen. Auf der Hochzeitsreise im Sofitel von Hanoi hatte sie die Lage der Toiletten im Restaurant, am Empfang und im Schwimmbad erkundet. Ihre Wahl fiel auf den Fitnessbereich, der abgelegen und wenig besucht war. Während des Frühstücks, wenn Lorenzo sich mit Toast und Ham and Eggs vollstopfte, fand sie immer Gelegenheit, unauffällig zu verschwinden.

Nach Rom zurückgekehrt, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass Lorenzo an Werktagen früh aus dem Haus ging und die junge Philippinerin nicht vor halb neun in Aktion trat. Um sich eine Viertelstunde der Intimität zu verschaffen, schloss sie die Tür zum Schlafzimmer und die zum Bad zweimal ab und ließ das Wasser im Waschbecken und im Bidet gleichförmig rauschen.

Der einzige Ort, an dem dieses Minimum an Privatsphäre nicht gewährleistet war, war die Villa der Mogherinis unweit von Sabaudia, wo sie im Sommer ihre Wochenenden verbrachten. Das Problem war das Missverhältnis zwischen den anwesenden Menschen und der relativ geringen Anzahl an Toiletten. Lorenzos Eltern hatten das Bad direkt beim Schlafzimmer, die Haushälterin ebenso; die anderen Schlafzimmer im ersten Stock mussten sich ein Örtchen teilen (ohne Fenster, o Graus). Im Erdgeschoß gab es eine Gästetoilette, die ständig belagert wurde. Zudem befand sich die in Pfahlbauweise errichtete Villa, die von mediterranen Pflanzen umgeben und nur durch einen schmalen Strandstreifen vom Meer getrennt war, etwa zwei Kilometer von der Zivilisation entfernt. An diesem Tag war sie obendrein von mehr Menschen bevölkert als üblich. Die Schwiegereltern, die sich anschickten, ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag zu feiern, hatten einen Cateringservice beauftragt, dessen Chef morgendliche Lokaltermine mit jeder Menge Mitarbeitern im Gefolge liebte.

Auf den förderlichen Lärm ringsum setzend, optierte Martina für das Erdgeschoss.

Als sie befreit und glücklich aus dem Bad schlüpfte, sah sie, wie ihr Schwiegervater sich mit der neuen Nespresso-Maschine abmühte, die Lorenzo aus Rom mitgebracht hatte. Es liegt immer etwas Rührendes in der Ungeschicklichkeit eines herausragenden Mannes.