Brandhorst, Andreas Eklipse

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Arndt Drechsler

 

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Ein Wandrer kam aus einem alten Land

Und sprach: »Ein riesig Trümmerbild von Stein

Steht in der Wüste, rumpflos Bein an Bein,

Das Haupt daneben, halb verdeckt vom Sand.

Der Züge Trotz belehrt uns: wohl verstand

Der Bildner, jenes eitlen Hohnes Schein

Zu lesen, der in toten Stoff hinein

Geprägt den Stempel seiner ehrnen Hand.

Und auf dem Sockel steht die Schrift: ›Mein Name

Ist Ozymandias, aller Kön’ge König: –

Seht meine Werke, Mächt’ge, und erbebt!‹

Nichts weiter blieb. Ein Bild von düstrem Grame,

Dehnt um die Trümmer endlos, kahl, eintönig

Die Wüste sich, die den Koloss begräbt.«

Percy Bysshe Shelley, 1792–1822

Prolog

Rebecca

Rebecca hörte, wie sich die Tür öffnete, aber sie sah nicht auf.

»Du liest wieder«, erklang eine sanfte Stimme. »Du liest und liest.«

Ein Windstoß warf Regentropfen gegen das nahe Fenster. Es prasselte kurz, dann folgte ein Rauschen. Rebecca ließ das Buch sinken und blickte nach draußen. Ein grauer Regenschleier lag über grauem Land. Die Berge im Norden waren nicht mehr zu sehen.

»Es regnet hier nicht oft«, sagte sie. Vielleicht hatten es ihr die Steine zugeflüstert.

»Nur zwei- oder dreimal im Jahr«, erwiderte Claire. »Wir brauchen den Regen nicht, wir haben den Brunnen. Aber die anderen werden sehr dankbar für ihn sein.«

»Sie fangen ihn in Behältern auf, nicht wahr?«, fragte Rebecca.

Claire trat näher. Ein Leben harter Arbeit hatte sie vorzeitig altern lassen. Sie war noch nicht ganz sechzig, doch Falten zerfurchten ihr Gesicht, und ihr drahtiges Haar hatte Glanz und Farbe verloren.

»Du bist nicht von hier, und trotzdem weißt du davon.«

»Ja. Ich habe darüber gelesen.« Rebecca legte das Buch auf den kleinen Tisch. Es stammte aus einem gut gefüllten Bücherschrank.

»Du liest viel.«

»Ja.«

Claire deutete zum Schrank an der Wand. Das auf dem Tisch liegende Buch hatte eine kleine Lücke darin hinterlassen. »Du liest viel. Und schnell. Ich kenne niemanden, der so schnell liest wie du.«

Rebecca nickte und blickte erneut nach draußen. Es wehte kein Wind mehr, der Regen fiel glatt und gerade. Ein Reiter kam aus den grauen Schlieren jenseits der Koppeln und Zäune, eine Gestalt wie aus dem Nichts.

»Und all die Sprachen!« Claire stand direkt vor dem Schrank und strich mit dünnen Fingern über die Buchrücken. »Wie viele sind es?«

»Siebenundneunzig Bücher in sechs Sprachen«, antwortete Rebecca sofort.

»Wie viele Sprachen sprichst du?«, fragte Claire. »Wie viele kannst du lesen?«

»Alle«, sagte Rebecca geistesabwesend. Sie beobachtete, wie der Reiter im Regen abstieg und sein Pferd zur Koppel führte. »Kostas ist aus der Stadt zurück.«

Die Stadt lag am Fuß der Berge, die man an einem Tag erreichen konnte, wenn man schnell ging. Einige Hundert Menschen lebten dort bei den Tunneln der alten Verkehrsstation. Früher waren Städte viel größer gewesen, hatte Rebecca gelesen, mit Tausenden und sogar Millionen von Menschen – eine unglaubliche Zahl.

»Er hat den Regen mitgebracht.« Claire lächelte. »Er kommt also mit guten Nachrichten. Wasser für uns alle!«

Er kam nicht mit guten Nachrichten, das spürte Rebecca. Vielleicht hatten ihr auch das die Steine geflüstert. Sie stand auf, nahm das Buch und stellte es in den Schrank. Ihre Zeit hier ging zu Ende. Sie ließ den Blick durchs Zimmer wandern, wie um Abschied zu nehmen.

Claire deutete auf die Decke. »Hast du hier geschlafen?«

»Ein bisschen. Ein oder zwei Stunden.«

»Das ist nicht viel.« Claire wirkte ein wenig hilflos. Sie redete gern, sie war nicht um Worte verlegen, aber oft gebrauchte sie die falschen. Claire benutzte beim Sprechen eine Art Code, den Rebecca inzwischen entschlüsselt hatte. Was sie wirklich hatte sagen wollen, war: Bitte, bleib hier, geh nicht fort.

»Ich brauche nicht viel Schlaf, das weißt du.«

»Du könntest mir erklären, worum es in den Büchern geht«, sagte Claire schnell. »Du könntest mir beibringen, besser zu lesen.«

Die Bücher hatten verstaubt und seit vielen Jahren unberührt in diesem Schrank gestanden, als Claire und Kostas vor mehr als vier Jahrzehnten hergekommen waren und sich auf der herrenlosen kleinen Farm niedergelassen hatten. Ihre Tochter Annabel, deren Grab sich hinter dem Haus befand, hatte die Bücher gehütet und gepflegt, obwohl sie ihren Inhalt ebenso schwer entziffern konnte wie Mutter Claire.

Draußen stapfte Kostas durch den Regen, den Kopf hoch erhoben, und näherte sich dem Haus. Rebecca fühlte den Beutel in ihrer Hosentasche, die kleinen Steine darin schienen schwerer zu werden.

Schritte polterten auf der hölzernen Diele des Farmhauses. Kostas erschien in der Tür, ohne den Regenmantel, Haar und Gesicht nass. Auch er war früh alt geworden, aber er hielt sich gerade, trotz der Jahre voller Mühsal, die seinen Rücken krümmen wollten.

»Es regnet«, sagte er. »Es bedeutet, dass wir heute und morgen kein Wasser aus dem Brunnen pumpen müssen. Rebecca …«

»Wie war’s in der Stadt?«, fragte Claire schnell. Sie schlang die Arme um sich selbst, als wäre ihr plötzlich kalt geworden.

Kostas wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau. »Rebecca …«

»Ja?«

»Jemand hat nach dir gefragt. Jemand sucht dich.«

Rebecca seufzte. »Früher oder später musste es so kommen. Marcus hat die Suche nicht aufgegeben.«

»Aber, aber …«, begann Claire.

»Ich packe besser meine Sachen.« Es würde nicht lange dauern. Rebeccas Habseligkeiten ließen sich schnell in einem Rucksack verstauen.

»Du kannst hierbleiben, Kind«, brummte Kostas. »Das weißt du.«

So nannte er sie oft, Kind. Obwohl sie mit ihren fünfzehn Jahren längst kein Kind mehr war. Schon mit zwölf war sie kein Kind mehr gewesen, dazu hatte sie zu viel gesehen und erlebt.

»Wir könnten dir mehr Bücher beschaffen«, sagte Claire hastig und meinte erneut: Bitte, bleib!

»Rebecca …« Kostas kam einen Schritt näher. Seine Stiefel hinterließen kleine Pfützen auf dem Holzboden. »Seit Annabel … Ich meine …«

»Du bist etwa so alt wie sie, als sie … von uns ging.« Claires Augen glänzten feucht. »Mit dir sind wir wieder eine richtige Familie.«

»Ein Mädchen in deinem Alter hat es schwer in der Welt dort draußen«, sagte Kostas ernst.

»Ich weiß.« Rebecca griff nach ihrem Rucksack. »Es lässt sich leider nicht ändern.«

»Dieser Marcus …«, brummte Kostas. »Wir könnten mit ihm reden. Oder mit den Leuten, die in seinem Auftrag nach dir suchen. Du bist ein gutes Kind. Du kannst nichts Schlimmes angestellt haben.«

»Marcus und seine Leute würden sich anhören, was ihr zu sagen habt«, sagte Rebecca, »und euch dann töten. Sie töten alle, die mir helfen. Es ist besser, sie erfahren nichts von euch.«

Sie sah zum Bücherschrank. Zwei Bücher hatten ihr besonders gut gefallen: Geschichte der Welt von R. Quintex – ein Buch, das sie bereits gekannt hatte und in dem sie immer wieder gern las – und Alice im Wunderland von Lewis Carroll, der lange vor dem Bruch gelebt hatte. Sie überlegte, ob sie Claire und Kostas um die beiden Bücher bitten sollte, ließ es dann aber bleiben. Ihr Rucksack war auch so schon schwer genug.

»Willst du immerzu fliehen, Kind?«, fragte Kostas. »Du kannst doch nicht dein ganzes Leben auf der Flucht verbringen!«

»Man darf sich nichts vormachen.« Rebecca schwang sich den Rucksack auf den Rücken. »Irgendwann wird Marcus mich finden. Aber das dauert noch ein paar Jahre, wenn ich vorsichtig genug bin, und vielleicht habe ich bis dahin gelernt, wie man mit ihm fertigwird.« Sie ging zur Tür.

»Warte, warte!« Claire schlüpfte an ihr vorbei. »Ich packe dir schnell etwas zu essen ein. Ein wenig Proviant für den Weg.«

Fünf Minuten später standen sie draußen. Es regnete nicht mehr, der durstige Boden saugte die Feuchtigkeit auf, und die wenigen Pfützen schrumpften schnell. Rebecca umarmte erst Kostas und dann Claire, die Tränen in den Augen hatte.

»Kehr bald zurück, Annabel«, sagte sie. »Kehr bald zurück.«

Rebecca bemerkte die stumme Bitte in Kostas’ Miene. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte sie. »Man darf sich nichts vormachen. Ich bin Rebecca und muss meinen Weg gehen.«

 

Abends klarte es auf, und die Nacht präsentierte einen wolkenlosen Himmel. Rebecca hatte ihr Lager zwischen einigen Felsen aufgeschlagen, ein gutes Stück von der Stadt entfernt, in deren Ruinen sich einzelne Lichter zeigten. Auf ein Lagerfeuer hatte sie verzichtet – der Schein der Flammen hätte in dunkler Nacht weit gereicht. Mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt und die Stadt durch die Lücke zwischen zwei anderen im Blick aß sie von dem Brot, das Claire ihr mitgegeben hatte, und trank Wasser aus ihrer Feldflasche. Die Tunnelöffnungen der alten Verkehrsstation hätte sie früh am nächsten Morgen mit Leichtigkeit erreichen können, aber Rebeccas Ziel war nicht einer der wenigen noch fahrenden Züge, die fast alle der Kontrolle durch Marcus unterlagen, sondern ein verborgener kleiner Bogen, der sich in einem Felsental zwei Tagesmärsche entfernt befand und von dem die Verfolger bestimmt nichts wussten. Das war die Gelegenheit, Marcus erneut zu entkommen, für einige Wochen oder sogar Monate, bis seine Späher, die sich überall herumtrieben, sie erneut fanden.

Sie öffnete den Rucksack und holte ein kleines Kästchen hervor, das aus einem anderen Leben stammte. Während der vier Wochen bei Claire und Kostas hatte sie es nur ein einziges Mal in der Hand gehalten, was bedeutete, dass es nur noch wenig Energie hatte – die Solarzellen auf der einen Seite mussten genug Sonnenlicht aufnehmen, um die Batterie aufzuladen. Sie vergewisserte sich, dass die Lautstärke niedrig eingestellt war, bevor sie die Einschalttaste drückte.

Leise Musik ertönte. Es war eine traurige kleine Melodie, geeignet für eine traurige kleine Geschichte.

Das kleine Musikkästchen stammte von Rebeccas Mutter.

Sie lauschte der Musik mit geschlossenen Augen, und als sich die letzten Töne in der Stille der Nacht verloren, steckte sie das Kästchen in den Rucksack zurück.

Ein Kribbeln im Nacken veranlasste Rebecca, den Beutel aus der Hosentasche zu ziehen und ihm die Steine zu entnehmen. Warm lagen sie in ihrer Hand, einige klein und rund, andere spitz und kantig. Sie sprachen zu ihr, mit Stimmen noch leiser als die der Geister in Stein und Stahl.

»Was?«, fragte sie, nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. »Was?«

Sie lauschte einige Sekunden, hob dann den Kopf und blickte zu den Sternen empor. Viele von ihnen funkelten, und als Kind hatte Rebecca dabei oft an blinzelnde Augen gedacht. Sie hielt nach Bewegung Ausschau, nach einem Schatten vielleicht, der das Licht der Sterne verdunkelte, oder nach einem neuen Stern, der heller als die anderen seine Bahn am dunklen Himmel zog. Doch nichts regte sich am Firmament, alles erschien statisch und unveränderlich, obwohl Rebecca aus den Büchern wusste, dass dieser Eindruck täuschte.

»Reisende sollen unterwegs sein?«, fragte sie leise. »Von außerhalb der Erde? Wo sind sie? Wann treffen sie ein?«

Als sie keine Antwort erhielt, gab sie die Steine in den Beutel, steckte ihn in die Hosentasche, legte sich hin, schloss die Augen und war kurze Zeit später eingeschlafen.

Drei Probleme

1

Samantha

»Hörst du mich, Samantha?«, fragte jemand. »Eigentlich solltest du mich jetzt hören können.«

Samantha spuckte klebrigen Schleim, der Leben bedeutete. Sie hatte geschlafen, erinnerte sie sich, so tief, dass der Schlaf dem Tode nahekam. Sie war fast tot gewesen, während das Schiff, die Eklipse, durch Raum und Zeit gepflügt war und Lichtjahr um Lichtjahr zurückgelegt hatte.

»Ja, ich höre dich. Kiss, nicht wahr?« Sie spuckte erneut, hustete und versuchte, die Benommenheit von sich abzuschütteln. Ein Bot wusch und reinigte sie.

»Wen hast du erwartet?«, fragte das Kybernetische Interface-Semisubstrat, der allgegenwärtige Intellekt des Schiffes.

»Oh, ich weiß nicht.« Samantha war noch immer nicht ganz wach; ihre Gedanken erreichten die Zunge ohne einen Filter. »Vielleicht … Swift?« Es wäre schön gewesen, von seinen Händen geweckt und gewaschen zu werden, nicht von denen eines diensteifrigen Bots.

»Wir haben ein Problem, Samantha«, sagte Kiss. »Eigentlich sind es sogar drei.«

»Bedeutet das, wir haben unser Ziel noch nicht erreicht? Wir sind noch nicht zurück?« Es war ein schneller Gedanke, unberührt von der Trägheit des Schlafs, und er verwandelte sich in schnelle Worte.

»Nein, Samantha.« Der Intellekt sprach ruhig, wie eine fürsorgliche Mutter, die versuchte, einem Kind etwas begreiflich zu machen. »Wir sind zurück. Wir haben die Erde fast erreicht.«

Fast, dachte Samantha.

Sie hustete erneut und setzte sich in der Hibernationskapsel auf. Warme Luft strömte ihr über die kalte Haut.

»Ich werde allmählich zu alt hierfür«, sagte sie leise.

»Du bist in den besten Jahren, Samantha. Mach dir keine Sorgen.«

»Früher waren das Erwachen und der Transitschleim nicht so unangenehm. Dies ist das … fünfte Mal während dieser Reise, nicht wahr?«

»Das sechste Mal, Samantha. Du kommst das sechste Mal aus Schlaf und Schleim. Wir haben vierhundertneunzehn Lichtjahre zurückgelegt, in vierundzwanzig Jahren. Du hast sechsmal geschlafen.«

Die Benommenheit löste sich jetzt schnell auf, doch die erhoffte Frische in Leib und Seele stellte sich nicht ein. Müde verließ Samantha die Kapsel und blickte dabei auf den Schleim hinab, das transparente Gel, in dem sie während der langen Reise gelegen und das ihre Lunge gefüllt hatte.

»Bist du bereit, Samantha?«, fragte Kiss.

»Ist es sehr dringend? Oder kann es noch einen Moment warten?«

Der Intellekt schwieg.

Auf dem nahen Tisch der Hibernationskabine lag Kleidung bereit. Keine Uniform – nur Swift, Archivar und nominelles Oberhaupt der Mission, hatte jemals eine getragen –, sondern eine weite Hose mit vielen Taschen und ein Hemd, das ebenfalls zu groß erschien. Samantha ließ einige Sekunden verstreichen. Alles wartete: der Bot hinter ihr mit seinen langen Armen und Reinigungsmodulen, der schweigende Intellekt und vielleicht auch sie selbst. Es war ein seltener Moment vollkommener Freiheit, unbelastet von Sorgen, die nie einen Weg zu Worten oder Gesten finden durften, beschwert nur von Müdigkeit.

Schließlich atmete sie tief durch und wurde wieder zur Koordinatorin der Eklipse, zu der Person, die immer, immer und überall, die Ruhe bewahrte, ein Fels in der Brandung, damit sie alle wichtigen Entscheidungen treffen konnte.

»Also gut«, sagte sie und griff nach der Kleidung. »Ich bin ganz Ohr, Kiss.«

»Ich nenne die drei Probleme in der Reihenfolge meiner Bewertung«, sagte der Intellekt. »Das mit der geringsten Bedeutung zuerst, einverstanden?«

»Ja.«

»Nummer eins: Es gibt eine Anomalie in Frachtsektion Neunzehn. Meine dortigen Sensoren sind gestört, aber die Bots melden eine Beeinträchtigung der strukturellen Integrität.«

»Ein Leck?«

»Es kam zu einem Druckabfall. Mehr weiß ich derzeit nicht. Und offenbar wurden einige der Frachtbehälter beschädigt.«

»Das wird Lorenti gar nicht gefallen«, sagte Samantha und strich über die Haftverschlüsse der Hose. »Er mag es überhaupt nicht, wenn etwas seine Ordnung stört.«

»Er kümmert sich bereits darum.«

Samantha hob den Kopf. »Er ist schon wach und im Einsatz?«

»Alle Mitglieder deiner Crew sind wach und im Einsatz: Lorenti, Rufus M, Grayland, der gerade mit mir spricht, und die Innanawitt, die ihr ›Kralle‹ nennt. Bei dir hat das Erwachen länger gedauert als bei den anderen.«

Samantha streifte das Hemd über. Sie war noch immer müde, aber das spielte keine Rolle mehr. Die Crew – die Eklipse – brauchte sie. »Was ist mit den beiden anderen Problemen?«

»Nummer zwei: Swift geht es schlecht. Er liegt schwer verletzt in der Hibernation.«

Samanthas Hände blieben in Bewegung, aber sie fühlte sich von plötzlicher Kälte gestreift. »Was ist passiert?«

»Das ist Teil des Problems, Samantha«, antwortete der Intellekt. »Ich weiß es nicht. Die betreffenden Daten sind aus meinem Gedächtnis verschwunden. Für die Löschung scheint Swift verantwortlich zu sein; zumindest trägt der Vorgang seine Signatur. Ich habe die Medo-Bots angewiesen, eine genaue Untersuchung vorzunehmen, und ihre Diagnose lautet: Außerhalb der Hibernation kann Swift ohne Behandlung höchstens eine Stunde überleben.«

»Was ist mit seinen Aufzeichnungen?«, fragte Samantha, die Koordinatorin. »Haben wir Zugriff?«

»Grayland versucht das gerade herauszufinden«, sagte der Intellekt. »Ich helfe ihm dabei.«

»Swift ist der Archivar. Ein Verlust seiner Daten würde den Erfolg unserer Mission gefährden.« Samantha zögerte kurz. »Wenn das nicht einmal das größte Problem ist … Was ist Nummer drei?«

»Ich habe versucht, mit der Erde Kontakt aufzunehmen, aber sie antwortet nicht.«

2

Sie saßen im Besprechungszimmer neben den Kommandostationen des Nukleus, Herz und Hirn der Eklipse. Über dem Situationstisch zwischen ihnen zeigte der Intellekt eine holografische Darstellung des Sonnensystems: Sol, umgeben von den Planeten, unter ihnen die Erde. Das Schiff näherte sich von oberhalb der Ekliptik, in einem Winkel von etwa dreißig Grad, und die Entfernung betrug noch sieben Lichtstunden. Es war nicht mehr ins Transitfeld gehüllt, aber das Direkt blieb aktiv, denn das Herunterfahren des Antriebs dauerte Tage, das Hochfahren manchmal noch länger, und Kralle hatte angesichts der besonderen Umstände entschieden, alles in Bereitschaft zu lassen.

»Geht es euch gut?«, fragte Samantha ruhig.

Alle nickten, Lorenti mit einem leisen, fast mürrischen Brummen. Der große, dürre Grayland, Intellektor des Schiffes, saß Samantha gegenüber, sein bleiches Gesicht halb hinter dem holografischen Jupiter und seinen Monden verborgen. Neben ihm beugte sich Rufus M über die wissenschaftlichen Kontrollen, die ihm sein Teil des Situationstisches präsentierte, und rief mit langen, dünnen Fingern Daten ab. Die katzenartige Innanawitt, von allen »Kralle« genannt, saß weit rechts, mit möglichst großem Abstand zu Lorenti. In ihren großen Augen spiegelten sich Uranus und Neptun.

»Beginnen wir mit unseren Ressourcen«, sagte Rufus M. »Samantha?«

»Ja, in Ordnung.« Ressourcen, dachte sie. Das sind wir für ihn. Wir und alles andere.

Die Hände des multiplen Wissenschaftlers blieben in Bewegung und strichen über die Kontrollen seines Teils des Tisches. »Ich bestätigte die Diagnose des Intellekts. Swift ist schwer verletzt. Seine Beine sind gebrochen, der linke Fuß ist zerquetscht, es gibt ein ausgeprägtes Thorax- und außerdem ein Schädel-Hirn-Trauma. Es tut mir leid, Samantha.« Er sprach in einem sachlichen, kühlen Ton, auch bei den letzten Worten.

»Wie ist es dazu gekommen?«, fragte Samantha. »Was ist die Ursache?«

»Unbekannt.«

»Wir könnten ihn fragen«, schlug Kralle vor. »Wir könnten ihn wecken und fragen und anschließend wieder in die Hibernation schicken.«

»Das könnten wir«, erwiderte Rufus M. »Aber es würde mit ziemlicher Sicherheit seinen Tod bedeuten. Wir müssten den Schleim aus seiner beschädigten Lunge holen und sie anschließend neu füllen. Das wäre eine erhebliche Belastung. Und angesichts des Schädel-Hirn-Traumas bezweifle ich, dass wir vernünftige Antworten auf unsere Fragen bekämen.«

»Kann man ihm auf der Erde helfen?«, fragte Samantha.

»Ja. Das Institut dürfte dazu imstande sein, und auch nicht assoziierte medizinische Zentren verfügen über die notwendige Technik.« Rufus M, ein Multipler von Urake, dritte der Siebzehn Kolonien, hob den Blick von seinen Kontrollen und Anzeigen. »Aber …«

»Gleich, Rufus«, unterbrach ihn Samantha. »Dazu kommen wir gleich. Was ist mit den Mitgliedern der anderen Crew?«

Außer Swift, dem Oberhaupt der Mission, befanden sich fünf weitere Personen in der Hibernation, mit Emmerson als Koordinator. Während der fünfzig Jahre des Hin- und Rückflugs hatten sie abwechselnd geschlafen und gewacht.

»Bei Emmerson habe ich einige Hautabschürfungen festgestellt, im Gesicht und an den Beinen«, sagte Rufus M. »Die anderen sind intakt.«

Intakt, dachte Samantha.

»Was ist mit Swifts Daten?«, fragte Kralle, wieder mit einem leisen Zischen in der Stimme. »Sind sie ebenfalls intakt? Haben wir Zugriff?«

Samantha blickte durch das Hologramm über dem Tisch. »Grayland?«

»Nein«, sagte der blasse Mann, der seine Zeit am liebsten im Interfacezimmer verbrachte. »Nein, die Daten sind nicht intakt, und nein, wir haben keinen Zugriff.«

»Was genau bedeutet das?«, fragte Samantha.

»Ja, ein paar Details wären hilfreich«, brummte Lorenti.

»Swifts Missionslog ist beschädigt, und sein persönliches Logbuch wurde bis auf einen Eintrag gelöscht. Er lautet: ›Bringt mich zur Erde und hütet euch vor …‹«

Sie warteten.

»Das ist alles«, sagte Grayland. »Die Integrität des Missionslogs lässt sich nicht wiederherstellen, und uns fehlt der Schlüssel für die Decodierung.« Er seufzte und sah Samantha an. »Kann ich gehen? Ich will die Datensondierungen fortsetzen.«

»Du möchtest zurück zu deiner Kiss«, sagte Lorenti.

Samantha warf ihm einen tadelnden Blick zu und wandte sich dann wieder an den Intellektor. »Bleib noch kurz. Ich möchte, dass jeder hier weiß, was Stand der Dinge ist. Für den Fall, dass Entscheidungen getroffen werden müssen.«

»Ja, Sam.« Grayland seufzte erneut.

»Hab ich das richtig verstanden?« Lorenti strich sich über den Bart, der ebenso dunkel war wie sein struppiges Haar und die tief in den Höhlen liegenden Augen. »Swifts Aufzeichnungen sind beschädigt und nicht zugänglich? Was ist, wenn er stirbt, ohne uns den Zugangscode nennen zu können?«

Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Zu hören waren nur das Summen der Bordsysteme, das immer noch aktive Direkt, das sich anhörte wie das Grollen eines fernen Gewitters, und ein leises Knistern, verursacht von Rufus’ Fingern in den virtuellen wissenschaftlichen Kontrollen.

»Ich habe nie verstanden, warum das Institut so etwas zulässt«, brummte Lorenti. »Die persönliche Verschlüsselung des Missionslogs, meine ich. Verrückt! Und wenn der Archivar einem Unfall zum Opfer fällt? Wir alle wissen, wie schnell etwas passieren kann. Wieso den Verlust aller Daten riskieren? Wir haben fünfzig Jahre in diese Mission investiert, und jetzt …«

»Es liegt im Ermessensspielraum des Missionsleiters«, sagte Samantha ruhig. »Er entscheidet, was mit den gesammelten Daten geschieht, bis wir sie zur Erde bringen. Swift hat es offenbar für notwendig gehalten, die Daten zu verschlüsseln.«

»Ja, und jetzt haben wir die Bescherung!«, maulte Lorenti. »Es könnte uns um die Früchte unserer Arbeit bringen …«

»Die Fracht ist intakt.« Samantha benutzte das Wort ebenfalls, wie ihr selbst auffiel. »Abgesehen von der Anomalie in Sektion Neunzehn. Was hat es damit auf sich?«

»Ich habe es mir angesehen«, antwortete Lorenti. »Besser gesagt, ich habe einen flüchtigen Blick darauf geworfen, mehr Zeit hatte ich bisher noch nicht. Ein Behälter ist geplatzt.«

»Eine Explosion?«

»Nein. Er ist nicht explodiert. Etwas hat die Wand des Behälters von innen durchstoßen und anschließend auch den Rumpf von Sektion Neunzehn. Meine Bots sind dabei, die Inventarlisten zu überprüfen und alles aufzuräumen. Die Hüllenintegrität ist bereits wiederhergestellt.«

Samantha glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Etwas hat einen Frachtbehälter aufgebrochen, von innen, und hat dann das Schiff verlassen?«

»Ja«, bestätigte Lorenti. »Wenn wir hier fertig sind, sehe ich mir alles ganz genau an. Ich bin sicher, dass sich der eine oder andere Hinweis finden lässt.«

Samantha betrachtete das Hologramm, den blinkenden blauen Punkt, der die Eklipse über dem Sol-System repräsentierte. Sieben Lichtstunden Entfernung. Es würde noch etwa einen Tag dauern, bis sie die Erde erreichten. »Grayland, ich möchte, dass du die Datenlogs überprüfst. Kiss hat mir gesagt, dass seine Sensoren in Frachtsektion Neunzehn zum Zeitpunkt des Geschehens dort ausgefallen waren, aber vielleicht gibt es andere Aufzeichnungen, die uns Aufschluss darüber geben können, was aus dem Frachtbehälter gekommen ist und dann die Eklipse verlassen hat.«

»Ja, Sam.«

Rufus zog die Hände von den wissenschaftlichen Kontrollen zurück, und das leise Knistern hörte auf. »Du hast eben von einem Unfall gesprochen, Lorenti. Nur um sicherzugehen, dass ihr dies richtig versteht: Was mit Swift geschehen ist, war kein Unfall. Jemand – etwas – hat ihn verletzt. Vermutlich bei einem Kampf.«

»Glaubst du an einen Zusammenhang mit dem, was in Frachtsektion Neunzehn passiert ist?«

»Was ich glaube, spielt keine Rolle, Sam. Wir haben es mit zwei Anomalien an Bord zu tun, zu denen es mehr oder weniger zeitgleich gekommen ist. Der Schluss liegt nahe, dass da eine Verbindung besteht.«

»Es gibt noch eine dritte Anomalie, und der Intellekt hält sie für die größte von allen«, wandte Samantha ein.

»Die Erde«, sagte Rufus.

»Ja. Kiss hat versucht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, aber sie antwortet nicht.«

»Was soll das heißen, sie antwortet nicht?« Lorenti deutete ins Hologramm. »Wir sind aus dem Transit und nur noch sieben Lichtstunden entfernt.«

»Die Erde antwortet nicht«, wiederholte Samantha und sah in die Runde. »Ich habe in der vergangenen Stunde selbst mehrmals versucht, Kontakt herzustellen, unter anderem mit dem ITI-Prioritätscode. Niemand reagiert auf unsere Signale, auch das Institut nicht.«

Ein verhaltenes, unaufdringliches Ping erklang.

»Es gibt Neuigkeiten«, sagte der Intellekt. »Ich habe meine Fernsensoren auf die Erde gerichtet. Sie hat sich verändert.«

Besuch

Claire

3

Das Windrad hinter dem Farmhaus drehte sich immer schneller, mit lautem Surren und Quietschen im stärker werdenden Wind. Es produzierte elektrischen Strom, für die Pumpe des Brunnens und einige alt und schwach gewordene Batterien, die längst hätten ausgetauscht werden müssen, aber nicht ausgetauscht werden konnten, weil es keinen Ersatz für sie gab.

Claire stand am Brunnen und überprüfte die Pumpe, als sie plötzlich noch etwas anderes hörte, nicht nur das Jaulen des Winds und das quietschende Surren des Windrads, sondern ein tiefes, dumpfes Brummen. Sie blickte an der Koppel vorbei nach Westen, ins Ödland, wo der Wind Staub und Sand aufwirbelte. Etwas kam aus den grauen Wolken, ein gepanzerter Wagen, wie ein kleines Ungetüm auf Rädern.

Claire beobachtete ihn einige Sekunden lang, bevor sie zum Haus lief.

Die Tür öffnete sich, als sie die Veranda erreichte, und Kostas trat nach draußen, mit einem Hut auf dem Kopf und dem alten Gewehr seines Vaters in den Armen. Angeblich hatte es früher von allein zielen können, aber die Selbstzielfunktion funktionierte längst nicht mehr, und Claire bezweifelte, dass Kostas ohne sie etwas treffen konnte, das weiter entfernt war als einige wenige Meter.

»Fremde«, brummte er.

»Aus dem Ödland«, fügte Claire hinzu. »Mit einem Wagen.«

»Glaubst du, sie wollen zu uns?«

Eine Antwort erübrigte sich. Claire beobachtete, wie der Wagen den Kurs änderte und auf die kleine Farm zuhielt. Das dumpfe Brummen wurde lauter.

Der gepanzerte Wagen hielt neben der Koppel, und zwei Männer stiegen aus. Einer war klein und gedrungen, ein Muskelpaket mit rundem Kopf auf kurzem Hals und finsterem Blick. Er trug Gurte, die ihm rechts und links über die breiten Schultern reichten, und zwei Waffen in Gürtelhalftern.

Der andere Mann, schlank und schmal, überragte ihn um fast einen halben Meter, Haar und Bart so grau wie der Staubsturm über dem Ödland. Er trug einen fleckigen schwarzen Anzug mit rubinroter Weste, die nach Claires Meinung nicht dazu passte. Er schien jünger zu sein als sie und Kostas; Claire schätzte ihn auf etwa fünfzig. Das markante Gesicht, von großen türkisfarbenen Augen dominiert, wirkte offen und ehrlich. Er lächelte sogar, als er Claire und Kostas ansah.

»Das ist nicht nötig«, sagte er freundlich und deutete auf Kostas’ Gewehr. »Wir kommen in Frieden.«

Die beiden Fremden blieben vor der Terrasse stehen. Der kleinere Mann blickte noch immer recht finster und hielt die Hände nicht weit von den Halftern. Der größere Mann schien unbewaffnet zu sein.

»Wer sind Sie?«, fragte Kostas, ohne das Gewehr sinken zu lassen.

Der große Mann lächelte erneut und deutete auf seinen Begleiter. »Das ist Clemens – oder Clem, wie ihn seine Freunde nennen. Ich bin Konsul Marcus von der Transportgesellschaft. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.«

»Was wollen Sie?«

Marcus breitete die Arme aus. »Was ist mit der Gastfreundschaft, guter Mann? Sollen wir hier draußen stehen, in Staub und Sturm?«

Das Windrad surrte und quietschte im böigen Wind. Staub wirbelte über die leere Koppel; die Pferde befanden sich im Stall.

Claire ging an ihrem Mann vorbei, raunte ihm ein leises »Keine Dummheiten!« ins Ohr und öffnete die Tür. »Kommen Sie herein.«

Der Holzboden knarrte, als sie durch die Diele ins Wohnzimmer gingen und sich dort an den runden Tisch setzten.

»Es ist noch etwas Kaffee von heute Morgen da.« Claire holte Becher und Kanne.

»Haben Sie echten Kaffee?«, fragte Marcus.

»Nein.« Kostas hielt das Gewehr auch im Sitzen an seiner Seite. »Es ist Ersatzkaffee aus der Stadt. War teuer genug.«

Claire schenkte ein. Clemens rührte seinen Becher nicht an und hielt den Blick starr auf Kostas gerichtet. Marcus trank einen Schluck und nickte langsam.

»Nicht schlecht«, sagte er freundlich. »Echter Kaffee ist natürlich viel besser. Haben wir welchen im Wagen, Clem?«

»Nein.«

»Schade. Ich hätte Ihnen ein Päckchen geschenkt.« Marcus sah sich um. »Alles sauber, alles ordentlich. Leben Sie allein hier?«

»Ja.«

»Überhaupt keine Hilfe auf der Farm?«

»Nein«, sagte Kostas.

»All die Arbeit … Bewundernswert, dass Sie ganz allein zurechtkommen.« Marcus trank erneut und setzte den Becher behutsam ab. »Wo ist sie?«

Für einige Sekunden war nur das Ticken der mechanischen Uhr im nahen Flur zu hören.

»Wen meinen Sie?«, fragte Claire.

»Sie wissen genau, wen ich meine.« Marcus lächelte erneut, aber diesmal steckte in seinem Lächeln eine scharfe Klinge. »Das Mädchen. Rebecca. Wo ist sie?«

»Wir haben keine Ahnung, von wem Sie reden«, sagte Kostas langsam, und Claire beobachtete, wie sich seine rechte Hand etwas mehr um das Gewehr schloss.

»Guter Mann …« Marcus schob den Becher beiseite und beugte sich vor. »Ich rate Ihnen dringend, die Wahrheit zu sagen.«

Claire fühlte Panik in sich aufsteigen. »Wir kennen keine Rebecca.«

Marcus sah sie an und seufzte. »Sie lügen. Und ich mag es gar nicht, wenn man mich belügt. Clem?«

Plötzlich hielt der kleine Clemens einen Revolver in der Hand. Und er schoss, bevor Kostas sein Gewehr auch nur zehn Zentimeter weit heben konnte.

Die Kugel durchschlug Kostas’ rechtes Auge, trat am Hinterkopf wieder aus und bohrte sich in einen Balken der Wand. Blut spritzte.

Kostas rutschte vom Stuhl und war bereits tot, noch bevor er auf dem Boden lag.

Claire, das Blut ihres Mannes im Gesicht, starrte auf den Toten.

»Wo ist sie?«, fragte Marcus so ruhig, als wäre überhaupt nichts geschehen. »Wo ist Rebecca?«

»Er ist tot«, brachte Claire hervor.

»Daran besteht kein Zweifel. Leben und Tod, manchmal ist die Grenze schmal, ein falsches Wort genügt. Sehen Sie mich an! Wo ist sie?«

»Ich …«

»Wo?«, fragte Marcus, und der Revolver in Clemens’ rechter Hand richtete sich auf Claire. »Sie war hier, nicht wahr?«

Claire nickte und starrte wieder auf Kostas hinab. Sein Kopf lag in einer Blutlache.

»Wie lange?«

Claire schluckte.

»Wollen Sie ebenfalls sterben?«, fragte Marcus.

Es klickte, als Clemens den Hahn des Revolvers spannte.

»Vier Wochen.«

»Wann hat sie euch verlassen?«

Claire, ihren Blick noch immer auf den Toten gerichtet, dachte an das Mädchen, das so schnell las. War Rebeccas Vorsprung groß genug?

»Vor drei Tagen.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Ich weiß es nicht.« Claire hörte ein Schluchzen in ihrer Stimme und war wütend auf sich selbst. Sie fragte sich, ob ihr Zeit genug blieb, Kostas’ Gewehr zu ergreifen und es auf Clemens zu richten, um erst ihn und dann den Mann im schwarzen Anzug zu erschießen.

Marcus schien ihre Gedanken zu erraten. »Sie wären nicht schnell genug«, sagte er. »Nicht annähernd. Ich frage Sie zum letzten Mal: Wo ist Rebecca jetzt?«

»Ich weiß es wirklich nicht.« Claires Hände zitterten. »Sie hat uns nicht gesagt, wohin sie wollte.«

»In welche Richtung ist sie gegangen?«

Claire hatte ihr lange nachgesehen, bis Rebeccas Gestalt nur noch ein kleiner Punkt vor dem Hintergrund der Berge im Norden gewesen war.

»Nach Süden«, antwortete sie und gönnte sich einen kleinen Triumph. Wenigstens das konnte sie tun: Rebecca etwas mehr Zeit verschaffen.

Marcus wölbte eine Braue so grau wie Bart und Haar. »Sie wollte durch die Wüste?«

Claire zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht.«

»Sie lügen.« Marcus stand auf. »Es wäre sehr dumm von Rebecca, und das ist sie gewiss nicht: dumm. In der Wüste könnte sie sich nicht vor uns verstecken. Wir würden sie schnell finden. Die Berge im Norden sind ein viel wahrscheinlicheres Ziel. Vielleicht gibt es dort irgendwo einen Bogen, verzeichnet nur auf der besonderen Karte in ihrem Kopf. Clemens …«

Der kleine, muskulöse Mann erhob sich ebenfalls. Claire starrte in die Mündung seines Revolvers.

»Bitte …«

»Bitte was?«, sagte Marcus. »Sie sind eine Lügnerin, und Lügner müssen bestraft werden.«

Infektion

Samantha

4

Sie verließen das Besprechungszimmer mit den gläsernen Wänden und saßen wenige Sekunden später im Nukleus an den Konsolen.

Kralle überprüfte die Navigationskontrollen. »Kurs stabil. Verzögerungsparameter stabil. Wir werden langsamer, wie geplant. Das Direkt bleibt in Bereitschaft. Alle Werte normal.«

»Wie lange dauert es, das Direkt auf volle Leistung hochzufahren?«, fragte Samantha, während ihre Hände über die Kontrollen huschten; Hologramme und virtuelle Anzeigen bildeten sich vor und über der Kommandokonsole.

»Nicht länger als drei Stunden«, sagte Kralle. Das Zischen in ihrer Stimme wurde deutlicher, Zeichen von Anspannung. »Wir haben genug Reserveenergie für einen neuen Transit.«

»Wir haben unsere Reise gerade erst beendet«, brummte Lorenti. »Oder zumindest fast. Wir wollen keine neue beginnen.«

»Wenn es sich vermeiden lässt«, sagte Rufus M.

»Abschirmung«, sagte Samantha.

»Navigationsschilde aktiv und stabil«, meldete Kralle. »Sie beanspruchen zwei Prozent unseres gegenwärtigen Direkt-Potenzials. Volle Abschirmung – jetzt. Dreifach gestaffelt. Neun Prozent. Es bleibt genug Energie für einen Nottransit. Soll ich damit beginnen, das Direkt hochzufahren?«

»Warte«, sagte Samantha, die Rufus’ fragenden Blick bemerkt hatte. Vermutlich ging ihnen allen der gleiche Gedanke durch den Kopf. Er lautete: Tahota. »Kiss«, fügte sie hinzu. »Volles visuelles Panorama. Zeig uns die Erde.«

»Ja, Samantha.«

Der Nukleus der Eklipse, ihre Kommandozentrale, schien sich in eine kosmische Beobachtungsstation zu verwandeln, vergleichbar mit dem Observatorium der wissenschaftlichen Sektion. Holografische Projektionen machten die hohen gewölbten Wände zu Fenstern, die Ausblick ins All gewährten, mit integrierten Zoomeffekten, die beliebige Ausschnitte vergrößerten und relevante Daten einblendeten. Hinzu kamen mobile »Fenster« mit separaten Informationspaketen, gesteuert von den einzelnen Konsolen. Die Wand direkt vor Samantha zeigte einen Planeten zum Greifen nahe.

Lorenti beugte sich vor. »Das soll die Erde sein?«, brummte er. »Wo sind die Orbitalstationen? Wo sind die Habitate Helios-9 und H-17? Wo sind die Satellitencluster?«

»Sie existieren nicht«, antwortete der Intellekt. »Die Sensoren registrieren keine Objekte in den Umlaufbahnen.«

»Aber es ist die Erde, Kiss?«, fragte Samantha.

»Das kann ich bestätigen. Der Planet befindet sich an der richtigen Stelle im Sonnensystem, mit einer siderischen Umlaufzeit von dreihundertfünfundsechzig Komma zwei fünf sechs Tagen. Die Masse beträgt fünf Komma neun sieben vier mal zehn hoch vierundzwanzig Kilogramm, die Rotationsachse ist um dreiundzwanzig Komma vier vier Grad geneigt, und die geometrische Albedo beträgt null Komma drei sechs sieben. Es ist die Erde.«

»Aber die Kontinente und Meere …«, begann Samantha.

»… weisen signifikante Veränderungen auf«, vervollständigte Rufus M den Satz. Er blickte in die wissenschaftlichen Datenfelder. »Ein sehr interessantes Phänomen.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür?«, wandte sich Samantha hoffnungsvoll an ihn.

»Nein. Noch nicht. Es sind weitere Untersuchungen erforderlich, aus geringerer Entfernung.«

»Kiss?«

»Ich schließe mich dem an, Samantha«, erwiderte der Intellekt. »Es ist noch zu früh, genaue Aussagen zu treffen.«

Lorenti deutete auf die Darstellung des langsam rotierenden Planeten. »Das ist eine andere Erde als die, die wir kennen, so viel steht fest. Die Kontinente scheinen gewandert zu sein, und so etwas geschieht nicht von heute auf morgen. Plattentektonik braucht viel Zeit. Und warum sind die Umlaufbahnen leer? Was ist hier passiert?«

Kralle zischte leise, ohne ein Wort zu sagen. Alle beobachteten die Erde und suchten nach etwas Vertrautem. Alle bis auf den Multiplen, der wieder in seine aktualisierten Datenfelder blickte.

»Da kommt man nach fünfzig Jahren Plünderfahrt nach Hause, und dann so etwas«, knurrte Lorenti.

Davon sprach er immer wieder gern: dass sie keine Forscher und Entdecker seien, sondern Plünderer. Manchmal nannte er das ITI – das Institut für Technologische Innovation, das die Eklipse und sieben andere Schiffe ausgeschickt hatte – »Plünderungskonsortium«, und normalerweise brachte es ihm von den anderen mehr oder weniger heftigen Widerspruch ein, aber diesmal schwiegen sie, ihre Blicke auf die Erde gerichtet.

Grayland sprach den Gedanken laut aus, der sie alle beschäftigte. »Tahota? Könnten sie hier gewesen sein? Sind sie vielleicht immer noch da?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Rufus M mit kühler Sachlichkeit. »Wir sind immer vorsichtig gewesen und haben unsere Spuren verwischt. Die Tahota wissen nicht, wo sich unsere Kolonien und die Erde befinden.«

»Wenn es sie in diesem Teil der Galaxis überhaupt noch gibt«, sagte Samantha.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, dass Kralle wie erstarrt an ihrer Konsole saß; ihre großen silbernen Augen glänzten, und das dunkelblaue Haarfell hatte sich im Nacken gesträubt. Kralles Heimatwelt Jorpu, mehr als hundert Lichtjahre von den Siebzehn Kolonien entfernt, war den Tahota zum Opfer gefallen beziehungsweise ihren Spikes. Seitdem trug sie ein Feuer des Zorns in sich, und manchmal brannte es so heiß, dass man den Widerschein der Flammen in ihren Augen sah.

Sie hatte sich vom Institut anwerben lassen und war Mitglied der Crew geworden, weil ihr die Eklipse die Möglichkeit gab, den Tahota nachzustellen. Vielleicht erhoffte sie sich irgendwann eine Gelegenheit zu Rache.

»Was meinst du, Kiss?«, fragte Samantha.

»Unbekannt«, antwortete der Intellekt. »Bisher sind wir den Tahota noch nicht begegnet. Wir kennen nur ihre Depots, ihre ›technischen Schatzhöhlen‹, wie Lorenti sie genannt hat.«

»Wir kennen auch ihre Spikes und die von ihnen verursachten Infektionen«, zischte Kralle.

Plötzlich fragte Rufus M: »Was ist mit den Städten von Luna und Mars und den Niederlassungen auf den Monden von Jupiter und Saturn?«

Samantha tadelte sich sofort dafür, nicht selbst daran gedacht zu haben. »Ja. Wir müssten ihren Kommunikationsverkehr empfangen.« Ihre Hände strichen durch die virtuellen Kontrollen. »Aber es ist alles still.«

Ein dumpfes Rauschen zog durch den Nukleus der Eklipse, als Samantha alle Kommunikationskanäle öffnete.

»Nichts«, sagte Lorenti, nachdem sie einige Sekunden lang gelauscht hatten. »Es fehlen selbst die automatischen Statussignale. Das ganze Sonnensystem schweigt.«

Auf einmal schien ein Wind durch den Nukleus zu wehen, kalt und trocken, und die virtuellen Kontrollen vor Samantha flackerten. »Was war das? Kiss?«

»Grayland, ich brauche deine Hilfe«, sagte der Intellekt sanft.

Der dürre, bleiche Grayland stand bereits. »Natürlich. Worum geht es?«

»Ich fürchte, ich habe eine Fehlfunktion, die meine Diagnoseprogramme bisher nicht entdeckt haben. Das ist … höchst ungewöhnlich.«

»Ich bin gleich bei dir.« Grayland verließ den Nukleus.

»Was war das eben, Kiss?«, fragte Samantha.

»Ich bin mir nicht sicher, Sam«, antwortete der Intellekt. »Meine Sensoren haben es erst eins Komma zwei vier Sekunden vor dem Kontakt entdeckt, deshalb konnte ich nicht rechtzeitig darauf hinweisen. Es scheint eine Art Kraftfeld zu sein, aber gewöhnliche Kraftfelder orte ich schon aus großer Entfernung.«

»Irgendwelche Auswirkungen auf unsere Systeme, Kralle? Was ist mit dem Direkt?«

»Noch immer stabil und in Bereitschaft. Normale Parameter bei allen Bordsystemen. Wir sind voll einsatzbereit.«

Was nicht viel bedeutete. Die Eklipse war ein Frachter, ohne Waffen. Und sie brauchte drei Stunden, um ihr Direkt hochzufahren und einen Transit einzuleiten. Drei Stunden ohne Schutz.

Eine Entscheidung musste getroffen werden. Das Gewicht von fünfzig Jahren ruhte auf Samanthas Schultern.

»Was sollen wir tun?« Sie entschied nie allein, wenn es sich vermeiden ließ. »Was meint ihr, Leute?«

»Wir wissen noch nicht genug«, erwiderte Rufus M. »Wir brauchen mehr Daten.«

Kralle zischte etwas, das Samantha nicht verstand.

»Du denkst doch nicht etwa ans Umkehren, oder?«, fragte Lorenti. »Umkehren wohin? Zu den Siebzehn? Dies hier ist unser Ziel, und endlich sind wir da, nach einem halben Leben: die Erde.«

»Also gut«, sagte Samantha. »Rufus, finde mehr heraus. Dir stehen alle Sensoren der Eklipse zur Verfügung. Kralle, überprüf das Direkt. Ich möchte sicher sein, dass uns von dort keine Überraschungen erwarten. Lorenti, nimm dir noch einmal die Fracht vor. Sie hat uns ein ›halbes Leben‹ gekostet, wie du gesagt hast. Kontrollier die Verzeichnisse.«

»Ohne die Inventardaten des Archivars …«

»Kiss wird dir helfen. Stell fest, ob alles an seinem Platz ist. Versuch herauszufinden, was sich in dem aufgebrochenen Behälter befunden hat.«

»Na schön.« Trotz seiner Brummigkeit wirkte Lorenti erleichtert, immerhin setzten sie den Flug zur Erde fort. »Und du? Willst du hier Däumchen drehen?«

Die anderen standen, Kralle in der offenen Tür des Nukleus.

Samantha erhob sich ebenfalls. »Nein, ich sehe mir Swift an. Kiss, halt die Eklipse auf Kurs und gib uns sofort Bescheid, wenn irgendetwas geschieht.«

»Natürlich, Sam.«

5

Blut klebte im Gesicht des Mannes mit dem aschblonden Haar, vom Schleim des Transitschlafs nur halb aufgelöst. Die Kleidung – die Uniform des Archivars und Missionsleiters – war zerrissen und ebenfalls blutverschmiert. Swifts Augen waren geschlossen, aber seltsamerweise glaubte Samantha, seinen Blick zu spüren und ein leises Hilf mir zu hören.

Ihre Fingerkuppen berührten das Sichtfenster der Hibernationskapsel, das ihr den Oberkörper des Schlafenden zeigte. »Was ist mit dir geschehen?«, flüsterte sie. »Wer hat dich so zugerichtet?«

Die Anzeigen der nahen Konsole gaben Auskunft über den kritischen Zustand des Schläfers. Samantha hatte nur einen kurzen Blick darauf geworfen; sie wusste Bescheid.

Sie beugte sich vor, um seine Hände zu sehen, die sie so oft berührt hatten. Schmal und grau ruhten sie im Gel, wie die Hände eines Toten.

»Es tut mir leid, Sam«, sagte der Intellekt sanft. »Wegen Swift. Ihr hattet Pläne, nicht wahr?«

Pläne, dachte Samantha, den Blick auf das blutige Gesicht gerichtet. Ja, die hatten wir. Für die Zeit nach der Mission, die andere Hälfte des Lebens.

»Ist dies eine zu persönliche Angelegenheit, Sam? Möchtest du nicht gestört werden?«

»Ihm bleibt nur noch eine Stunde?«, fragte sie. »Nach dem Erwachen?«

»Ja.«

»Aber auf der Erde könnte man ihm helfen.«

»Noch einmal ja, Sam. Davon gehe ich aus.«

Sie schwieg einige Sekunden, als Erinnerungsbilder in ihr aufstiegen. »Weißt du, wo es mit uns begonnen hat? Ich meine …«

»Ich verstehe, was du meinst, Sam. Und nein, ich weiß es nicht.«

»Im elektrischen Wald von Ryoh. Noch dazu während eines Gewitters. Kann man sich einen seltsameren Ort für so etwas vorstellen?« Samantha lächelte kurz. »Er nannte es einen Kurzschluss.«

»Noch gibt es Hoffnung, Sam.«

»Ja«, sagte sie. »Hoffnung gibt es immer.«

»Ihr habt eine lange Mission zu einem erfolgreichen Ende gebracht, Sam. Die Frachtbehälter sind voll. Das ITI wird euch gut bezahlen. Ihr seid reich.«

Samantha betrachtete den schlafenden Swift, halb mit den Augen der Koordinatorin. »Noch ist die Mission nicht zu Ende. Uns fehlen seine Daten.« Sie dachte an den unvollständigen Logbucheintrag. Wovor sollen wir uns hüten, Swift?

»Swift wird sie entschlüsseln«, sagte der Intellekt. »Nachdem man ihn auf der Erde behandelt hat.«

»Du willst mir Mut machen.«

»Als Koordinatorin brauchst du Hoffnung und Zuversicht.«

»Und Informationen.« Samantha legte die Hand aufs Fenster der Hibernationskapsel, aber es sah zu sehr nach einer Geste des Abschieds aus, deshalb zog sie die Hand schnell zurück.

Eine andere Stimme erklang.

»Samantha?«

»Ich höre dich, Lorenti.«

»Es gibt hier etwas, das du dir ansehen solltest.«

»Ich bin unterwegs.«

6

Kommandonukleus und Habitatbereich der Eklipse bildeten einen nach vorn, in Flugrichtung, offenen Ring, flankiert von den Gravitationsankern und Flanschen der insgesamt dreiunddreißig Frachtsektionen, die dem Schiff eine Länge von mehr als vier Kilometern gaben und aus jeweils fünfzehn Frachtbehältern bestanden. Sie umgaben die sieben Zylinder des Direkts, die sich im Heck zu einem breiten Triebwerkskranz vereinten.

Jeder Behälter konnte individuell konfiguriert werden, und viele von ihnen hatten ihre maximale Größe erreicht, um Artefakte von den Tahota-Welten Inetas, Zheir und Thercer aufzunehmen: Objekte, die wie voluminöse Statuen und Skulpturen wirkten, in ihrem Innern aber »Perlen« aufwiesen, Einschlüsse mit technologischen Kleinodien der Tahota, in Sedimentgestein gefangenen Fossilien gleich.

Kleinere Frachtbehälter, wie eingezwängt zwischen den großen, enthielten Objekte, die weniger Platz beanspruchten und besser gelagert werden konnten: Produkte der Tahota-Technologie, die meisten von ihnen tausend Jahre alt oder älter, aber gut erhalten.

Nur in wenigen Fällen war etwas über den Zweck der Gegenstände bekannt, und die entsprechenden Daten, von Rufus M und den Wissenschaftlern und Xenoarchäologen der Kolonien zusammengetragen, befanden sich zweifellos in Swifts Aufzeichnungen.

Doch das Gros des »Beuteguts«, wie Lorenti es nannte, blieb ebenso geheimnisvoll wie ihre Schöpfer. Die Spezialisten des Instituts würden viele Jahre damit zu tun haben, all die Artefakte, die großen wie die kleinen, zu enträtseln.

Die Eklipse transportierte einen wahren Schatz für das ITI und ebenso für die gesamte Erde, denn auch die Unabhängigen Staaten würden schließlich von den neuen Technologien profitieren. Einen Schatz, für den die beiden Crews auf den Welten der Tahota immer wieder ihr Leben riskiert hatten. Dafür stand ihnen ein Promille des offiziell geschätzten Werts der Fracht zu, plus Gefahrenbonus und Anerkennungsprämie.

Reichtum, ja. Genug Erwerbspunkte, um sich fast jeden Wunsch zu erfüllen. Aber es war ein »halbes Leben« verstrichen, fünfzig Jahre objektiver Zeit, von der die Besatzung der Eklipse den größten Teil des langen Hin- und Rückflugs in Schleim und Schlaf verbracht hatte. Für Samantha und die anderen gab es keine Familien, zu denen sie zurückkehren konnten. Niemand von ihnen hatte Söhne oder Töchter – das war eine der Voraussetzungen dafür gewesen, als Crewkandidat in die engere Auswahl zu kommen –, und Freunde oder Verwandte waren nach mehr als einem halben Jahrhundert uralt oder tot.

Als sie Sektion Neunzehn erreichte, streifte Samantha sicherheitshalber einen Overall über, der sie vor einem plötzlichen Druckabfall schützen sollte. Dann trat sie, agil in der geringeren Schwerkraft, durch die von den Bots geschaffene Sicherheitsmembran.

Lorenti erwartete sie auf der anderen Seite, ebenfalls in einem Overall, dessen Kapuze sich ihm eng um den Kopf gelegt hatte.

Samantha fröstelte. »Es ist kalt hier.«

»Die ambientalen Kontrollen sind beschädigt.« Lorenti deutete auf einen großen Multifunktionsbot, der die Installationsknoten auf der schmalen Kontrollplattform zwischen den Behälterflanschen geöffnet hatte. Weiter hinten wölbte sich die Außenhülle von Sektion Neunzehn, ein dünnes Netz aus Streben und konfigurierbaren Plattensegmenten. Samantha bemerkte, dass eine Stelle nur notdürftig abgedichtet war.

»Dort ist das Etwas nach draußen gelangt?«, fragte sie.

Während