Schlicht, Anett E. Zeit der Eismonde

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© Anett Schlicht 2019
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagabbildung: Guter Punkt, Kim Hoang unter Verwendung von Motiven von Adobestock und Shutterstock

 

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Für meine Großmutter, die Geschichtenerzählerin.
Und meinen Großvater.

 

Die Dunkelheit währt ewig, wie die Schatten, die sie gebiert.
Doch ein einziges Licht durchbricht die Finsternis.
Bis es erlischt.

Altaehdanisches Sprichwort

Prolog

Nordinger Wälder. In der Nähe des Grauen Gebirges

Das Rudel lief schnell. Ihre Körper glitten fast lautlos durch die kalte Morgendämmerung. Der Winterfrost hatte die Nordinger Wälder und die grauen Bergkämme in eisiges Schweigen gehüllt, doch die Wölfe spürten die Kälte nicht und auch keine Müdigkeit. Ihr dichtes Fell schützte sie vor dem Schnee, der wie ein weißes Tuch den Boden und alles Leben bedeckte.

Einen Tag und eine Nacht waren sie gelaufen, ohne zu rasten. Sie wussten, dass sie ihrem Ziel näher kamen. Das Knurren des Leittieres trieb das Rudel zu größerer Schnelligkeit an. Die Spur war noch frisch und sie verfolgten sie unerbittlich.

Der alte Leitwolf lief voran. Sein helles Fell verschmolz mit dem kalten Weiß der im Winter erstarrten Landschaft, die unbeachtet an ihnen vorüberzog. Es war die perfekte Tarnung für einen Jäger, in einer Welt, die viele Monde lang nur aus Eis und Kälte bestand.

Arkans Bewegungen waren geschmeidig und hatten in all den Jahren nichts von ihrer Kraft verloren. Das Rudel würde ihm folgen, selbst wenn es den Tod bedeutete. Doch seine Autorität beruhte nicht nur auf seiner Größe oder seiner Stärke. Er war als Anführer geboren worden.

Als sie sich einer kleinen Lichtung am Rande des Gebirgspasses näherten, wurde Arkan langsamer. Der weiße Wolf blieb zwischen den Bäumen stehen und senkte den Kopf. Die Kälte ließ den Atem aus seinem Maul als grauen Dunst entweichen. Ein warnendes Knurren rollte aus seiner Kehle, als er aus dem Schatten der Bäume auf die Lichtung trat. Der Tag war angebrochen und auf dem Boden der Lichtung zeigte sich eine deutliche Spur.

Kein Geräusch war zu hören, bis auf das leise Knirschen des Schnees, als der Jäger seine Pfoten zwischen die am Boden liegenden, abgebrochenen Äste einer Tanne setzte. Der Sturm, der vor zwei Nächten durch den Norden von Aehdland getobt war, hatte den alten Baum aus dem Boden gerissen. Seine Wurzeln ragten anklagend in den Himmel, wie schwarze, knochige Finger.

Ein paar kahle Zweige streiften den Rücken des Wolfs und zerrten an seinem Fell, als wollten sie ihn hindern, weiterzulaufen, doch Arkans Blick war unbeirrt auf die Lichtung gerichtet. Langsam, ohne Eile, lief er auf seine Beute zu. Seine Gefährten blieben zurück. Er brauchte sie nicht, noch nicht. Als er den Jungen vor sich im Schnee liegen sah, blieb Arkan stehen. Der alte Wolf musterte den Menschen, den sie bis hierher verfolgt hatten. Erde und Schnee bedeckten seine Kleidung, das Gesicht und die blonden Haare waren verdreckt. Ein schlaksiger Knabe, kaum mehr als ein Kind. Auf der Stirn hatte er einige frische Kratzer. Aber das war es nicht, was sie auf seine Spur geführt hatte.

Der Junge wandte den Kopf. »Ich habe auf euch gewartet«, flüsterte er kaum hörbar und sah den weißen Wolf an. Seine Lippen waren von der Kälte bläulich verfärbt.

Der Schattenjäger konnte die Furcht und den Schmerz des Menschen spüren. Es bedeutete ihm nichts. Er fletschte warnend die Zähne.

Der Junge hörte die Antwort des Wolfs deutlich in seinem Kopf. Es war ein klarer Befehl. Lauf!

Er stützte sich auf dem eisigen Boden ab und versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht, das Gleichgewicht lange zu halten. Erschöpft sank er zurück in den Schnee. Der zerrissene Stoff seiner Hose entblößte eine tiefe Wunde. Dünne Streifen aus seinem Leinenhemd waren um den Oberschenkel gewickelt, der Verband hatte jedoch nicht verhindern können, dass die Wunde wieder aufgerissen war. Warmes Blut rann an seinem Bein herab und färbte den Schnee unter seinem Körper.

Arkans Augen glühten in einem dunklen Rot. Er konnte die Unruhe seines Rudels spüren, das am Waldrand zurückgeblieben war. Der Blutgeruch war stark, doch er rührte sich nicht. Er würde den Menschen nicht hier auf der Lichtung töten, sondern zog den Schutz des Waldes vor.

Der Junge biss die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Er ignorierte den Schmerz, der das Taubheitsgefühl der Kälte längst verdrängt hatte und verlagerte sein Gewicht mühsam auf das unverletzte Bein.

Verzweifelt schleppte er sich durch den Schnee und blieb nach ein paar Schritten entkräftet stehen.

Seine Augen wanderten hinauf in den grauen Himmel, zu den Wolken, die keinen einzigen Sonnenstrahl hindurchließen. Doch seine Gedanken waren auf etwas anderes gerichtet. Er sandte eine stumme Botschaft an den Wächter, welcher auf dem Ast einer großen Eiche am Rand der Lichtung saß und sie beobachtete.

Der Leitwolf ließ den Jungen nicht aus den Augen, verfolgte ihn aber nicht. Er hatte keine Eile.

Kein Laut war zu hören, als die dunklen Jäger langsam aus dem Unterholz traten. Das Rudel hatte lange genug gewartet. Es gab kein Entkommen und der Junge wusste es. Die Jagd war zu Ende.

 

Die langen Krallen des Wächters lösten sich von dem Ast, auf dem er gesessen hatte. Der Vogel breitete seine schwarzen, glänzenden Schwingen aus, bei denen die Flügelknochen deutlich hervortraten, und flog mit einem heiseren Schrei davon. Die Schattenwölfe hatten ihre Beute erreicht. Der Wächter würde die Nachricht überbringen, die er erhalten hatte.

Kapitel 1

Siedlung Askaleth. Acht Monate später

Der Wind peitschte die Äste der alten Weide immer wieder wütend gegeneinander. Das Unwetter tobte bereits die ganze Nacht über dem kleinen Tal. Wie riesige Maulwurfshügel ragten die Häuser der Siedlung aus der Dunkelheit und nur das Prasseln des lang anhaltenden Regens, unterbrochen von fernem Donner, durchbrach die Stille.

Niemand war in der Kälte unterwegs. Niemand bis auf Hayden. Die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht, aber sie schützte nicht vor dem Wind, der hart und unnachgiebig durch das Tal jagte. Sein schwerer Mantel roch nach feuchter Erde. Er konnte die eisige Kälte bis unter die Haut spüren, wo sie langsam jedes andere Gefühl seines Körpers betäubte. Hayden war in den vergangenen Wochen oft nachts durch die Wälder gewandert, aber diese Nacht unterschied sich von den anderen. Er konnte es fühlen. Bald würde der erste Schnee fallen und er musste weiterziehen.

Doch seine Aufgabe war noch nicht beendet.

Seine Augen starrten in die Dunkelheit. Der Ory-Gar-Wald am Rand der Siedlung war nur ein düsterer Vorhang am Horizont und auch der Mond hatte sich hinter Wolkenschleiern verborgen. Es brannte kein einziges Licht am Rand der Siedlung. Wahrscheinlich hatte der Henkelmann, wie er den Nachtwächter wegen seines langen Stabs, an dem eine Öllampe befestigt war, nannte, wieder vergessen, die Laterne auf dem Pfad anzuzünden. Der seltsame Alte schlief mit Sicherheit längst, den löchrigen Hut tief in die Stirn gezogen. Es wäre nicht das erste Mal.

Die flackernden, kleinen Lichter in den Fenstern wiesen Hayden den Weg. Er überquerte den großen Platz, auf dem die Menschen begonnen hatten, einen Scheiterhaufen für das Winterfest zu errichten. Das Holz war vom Regen völlig durchnässt. Die Hüter würden ihre Mühe haben, das Feuer zu entzünden, aber die Ältesten kannten die heiligen Worte, um die Flammen zu entfachen. Er schob den Gedanken beiseite. Er war nicht wegen des Festes gekommen.

Es knarrte leise, als ganz in seiner Nähe eine Tür geöffnet wurde. Hayden blieb unter den ausladenden Ästen einer großen Tanne stehen und griff nach dem Beutel, der um seinen Hals hing.

»Halbschatten«, flüsterte er tonlos und verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Der Name, den man ihm vor langer Zeit gegeben hatte, passte zu seinem Talent, mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

Es war nur ein Hund, der in die Kälte entlassen wurde. Das Tier witterte ihn nicht und verschwand hinter dem Haus. Hayden lief weiter. Die Menschen verbrachten diese stürmische Nacht lieber in ihren geschützten Häusern und würden ihn nicht bemerken.

Seine Schritte wurden langsamer, als er das Haus auf dem Hügel erreichte. Nichts hatte sich verändert. Die alte Holztür, von wuchernden Sträuchern eingerahmt, war verschlossen. Er lauschte in die Stille. Kein Geräusch drang aus dem halb eingefallenen Haus, nur das Rauschen des Regens war zu hören. Die schweren Tropfen prasselten auf das schiefe Dach, durchweichten seine Kleidung und verwandelten den Boden unter seinen Füßen in zähen Schlamm. Sein Blick wanderte über den Hügel. Ihm blieb nur wenig Zeit. Schon bald würde die Morgendämmerung anbrechen und die Nachtschwärze ablösen.

Entschlossen wandte er sich der Südseite des Hauses zu. Zwischen fahlem Moos und Stroh fand er an der Wand die Vertiefung, nach der er gesucht hatte. Ein Fremder hätte die kleine Fensterluke vielleicht übersehen, doch Halbschatten hatte schon oft in der Nacht an diesem Platz gestanden, still und schweigend, auf das Ende der Dunkelheit wartend.

Er zog den ledernen Beutel hervor, nahm einen kleinen, nur fingernagelgroßen blauen Sandklumpen heraus und zerrieb ihn zwischen seinen Fingern.

»Avalou-ez!«, flüsterte er. Der Sand trieb davon und wirbelte durch die Ritzen des Fensterladens, an dessen verwitterten Rahmen Gras spross.

Hayden wartete einen Moment, dann wandte er sich ab und verschwand in der Dunkelheit. Lautlos, wie die vielen anderen Schatten, die durch die Nacht streiften.

Die winzigen, leuchtenden Sandkörner tauchten den Raum, der hinter der Mauer lag, in ein bläuliches Licht. Das Zimmer war klein, mit nur wenigen, einfachen Möbelstücken. In eine Nische der Wand war ein schmales Bett eingelassen, auf dem jemand schlief. Ein paar schwarze Haarsträhnen schauten wirr unter der Decke hervor. Langsam, wie durchsichtige Spinnenfäden, die der Wind durch die Lüfte trägt, fiel der blaue Sand auf ein Gesicht, das sich bleich von der strohgefüllten Matratze abhob.

 

Es waren zu viele. Er senkte den Kopf und wich langsam zurück. Der Wolf wusste, dass sein Ziel nah war, aber die Wächter hatten ihm den Weg versperrt. Sie flogen dicht über ihm und schlugen wütend mit ihren schwarzen, kräftigen Flügeln. Ein paar schafften es, sich in sein Fell zu krallen und hackten mit ihren Schnäbeln tief in sein Fleisch. Er fletschte die Zähne und schnappte nach ihnen, doch sie waren zu schnell. Immer wieder schlugen sie ihre scharfen Krallen in seinen Rücken, bis dunkles Blut aus seinem Fell sickerte. Als einer der Vögel versuchte, seine Augen herauszureißen, packte er das Tier an seinem Flügel und zerfleischte es. Der Geruch von frischem Blut vermischte sich mit der Fährte und machte ihn rasend.

Der Wolf lief zum Rand des Felsvorsprungs, dessen schmales Ende steil über den Abgrund ragte. Die Wächter verfolgten ihn nicht. Sie hatten nur beschützt, was im Inneren der Höhle verborgen lag. Vor ihm erstreckte sich das Nordgebirge mit den weitläufigen Wäldern und Bergkämmen. Der Winter hatte den Flusslauf gefrieren lassen, aber die Kälte, die alles Leben mit ihrem eisigen Atem durchdrang, machte dem Jäger nichts aus, genauso wenig wie die schmerzenden Wunden seines Körpers. Er zog die blutigen Lefzen hoch und knurrte leise. Er konnte sie riechen. Sie war hier und doch hatte er versagt.

Er hob den Kopf und heulte seine Wut in die Berge hinaus.

 

Ouwens Herz schlug wild gegen seine Rippen, als er aus dem Schlaf hochschreckte. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Verwirrt strich er sich die zerzausten Haare aus der Stirn. Der Mond schien schwach durch die Ritzen des kleinen Fensterladens und ließ die wenigen Gegenstände, die er besaß, aus den Schatten auftauchen.

Er hatte nur geträumt. Ein weiterer Albtraum.

Die Decke unter seiner Hand kratzte unangenehm, als er sich aufrichtete. Ouwens Blick wanderte zum Fenster, das alte Holz knarrte in seiner Verankerung. Die Erinnerung an den Traum begann bereits zu verblassen, aber er konnte noch immer die seltsamen, roten Augen vor sich sehen … die Augen eines riesigen Wolfs.

Seine Finger fuhren unruhig über die Wolldecke. Es war nur ein Traum. Es bedeutete nichts.

Er sank zurück auf das Bett und schloss die Augen. Doch das ungute Gefühl, das er seit dem Erwachen hatte, ließ ihn nicht los.

Es dauerte lange, bis er wieder einschlief.

Siedlung Askaleth. Am nächsten Morgen

Ouwen hob den Kopf und sah Mattes an, der gewohnt schweigsam sein Frühstück verzehrte.

»Brechen wir nach dem Essen auf?«

»Je eher, desto besser.« Sein Vater griff nach einer weiteren Scheibe Brot. »Das Wetter kann jederzeit umschlagen.«

Ouwen warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne, die noch vor einer Stunde geschienen hatte, war verschwunden. Stattdessen drängten sich schwere, dunkle Wolken am Himmel.

»Dann hole ich wohl besser meine Sachen.« Er wartete die Erwiderung seines Vaters nicht ab und ging in sein Zimmer. Seit dem Hauseinsturz vor fünf Jahren war der Raum etwas schief, da einige der hinteren Balken eingebrochen waren, doch Ouwen störte sich nicht daran.

Seine Hand tastete nach der Tasche, die unter seinem Bett lag. Er zog sie hervor und setzte sich auf die Matratze. Nachdenklich strich er über das fleckige Leder. Vier Monate waren vergangen, seit es begonnen hatte. Anfangs hatte er noch versucht, mit seinem Vater über die seltsamen Träume zu sprechen, doch Mattes hatte ihn nur ernst angeblickt und gesagt, Träume wären nur Trugbilder, bleiche Schatten der Wirklichkeit.

»Sie vernebeln unseren Geist, mein Junge. Man muss aufpassen, dass man am nächsten Morgen nicht vergessen hat, wer man ist. Denk nicht so viel darüber nach, sie werden verschwinden.«

Ouwen hatte genickt und geschwiegen. Er wollte seinem Vater nicht widersprechen und er wollte glauben, dass sie vielleicht verschwanden, so wie Albträume in seiner Kindheit auch nur vage Schatten geblieben waren. Aber er wusste, dass er nicht mehr derselbe Junge war wie im vergangenen Sommer, als er schlafen gehen konnte, ohne sich zu fürchten.

Ouwen stopfte wütend seine Schleuder in die Tasche. Er sah und hörte Dinge, die niemand außer ihm wahrnahm: Stimmen, die in der Nacht wisperten, Geschichten erzählten, die er nicht verstand, Gesichter von fremden Menschen, die plötzlich in seinen Gedanken erschienen. Nein, das waren keine Träume, die nachts als stumme Besucher in die Häuser schlichen. Es war, als wären diese Fantasien – diese Albträume – einfach geblieben, in seinen Gedanken, seinem Geist. Und er war machtlos dagegen.

»Wahrscheinlich werde ich verrückt«, murmelte er. So wie der Junge aus dem Nachbardorf, der im vergangenen Winter verschwunden war. Sein Blick schweifte zur Tür. Wie würde Mattes reagieren, wenn er erfuhr, dass sein Sohn ebenfalls den Verstand verlor? Und wer würde sich um seinen Vater kümmern, wenn er wie der andere Junge einfach … verschwand?

Er nahm seine Tasche und ging zurück in den Wohnraum, wo sein Vater gerade dabei war, das übrig gebliebene Essen in die Vorratskammer zu räumen.

»Warte, ich helfe dir.« Ouwen griff nach dem Krug, der auf dem Tisch stand und stockte, als sein Blick auf einen der Stühle fiel. »Großvaters Armbrust?« Er sah Mattes fragend an. »Willst du später auf die Jagd gehen?«

Sein Vater nahm eigentlich nur sein Jagdmesser mit, wenn sie unterwegs waren, um ihre Fallen zu überprüfen.

Mattes nickte und griff nach der Waffe. »Lass uns gehen«, sagte er knapp und wandte sich zur Tür.

Ouwen stellte grinsend den Krug Wasser zurück und folgte ihm. Er war es gewohnt, dass sein Vater nicht viele Worte verlor. In dieser Hinsicht ähnelte er sehr dem alten ›Rotbart‹. Im Dorf erzählte man sich noch immer Geschichten über ihn. Ouwens Großvater war als junger Mann von einer der Nordinseln gekommen, um in Askaleth Handel zu treiben, hatte eine Frau aus der Siedlung geheiratet und war hier sesshaft geworden.

Sein Grab lag auf dem Hügel hinter ihrem Haus, neben dem seiner Frau und dem Grab von Ouwens Mutter.

Draußen schlug ihnen eisige Kälte entgegen. In den vergangenen Tagen hatte der Wind die letzten Blätter von den Bäumen vertrieben und raschelte nun als Vorbote des Winters durch das welke Laub am Boden.

Ouwen strich sich müde über das Gesicht. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen, doch er verlor darüber kein Wort. Sein Vater mochte es nicht, wenn man jammerte. Sein Blick schweifte über den Hügel. Er war dankbar für diese letzten Tage in Freiheit, bevor der Winter die Menschen in ihre Häuser verbannte. Schon jetzt, wenn er über die kahlen Felder streifte, war ihm, als würde das Leben sich verlangsamen. Die Tage wurden bereits kürzer und mit der Dunkelheit kam auch die schwarze Kälte, wie die Eisnächte in Ouwens Heimat genannt wurden. Und eines Tages würde sie bleiben.

Er zog den Fellumhang enger um seine Schultern. Die Ältesten hatten ihnen einen besonders harten, langen Winter prophezeit. Sein Vater hatte ein halbes Dutzend zusätzliche Schafe gekauft, die während der Eismonde im Stall eines befreundeten Bauern untergebracht waren. Trotzdem würde er mit Mattes weiter auf die Jagd gehen, bis der erste Schnee fiel. Nur wenn ihr Lager gut gefüllt war, hatten sie auch genug Tauschwaren. Die Eismonde brachten nicht nur Schnee und Kälte, sondern dauerten auch oft länger als ein halbes Jahr. Er tastete nach dem neuen Jagdmesser, das an seinem Gürtel hing, den Holzgriff dafür hatte er selbst geschnitzt. Er war nicht so geschickt wie sein Vater mit Holzarbeiten, aber der Griff war solide gearbeitet und lag gut in der Hand.

Ouwen warf einen kurzen Blick zu Mattes, der mit kräftigen, ausholenden Schritten neben ihm lief. Im Dorf behaupteten sie scherzhaft, durch die Adern seines Vaters fließe das Blut von Riesen und dass er allein mit einer Hand einen Ochsen töten könne. Beim Gedanken daran musste er grinsen. Sein Vater konnte weder einen Ochsen mit seinen Händen töten, noch gab es einen Riesen – oder irgendein anderes Fabelwesen – in ihrer Familie. Mattes’ kräftige, breite Schultern zeugten von schwerer, körperlicher Arbeit.

Er war ein geschickter Tischler und Bootsbauer, der weit über ihre Siedlung hinaus einen guten Ruf besaß und das richtige Gespür dafür hatte, das passende Material für seine Auftraggeber zu finden und die einzelnen Teile so zusammenzusetzen, dass sie wie aus einem Guss schienen.

Sie legten den Weg zum Fluss schweigend zurück. Ouwen störte sich nicht daran und genoss den Wind auf seinem Gesicht, der die letzten Erinnerungen an den dunklen Traum aus seinen Gedanken vertrieb. Nachdem sie die Felder hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den Atana. Der Fluss wand sich am Rand des Tals entlang und führte zu einem schmalen Ausläufer, an dessen Ufer der Ory-Gar-Wald begann. Irgendwann, das wusste Ouwen von seinem Vater, erreichte der Fluss auf seinem Weg durch die Täler das Meer. Ein Ozean, so groß und unendlich, dass er es sich kaum vorstellen konnte. Seine grauen Augen verweilten nachdenklich auf dem Wasser. Als kleiner Junge hatte er davon geträumt, auf einem der Handelsschiffe mitzufahren, die während der Sommermonate ihre Siedlung besuchten, und Länder zu entdecken, die jenseits des großen Meeres lagen.

Doch das war vor dem Tod seiner Mutter gewesen.

Ein paar Wildgänse flogen durch die am Himmel vorbeiziehenden Wolken davon. Sie würden während der Eismonde irgendwo im Süden ein neues Zuhause finden. Für einen kurzen Moment wünschte Ouwen sich, er könnte es ihnen gleichtun, aber er konnte seinen Vater nicht verlassen. Mattes hatte niemanden außer ihm.

Er schob mit dem Fuß ein paar kleine Steine beiseite. Sein Blick fiel auf den dunklen Wald, der wenig einladend vor ihnen lag. Die alten, knorrigen Bäume von Ory-Gar schienen eine undurchdringliche Mauer aus kahlen Ästen und Zweigen zu bilden. Als Kind hatte er oft dort gespielt und sich in ausgehöhlten Baumstämmen versteckt, bis seine Eltern es ihm verboten. Seine Mutter hatte ihm Schauergeschichten von gefährlichen Kreaturen erzählt, die durch die Nordinger Wälder streiften und unartige Kinder mitnahmen, doch er war trotzdem oft allein in den Wald gegangen. Er hatte es geliebt, auf die Äste der riesigen Eichen und Tannen zu klettern und sich nie gefürchtet, selbst wenn die Dunkelheit anbrach und die Schatten gierigen Klauen gleich über den moosbedeckten Boden wanderten.

Sie folgten dem Flusslauf und achteten auf frische Tierspuren auf dem laubbedeckten Boden, die einzigen, die sie fanden, waren bereits mehrere Tage alt. Nach einer Weile blieb sein Vater, der ein paar Schritte vor ihm lief, stehen und wandte sich zu ihm um.

»Hier ist die erste Stelle.«

Ouwen sah, wie er sich in das hohe Gras der Uferböschung kniete und ging zum Fluss. Er verspürte Durst und trank einen Schluck des frischen, eiskalten Wassers, noch war der schmale Flusslauf nicht gefroren. In Gedanken versunken wischte er sich über den Mund und wollte aufstehen, doch etwas hielt seinen Blick gefangen. Das Wasser … es veränderte seine Farbe. Er stützte sich Halt suchend am Uferboden ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Die Bilder drangen in seinen Geist wie dunkle Nebelfetzen.

 

Das Blut bahnte sich seinen Weg durch das klare Wasser, grell und unaufhaltsam, wie Krallen, die im Fluss tiefe Wunden schlugen. Er starrte entsetzt auf den Körper eines Mannes, der langsam an ihm vorbeitrieb. Er war enthauptet worden. Es waren mehrere Körper, die durch den Fluss trieben. Die Leiber der Toten waren aufgedunsen, die Strömung musste sie schon eine Weile mitgetragen haben. Zerrissene Kleidung und Zweige bedeckten einen Teil der Leichen, aber er konnte sehen, dass unter ihnen auch ein Kind war. Langes, rotblondes Haar hatte sich um die Zweige eines Strauches gewunden, auf einem der nackten, weißen Beine prangte ein großes Muttermal.

Ouwen wollte den Blick abwenden, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie die Körper langsam den Fluss hinuntertrieben, wie morsches Treibholz. Kleine, schwimmende Inseln aus Ästen, abgestorbener Pflanzen und totem Fleisch.

Der hässliche, schwarze Vogel, der am anderen Flussufer auf einem Felsen saß und ihn anstarrte, krächzte unheilvoll. Ouwen hatte das Gefühl, als könnte das Tier direkt in sein Herz sehen.

 

»Ouwen?« Mattes’ vertraute Stimme löste ihn aus der Starre. Er hob den Blick und sah zu seinem Vater und dann wieder zum Atana, dessen Wasser klar dahinfloss. Erleichtert atmete er aus. Was er gerade gesehen hatte, war nicht real gewesen. Er wusste es, genauso sicher, wie er wusste, dass sein Vater nichts von alldem bemerkt hatte.

Es war nicht das erste Mal.

Mattes hielt ihren leeren Wasserbeutel in der Hand. »Wir sollten ihn lieber jetzt auffüllen, bevor wir weitergehen.«

Ouwen nickte. Seine Hand zitterte, als er den Lederschlauch nahm und in den Fluss tauchte. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Warum sah nur er diese furchtbaren Dinge? Als er mit dem vollen Beutel in der Hand aufstand, hielt ihm sein Vater eine ihrer Schlingenfallen hin.

»Du solltest dir das hier ansehen.«

Ouwen griff nach der Flachsschlaufe. Er war sich sicher, dass es ihre war, denn sie war im oberen Bereich schwarz eingefärbt. Es war ein unverkennbares Zeichen für ihre Fallen, etwas, das andere Dorfbewohner davon abhielt, die ausgelegten Schlingen zu verwechseln und das Wild zu nehmen. Er zog die Stirn in Falten, als er die dunkelroten Flecken auf dem Flachs entdeckte.

»Wilderer?«, fragte er. Für einen Moment sah er wieder das blutige Wasser vor sich.

»Es gibt keine Spuren«, erwiderte sein Vater. Sein Blick wanderte unruhig zum Ory-Gar-Wald.

»Vielleicht wurden sie zerstört.« Ouwen strich sich ein widerspenstiges, dunkles Haar aus dem Gesicht. An dem am Wald gelegenen, schmalen Ausläufer des Flusslaufs liefen oft andere Jäger und Tiere entlang.

»Nein, es gab keine.« Mattes nahm ihm die Flachsschlinge aus der Hand. »Überzeuge dich selbst.« Er wandte sich um und lief zu der Stelle, an der er die leere Falle entdeckt hatte.

Ouwen folgte ihm und musterte das hohe Gras, das bereits braun und buschig zu werden begann. Es war nichts zu erkennen. Nur die zerdrückten Grashalme, die die schweren Stiefel seines Vaters hinterlassen hatten.

Er schüttelte unmerklich den Kopf. Das konnte nicht sein. Es musste Spuren geben. Die Schlingenfallen, die er mit Mattes band, waren einfach gearbeitete, aber tödliche Fallen. Je mehr ein Tier sich zu befreien versuchte, umso enger zog sich die Schnur zu. Sie gewährten den Tieren immer ein schnelles Ende. Aber entkommen konnten sie nicht – nicht ohne Hilfe.

»Als ich vor zwei Tagen am Atana jagen war, habe ich unsere Fallen auf der anderen Flussseite leer vorgefunden. In einigen waren kleinere Tiere gefangen gewesen, man konnte noch ihre Spuren auf der Erde sehen.« Mattes schwieg einen Augenblick, bevor er weitersprach. »Ich habe hier am Fluss und im Wald ein paar neue Schlingen ausgelegt, aber ich glaube nicht, dass wir heute mehr Glück haben werden.« Sichtlich angespannt presste er die Flachsschnur in seiner Faust zusammen. »Wenn es ein Wolf oder Fuchs gewesen ist, hätten wir zumindest ein paar Zeichen finden müssen.«

Er sah Ouwen an. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Wilderer es schafft, keine Spuren zu hinterlassen.« Er schnaubte verächtlich durch die Nase.

Ouwen wusste, dass sein Vater recht hatte. Es war schwer, Spuren so zu verwischen, dass wirklich nichts zurückblieb. Und warum sollte sich ein Wilderer solche Mühe machen? Wegen eines Hasen oder Kaninchens würde ihn niemand verfolgen. War das, was er vorhin am Ufer gesehen hatte, nur ein dunkles Omen für etwas anderes gewesen?

Sein Blick schweifte über den Fluss. Das Wasser des Atana trieb klar mit der Strömung davon und selbst der Wind hatte sich gelegt. Nichts erinnerte mehr an den Tod, den er gesehen hatte.

»Wenn ich etwas als Jäger gelernt habe, dann, dass alles Spuren hinterlässt.« Mattes steckte die Schlinge in seine Tasche und fügte leiser hinzu: »Zumindest alles, was lebt.«

Ouwen wandte überrascht den Kopf. Er wusste, worauf sein Vater anspielte. Aber die alten Überlieferungen waren nichts weiter als Geschichten … Märchen für ungezogene, kleine Kinder, die man das Fürchten lehren wollte.

Er sah zu der Stelle, an der die Schlinge gelegen hatte. Selbst nach all den seltsamen Dingen, die in den vergangenen Monaten geschehen waren, wollte er nicht glauben, dass Mattes recht hatte. Es konnte viele andere Gründe geben, warum sie nichts entdeckt hatten. Vielleicht war es wirklich ein Wilderer gewesen, der seine Spuren gut verwischt hatte?

»Lass uns die nächsten Fallen absuchen, wahrscheinlich sind sie besser gefüllt als diese hier.« Ouwen versuchte, zuversichtlich zu klingen, zweifelte jedoch an seinen eigenen Worten. Sollte er seinem Vater erzählen, was er gerade am Fluss gesehen hatte? Noch während er darüber nachdachte, nahm ihm Mattes die Entscheidung ab.

»Ich möchte, dass du nach Askaleth zurückgehst und dort bleibst. Ich werde die Fallen im Wald allein kontrollieren.«

Ouwen hob den Blick und wollte seinem Vater widersprechen, sagen, dass er längst alt genug war, um ihn zu begleiten, dass er sich weder vor Wilderern noch vor Geschichten fürchtete, aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Mattes hatte sich in ganzer Größe vor ihm aufgebaut – und er duldete keinen Widerspruch.

»Ich bin heute Abend zurück. Verlier keine Zeit, kehre direkt zur Siedlung zurück!«

Ouwen nickte widerstrebend. Sein Vater steckte den vollen Wasserbeutel in die Schlaufe seines Gürtels und lief, ohne weitere Worte zu verlieren, in Richtung des Ory-Gar-Waldes. Ouwen blickte ihm nach, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, dann nahm er seine Tasche vom Boden und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er sah den Vogel nicht, der auf der anderen Flussseite auf einem Ast saß und ihn aus dunklen Augen anstarrte. Das Tier breitete seine kräftigen Schwingen aus und flog lautlos über den Fluss und die Hügel des Tals zur Siedlung. Von Weitem sah er aus wie einer der Raben, die zur Erntezeit oft zu Dutzenden die Felder des Dorfes besuchten, doch der Vogel war wesentlich größer und es gab kein Futter auf den schon lange abgeernteten Äckern. Selbst wenn die Ähren noch auf den Feldern gestanden hätten, wäre es dem Tier egal gewesen. In seinen Fängen hing ein großes, fettes Kaninchen, das kurz zuvor noch in einer von Mattes’ Fallen gezappelt hatte. Hinter einigen Weiden am Rand der Siedlung sank der Vogel langsam tiefer. Sein großer, gebogener Schnabel öffnete sich zu einem heiseren Schrei, als er das Beutetier auf den Boden fallen ließ.

Der junge Mann in dem dunklen Mantel, der an einem der Bäume lehnte, hob den Arm und der Wächter landete.

»Das hast du gut gemacht, mein Freund«, sagte Hayden und strich zufrieden über das schwarze Gefieder.

Kapitel 2

Ebene von Ulien. Am selben Tag

Mattes griff nach seinem Köcher und prüfte zum wiederholten Male die Pfeile. Er war sich sicher, dass sie vollzählig waren, aber es gelang ihm nicht, seine innere Unruhe abzuschütteln, die ihn seit zwei Tagen nicht losließ – seit er die ersten leeren Schlingen am Fluss entdeckt hatte.

Sein Blick wanderte über den Hügel. Vor ihm erstreckte sich die felsige Ebene von Ulien. In der Ferne waren die ersten Häuser der Siedlung zu sehen. Er hatte gehofft, im Wald einen Hinweis zu finden, doch was – oder wer – auch immer die Tiere gestohlen hatte, hatte keine Spuren hinterlassen.

Seine Finger schlossen sich um eine der Pfeilspitzen. Wahrscheinlich wäre es besser, umzukehren. Er würde der alten Seherin einen Besuch abstatten. Vielleicht enthüllten ihre Runen etwas, das ihm verborgen geblieben war.

Mattes schulterte den Köcher und lief den Hügel hinunter. Als er einen der unzähligen Findlinge umrundete, sah er sie. Krähen. Es waren Dutzende, die wie schwarze Rauchschwaden über den Himmel zogen. Das ungute Gefühl in seinem Bauch verstärkte sich. Er lief weiter, bis der stechende Geruch von Verwesung begann, die Luft zu verpesten.

Hinter einem großen Mispelstrauch, der bereits alle Blätter verloren hatte, lag ein totes Tier.

Mattes nahm seine Armbrust von der Schulter und behielt sie in der Hand, während er vorsichtig näher herantrat. Das Schaf war regelrecht zerrissen worden. Die Eingeweide hingen aus dem zerfetzten Bauch und bedeckten den Boden, das weiße Fell war von Blut durchtränkt.

Er hob den Blick. Es war nicht das einzige tote Tier. Der Weidehügel war übersät mit Kadavern. Irgendetwas hatte die ganze Herde getötet. Angespannt presste er die Kiefer zusammen und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Vielleicht war es ein Bär gewesen, doch er bezweifelte es. Bären und auch Wölfe töteten aus Hunger oder um sich zu verteidigen – nicht aus Lust am Töten. Die Kadaver auf dem Hügel zeigten zwar schwere Wunden, aber es sah nicht aus, als hätten Tiere davon gefressen.

Er schaute sich wachsam um, die Armbrust schussbereit in den Händen. Die Siedlung von Ulien lag nur eine halbe Fußstunde entfernt im Tal. Er musste jemanden von dem Fund berichten, danach würde er in Askaleth den Ältestenrat aufsuchen. Sie sollten Fallen aufstellen, falls diese Bestie noch in der Nähe war. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Sorgenfalten. Was für ein Tier tötete eine ganze Herde? Seine Augen blieben an etwas haften, das neben einem der Felsen im Gras lag. Es war kein Tierkadaver.

Der menschliche Körper lag seltsam verdreht auf der Erde. Ein paar Krähen kreisten über dem Toten, zwei der schwarzen Aasfresser hatten sich bereits auf der Leiche niedergelassen. Mattes hob einen Stein vom Boden und warf ihn nach den Vögeln, aber die Krähen flogen nur kurz zur Seite und hackten weiter auf den leblosen Körper ein. Ohne zu zögern, legte er die Armbrust an und schoss. Der Pfeil traf sein Ziel und durchbohrte eines der Tiere, der andere Vogel hatte die Warnung verstanden und flog krächzend davon.

Mattes ging zu dem Toten. Dunkles, getrocknetes Blut durchtränkte die Kleidung des Mannes und die Erde, auf der er lag. Ihm war die Kehle herausgerissen worden. Das Gesicht war nicht mehr als solches zu erkennen, tiefe Bissspuren hatten es unkenntlich gemacht.

Die Pfotenabdrücke, die die Wölfe im feuchten Gras hinterlassen hatten, waren nicht zu übersehen. Mattes starrte auf die Umrisse der riesigen Zehen und Krallen, die sich tief in die Erde gegraben hatten, und schloss seine Hände fester um den Griff der Waffe. Er hatte versucht zu vergessen, was damals geschehen war, aber in seinen Albträumen hatten sie ihn all die Jahre verfolgt.

Sie waren also zurück. Er spannte einen neuen Pfeil in die Armbrust und sah mit düsterem Blick auf das kleine Dorf, das am Fuße der Hügelkette lag.

Es war an der Zeit, jagen zu gehen.

Siedlung Askaleth. Am selben Abend

Ouwen musterte den kleinen Holzgriff, an dem er gerade schnitzte. Nach seiner Rückkehr vom Atana hatte er damit begonnen, das Werkzeug, das über den Sommer viel benutzt worden war, auszubessern. Seine Finger glitten über die Kerben, die seine Klinge auf dem dunklen Holz hinterlassen hatte. Draußen tobte seit Stunden ein ungewöhnlich heftiger Sturm. Die knorrigen Äste des alten Baumes, der vor dem Haus stand, schlugen immer wieder gegen die Holzläden.

Die Kälte kroch durch das alte Gebälk, wie ein hungriges Tier auf der Suche nach Nahrung, doch das Feuer, das in der Herdstelle brannte, wärmte ihn.

Er starrte in die flackernden Flammen. Sein Vater war noch nicht zurückgekehrt. Er machte sich Sorgen um ihn, obwohl es keinen Grund dafür gab. Mattes war ein guter Jäger, er kannte sich in den Wäldern aus. Wahrscheinlich war er durch den Sturm aufgehalten worden. Ouwen senkte den Blick. Er hatte versucht zu vergessen, was am Fluss geschehen war, aber es war ihm nicht gelungen. Gereizt warf er das Messer auf den Tisch und stützte die Arme auf. Er wollte nicht an seine Albträume denken. Träume, in denen er Leichen sah … tote Menschen, die nur in seiner Vorstellung existierten.

Er sah zu den grauen Schatten an der Wand, die das Feuer warf. Sie tanzten über dem Bett seines Vaters, das in der Nähe der Herdstelle stand, und schienen in den schmalen Ritzen der Holzwände zu verschwinden.

Nachdenklich lauschte er dem Geräusch des Regens, der unaufhörlich auf das Dach trommelte. Tock, tock, tocktocktock – wie Tausende Fingerspitzen, die ungeduldig an das Haus klopften und Einlass begehrten.

Zumindest alles, was lebt.

Die Worte seines Vaters ließen ihn nicht los. Ouwen runzelte die Stirn. Wieso hatte sein Vater das gesagt? Er hatte nie an die alten Überlieferungen geglaubt. Geschichten, in denen Magie eine Rolle spielte … und er hielt genauso wenig von Ouwens Albträumen, die für ihn nichts weiter als Nachtgespinste waren.

Das Poltern eines Astes, der gegen den Fensterladen schlug, riss ihn aus seinen Grübeleien. Ouwen fuhr sich über die Augen und stand auf. Es war ein langer Tag gewesen. Er würde nicht auf seinen Vater warten, sondern versuchen zu schlafen. Er griff nach der Kerze, die auf dem Tisch stand und ging in sein Zimmer. Doch anstatt direkt in sein Bett in der Wandnische zu kriechen, lief er zu dem kleinen Fenster, dessen halbrunde Klappe einen Spalt offen stand.

Als Ouwen sie aufzog und hinaussah, schlug ihm eisiger Wind ins Gesicht. Die Kronen der Bäume schwankten im Sturm, der die Wolken in dunklen Schwaden über den Nachthimmel trieb.

»Die Nacht zeichnet ihr eigenes Gesicht«, murmelte er. Seine Mutter hatte das einst zu ihm gesagt, doch die Erinnerung an sie verschwamm wie ein unscharfes Spiegelbild im Wasser des Atana. Wie gern hätte er jetzt mit ihr gesprochen und ihr erzählt, was ihn bedrückte.

Er strich sich durch die Haare. Isira hatte oft mit ihm vor dem Haus im Gras gesessen und Geschichten erzählt, Märchen von dem alten Ory-Gar-Wald und andere Sagen voll düsterer Magie. Er hatte besonders die Geschichten von den dreizehn Göttern geliebt, von Atorh, dem Einäugigen und seinem Bruder Mirhog, dem Herren des Windes, und ihren Reisen in die Menschenwelt. Doch Isira war fort. Ihm blieben nur Erinnerungen und die Narben an seiner Schulter, die sich an jenem Tag, an dem ihm seine Mutter genommen wurde, in sein Fleisch gebrannt hatten.

Sie werden kommen.

Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Ouwen erstarrte. Wer hatte das gesagt? Er versuchte, etwas in der Dunkelheit auszumachen, konnte jedoch nichts erkennen. Spielte ihm seine Müdigkeit einen Streich?

»Wer ist da?«, fragte er, aber er bekam keine Antwort. Nur der Wind heulte klagend durch die Nacht.

Gib acht! Sie … kommen …

Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Woher kam diese Stimme? Ouwen griff nach der Kerze, die er neben das Bett gestellt hatte und leuchtete in den Raum. Außer ihm war niemand im Zimmer. Die Flamme erlosch im Wind, als er sie an das Fenster hielt. Alles, was er hören konnte, war das Rauschen der Blätter und der Regen, der unablässig aus dem pechschwarzen Himmel strömte. Doch jemand musste hier sein, er hatte die Stimme deutlich gehört. Oder … vielleicht wurde er wirklich verrückt. Zu dem Geräusch der Tropfen, die hart auf das Blätterdach und die Äste der Bäume prasselten, mischte sich ein leises Flüstern, ein Wispern von fremden Stimmen in seinem Kopf, das nichts mit dem Sturm zu tun hatte.

Ouwen ließ die Kerze fallen und presste die Hände auf seine Ohren. Er dachte an die Worte seines Vaters: Das war nicht real. Nur wirre Halbträume, die zeigten, dass er längst schlafen sollte. Er lehnte seine Stirn an die kühle Wand und schloss die Augen. Wieso konnte es nicht mehr so sein wie vor dem Sommer, als er noch keine Albträume hatte und keine seltsamen Dinge um ihn herum geschahen?

Das Flüstern verschwand genauso plötzlich, wie es gekommen war. Ouwen hob den Blick und starrte aus dem kleinen Fenster. Außer dem Sturm, der die Äste der alten Eiche vor dem Haus zum Ächzen brachte, war nichts mehr zu hören.

Er schloss den Fensterladen und legte sich erschöpft auf das Bett. Müdigkeit kroch betäubend durch seine Glieder, doch die Eiswinde, die an dem alten Haus zerrten und wispernd durch das strohgedeckte Dach und das darunterliegende Gebälk strichen, ließen ihn auf seiner Schlafstatt nicht zur Ruhe kommen. Er lag die halbe Nacht wach, bevor er endlich einschlief.

Der Wächter, der auf einem Ast der Eiche saß und ihn den Tag über beobachtet hatte, krächzte leise.

Kapitel 3

»Für den Winter, den Tod und für den Anfang.« Die Stimme der alten Frau drang durch die Stille. Dunkle Schatten wanderten über ihr Gesicht, als sie sich mit einer Fackel in der Hand ihren Weg durch die Menge bahnte. Die Menschen auf dem Platz traten schweigend beiseite, um sie vorbeizulassen.

Die Seherin blieb vor dem Scheiterhaufen stehen und entzündete das mit Pech getränkte Reisig, bis rotgoldene Flammen zwischen den Scheiten emporzüngelten.

Das Feuer wuchs schnell und zehrte, vom Wind angefacht, an den Ästen und Holzstämmen, bis die ersten, großen Scheite krachend zusammenfielen. Leuchtende Funken stoben hervor und verglühten in der sternenklaren, kalten Nacht.

Ouwen konnte die Anspannung spüren, die in der Luft lag. Alle Herdfeuer der Siedlung waren vor der Zeremonie gelöscht worden. Kein einziges Licht brannte in Askaleth, außer dem des großen Feuers. Jemand spielte leise auf einer Beinflöte, begleitet vom Rhythmus einer Trommel. Der dumpfe Klang der Schläge schien den Rauch des Feuers in den Himmel zu treiben, wo er langsam die Sterne über ihnen verdunkelte. Trotz der hell lodernden Flammen fühlte er die Nachtkälte tief in seinen Knochen. Der letzte Winter hatte fast sieben Mondzyklen gedauert. Sie konnten nur hoffen und zu den Göttern beten, dass die Eismonde wieder vergehen und auf den Winter ein Neubeginn der Jahreszeiten folgen würde, ein ewiger, heiliger Zyklus der Natur.

Er warf einen Blick zu Mattes, der neben ihm stand. Sein Vater war erst am Morgen zurückgekehrt. Er hatte Ouwen nicht viel erzählt, nur dass die Fallen im Wald leer gewesen waren und dass es keine Spuren gegeben hatte. Nach dem Frühstück war er sofort wieder aufgebrochen, um im Dorf bei Reparaturen an einigen Hütten zu helfen und den ganzen Tag fortgeblieben.

Ouwen vergrub seine Hände in den Manteltaschen. Dass sein Vater keine Hinweise gefunden hatte, war seltsam und beunruhigend. Mattes war ein guter Fährtenleser, wenn jemand Spuren finden konnte, dann er.

Gib acht, sie kommen … Die Worte hallten noch immer in seinem Kopf. Er hatte seinem Vater nichts von der seltsamen Stimme erzählt, doch wahrscheinlich war es sowieso nur Einbildung gewesen. Genau wie die Toten am Fluss.

Ouwen wandte den Kopf und sah, wie Alba einige getrocknete Kräuter in das Feuer warf. Er verstand die leisen Worte zwar nicht, die sie sprach, aber er wusste, dass sie das Feuer segnete. Es war die erste Nacht des Winters und sie ehrten den Beginn der neuen Jahreszeit mit Opfergaben. Das Winterfest dauerte drei Tage, aber diese Nacht war die heiligste. Sie gehörte den Göttern und den Geistern der Ahnen. Er schob seine Kapuze in den Nacken und schaute mit Mattes schweigend zu, wie die Menschen von Askaleth nacheinander vortraten und ihre Fackeln entfachten. Nach der Zeremonie würden die Familien nach Hause zurückkehren und ihre Herdfeuer entzünden. Ein symbolischer Neuanfang.

Schließlich war auch Mattes an der Reihe und hielt seine Fackel in das lodernde Feuer. Der in Pech getränkte Stoff, mit dem die Spitze des Stocks umwickelt war, flammte schnell auf und Ouwen nickte ihm lächelnd zu, doch sein Vater schien tief in Gedanken versunken, als er zu ihm zurückkehrte.

Ouwen blickte in die Flammen. Fünf Winter waren seit jenem Tag vergangen, der nicht nur seiner Mutter das Leben gekostet hatte. Das Feuer, das die Krieger beim Überfall auf ihre Siedlung legten, zerstörte fast das halbe Dorf. Er schlief danach oft auf dem Hügel unter freiem Himmel, solange es noch warm war. Es war besser, als die Stille zu ertragen, die in ihrem halb eingefallenen Haus eingekehrt war.

Ouwen senkte den Kopf. Seine Mutter war eine kluge Frau, eine Heilkundige, die sich mit den Kräften der Natur auskannte, schön und willensstark, mit rabenschwarzem Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel. Er hatte viel von ihr gelernt, auch, dass ein Lächeln manchmal mehr wert war, als tausend Worte.

Das Gefühl der Schuld bohrte sich wie ein scharfer Dorn unter seine Haut. Wären Mattes und er damals nicht auf der Jagd gewesen, hätten sie vielleicht verhindern können, was geschehen war. Und Isira würde noch leben.

Askaleth war in den vergangenen Jahren zu einem bekannten Umschlagplatz von Handelsgütern geworden und stand unter dem Schutz des Königs. Es hatte keine Überfälle mehr gegeben, doch die Ältesten bestanden auf den Bau eines Schutzwalls. Der direkt am Fluss liegende Ort war zu einfach angreifbar gewesen. Zusätzlich wurden in der Flussenge vor der Siedlung Stämme versenkt und die Zufahrt zum Hafen somit begrenzt.

Er schob die Erinnerungen beiseite. Sein Blick schweifte über die Menge. Fast alle Familien hatten ihre Fackeln mittlerweile entzündet. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie nach Hause gehen konnten. Vielleicht sollte er noch ein wenig bleiben und mit seinen Freunden von dem heißen Met kosten, der nach der Zeremonie ausgeschenkt wurde. In den vergangenen Wochen hatte er sie nur selten gesehen und die fehlende Zeit auf die Ausbildung bei seinem Vater geschoben. Die Wahrheit war jedoch, dass er nicht darüber reden konnte, was mit ihm geschah.

Er betrachtete seine schwieligen Hände. Sein Vater war ein guter Lehrmeister, wenn auch kein besonders geduldiger. Die Arbeit mit ihm, vor allem der Bau der neuen Boote, bereitete Ouwen Freude und er hatte weniger Zeit, in trübe Gedanken zu verfallen. Oder sich vor den Nächten zu fürchten.

Beißender Rauch wehte in seine Augen und für einen Moment wirkte alles seltsam unwirklich. Das große Feuer warf Furcht einflößende, tanzende Schatten, die aus den rotgelben Flammen emporzusteigen schienen. Die Menschen waren nichts mehr als dunkle Silhouetten, deren unscharfe Umrisse langsam verschwammen.

Der Blick aus den dunkelgrauen Augen traf ihn völlig unvorbereitet. Ouwen starrte zu der Frau, die auf der anderen Seite des Scheiterhaufens stand und zu ihm hinüberblickte. Er erkannte sie sofort.

Die Hitze der Flammen brannte sich in sein Gesicht.

Mutter. Ouwen wusste nicht, ob er laut gesprochen hatte, oder ob es nur ein Gedanke gewesen war. Es spielte keine Rolle, das musste ein Traum sein.

Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen.

Isiras Haut war bleich, genau wie ihre Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen. Ihr Mund formte lautlos Worte, die er nicht verstand, dann wandte sie sich plötzlich um und war in der Menge verschwunden.

Panik erfasste ihn. Ein Teil von ihm wollte sofort loslaufen, um sie zu suchen, doch er zögerte. Vielleicht war es nur eine Illusion, ein Tagtraum. Eine leise Stimme in seinem Kopf warnte ihn, seine Entdeckung besser für sich zu behalten. Wer auch immer es gewesen war, den er gesehen hatte – es konnte unmöglich seine Mutter sein.

Isira war tot! Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Die Worte eines der Ältesten kamen ihm in den Sinn.

In dieser heiligen Nacht verschwimmen die Grenzen zwischen den Welten. Konnte das wahr sein? War es Isiras Geist, der aus der Anderen Welt erschienen war?

Ohne länger zu zögern, lief er in die Richtung, in der die Frau verschwunden war und bahnte sich einen Weg durch die Menschen, vorbei an Nachbarn, die er kannte, seit er ein kleiner Junge war. Sein Blick wanderte suchend über die Menge. Schließlich sah er sie. Ihr helles Gewand war ein sanfter Lichtschimmer in der Dunkelheit, der einzige außerhalb der Versammlung.

Ouwen hastete ihr nach und versuchte, den leuchtenden Punkt nicht aus den Augen zu verlieren. Für einen Moment, der ihm ewig vorkam, war sie aus seinem Blickfeld verschwunden, dann tauchte sie hinter dem Versammlungshaus wieder auf und lief in Richtung der Anhöhe weiter. Plötzlich wusste er, wohin sie wollte. Das war der Weg zu ihrem Haus.

Sein Vater hatte es lange vor der Geburt seines Sohnes abseits des Dorfes errichtet, auf einem mit Riedgras und Sträuchern bewachsenen Hügel, von dem man einen guten Blick auf die Biegung des Flusses und den Wald auf der anderen Seite des Tales hatte. Er lief weiter und blieb am Fuße des Hügels zögernd stehen. Die Frau war verschwunden.

Ouwen warf einen Blick über seine Schulter. Der Rauch des großen Feuers stieg wie dichter Nebel in den Himmel auf. Was tat er hier eigentlich? Wieso folgte er diesem Trugbild? Heute war die Erste Nacht, Familien blieben an diesen Tagen zusammen. Und sein Vater war alles, was ihm an Familie geblieben war.

Er wollte gerade umkehren, als ein kleines, flackerndes Licht auf dem Hügel seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ouwen kniff die Augen zusammen. Er war sich sicher, dass sie das Herdfeuer und die Kerze in der Windlaterne vor dem Haus gelöscht hatten, bevor sie zum Fest gegangen waren. Was also war es? Das seltsame, blaue Licht bildete er sich mit Sicherheit nicht ein.

Ouwens Beine bewegten sich wie von selbst den Hügel hinauf. Als das Licht erlosch, beschleunigte er seine Schritte. Er würde nicht zu seinem Vater zurückkehren, ohne die Antwort auf dieses Rätsel gefunden zu haben.

Ihr ›halbes‹ Haus sah in der Dunkelheit eher wie der Eingang zur Unterwelt als eine menschliche Behausung aus. Jeder im Dorf hatte seinem Vater nach dem Einsturz Hilfe angeboten, doch er hatte sie nicht angenommen. Stur, wie Mattes nun einmal war, ließ er sich auch nicht von seinem Sohn umstimmen.

»Wenn das Haus zur Hälfte stehen bleiben will, hat es wohl seinen Grund. Wer bin ich, das infrage zu stellen?« Ouwen wusste, dass sein Vater seine Meinung nicht ändern würde. Er war genauso störrisch wie der alte Esel von Eldor Rath. Die Geschichte des dickköpfigen Maultieres hatte ihn als Kind oft zum Lachen gebracht. Seine Mutter hatte sie ihm erzählt.

Seine Augen blieben an den dunklen Umrissen der Gräber hängen, die unweit ihres Hauses lagen. Er war oft dort. Zwischen den alten Weiden und dem wilden Wein, der sich um die verwitterten Grabsteine rankte, fühlte er sich sicher. Dorthin verfolgten ihn keine Schatten und auch keine dunklen Träume.

Als er zu ihrem Haus hinübersah, tauchte das blaue Licht plötzlich wieder auf. Er konnte deutlich das Flackern einer kleinen Flamme am hinteren, eingestürzten Teil des Langhauses erkennen. Es schien fast, als würde es in der Luft schweben.