Unnur Jökulsdóttir

Vom Flügelschlagdes Sterntauchersimg_17806_01_034_Joekulsdottir_vt_u1e36

Das verborgene Lebenam See Mývatn

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Mit vielen Abbildungen

Insel Verlag

Inhalt

Vorwort

Die Bergkette

Der alte Mývatn

Die Eruption, die den neuen Mývatn erschuf

Pseudokrater

Die Berge rund um den See

Vulkanausbrüche in historischer Zeit

Vogelzählung

Vögel zählen

Das Hundert-Jahre-Ziel

Gebiete und Vergleichsgebiete

Was man braucht

Die Zählung

Auf dem Hügel Nónhóll

Die Insel Geldingaey

Südliche Brise, keineswegs sanft

Endlich kommt der Sommer

Die Insel Mikley

Auf der Insel Sviðinsey

Wenn die Vögel sterben

Der Lebenslauf der Spatelente

Liebesleben

Vorsorge und Wohnungssuche

Ökonomie und Risikomanagement

Die Brut

Die Aufzucht der Jungen

Horrorgeschichte aus Entenhausen

Das Brutgebiet

Alte Traditionen

Eiersammeln mit Hjördís

Mücken

Zuckmücken und Kriebelmücken

Als eine kleine Mücke beinahe einen Pfarrer tötete

Eine Mücke unter dem Mikroskop

Die Zuckmücke

Die Abschreckungskraft der Mücken

Eine Saga aus grauer Vorzeit

Die Kriebelmücke

Der Lebenslauf der Kriebelmücke

Höhlenbewohner

Wie kam der Saibling in die Höhle?

Was ist ein Höhlensaibling?

Die Ökologie ist die Bühne

Die Evolution ist die Handlung

Die Lebewesen sind die Schauspieler

Überlegungen zu Saiblingen und eiszeitlichen Flohkrebsen

Kleinstlebewesen

Die Welt im Wassertropfen – nach Größe sortiert

Was man in einem einzigen Wassertropfen sieht

Abwehrausrüstung

Fortpflanzungsmethoden

Kugeldreck – zum Gedenken

Die Biologie des Kugeldrecks

Bälleparadies der Natur

Der große Vetter in Japan

Lonesome George

Der Angelsee

Lachsforelle und Saibling – Biologie der Forelle

Forelle oder Fisch?

Die Schwankungen

Leben vom Fischfang

Die Räucherhütte

Lebensgrundlage im Winter

Eisangel und Made

Das Forellenparadies

Nachwort

Quellennachweis

Bildnachweis

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In den Strahlen der Mitternachtssonne, die im Nordwesten tief am Himmel steht, glüht der See wie geschmolzenes Gold. Der Reisende, der zum ersten Mal zum Mývatn, dem Mückensee, kommt, spaziert hinauf zu den Pseudokratern von Skútustaðir und genießt die spektakuläre Aussicht. Sieht die Sonne ihre Farbe verändern, von Gelb zu Rot, von Rot zu Violett und schließlich zu flammendem Gold, während sie langsam hinter dem pyramidenförmigen Berg Vindbelgur hinabsinkt. Dem Reisenden zeigt sich eine Landschaft, die mit nichts anderem zu vergleichen ist, was er auf seiner Reise durchs Land bislang gesehen hat: Der Mývatn mit seinen Inseln, Landzungen, Kratern, Lavaformationen und Bergen ringsum. Im selben Moment, als die Sonne hinter dem Berg verschwindet, fällt ein magisches Licht auf den See und die Inseln und das angrenzende Land. Tiefe Stille liegt über allem, allenfalls durchbrochen vom Flügelschlag eines Sterntauchers auf dem Weg zu seinem Nachtlager im Norden oder vom Geplapper einiger Odinshühnchen an der Uferlinie. Der rotglühende See und die umliegende Natur offenbaren einen Zauber und eine Mystik, die dem Reisenden unmittelbar bewusst machen, dass es hier eine Fülle von Naturwundern gibt – sichtbare und unsichtbare, begreifliche und unbegreifliche, offenkundige und verborgene.

So erschien mir der Mývatn bei meinem ersten Besuch. Ich fand eine Unterkunft am See, hingerissen von der Schönheit, musste jedoch am nächsten Tag weiterreisen, so wie die allermeisten Touristen, die es dorthin verschlägt. Doch der See und die Bergkette gruben sich in mein Gedächtnis wie eine Traumvision, die sich mir in dieser zauberhaften Mitternacht offenbart hatte. Wen wundert es da, dass es mir wie eine glückliche Fügung des Schicksals vorkam, als ich lange Zeit später zurückkehrte, um in der kleinen Naturforschungsstation am Seeufer zu wohnen und zu arbeiten?

Die Naturforschungsstation am Mývatn befindet sich in Skútustaðir, einer kleinen Ansiedlung an der Südseite des Sees, genauer gesagt im »alten Pfarrhaus«, wie es von den Anwohnern liebevoll genannt wird, auch wenn seit Jahren kein Pfarrer mehr darin gewohnt hat. Die Wissenschaftler, die sich dort aufhalten, nennen die Forschungsstation meistens Ramý, eine Abkürzung für Náttúrurannsóknastöðin við Mývatn, oder einfach die Station. Schon das Haus ist faszinierend, mit seinem großen und ungewöhnlichen blauen Dach, dicken Wänden und Sprossenfenstern. Es steht auf einer platten Wiese, die Berge Bjáfjall und Sellandafjall im Hintergrund. Wenn es von der Abendsonne oder von Vollmond und Sternen beschienen wird, wirkt es märchenhaft, fast wie ein Gemälde von Chagall, als könnte jeden Moment ein Geiger quer über den Himmel schweben. Doch hier dreht sich alles um den See und das, was darin lebt.

Vatn. Ist es nicht bemerkenswert, dass es im Isländischen nur ein Wort für höchst unterschiedliche Phänomene gibt? Vatn bezeichnet die Materie selbst, Wasser, kann aber auch fließendes Gewässer oder Binnengewässer bedeuten. In Island gibt es Wasser im Überfluss, in den unterschiedlichsten Formen und Zusammenhängen. Die Insel liegt auf der Durchgangsroute der nordatlantischen Tiefdruckgebiete, nahe am Polarkreis. Hier findet man klares Quellwasser, Regenwasser, Gletscherwasser, Schnee, Eis, Gletscher, kochend heiße Quellen und, nicht zu vergessen, das salzige Meerwasser, den großen Ozean, der Island umgibt. Die Kraft des Wassers hatte den größten Anteil an der Formung der Landschaft und des Erscheinungsbilds dieser Insel. Da es sich bei Island um ein vulkanisches und nach erdgeschichtlichen Maßstäben junges Land handelt, ist es vielerorts von Lavafeldern bedeckt, auf denen das gesamte Regenwasser in die Erdschichten sickert und zu Grundwasser wird. In diesen Gegenden gibt es kaum Oberflächenwasser, nur dort, wo es als Quelle unter der Lava entspringt. An anderen Orten, an denen das Gestein älter und fester ist, gibt es mehr Oberflächenwasser. Dort findet man Grundwasser am ehesten in tektonischen Verwerfungen oder Bergstürzen, Geröllhalden oder Flussablagerungen. Das meiste Wasser fließt in Flüssen oder mit der Grundwasserströmung ins Meer, da die Verdunstung an Land relativ gering ist. Manchmal sammelt sich Wasser in Lavasenken oder Mulden, und es entsteht ein Teich oder See. Binnengewässer sind ein eindrucksvolles Phänomen. Sie können wie Edelsteine anmuten oder wie das Auge der Schöpfung, wenn sie leuchten und funkeln, ihre Umgebung oder den Himmel spiegeln. Seen haben eine immense Anziehungskraft, weil sie für Lebewesen notwendig sind – alle brauchen Wasser, Wasser ist die Grundlage des Lebens. Wir bestehen aus Wasser, und wir brauchen Wasser, um zu leben.

Jedes Binnengewässer besitzt ein einzigartiges Ökosystem. Woher kommt das Wasser, das den See füllt, wie fließt es wieder heraus, wohin geht es? Welche Lebewesen existieren in dem See oder an seinem Ufer? Und wie anfällig ist er für Umweltverschmutzung und äußerliche Einflüsse? Wie wird er klarkommen mit der großen Bedrohung der Erde, der globalen Erwärmung?

Wir wissen zwar viel über den Mývatn, aber immer noch nicht genug. Dasselbe gilt für zahlreiche andere Naturschätze auf der ganzen Welt. Deshalb steht in den Leitlinien der Vereinten Nationen: Im Zweifel für die Natur.

Die Naturforschungsstation am Mývatn besteht seit 1974 und verfolgt das ambitionierte Ziel, über einen Zeitraum von hundert Jahren Daten zur Vogel- und Fischpopulation des Sees zu erheben. Hundert Jahre, ein ganzes Jahrhundert! Zu diesem Zweck führen die Mitarbeiter von Ramý regelmäßig Vogelzählungen und Stichproben durch. Die Datensammlung der Forschungsstation geht zurück bis ins Jahr 1975 und gehört zu den weltweit längsten lückenlosen Messungen über den Zustand der Biosphäre in einem Binnensee. Ramý bemüht sich, alle isländischen und ausländischen Wissenschaftler, die diesen Lebensraum erforschen möchten, zu beherbergen, ihnen Zugang zu ihrer Datenbank zu gewähren und sie auf vielfältige Weise zu unterstützen.

Es ist ein Privileg, die Naturforscher bei ihrer Arbeit in dieser wunderschönen Landschaft begleiten zu dürfen, Vögel zu beobachten und ihr Verhalten zu ergründen, zu erfahren, welche Lebewesen sich im Wasser tummeln, mehr über den Zusammenhang der Dinge, über Ursachen und Folgen zu lernen. Und die Evolutionstheorie, ist die hier nicht geradezu greifbar? Wenn Menschen verschiedener Fachrichtungen und aus unterschiedlichen Nationen abends am Küchentisch der Forschungsstation miteinander ins Gespräch kommen, entsteht eine anregende Atmosphäre. Sie fördert die Kreativität und kurbelt die Fantasie an. Man erfährt viel über das Verhalten von Vögeln, das Leben von Insekten, das Schicksal von Süßwasserfischen und verschiedene Dinge über die Biosphäre und die Umgebung des Mývatn, die nicht in wissenschaftlichen Abhandlungen versteckt sein sollten.

Ebenso lehrreich ist es, sich mit den Leuten aus der Nachbarschaft über die Natur, alte und neue Bräuche und Fischfangtechniken zu unterhalten und festzustellen, dass wissenschaftliche Forschungen häufig mit den Beobachtungen eines aufmerksamen Fischers oder Bauern übereinstimmen, der sein ganzes Leben am See verbracht hat.

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Gewöhnliches Fettkraut

Ein Mann hat mich – und viele weitere Menschen – mehr als jeder andere mit beispielloser Offenheit und Begeisterung in die Geheimnisse und Wunder des Sees und der Mývatn-Region eingeweiht. Árni Einarsson, Biologe und seit vielen Jahren Leiter der kleinen Forschungsstation, hat sein Lebenswerk der Erforschung und dem Schutz der Natur am Mývatn gewidmet. Ohne ihn gäbe es dieses Buch nicht. Für mich ist er eines der Wunder des Mývatn.

In diesem Buch möchte ich Sie einladen, mit mir gemeinsam die Natur zu beobachten, und weitergeben, was ich über den Mývatn und den Fluss Laxá, über die Nutzung der natürlichen Ressourcen sowie über das Zusammenspiel von Mensch und Natur gelernt habe. Den Lebenslauf der Spatelente verfolgen und sehen, was es braucht, damit aus einem kleinen Küken eine stattliche Ente wird. Untersuchen, was für Tiere diese Mücken tatsächlich sind und warum sie sich so verhalten. Stimmt es, dass in Höhlengewässern kleine Fische leben, deren Populationen sich unterschiedlich entwickeln? Wie ist das eigentlich mit den Forellen im See? Und mit dieser berühmten Grünalge mit dem seltsamen Namen, dieser runden, die jetzt verschwunden ist, dem »Kugeldreck«? Wie kann man nur all diese Vögel zählen? Oder Mücken? Existiert in einem Wassertropfen eine andere Welt, winzig klein und mit bloßem Auge nicht erkennbar? Wie sind die Berge entstanden? Und der See selbst? Begleiten Sie mich, die Wunder des Mývatn zu erkunden!

Die Bergketteimg_17806_01_034_Joekulsdottir_vt_u2834

Wie gewaltig und energiegeladen die Welt gewesen sein muss, als dies alles entstanden ist! Ich sitze auf einem Hügel und betrachte den spiegelglatten See und die zahlreichen unterschiedlichen Enten, die friedlich darauf herumpaddeln. Dann wird meine Aufmerksamkeit von der Bergkette gefangen: Bláfjall, Búrfell und Gæsafjöll, fernblau und scharfkantig, die kegelförmigen Berge Hlíðarfjall und Belgjarfjall, der gewölbte Sellandafjall. Langgezogene Bergrücken verbinden diese Erhebungen miteinander, im Vordergrund unzählige grasbewachsene Krater mit tiefschwarzen Hängen aus Felsgeröll zur Wasserseite hin. Zwischen dem Blau des Sees und der Berge wirkt das Grün der Krater noch intensiver.

Der alte Mývatn

Wie ist das alles entstanden? Ich erfahre, dass die alten »Möbel« ausrangiert und neue erschaffen wurden, noch imposanter und ungewöhnlicher als die vorherigen. Blicken wir circa zweitausend Jahre zurück. Damals war die Menschheit noch nicht in jeden Winkel der Erde vorgedrungen, doch in Griechenland, der Wiege der westlichen Kultur, hatte man mächtige Bauwerke errichtet, die heute noch stehen, und Philosophien entwickelt, die bis zum heutigen Tage nützlich sind. Pythagoras, Platon und Aristoteles veröffentlichten ihre Wissenschaften, Schlag auf Schlag. Der Naturphilosoph Thales von Milet (ca. 625-545  v. Chr.), der in einen Brunnen fiel, als er zum Himmel hinaufschaute, um die Sterne zu betrachten, stellte die These auf: »Alles ist Wasser«. Daraus entstand die Theorie, dass das Wasser der Ursprung allen Lebens ist. Nahe dem unbesiedelten Island, in den nordischen Ländern, hatte man nach der Bronzezeit die Eisenzeit erreicht, man baute Schiffe und benutzte Münzen, und archäologische Funde belegen einen Austausch mit den Kulturen des südlichen Teils des Kontinents. Aber wahrscheinlich wusste niemand außer den Zugvögeln von der Insel, die später den Namen Island bekommen sollte. Noch waren es tausend Jahre bis zur Besiedlung. Auf der erdgeschichtlichen Zeitskala ist das nicht lange, aber wenn wir uns erlauben, in menschlichen Generationen zu denken, ist seitdem eine beträchtliche Zeit vergangen.

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Ehrenpreis

Vor etwa zweitausend Jahren befand sich an der Stelle des heutigen Mývatn ein anderer See, und Sedimentablagerungen zeigen, dass es ein fruchtbarer Quellsee war, wesentlich tiefer als der neue Mývatn. Die Berge in der mächtigen Gebirgskette rund um den See standen schon alle Spalier. Der alte Mývatn reichte im Halbkreis um den Belgjarfjall herum und plätscherte vermutlich an die Felsen der Süd- und Osthänge des Bergs, dort wo heute der weiße Kot der Gerfalken schimmert. Im Norden reichte er bis zum Teigasund, dem Sund, der heute die Buchten Ytri-Flói und Syðri-Flói des neuen Mývatn miteinander verbindet, aber nicht weiter, denn dort befand sich damals ein bewaldetes Lavafeld und kein Binnensee. Im Osten reichte der alte See bis zum heutigen Lavafeld Dimmuborgir, und es ist durchaus denkbar, dass er sich sogar bis zum Berg Hverfjall erstreckte, der einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte zuvor bei einer gewaltigen explosiven Eruption entstanden war.

Die Eruption, die den neuen Mývatn erschuf

Stellen wir uns einmal vor, dass an diesem unscheinbaren, tiefen alten Mývatn prähistorische Ruhe und Frieden herrschten, als in der Gegend, die heute Þrengsla- und Lúdentaborgir heißt, ein Vulkan ausbrach – in der Spalte, die sich östlich des Sees von Lúdent zur Schlucht Seljahjallagil zieht. Zur selben Zeit gab es auch in einer anderen Spalte weiter südlich eine Eruption, östlich des Sees Grænavatn. Diese Eruption reichte an den großen Ausbruch der Skaftáreldar im Jahr 1783 heran und ähnelte dem Ausbruch im Lavafeld Holuhraun 2014-15, eine gewaltige Spalteneruption mit starkem Lavastrom. Die Lava überrollte den alten Mývatn und gestaltete ihn um, floss in die Talsenke und breitete sich nach Westen hin aus. Nach dem ersten Lavastrom floss die Lava in Rinnen, einer Art Lavatunneln, und ergoss sich in den See. Als das Wasser in den Sedimentschichten auf dem Seegrund mit der glühend heißen Lava in Berührung kam, gab es heftige Dampfexplosionen, ähnlich wie bei einer Eruption unter einem Gletscher. Bei diesen Explosionen kocht die Magma auf und schießt hoch in die Luft, wie bei einem echten Vulkanausbruch aus dem Erdinneren. Solche Eruptionen sind jedoch nur »Pseudo-Eruptionen«, lokale Explosionen in fließender Lava. Das Magma wälzt sich in geschlossenen Röhren unter der Lavadecke weiter, und die Explosionen dauern stunden- oder sogar tagelang an denselben Stellen an. Die glühende Magma fließt weiter durch diese Rinnen in den See und kommt auch weiterhin mit dem Wasser in Berührung. Durch die ständigen Explosionen bilden sich die Pseudokrater, die charakteristischen Hügel am Mývatn.

Man stelle sich dieses Spektakel vor, großartiger als jedes Feuerwerk, ein Schauspiel der Natur in all ihrer Macht, bei dem neues Land entsteht. Ich sehe die glühende Lava vor mir, die sich ungezügelt über alles Vorhandene wälzt, hinein in das schäumende Wasser, wo Dampf aufsteigt, ich rieche den intensiven Gestank nach Schwefel, stelle mir den Lärm vor, das Zischen, das Brodeln. Ein apokalyptischer Zustand, der das Ende mit sich brachte – und einen neuen Anfang. Der den See zerstörte – und einen neuen schuf. Ja, es ist viel passiert in dieser kochenden Hölle. Doch innerhalb von tausend Jahren konnte sich die Landschaft regenerieren und so wunderschön werden, wie sie heute ist: moosbedeckt, grasbewachsen und blumenverziert.

Pseudokrater

Die Pseudokrater sind der Adel des neuen Mývatn. Diese unverwechselbaren grasbewachsenen Krater umrahmen den See und verleihen ihm einen besonderen Reiz und eine Fremdartigkeit, die man sonst nirgendwo findet. Die Inseln, die den See schmücken, sind ebenfalls Pseudokrater.

Pseudokrater sind weltweit selten, man findet sie zum Beispiel auf Hawaii, wo sie entstehen, wenn Lava ins Meer fließt. Durch Dampfexplosionen bricht die Lava auf, und es bildet sich eine Art Schelf aus Lavabrocken, über den weiter Lava fließt. Das Meerwasser gelangt unter die glühende Lava, und es kommt zu explosiven Eruptionen. Die dadurch entstandenen Krater werden umgehend von der Brandung abgeschliffen.

Ja, Pseudokrater sind rar auf unserer Erde, aber auf dem Mars gibt es sie zuhauf. Große Flächen dieses Planeten sind mit solchen Kratern bedeckt, und Wissenschaftler vermuten, dass dort Lava über Eis geflossen ist. Im Sommer 2013 kamen ausländische Experten zum Mývatn, um die hiesigen »Mars-Krater« zu erforschen. Sie waren besonders interessiert an Doppelkratern, kleine Krater innerhalb von größeren, denn solche Krater hatten sie auf Bildern vom roten Planeten entdeckt.

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Pseudokrater

In Island gibt es auch an anderen Orten Pseudokrater, aber nirgends sind sie so schön geformt wie am Mývatn. Es wird sogar behauptet, die mývatnschen Pseudokrater seien die formvollendetsten auf der ganzen Welt. Der Grund für ihre Ästhetik ist wohl zum Teil auf die lange Dauer der Eruptionen zurückzuführen, zudem war die Explosionskraft so stark, dass sich weit geöffnete, formschöne Krater bilden konnten. Die Leute am Mývatn nannten die Kraterhügel umgangssprachlich nicht Krater, sondern Hügel, Felshöcker oder Gipfel und die Löcher darin Kessel.

Anfangs dachten die Geologen, die Pseudokrater seien »echte« Krater und bei sogenannten lokalen Eruptionen entstanden; geschmolzene Magma habe sich unter dem Gebiet befunden und sei auf irgendeine Weise hervorgebrochen. Erst der bekannte Geologe Sigurður Þórarinsson fand heraus, was wirklich passiert war, und gab diesem Phänomen den Namen Pseudokrater.

Wir wissen nicht, wie lange der Þrengslaborgir-Ausbruch dauerte, doch das anschließende Szenario muss apokalyptisch angemutet haben: schwarze dampfende Lava und Schlacke, zu bizarren Formen erstarrt, alles Lebendige im alten Mývatn tot und die Vögel geflohen. Alles war neu erschaffen, Land und Wasser, und es wird nicht viel Zeit vergangen sein, bis Flüsse, Bäche und Seen sich mit winzigen Lebewesen füllten und Moose und Flechten sich auf den schwarzen Lavafeldern ausbreiteten. Mückenschwärme aus dem nährstoffreichen Wasser begannen unverzüglich, die Ufer zu befruchten und das Graswachstum anzukurbeln, und flinke Forellen und herausgeputzte Enten ließen bestimmt nicht lange auf sich warten.

Die Berge rund um den See

Die Berge rund um den Mývatn waren wohl die einzigen Zuschauer dieser gewaltigen Vulkanshow. Begeben wir uns auf eine der Inseln und betrachten wir das Bergpanorama. Nehmen wir einen hellen Sommertag, wenn weder die Sonne noch die Berge von Wolken überschattet werden. Überall sind Berge, 360 Grad, und sie scheinen alle von unterschiedlicher Beschaffenheit und Form zu sein. Es ist, als stünde man in einem lebendigen Geologiebuch.

Die Leute am Mývatn lieben ihre Berge, und jeder hat einen Lieblingsberg. Wenn man nicht weiß, worüber man mit einem Einheimischen reden soll, kann man immer ein Gespräch über die Berge beginnen. Etwa darüber, wie sich die Berge durch die unterschiedlichen Lichtverhältnisse und das Schauspiel des Himmels und der Gestirne ständig verändern. Oder darüber, wie man sie am besten besteigen kann, für welches Motiv sie den schönsten Hintergrund bilden, wie sie aus einer anderen Perspektive wirken, oder welcher von ihnen der einzig wahre Mývatn-Berg ist!

Es ist bezeichnend für diese vulkanische Gegend, dass fast jeder Berg oder Gebirgskamm bei einem Vulkanausbruch entstanden ist. Außerhalb der vulkanischen Zone sind die Berge nur Stücke eines größeren Kuchens, gestapelte Lavaschichten, die der Eiszeitgletscher in Häppchen geschnitten hat. Doch am Mývatn ist jeder Berg ein Denkmal an einen speziellen Vulkanausbruch oder eine Ausbruchserie. Alles, was nennenswert aus der Lavaebene aufragt, sind Berge, die sich bei Vulkanausbrüchen unter Gletschern gebildet haben. Diese Berge sind am auffälligsten. An den Stellen, wo es nach der Eiszeit zu Eruptionen kam, befinden sich meist kleine Krater, die nicht sehr hoch sind, weil die Lava leicht von ihnen abfloss.

Beginnen wir mit den markanten Bergen und betrachten wir den Bláfjall im Südosten, einen der jüngsten Berge in diesem Kreis. Der Bláfjall ist ein besonders majestätischer Berg, der in der Gegend große Ehrfurcht genießt. Er ist ein Tafelvulkan, entstanden bei einer subglazialen Eruption, die so lange andauerte, dass sie das Eis zum Schmelzen brachte und sich einen Weg nach oben bahnte. Es gibt noch mehr solche Berge im Panorama, zum Beispiel den Sellandafjall im Süden, etwas unscheinbarer und älter als der Bláfjall. Hier bewegte sich das Gletschereis etwas später und schliff die schärfsten Kanten ab. Der Berg ist schön geformt und sanft geschwungen und holt beim Schönheitswettbewerb der Berge jedes Jahr ein Stück auf. Der Búrfell, der östlich der beiden steht, ist ebenfalls ein Tafelvulkan, ein prachtvoller Berg, aber etwas im Hintergrund, genau wie Gæsafjöll und Krafla. Diese Berge sind alle recht steil, und ihre Form erinnert unverkennbar ein wenig an einen Brotlaib.

Ein weiterer charakteristischer Berg dieser Gegend ist natürlich der kegelförmige Vindbelgjarfjall, die Pyramide im Westen, die von vielen Vindbelgur, von den Einheimischen aber meistens Belgjarfjall genannt wird. An der Nordseite des Bergs klebt ein gewölbter Rüssel, der den Namen Buski trägt. An der Ostseite liegen Skútahellir, Skútas Höhle, und Skútaskriða, Skútas Bergsturz. Dort soll sich der Sagaheld Víga-Skúta angeblich gegen seine Feinde verteidigt haben, was in der Saga jedoch nicht erwähnt wird. Eine Zeit lang habe ich im Schutz des Belgjarfjall gewohnt und kann bestätigen, dass der Berg eine einzigartige Ausstrahlung hat. Er fordert einen regelrecht zur Besteigung auf, und oben angekommen hat man einen fantastischen Blick auf den See und die gesamte Umgebung. Der Belgjarfjall ist ein Palagonitkegel. Bei seiner Entstehung eruptierte es hauptsächlich an einer Stelle, aber nicht lange genug, um den Gletscher zum Schmelzen zu bringen. Deshalb wölbte sich der Berg nicht schildartig auf, sondern bildete eine Kegelform.

Dasselbe gilt für den Hlíðarfjall im Norden, der jedoch nicht aus Tuff, sondern aus Rhyolith besteht. Das Nesthäkchen in der Bergkette dürfen wir nicht vergessen zu erwähnen, den Hverfjall, einen Tuffring, der vor etwa 2500 Jahren entstanden ist, kurz vor dem Þrengslaborgir-Ausbruch und lange nach dem Ende der Eiszeit. Der Hverfjall sieht aus wie eine moderne Skulptur, elegant und unverwechselbar. Sein Krater ist riesengroß und genauso tief, wie der Berg hoch ist. Bei guten Lichtverhältnissen kann man, wenn man genau hinschaut, hinter dem Hverfjall einen ähnlichen Krater erkennen. Er heißt Lúdentarskál.

Die anderen Berge sind größtenteils Palagonitrücken, die bei Spalteneruptionen, ähnlich dem Þrengslaborgir-Ausbruch, entstanden sind, jedoch unter dem Gletscher, sodass sich das vulkanische Material auftürmte. Richtung Süden sehen wir in der Ferne das Bergmassiv Dyngjufjöll mit der Askja. Bei den Dyngjufjöll handelt es sich um einen Zentralvulkan, so nennt man riesige Vulkane, die immer wieder ausbrechen und sich aus verschiedenen vulkanischen Materialien aufgebaut haben. Weit im Süden erhascht man an klaren Tagen einen Blick auf Trölladyngja und Bárðarbunga.

Der imposanteste Berg ist jedoch der, den man nicht sieht. Beim Krafla-Gebiet nordöstlich des Sees handelt es sich nämlich um einen riesigen Zentralvulkan. Einst stand dort ein mächtiger Berg, vielleicht etwas niedriger als der Snæfellsjökull, weil die Erdkruste in der Vulkanzone dünn und rissig ist und keine hohen Berge tragen kann. Vor zweihunderttausend Jahren gab es einen katastrophalen Ausbruch, der auf dem gesamten Grund des Nordatlantiks eine Ascheschicht hinterließ. Er riss ein gigantisches Loch in die Erde, eine riesengroße Caldera, die sich seitdem nach und nach mit vulkanischem Material gefüllt hat. Der Berg selbst ist verschwunden, ebenso wie die Caldera, denn sie ist heute bis zum Rand voll mit Lava.

Vulkanausbrüche in historischer Zeit

Kleines Wintergrün