Kia Vahland

Leonardo da Vinci und die Frauen

Eine Künstlerbiographie

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Inhalt

Vorwort: Leonardos Frauenbild

I
Kindsein

II
Landjugend

III
Bilderstadt

IV
Liebesspiele

V
Das erste Schlüsselwerk: Die Bergtigerin

VI
Marias Freund

VII
Das zweite Schlüsselwerk: Die Schöne mit dem Biest

VIII
Streit- und Sinneslust

IX
Pose oder Poesie

X
Gebären und Töten

XI
Das dritte Schlüsselwerk: Die Weltenfrau

XII
Ewige Malgründe

Nachwort: Leonardo heute

Dank

Vita

Tafelteil

Literatur

Leonardo da Vinci: Gemälde und Gemäldekartons

Bildnachweis

Personenregister

Anmerkungen

Vorwort: Leonardos Frauenbild

Die Malerei ist weiblich, jedenfalls die Leonardo da Vincis. Von seinen frühen Madonnen (Tafel 1 und 2) bis zur späten »Anna selbdritt« (Tafel 23), von dem ersten Porträt, das er malte, der »Ginevra de’ Benci« (Tafel 9), bis zur »Mona Lisa« (Tafel 28) sind die Hauptfiguren auf Leonardos Gemälden Frauen. Auf seinen überlieferten, sicher eigenhändigen Tafelgemälden wirken lediglich zwei Männer als Protagonisten. Der eine ist der »heilige Hieronymus« (Tafel 14), das unvollendete Bild eines sich selbst befragenden alten Mannes, der in der Wüste mit der Entsagung ringt. Der andere ist ein jugendlicher, so selbstbewusster wie sinnlicher »Johannes der Täufer« (Tafel 29), den Leonardo an seinem Lebensende malt. Man muss schon alle Jünger auf dem Fresko des »Abendmahls« (Tafel 19) oder alle Jesusbabys auf den Madonnenbildern hinzuzählen, um doch noch auf ein halbwegs ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu kommen. Nicht einmal Josef hat es auf Leonardos Bilder der Heiligen Familie geschafft, seinen Platz überlässt der Künstler zumeist Marias Mutter Anna (Tafel 22 und 23). Und gemalte Porträts von Königen, Päpsten und Fürsten fehlen völlig. Nur eine Porträtskizze für ein Herrschergemälde entwirft Leonardo. Auch sie zeigt eine Frau: Isabella d’Este, die Markgräfin von Mantua (Tafel 20).

Leonardo da Vinci hat so viel für die Sichtbarkeit von Frauen getan wie kein anderer Maler. Wahrgenommen wird er im 20. und 21. Jahrhundert aber anders: als technischer Pionier, der mit seinen gezeichneten Flugapparaturen, Waffensystemen, Hebevorrichtungen die Erfindungen der Moderne vorweggenommen hat. Das ist zu einseitig. Leonardo hatte Freude daran, auf dem Papier Maschinen aller Art zu entwerfen. Gebaut allerdings wurden sie fast nie. Wären ihm diese Ingenieursleistungen das Wichtigste im Leben gewesen, er wäre ein gescheiterter Mann.

Seine Maschinen bilden nur einen kleinen Teil seines umfassenden zeichnerischen Œuvre. Ausgiebig befasst er sich mit der menschlichen Anatomie, der Erdgeschichte, dem Wachstum von Pflanzen und immer wieder, mit größter Leidenschaft, mit den Bewegungen des Windes und des Wassers. Er zeichnet, um die Welt zu verstehen, und er versteht die Welt, um sie zu malen. Die Malerei ist ihm die höchste aller Wissenschaften, das Leitmedium seiner Zeit. An der Staffelei wird der Mensch zum Schöpfer, hier darf er sich Mutter Natur, der großen Kreativen, verwandt fühlen. Wenn Leonardo sich manchmal im Atelier quält und nur langsam Strich um Strich setzt, dann deshalb, weil er so viel nachdenkt über das, was und wie er es zeigen will. Er ist ein Maler-Philosoph, wie schon Zeitgenossen verwundert bemerken1, einer, der aus Erkenntnisinteresse arbeitet und weil er den Menschen etwas mitzuteilen hat.

Das Wissen, um das Leonardo in seiner Malerei kreist, ist das Wissen der Frauen. Schon in der Antike galt das Gemälde einer schönen Frau als Beweis für die Kunstfertigkeit eines Malers. Ihre Verführungskraft ist auch die seine. Frohlockend schreibt Leonardo einmal, wie Betrachter seine gemalten Frauen hingebungsvoll küssen.2 Bis zu seiner Zeit wurden Mädchen auf italienischen Porträts nur im keuschen Profil gezeigt. Erst Leonardo wendet seine Frauenfiguren dem Betrachter zu und erlaubt beiden einen innigen Dialog. Leonardos Frauen haben eine Seele und einen starken Willen, sie bewegen sich in Raum und Zeit, sind Wesen eigenen Rechts in einer Epoche weiblicher Rechtlosigkeit. Leonardos belle donne besitzen, was der Dichter Francesco Petrarca einst an Frauenbildnissen vermisste: »voce ed intellecto«, Stimme und Verstand.3 Gemeinsam mit seinen femininen Modellen erfindet der Künstler die unabhängige, selbstgewisse Frau, sie wird in seinen Werken zum ebenbürtigen Gegenüber des Mannes. Leonardo da Vinci war kein Feminist, diesen Begriff gab es um 1500 nicht. Er kämpfte nicht für die rechtliche und soziale Gleichberechtigung der Frau, denn auch diese Kämpfe gab es in der Renaissance nicht. Doch es gab eine lebhafte Debatte darüber, ob Frauen wie Männer denken und lieben können oder nicht. Wie etwa in Baldassare Castigliones Buch »Der Hofmann« nachzulesen, wurde diese Debatte zwischen Frauenfeinden und Frauenfreunden geführt.4 Manche humanistisch gebildete Männer verdinglichten die Frauen, andere respektierten sie. Leonardo da Vinci stellte sich in seinen Schriften, Zeichnungen und Gemälden auf die Seite der Frauen. Die weibliche Fähigkeit zu empfinden, zu denken und zu entscheiden stand für ihn außer Frage.

Indem er sich mit den Frauen verbündet, emanzipiert Leonardo auch die Kunst. Sie ist nun keine Wunschmaschine für Auftraggeber mehr, sondern hat ein unverfügbares Eigenleben. Seine in sich ruhende Maria unterwirft sich keinem Verkündigungsengel und seine Malerei keinem Bildbesteller. Die Gemälde, die ihm wirklich etwas bedeuten, behält Leonardo bis zu seinem Lebensende bei sich. Darunter sind die »Mona Lisa« und die »Anna selbdritt«: Beide Werke verbinden das Weibliche mit der Natur- und Erdgeschichte, die der Maler in den Landschaftshintergründen entfaltet. In Leonardos Sicht kann eine individuelle Frau für das große Ganze stehen, weil sie mit der Natur die Gabe teilt, Leben zu geben. Diese Fähigkeit zum steten Neuanfang ermöglicht der Menschheit, das Dasein immer wieder neu zu gestalten. Der unbeherrschbaren Natur, ihren Meeren und Felsen, Tieren und Pflanzen begegnet der Vogelliebhaber, Bergwanderer und Vegetarier dabei mit Hochachtung, und diese verlangt er auch den Betrachtern seiner Kunst ab.

So ist die Vorstellung abwegig, Leonardo wolle sich mit seinen gezeichneten Panzern und seinen Flussumleitungsplänen die Welt untertan machen. Ja, er stellt sich dem Krieg und begleitet den Schlächter Cesare Borgia auf Eroberungszügen. Doch offenkundig hadert der Künstler mit dem, was er sieht. Pazzia bestialissima, »höchst bestialische Verrücktheit«, nennt er den Krieg und verarbeitet ihn in seinem Entwurf der »Anghiarischlacht« (Abb. 32), die von der Ausweglosigkeit gewalttätiger Konflikte handelt.5

Das Zerrbild von Leonardo als Techniknarr und virilem Mustermann geht zurück auf eine Leonardo-Schau, die im Herbst 1939, als der Zweite Weltkrieg begann, in Mailand zu sehen war. Der italienische Diktator Benito Mussolini, nach Selbstaussage der »größte lebende Italiener«, wollte hier den »größten Italiener der Vergangenheit« feiern.6 Ausgestellt waren erstmals Modelle von Leonardos Maschinen, die zu seinen Lebzeiten nie gebaut worden waren. Und seine zutiefst humanistische Aktzeichnung vom »Vitruvmann« (Abb. 21) in Kreis und Quadrat sollte nun den technikaffinen, zur Maschine gewordenen Menschen der Zukunft repräsentieren.

Nach dem Faschismus wirkte das Image vom unerbittlichen Rationalisten Leonardo nach. Es beeinflusste im späten 20. Jahrhundert die Vordenker der Computerindustrie, die auf der Suche nach einem Ahnherrn Leonardos Entwurfszeichnungen entdeckten und seither zwar nicht mehr den Krieger, aber den Technikvisionär Leonardo für sich beanspruchen (vermutlich auch deshalb erwarb Bill Gates im Jahr 1994 Leonardos naturwissenschaftliche Handschrift, den Codex Leicester).7 Wieder bleibt eine Leerstelle: Übergangen und übersehen werden Leonardos Frauen, für deren Präsenz auf der Bühne der Kunst- und Naturgeschichte der Künstler so viel tat.

Im Jahr 2019 liegt Leonardo da Vincis Tod fünfhundert Jahre zurück. Es ist Zeit, vorurteilsfrei zurückzublicken, seine Gemälde und Zeichnungen zu betrachten und seine Texte zu lesen. Ihm zuzuhören und den Zeitzeugen, die ihn persönlich kannten.

Das unternimmt diese Künstlerbiographie in ausführlichem Quellenstudium. Ausgewertet werden neben Leonardos künstlerischen Werken seine zu Lebzeiten unveröffentlichten Schriften zur Kunst und zur Natur sowie seine tagebuchähnlichen Notizen. Hinzu kommen Briefe und Aussagen von Zeitgenossen, notarielle Urkunden, Steuer- und Gerichtsunterlagen und andere Dokumente. Dieses breite Panorama an Belegen ermöglicht es, spätere Wertungen wie die des Kunstschriftstellers Giorgio Vasari kritisch einzuordnen (Quellenangaben mit den italienischen und lateinischen Originalzitaten sowie Hinweise zum kunsthistorischen und historischen Forschungsstand finden sich im Anhang).

Außer von Leonardos gesamtem Leben und Werk und der Kunst seiner Zeit erzählt das Buch von den sozialhistorischen und politischen Umständen, unter denen dieser Ausnahmekünstler wirkte. So handelt das erste Kapitel von Leonardos frühen Madonnen und von der Rolle der Mütter und ihrer Säuglinge in der Renaissance. Und das vierte Kapitel schildert, wie in Florenz einerseits die Liebe in symbolreichen Spektakeln gefeiert wurde, andererseits Männer verfolgt wurden, die Männer liebten.

Leonardo da Vinci war der uneheliche Sohn eines Notars und einer einfachen Frau vom Land; eine höhere Schulbildung blieb ihm verweigert. Als junger Mann wurde er einmal der Sodomie, homosexueller Handlungen, angeklagt. Seine Herkunft und sein Begehren brachten ihn in eine gesellschaftliche Außenseiterrolle. Das aber war, so scheint es, ein Glück. Anstatt in patriarchalen Familienstrukturen lebte der Maler mit seinen Schülern und Liebhabern in einer Haus- und Arbeitsgemeinschaft. Vorgegebene Lehrmeinungen stellte er auf den Prüfstand. Er ging seinen eigenen Weg, nahm nichts für gegeben, zeichnete und malte, forschte und schrieb, was ihm in den Sinn kam. So konnte er sich in seine Gestalten, die weiblichen wie die männlichen, hineinversetzen und auch dem Werden und Vergehen der Natur nachspüren. Diese Geschichte erzählt nicht vom virilen Genie und weiblichen Opfer, sie handelt von einem beschwingten, schöpferischen Miteinander. Leonardos enorme innere Freiheit, seine ungebundene Phantasie und sein Einfühlungsvermögen machen die Universalität seines Schaffens aus.

I

Kindsein

Es geht ihm gut. Er ist wohlgenährt, ausgeschlafen und wird geliebt. Nackt sitzt das groß geratene Kleinkind auf einem bequemen Samtkissen, seine Mutter umfasst seinen Rücken, so sicher und fest, dass ihre Fingerspitzen eine Delle in seinem Babyspeck hinterlassen.1 (Tafel 1) Ihm kann nichts passieren. Eigentlich. Sein linkes Bein tritt in die Luft, als wolle er seine Kraft an einem imaginären Gegner testen. Aber da ist niemand, nur sie und er, in ihrem etwas höhlenartig dunklen Palazzo mit den Rundbogenfenstern, die den Blick auf eine flirrend blaue Berglandschaft freigeben. Warmes Licht fällt auf seinen rundlichen Kinderkörper, betont seinen muskulösen Rumpf, den kaum behaarten Kopf. Vor allem aber modelliert es das helle Gesicht und Dekolleté seiner jungen Mutter. Schön ist sie mit ihren zurückhaltenden, noch mädchenhaften Zügen, dem kleinen Mund, den gesenkten Lidern unter hohen, hellen Brauen. Und sie hat sich schön gemacht. Es muss Stunden gedauert haben, das Haar so zu flechten, dass keine Strähne auf die Stirn fällt, aber links und rechts der Wangen unter einem schmalen Schleier gezähmte blonde Locken herauskullern und das engelhafte Gesicht rahmen. Ein transparent schimmernder Bergkristall hält ihr tiefblaues Gewand zusammen. Unter goldbestickter Borte kräuselt es sich über den kleinen Brüsten, die wohl immer noch das Kind nähren.

Jetzt aber ist die Mutter, im Gegensatz zu ihm, vollständig bekleidet. Unter dem Umhang trägt sie ein hochgeschlossenes rotes, am Ärmel gerafftes Kleid, zudem fällt ihr ein buntes Seidentuch von der Schulter über den Rücken auf den Schoß. Ein bisschen altertümlich wirken die vielen Stoffbahnen, so als sehnte sich ihre Trägerin aus dem späten 15. Jahrhundert in die Antike zurück. Das aber interessiert den Jungen nicht. Sie ist seine Mutter, und sie ist für ihn da. Er lässt sich gerne auf das Spiel ein, das sie ihm anbietet. Mit der Linken fasst sie den Stängel einer Nelke, hält sie in sein Gesichtsfeld. Er streckt beide Hände aus, konzentriert sich und greift nach der roten Blume, ohne sie sofort zu berühren.

Es wirkt, als wisse er, was er tut. Als sei er entschlossen, die Nelke, sein Schicksal, anzuschauen und in Besitz zu nehmen. Viel zu ernsthaft ist er für sein Alter. Wie sollte es auch anders sein: Er heißt Jesus Christus, und er wird seine Mutter nicht überleben, sondern in nicht einmal dreiunddreißig Jahren vor ihren Augen für die Menschheit sterben, gekreuzigt von Nägeln, die ungefähr so groß und lang sind wie der Stiel dieser Nelke. Die Blume, rot wie Blut, erzählt von der Liebe Gottes, seines Vaters, die letztlich dazu führen wird: zur Passion des Sohnes, der Marias einziges Kind ist. Und sie, die junge Mutter, zeigt auf dem Bild trotz alldem keine Furcht. Sie genießt die Nähe zu dem vitalen Knaben, ihre eigene Schönheit, die Ruhe im Palast. Dieser Moment gehört ihr und ihrem Baby.

Nicht ganz. Sosehr sich Leonardo da Vinci in dem kleinen Werk aus Florenz beim Malen in seine Protagonisten hineinversetzt, so sehr denkt er an die Menschen, die in seiner Zeit und irgendwann später das Bild betrachten werden. Einer der ersten ist Giuliano de’ Medici, der jüngere, etwas ungestüme Bruder des Herrschers über Florenz, Lorenzo de’ Medici. Die Wappensymbole der Familie sind Kugeln, an sie können die unscheinbaren Glasbälle erinnern, die vom Kissen des Knaben herabbaumeln. Zudem ähneln die modernen Fensterbögen im Bild denen von Giulianos Palazzo Medici. Als Symbol der Reinheit Mariens ist rechts unten im Gemälde eine hingehauchte Blumenvase zu sehen, für die Leonardos Biograph, der Renaissancemaler und -schriftsteller Giorgio Vasari, im 16. Jahrhundert besonders schwärmt. Er berichtet, das Bild sei in den Besitz von Papst Clemens VII. gelangt, einem unehelichen Sohn Giuliano de’ Medicis. Der Vater hat es wohl direkt beim Künstler bestellt. Das Gold, die feinen Farbschichten, die Sorgfalt: Ein Auftrag der Medici mag Leonardos Aufwand erklären.2

Das Madonnenbild ist eines der ersten bekannten eigenhändigen Gemälde von Leonardo da Vinci. Als es um das Jahr 1475 entsteht, ist der Maler ein langgelockter Jüngling in seinen frühen Zwanzigern und bereits vollgültiges Mitglied der Florentiner Malergilde. Doch er lebt und arbeitet noch bei seinem Lehrherrn, sei es aus Anhänglichkeit oder weil er auf eigene Rechnung nicht genügend Aufträge bekäme in der vor Kunst und Künstlern strotzenden Stadt.

Leonardos Meister Andrea del Verrocchio führt eine gutgehende Werkstatt in der Via Ghibellina, nur einen kurzen Spaziergang vom Rathaus, dem Palazzo della Signoria, entfernt. Das Viertel ist belebt, Handwerker und kleine Händler bieten ihre Dienste in den schmalen Gassen an. Künstler werkeln meistens in einem großen, fensterlosen Raum zur Straße hin, die Tür steht offen und lädt Passanten ein, vorbeizuschauen. Zum Kochen und Schlafen ziehen sich die Künstlerfamilien und die Lehrjungen in die hinteren Räume oder ins Obergeschoss zurück.

Andrea kommt aus einer Ziegelbrennerfamilie, die Kunst bedeutet für ihn einen sozialen Aufstieg. Bevor er sich erst der Bildhauerei, dann der Malerei widmete, hatte er das Handwerk des Goldschmieds gelernt. Einem älteren Meister dieses Faches war er so dankbar, dass er dessen Nachnamen Verrocchio annahm. Jetzt gehen in seinem Atelier die Reichen und Mächtigen ein und aus. Andrea, Leonardo und die anderen Mitarbeiter können alles: Sie schnitzen, meißeln, gießen Bronzen, schmieden Rüstungen, malen, liefern den Schmuck für Feste, Theaterkulissen und ganze Inneneinrichtungen von Adelspalästen. Bei wichtigen Aufträgen kooperiert Andrea mit Meistern, die ihm verbunden sind, darunter der junge, bald berühmte Sandro Botticelli.

Die Medici und andere hohe Herren sind in der Werkstatt Stammkunden. Von den traditionellen Schmucktellern mit Geburtsmotiven über Hochzeitstruhen bis zum Grabmal bekommt man in der Via Ghibellina mit einem gut gefüllten Goldsack alles, was das Leben und den Tod stilvoll aussehen lässt. Nur von der Freskenmalerei lässt Verrocchio die Finger – das ist eine Spezialität von Andreas Rivalen, den beiden Brüdern Pollaiuolo; sie sind in diesem Fach dann doch gewiefter als der Bildhauer.

Madonnenbilder auf Pappelholz gehören zu Andrea del Verrocchios Standardrepertoire. Doch keines aus seiner Werkstatt ist so raffiniert wie die »Madonna mit der Nelke« des jungen Leonardo. Ihm sitzt wohl dasselbe Mädchen Modell wie Verrocchio, zumindest übernimmt er dessen weibliches Schönheitsideal einer femininen jungen Frau mit vollem Gesicht, das Haar kunstvoll geflochten. Leonardo hat, wie alle Schüler Andreas, über Jahre hinweg die gezeichneten Frauenköpfe seines Meisters immer wieder kopiert, mit Bleistift und Feder auf Papier oder mit Metallstiften auf billigem Holz. (Siehe auch Abb. 35)3

Doch bei aller ebenmäßigen Mädchenhaftigkeit, bei allem Harmoniewillen: Leonardos Madonna ist anders. Sie hält ihre Emotionen zurück, ist auffallend nachdenklich und weiß doch genau, was sie will, wenn sie dem Jungen die Nelke reicht. Das Gemälde ist keine bloße Momentaufnahme; es veranschaulicht einen ganzen Handlungsablauf, eine Interaktion zwischen zwei innig verbundenen, doch autonom fühlenden Wesen.

Der Maler versucht sich in Teilen des Gemäldes an Ölfarben, die im Gegensatz zu den klassischen, mit Ei gebundenen Temperafarben nur sehr langsam trocknen. Dies erlaubt es, auf die nasse Farbe eine weitere aufzutragen, so dass die Töne ineinander verschwimmen. Das kleine Bild ist hochexperimentell, denn obwohl die Florentiner Ölfarbe bereits kennen und gelegentlich auch nutzen, ist die Technik hier noch lange nicht so weit entwickelt wie in Flandern.

Leonardo ist begeistert, wie natürlich die Farben mit Öl als Bindemittel wirken. Er entwickelt unter anderem an diesem Madonnenbild die Kunst der sanften Übergänge zwischen Hell und Dunkel. Allerdings ist ihm noch nicht klar, wie viel Öl er beim Anmischen der Farben verwenden muss. Sein Meister Verrocchio kann es ihm nicht beibringen, er hat selbst gerade erst mit dem Malen begonnen und bleibt lieber bei der in Florenz bewährten Temperamalerei. Leonardo wählt also die falsche Mischung – und die Madonna wird bald tiefe Runzeln bilden, welche die Bildoberfläche bis heute rau wirken lassen.4

Mit dem weichen Schattenspiel verortet Leonardo Mutter und Sohn im Hier und Jetzt des Palazzo und nimmt ihnen die Weltferne, die ältere Madonnenbilder oft umgibt. Die beiden befinden sich in einem schützenden, dunklen Raum; dieser aber ist kein Gefängnis, sondern er öffnet den Blick auf die helle Weite gottgegebener Berggipfel, wie sie in der Toskana kaum zu finden sind, wohl aber in der Vorstellungskraft des Künstlers. Fern und Nah bedingen sich wie Licht und Schatten, Leben und Tod, Natur und Kunst. Leonardo ist ein junger, noch nicht lebenskluger Mann. Aber er hat eine Ahnung vom großen Ganzen, das sich im kleinen Menschen spiegelt.

»Ein guter Maler hat zwei Hauptsachen zu malen«, notiert Leonardo später, »nämlich den Menschen und die Absicht seiner Seele«.5 Der so erkannte Mensch ist bei ihm keineswegs immer männlich. Im Gegenteil. Es sind Mütter, an denen er in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 15. Jahrhunderts erstmals seine Grundüberzeugung testet: Die Regungen der Psyche und des Geistes drücken sich in den Bewegungen des Körpers aus. In wenigen Federstrichen wirft der Zeichner eine schreitende jugendliche Mutter aufs Blatt, ihr Zopf weht beim Gehen. Sie muss mit dem Oberkörper das Gewicht des schon stämmigen Kleinkindes auf ihrem Arm austarieren. Auf dem Weg vor ihnen hat es irgendetwas Interessantes entdeckt und strebt nun mit Blicken und Gesten nach unten. Die Mutter will die Neugier des Kleinen nicht bremsen, aber sie hat ihre eigenen Ziele und arbeitet der Schwerkraft so freundlich wie bestimmt entgegen.6 Ein Kind will und muss sich bewegen, es mag klein sein, aber es hat seinen eigenen Kopf. (Abb. 1)

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Abb. 1: Leonardo da Vinci, Studie einer jungen Frau mit Kind, British Museum, London

In der Renaissance und noch lange danach wurden Babys mit Bandagen so fest eingewickelt, dass sie Arme und Beine nicht mehr rühren konnten. Leonardos Geschmack ist das offenbar nicht. Er rät Malern zu einem liebevollen Blick auf die Ungeschicklichkeiten von Kleinkindern: »Die kleinen Kinder seien im Sitzen unbefangen und unbeholfen, im Stehen schüchtern und ängstlich«.7 Ihn faszinieren freie Knaben, die aus den sicheren Armen der Mutter heraus die Welt entdecken.

Die Welt, das ist auf einer anderen Zeichnung eine Hauskatze, nicht gefährlich, doch auch nicht einfach zu bezwingen.8 (Abb. 2) Ein Junge greift nach ihr, das Tier aber will kein Spielzeug sein und entwindet sich halb seiner zudringlichen Neugier. Die Mutter, lächelnd, hält beide auf dem durch kräftige Schraffuren verschatteten Schoß. Sie greift nicht ein. Soll er seine eigenen Erfahrungen machen und merken, dass die Welt nicht immer tut, was man von ihr will. Milden Blickes scheint nun der Junge zu erkennen, dass auch er geduldig sein muss mit der eigenwilligen Katze, so wie die Mutter es mit ihm ist.

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Abb. 2: Leonardo da Vinci, Studie zur Madonna mit Katze, British Museum, London

Nur wer Liebe erfährt, kann Liebe geben. Das ist keine Selbstverständlichkeit in der Renaissance. Ob Frauen überhaupt lieben können, darüber wird noch im 16. Jahrhundert eine lebhafte Debatte toben. Die Tendenz ist: eher nein. Sie können sich nur kühl verweigern oder demütig empfangen, die volle Spanne des Empfindens ist dem Mann vorbehalten. Es gibt aber außer den wenigen wortgewaltigen Literatinnen, die in der Hochrenaissance ihre Stimme erheben, immer auch männliche Humanisten, die dem widersprechen und Frauen für liebesfähig halten.9

In der Malerei steht zumindest ein weibliches Sentiment außer Frage: die Mutterliebe, die in beinahe jedem Haushalt auf einem Madonnenbild an der Wand gepriesen wird. Das beliebteste aller Motive hat neben dem religiösen auch einen pädagogischen Sinn. Jungen sollen sich die Jesus- und Johannesknaben zum Vorbild nehmen, sollen sich an ihnen erfreuen und ihnen nacheifern. Mädchen sollen von der Keuschheit Mariens lernen und ihre spätere Mutterrolle vor Augen haben, die in der Gedankenwelt der Renaissance die eigentliche Bestimmung einer Frau ist. Bräute bekommen zur Hochzeit Jesuspuppen geschenkt, um das Muttersein zu üben.10

Auf manchen Bildtafeln (auch aus Leonardos Umfeld) reicht Maria ihrem Sohn die bloße Brust.11 Beim Stillen festige sich die Mutterbindung, beteuern Prediger und Humanisten. Es heißt, der Vater präge Gestalt und Geist des Nachwuchses mit seinem Samen, der Beitrag der Mutter sei es dagegen, das Kind erst in ihrem Bauch, nach der Geburt dann mit ihrer Milch zu nähren. Die entsteht im Glauben der Zeit aus dem in der Schwangerschaft im Körper angesammelten Menstruationsblut; auch Leonardo hing dieser mittelalterlichen Fehlinformation eine Weile an.

Doch die gemeinsame Verantwortung der Eltern für das Kind bleibt zumeist Theorie. In der Praxis zählt die Mutterrolle kaum etwas, der Beitrag des Vaters dagegen alles in einer Gesellschaft, welche die männliche Erbfolge absolut stellt und Frauen keine Rechte über ihre Kinder zugesteht. Es verhallen die schönen Worte von den »zarten Empfindungen« der Muttergottes beim Stillen, ihrem »Entzücken«, den Sohn zu nähren (so ein Prediger schon im 13. Jahrhundert).12

Ein Großteil der bessergestellten Florentinerinnen stillt gar nicht erst. Stattdessen schließen ihre Männer Verträge mit den Gatten der Ammen, die diese Aufgabe übernehmen. Die Väter leitet die Sorge, Sexualität, vor allem aber eine neue Schwangerschaft könne die Milch ihrer Ehefrauen verunreinigen. Es ist aber ihr Anliegen, bald wieder Vater zu werden, denn mehrere Nachkommen erhöhen die Chancen, einmal Erben zu bekommen. Viele eheliche Kinder zu haben ist für den sozialen Status der Männer von Bedeutung; eine innige Mutter-Kind-Bindung in den ersten Lebensjahren erscheint manchen demgegenüber zweitrangig. Von den ärmeren Milcheltern erwarten die Väter, auf Geschlechtsverkehr zu verzichten und eine Schwangerschaft der Amme sofort zu melden, damit der Vertrag beendet werden kann.13

Die Sitte, allen guten Ratschlägen zum Trotz Säuglinge bald nach der Geburt zu Ammen zu geben, pflegen im 15. Jahrhundert nicht nur sehr Wohlhabende, sondern ihren Rechnungsbüchern zufolge auch Notare, Künstler, Kaufleute und Ärzte. Die Frage ist nur, welche Amme man sich leisten kann: ob sie ins Haus kommt, wie in den reichen Familien, oder auswärts wohnt, ob sie gerade erst entbunden hat (was als Vorteil gilt) oder ob dies schon länger her ist. Der ökonomische Druck auf Stilleltern ist so groß, dass viele von ihnen ihre eigenen Neugeborenen einer noch ärmeren Amme anvertrauen oder sie im 1445 eingeweihten Florentiner Findelhaus abgeben. Eine Kaufmannsfrau aus Prato, die Ammen vermittelte, prahlte mit der Grausamkeit, einer Frau das Versprechen abgerungen zu haben, noch in der Todesnacht ihres eigenen Säuglings ein fremdes Stillkind aufzunehmen.14

Manche Stillkinder sterben in der Obhut der Ersatzmütter. Um das zu verhindern, statten die leiblichen Eltern sie mit Kreuzen, Heiligenmedaillen oder in Silber gefassten Wolfszähnen als Glücksbringer aus. Doch insbesondere wenn die Amme weit weg wohnt, verlieren Vater und Mutter schnell den Kontakt und die Kontrolle. Leichter ist es für Adelige, die zuhause stillen lassen. Viele von ihnen leisten sich Sklavinnen als Hausdienerinnen. Dies sind Tatarinnen, Bulgarinnen, Russinnen, Mongolinnen oder Griechinnen, die entführt und in den Seefahrerstädten verkauft werden. Etliche Hausherren beuten diese Frauen sexuell aus, geben die gemeinsamen Kinder ins Waisenhaus und verlangen schließlich von den Sklavinnen, den ehelichen Nachwuchs im Haus zu stillen. So wenig zählt letztlich die gelehrte Vorstellung, dass eine Frau ein Kind mit ihrer Milch charakterlich prägt: In der Praxis müssen die Stillmütter weder freie Frauen noch christlich sozialisiert sein, es genügt, dass sie helle Haut haben wie die Sklavinnen aus dem Osten.15

Dass es anders sein könnte, dass Stillen eine mütterliche Herzenssache und für die Kindesentwicklung wichtig sei, beteuern in der Renaissance Denker wie Leon Battista Alberti, später auch Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne mit Rückgriff auf Plutarch und andere antike Autoren. Vor allem aber sind es die Künstler, die den Florentinern auf Madonnenbildern vor Augen führen, wie innig Mutterliebe sein kann. Ihre schönen Bilder verkörpern nicht die Realität, sondern die uneingestandene Sehnsucht der Florentiner nach mütterlicher Fürsorge jenseits väterlicher Allmacht. Im Gewand der Religion tragen sie ein verdrängtes Wissen in die Wohn- und Schlafzimmer; sie erzählen vom emotionalen Wert sozialer Bindungen, die sich nicht in Geld aufwiegen lassen.

Bald werden die Künstler selbst zu Botschaftern der Muttermilch. Als Giorgio Vasari im 16. Jahrhundert die Lebenswege der großen Renaissancekünstler aufschreibt, sucht er auch in deren früher Kindheit nach Erklärungen für ihr Talent. Raffaels Vater war als Maler »nicht besonders vortrefflich«, urteilt der Biograph. Förderlich für den Charakter des Jungen sei nicht das Können des Vaters gewesen, sondern die besondere elterliche Fürsorge. Klugerweise habe Raffaels Vater entschieden, die Mutter den Knaben stillen zu lassen, »damit er in seinen zarten Jahren eher die väterliche Erziehung zu Hause genießen möge, als in Häusern von Bauern und des gemeinen Volkes weniger gepflegte oder gar rohe Umgangsformen zu erlernen«.16 Seine Herzensbildung saugt ein Baby demnach mit der Muttermilch auf.

Auch Michelangelo Buonarroti, dem eine Amme die Brust gab, verherrlicht das Stillen. Der Bildhauer pflegt eine Hassliebe zu seinem leiblichen Vater, der ihm als Jungen seinen Berufswunsch aus dem Leib zu prügeln versuchte. Dass er trotzdem Künstler geworden ist, führt Michelangelo auf den guten Einfluss seiner Amme zurück, die mit einem Steinmetzen vom Land verheiratet war. Den Stilleltern verdanke er sein Talent im Umgang mit Marmor, zitiert Vasari Michelangelo: »Da habe ich mit der Milch meiner Amme auch Meißel und Hammer eingesogen, die mir bei der Ausführung meiner Figuren dienen.«17

Und Leonardo da Vinci? Der ist fasziniert von frühkindlicher Entwicklung. Besonders in jungen Jahren, aber auch später malt und zeichnet er intensiv Madonnen.18 (Tafel 2) Es fällt auf, wie harmonisch Mutter und Kind verbunden sind und wie eigenwillig der Jesusknabe bei Leonardo trotzdem agiert. Er ist kein Werkzeug höherer Gewalten, er ist ein kleiner Mensch, und sie ein großer. Auch seine eigene Kindheit beschäftigt den Künstler. Zeitlebens erinnert er sich an Details: an die hügelige Landschaft, an einen besonderen Vogel, an die Kleider der Frauen. Es scheint bisweilen, als blicke der Maler in seiner Kunst mit Wehmut zurück, als wecke das Sujet der Madonna mit Kind Erinnerungen an ein verlorenes frühkindliches Paradies.

Als Leonardo am späten Abend des 15. April 1452 in dem toskanischen 400-Seelen-Ort Vinci geboren wurde, war das für seine Familie ein Tag großer Freude. Und großer Schande. Denn seine Eltern waren nicht verheiratet. Die Mutter Caterina war eine Vollwaise aus Vinci, die mit ihrem noch sehr kleinen Bruder sich selbst überlassen war und über keine Mitgift verfügte, um wie andere weibliche Teenager heiraten zu können. Sie kam aus kleinbäuerlichen Verhältnissen, die Familie besaß ein schmales Anwesen, das nach dem Tod der Eltern dem zweijährigen Bruder gehörte und heruntergekommen war. Außer einem entfernten Cousin und seiner Frau waren Caterina keine weiteren Verwandten geblieben, als sie sich mit fünfzehn Jahren auf Leonardos Vater Piero da Vinci einließ.19 Der Mittzwanziger war der älteste Sohn einer angesehenen Notarsfamilie mit einem geflügelten Löwen als Wappentier. In Vinci, dem Ort, nach dem sie sich benannt hat, gehörte die Familie zu den wohlhabenden oberen vier Prozent, die größere Ländereien besaßen. Piero arbeitete bereits als Notar in Florenz, was ihm den Ehrentitel Ser Piero einbrachte. Für den Zusammenhalt der Familie sorgte Leonardos Großvater Antonio, ein vermögender Landedelmann, der die Ruhe auf dem Land in Vinci genoss und in Mußestunden gerne Halma spielte.

Als Patriarch traf er die wichtigen Entscheidungen. Und er entschied sich für seinen neugeborenen Enkel, den er am Tag nach der Geburt in Vinci taufen ließ. Zehn angesehene Damen und Herren aus dem Ort waren als Taufpaten bestellt. Der Erstgeborene seines Sohnes Piero sollte nicht bei seiner ledigen, mittellosen Mutter seinem Schicksal überlassen bleiben oder im Findelhaus aufwachsen. Antonio und seine Frau Lucia persönlich würden sich um ihn kümmern. So kam der Bub seinem Vater Piero nicht in die Quere, der noch im selben Jahr die sechzehnjährige Notarstochter Albiera heiraten sollte.

Auch Caterina wurde versorgt. Offenbar stattete Antonio sie mit einer Mitgift aus und arrangierte eine Ehe mit einem jungen Kalkbrenner, dessen Familie etwas Land nahe Vinci besaß, in Campo Zeppi, einer schlichten Häuseransammlung. Die beiden Familien bleiben über Jahrzehnte in losem Kontakt. Leonardos Stiefvater, der Kalkbrenner, wird sich später Ser Piero als Zeuge für dessen Vertragsabschlüsse zur Verfügung stellen, im Gegenzug regelt der Notar den Ehevertrag einer Tochter des Paars.

Vielleicht ersparte dieses Arrangement Leonardo die übliche Trennung von der Mutter gleich nach der Geburt. Vielleicht stillte Caterina den Jungen selbst, als Mutter und Amme in Personalunion. Piero hatte keinen Grund, seine Liebschaft vom Stillen zu entlasten, wie er es bei einer standesgemäßen Ehefrau getan hätte. Möglich ist, dass Leonardo zumindest bis zu Caterinas Hochzeit im kommenden Jahr mit ihr zusammenbleiben durfte, dass etwa Caterina im großväterlichen Haus ein und aus ging oder den Säugling gar zeitweise zu sich holte. Erst zwei Jahre nach Leonardos Geburt war sie wieder schwanger und bekam eine Tochter.

Als Fünfjähriger jedenfalls lebte der Junge im gut ausgestatteten Haushalt seiner Großeltern väterlicherseits. Dies geht aus deren Steuererklärung hervor. Die Steuerunterlagen von Caterinas Mann besagen derweil, dass das Paar zwar etwas Weizen und Wein erwirtschaftete, aber insgesamt mit den bald fünf ehelichen Kindern in bescheidenen Verhältnissen lebte.

Sicher hat Leonardo seine Mutter in dem kleinen Ort Vinci nicht aus den Augen verloren. Doch der Kontakt blieb nicht so eng, wie er womöglich anfangs war. Der Junge wuchs ohne seine leibliche Mutter auf.20

Viel später, als Leonardo schon über vierzig Jahre alt ist und eine eigene Werkstatt führt, vermerkt er in seinen Unterlagen plötzlich die Ankunft einer Caterina in seinem Haushalt. Zu jener Zeit ist seine Mutter gerade verwitwet. Zwei Jahre später notiert Leonardo nüchtern die Kosten für das bescheidene Begräbnis dieser Caterina: Drei Pfund Kerzenwachs kauft er sowie eine Bahre mit Baldachin und eine Glocke, das Kreuz muss aufgerichtet, Totengräber, Priester und Chorknaben müssen bezahlt werden. Wie so oft in seinen Notizen verzichtet Leonardo auch dieses Mal auf persönliche Anmerkungen. So ist nicht erwiesen, was wahrscheinlich ist: dass es seine Mutter Caterina war, die ihre letzten Jahre bei ihrem Erstgeborenen verbrachte.21 Vielleicht handelt der Maler aus Mitgefühl und Familiensinn. Vielleicht will er aber auch nachholen, was er einst vermisst hatte: einen gemeinsamen Alltag von Mutter und Sohn.

Eine uneheliche Geburt ist im Italien der Renaissance ein Stigma.22 Familien sind die kleinsten und wichtigsten Einheiten der Gesellschaft, sie – und in ihnen die Väter – entscheiden über Ausbildung, Berufs- und Partnerwahl. Wer nicht ehelich geboren ist, gehört nie wirklich dazu. Alles, was einem solchen Kind zuteilwird, ist ein Akt der Gnade. Es gibt Väter, die ihre unehelichen Kinder wie Diener behandeln, besonders dann, wenn die Mütter Sklavinnen oder Mägde sind. Andere wie Ser Piero kümmern sich um ihre »natürlichen« Söhne (um Mädchen eher nicht), weil sie in ihnen eine Reserve sehen, für den Fall, dass sie keinen ehelichen Sohn bekommen, der überlebt. Diese Absicherung ist ihnen die Kosten einer Ausbildung wert, zumal die in der Regel geringer ausfallen als bei den ehelichen Söhnen.

Sind die »natürlichen« Kinder erwachsen, haben sie keine Ansprüche ihren Familien gegenüber. Während ein Vater seine ehelichen Nachkommen nicht einfach enterben kann, muss er seine nichtehelichen explizit in sein Testament aufnehmen, und selbst dann sind nach seinem Tod juristische Auseinandersetzungen mit anderen Verwandten wahrscheinlich. So geschieht es auch in der Familie da Vinci: In dritter und vierter Ehe zeugt der Vater schließlich noch fünfzehn Kinder, Leonardo ist da schon längst erwachsen. Nun hat Ser Piero neun Söhne als rechtmäßige Erben, sein Erstgeborener geht leer aus – und wird sich an seinem Lebensende vor Gericht mit den Halbbrüdern sogar über das Erbe seines kinderlos gestorbenen Lieblingsonkels Francesco streiten, der doch ihm, dem ältesten Neffen, allen Besitz vermacht hat.23

Wer in und um Florenz unehelich geboren wird, muss aus eigener Kraft durchs Leben kommen, muss sich die gesellschaftliche Anerkennung, die von seinem schlechten Status ablenken kann, selbst erarbeiten. Ungewöhnlich aber ist dieses Schicksal nicht. In Florenz ist es üblich, dass bürgerliche und adelige Mädchen schon als Jugendliche heiraten, Männer dagegen erst zehn bis zwanzig Jahre später. Das ist viel Zeit, in der sich mit Frauen niederer Stände viele uneheliche Nachkommen zeugen lassen.

Leonardo hat es verhältnismäßig gut getroffen, neben den Großeltern ist dem Knaben auch seine erste Stiefmutter, Albiera, zugetan.24 Als zunächst einziger Nachkomme wächst er behütet auf in dem großzügigen Landhaus der Familie mit Gemüsegarten und Blick auf das Schloss von Vinci. Sein Vater Ser Piero hält sich viel in Florenz auf, sein Geschäft blüht, er zieht in immer besser gelegene Stadtwohnungen und trägt nun rotviolette Mäntel wie ein Adeliger. Wahrscheinlich sieht er seinen Sohn nur selten. Doch im Nachbarhaus des Großvaters wohnt Ser Pieros Bruder Francesco, der nur fünfzehn Jahre älter ist als Leonardo und sich gerne mit dem Kleinen beschäftigt.

Sei es, weil Leonardo auf dem Land lebt, sei es, weil er eben doch kein eheliches, überbehütetes Kind ist: In Vinci genießt der Junge seine Freiheit. Er zeichnet viel, immer mit der linken Hand, woran sich niemand stört. Und er kann in aller Ruhe durch die Landschaft stromern, mit Hunden und Katzen herumtollen, lernt wahrscheinlich reiten. Der Knabe hat alle Zeit der Welt, um Wolken zu betrachten, Vögeln nachzustellen, Eidechsen und anderes Getier zu fangen. Und ihn interessiert alles. Staunenden Blickes nimmt er das bäuerliche Leben in sich auf, betrachtet eine Ölmühle, studiert den Lauf des Wassers und schaut den Frauen zu, die aus Weiden Körbe flechten und so dem Namen des Ortes gerecht werden: Vinci kommt nicht vom lateinischen Wort für siegen, vincere, sondern vom altitalienischen vinco, das Weide bedeutet.

Wahrscheinlich unternimmt Leonardo, das Einzelkind, viel auf eigene Faust. Später wird er in seinen Schriften mahnen, man müsse sich alleine der Natur aussetzen, um sie wirklich zu erfassen. Darum geht es ihm: Zu verstehen, warum die Dinge sind, wie sie sind. Als Erwachsener wird er immer ein Notizbuch am Gürtel tragen, um seine Beobachtungen im Alltag festzuhalten. Über den Vogelflug wird er räsonieren und über die Fähigkeit von Maschinen, die Muskelkraft zu ersetzen. Er widmet sich der Frage, warum Hunde einander am Hintern beschnuppern (weil sie dort riechen, wie wohlgenährt das andere Tier ist, meint Leonardo).25 Oder er versucht, die Wolken zu lesen und die Gesetze des Wassers zu verstehen. Die Natur ist seine Lehrmeisterin, sagt er gerne, und auf seine außerordentliche Beobachtungsgabe bildet er sich so viel ein wie andere auf ein langes Studium.

Was bleibt ihm auch anderes übrig. Als Junge geht er zur Schule, schreibt und rechnet, liest einige moderne Texte. Klassisches Latein aber lernt er nicht. Denn nach der Mittelschule, die auf kaufmännische Berufe vorbereitet, nimmt ihn der Vater aus dem Unterricht. Die humanistische Oberstufe, die Bedingung ist für ein Studium und eine juristische Laufbahn, erscheint ihm offenbar als zu viel des Guten, zumal die legitime Abstammung eine Voraussetzung ist, um Notar zu werden.26 Der Sohn soll einen Lehrberuf ergreifen und sich schnell eine Existenz aufbauen. Ser Piero wendet sich an den vielseitigen Werkstattchef Andrea del Verrocchio, der ein guter Kunde von ihm ist. Der Künstler hält den etwa Vierzehnjährigen für talentiert und nimmt ihn auf. So beginnt Leonardo um 1466 sein Berufsleben im besten Atelier der Stadt.27

Obwohl dies offenbar auch seine eigene Wahl ist, er zeichnet viel und gern: Der Mangel an akademischer Bildung nagt lange an Leonardo. Viel später wird der Künstler und Forscher sich selbst Latein beibringen, wird eine beachtliche Bibliothek ansammeln und lesen. Doch ihm bleibt das Gefühl, ein Manko zu haben, er, der Notarssohn zweiter Klasse.

Jahre danach, als er längst etwas erreicht hat im Leben, vermutet er, die »arroganten« Studierten würden ihn verachten, da er auf der Schule keine alten Sprachen gelernt habe. Also geht er in die Offensive. Stolz sei er darauf, ein »Erfinder« zu sein, schreibt er, einer, der nur seinen Augen traue, der »einfachen Erfahrung«, der »wahren Lehrmeisterin«. Die Belesenen dagegen erscheinen ihm »aufgeblasen und schwülstig«, »meine eigene Arbeit gönnen sie mir nicht«. Sie seien »zu tadeln, da sie gar nichts erfinden, sondern die Werke anderer herumtrompeten und nachbeten«. Ebenso zu verachten seien »Menschen, die nur materielle Reichtümer und Freuden begehren und den Wunsch nach Wissen, der Speise und dem wahren Reichtum der Seele, gar nicht kennen«. Sein Geheimnis sei es, sich zu verhalten wie ein armer Mann, der als Letzter auf den Markt gehe und nehme, was die anderen übrig gelassen haben. Nämlich das, was zu sehen und mit den Händen zu greifen ist.28

Stur und siegesgewiss, manchmal geradezu überheblich geht er seinen einzigartigen Weg. Das wäre ihm als ehelichem Sohn, als Erstgeborenem nicht möglich gewesen. Ohne die »Schande« seiner nicht standesgemäßen Herkunft hätte Leonardo sein Leben wohl nicht seinen Naturstudien, seinen Erfindungen und seiner Kunst gewidmet, hätte nicht derart um eigenen Ruhm gerungen, sondern vor allem um den seiner Familie. Sein unkonventioneller Individualismus mag eine Notlösung sein. Aber es ist eine Lösung.

Leonardos Sonderweg allerdings bringt auch eine gewisse Einsamkeit mit sich. Er wird als junger Mann die Regeln der Konversation lernen, wird geschmeidig in Gesellschaft auftreten, einnehmend, amüsant und zuvorkommend sein, wo es nötig ist. Aber er wird sein Herz hüten. Mehr als 5300 Seiten umfassen die überlieferten Notizbücher seines Lebens, doch seine Gefühle, seine privaten Gedanken äußert er höchstens verschlüsselt in allgemeinen Weisheiten. Das klingt dann oft unglücklich. »Durch die Erfahrung ist bewiesen: Wer niemandem traut, wird nie betrogen.« Und: »Die Leidenschaft des Geistes verscheucht die Wollust.« Oder: »Sobald Du allein bist, bist Du ganz Dein eigen, und wenn Du einen Gefährten hast, gehörst Du zur Hälfte Dir, und weniger noch im Verhältnis zur Taktlosigkeit seines Betragens.«29

Als Autor bleibt Leonardo da Vinci kühl und unpersönlich, hart gegen sich selbst und andere. Als Mensch wird er nur wenigen, meist engen Schülern, sein Vertrauen schenken. Als Zeichner und Maler aber ist er voller Empathie, ein Künstler, der dem Seelischen bis in feinste Verästelungen nachspürt. Seine Einfühlung kreist dabei um zweierlei: um die Natur und um die Frauen. Aus heutiger Sicht mag diese Verbindung nicht zwangsläufiger erscheinen als die von Mensch und Natur allgemein. Doch in Leonardos Augen ist natura eine weibliche Kraft und die Frauen verfügen über eine wundersame Potenz, die ihn zeitlebens interessiert. Es ist die Gabe, Leben zu schenken.

II

Landjugend