Per Egil Hegge

Norwegen von A bis Ø

Aus dem Norwegischen von Stefan Pluschkat und Nora Pröfrockimg_36399_01_037_Hegge_vt_u1a5e

Insel Verlag

Norwegen von A bis Ø

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Vorwort

Anfang der 1890er Jahre, als Karl Marx nicht mehr auf seine Unterstützung angewiesen war, unternahm Friedrich Engels eine Expedition nach Norwegen, um einer Frage nachzugehen, die ihn schon seit mindestens dreißig Jahren quälte: Wie war es möglich, dass ein Land mit drei Millionen Einwohnern, die gerade erst aus ihren Berghöhlen gekrochen waren und über keinerlei urbane Kultur verfügten, einen Beitrag zur Weltliteratur leistete, der sich mit den literarischen Schwergewichten aus Russland, England, Frankreich und Deutschland messen konnte?

Engels reiste nach Bergen und besuchte die Fjorde, und nachdem er die nackten, kahlen Berghänge gesehen hatte, an denen die Menschen kilometerweit vom nächsten Nachbarn entfernt lebten, kehrte er nach England zurück, wo er damals wohnte, und war auch nicht viel schlauer als vorher. Diese Norweger waren ein Völkchen für sich, so lautete seine einzige Erkenntnis.

Trotz der Modernisierung und des wirtschaftlichen Wachstums innerhalb der letzten einhundertdreißig Jahre lässt sich immer noch sagen, dass die Norweger ein Völkchen für sich sind. Auf ziemlich irritierende Weise scheinen sie damit vollkommen zufrieden zu sein – und bei der Klärung der Ursache zeigen sie sich nicht besonders hilfsbereit. Einen Hinweis liefert uns der Dichter Rolf Jacobsen, der Norwegen als »Andersland« bezeichnet. »Das meiste ist Norden«, heißt es in einem seiner Gedichte.

Unsere Lebensweise und Mentalität unterscheiden uns vom Rest Europas und lassen sich an ganz zentralen Begriffen und konkreten Alltagsphänomenen erkennen. In meiner fast sechzigjährigen Laufbahn als Journalist, in der ich lange Zeit auch als Auslandskorrespondent tätig war, habe ich mir oft die Frage gestellt, wie sich Norwegen für Außenstehende wohl am besten verständlich machen lässt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es weiß. Aber ich habe ein paar Phänomene aus dem norwegischen Alltag und der norwegischen Kultur genauer unter die Lupe genommen, um zu verstehen, wie sie diese sonderbare Nation am Rande des Eises geprägt haben und gleichzeitig ihr innerstes Wesen widerspiegeln. Möglicherweise haben sie die norwegische Mentalität mitgeformt. Genau darüber habe ich das vorliegende Buch geschrieben. Und ich staunte nicht schlecht, als es auch im Ausland Interesse weckte. Eigentlich hatte ich nur meinen von sich selbst eingenommenen Landsleuten einen frischen Blick auf die eigene Denk- und Lebensart ermöglichen wollen.

Inwiefern Modernisierung und Wirtschaftswachstum die norwegische Mentalität verändert haben, weiß ich nicht. Und ich würde behaupten, die meisten anderen Norweger wissen es genauso wenig. Vielen ist nicht einmal das ganze Ausmaß des ökonomischen Wachstums bewusst, seit im Dezember 1969 zum ersten Mal Öl in der Nordsee gefunden wurde – das größte Weihnachtsgeschenk aller Zeiten und der endgültige Beweis dafür, dass Gott (oder zumindest der Weihnachtsmann) Norweger ist.

1965, als der wichtigste norwegische Politiker der Nachkriegszeit, Einar Gerhardsen, nach insgesamt siebzehn Amtsjahren als Ministerpräsident zurücktrat, belief sich sein Jahresgehalt auf 69.000 Kronen (etwa 10.000 Euro). Das entsprach ungefähr dem, was eine dänische Kindergartenleiterin damals verdiente. Ihr Einkommen lag nur 3000 Kronen (ca. 450 Euro) darunter. 1973 war das Gehalt unseres Ministerpräsidenten bereits auf 110.000 Kronen (etwa 16.000 Euro) gestiegen und entsprach damit dem eines bei der Kommunalverwaltung angestellten Psychologen in Dänemark.

Zu diesem Zeitpunkt war die Ölproduktion in Norwegen noch gar nicht richtig in Gang gekommen, doch wir hatten schon begonnen, unsere zukünftigen Öleinnahmen auszugeben, und heute, fünfundfünfzig Jahre später, ist das Durchschnittsgehalt in Norwegen höher als in Schweden und Dänemark. Bei gleichzeitig niedrigeren Steuern.

Im Laufe dieser Entwicklung hat sich noch so manches andere verändert. Doch unsere Mentalität, wie sie in den norwegischen Volksliedern und Märchen zum Ausdruck kommt, ist in ihren Grundzügen gleichgeblieben. Und darin ähneln wir einer der europäischsten Nationen überhaupt, nämlich den Italienern. Italo Calvino schrieb im Vorwort zu seiner Sammlung italienischer Volksmärchen den berühmten Satz: »Le fiabe sono vere«, »Die Märchen sind wahr«.

Gleiches gilt vielleicht auch für unsere Lebens- und Denkweisen, die unseren Alltag prägen. Unveränderlich und unerschütterlich wie die norwegischen Berge begleiten sie uns durch jedwede Entwicklung, durch Wachstum und Wandel.

Oslo, August 2018

Per Egil Hegge

17. MAI [ˈsytənə ˈmaɪ]

Über die Feierlichkeiten am 17. Mai, dem norwegischen Verfassungstag, lässt sich leicht witzeln, und noch leichter ist es, die Redner des 17. Mai aufs Korn zu nehmen. Doch selbst die sachlichsten und tolerantesten Norweger fassen satirische Äußerungen zu ihrem Nationalfeiertag tendenziell als Unangemessenheit, Grenzüberschreitung oder gar Beleidigung auf – ja, fast wie einen Schlag oder einen Tritt unter die Gürtellinie. Vor allem, wenn solche Kränkungen von Nicht-Norwegern vorgebracht werden.

Norweger, die den 17. Mai im Ausland feiern, bekommen das besonders stark zu spüren. Ganz egal, um welches Ausland es sich handelt, die Einheimischen haben dort meist eine eher kritische Einstellung zu Paraden. Man geht gleich davon aus, dass gegen irgendetwas demonstriert wird – warum sonst der Aufwand? –, und in nicht wenigen Fällen und Ländern lautet der Tenor: viel zu riskant. Entweder man rottet sich zusammen und stellt Forderungen, oder man tut seine Unzufriedenheit mit mindestens einer anderen Gruppe kund. Für Norweger aber ist der 17. Mai der einzige Tag im Jahr, an dem sie wunschlos glücklich sind (Kinder, die mehr Eis haben wollen, halten wir hier mal außen vor) und trotzdem Paraden organisieren, in klarem und national(istisch)em Kontrast zu dem, was andere Länder veranstalten.

Wer der Ansicht ist, der Dichter Rolf Jacobsen gehe etwas zu weit, wenn er Norwegen als »Andersland« bezeichnet, muss ihm doch in einem Punkt recht geben: Die Feierlichkeiten am 17. Mai unterscheiden sich tatsächlich von entsprechenden Zeremonien in der restlichen Welt. Nicht-Norweger fragen sich sofort: Warum bestehen die Paraden fast ausschließlich aus Kindern? Wo ist die Militärparade? Wo bleiben die Düsenjäger, die in beeindruckenden Formationen über unsere Köpfe dahindonnern und mit dreifarbigen Streifen die Luft verpesten? Obwohl das Staatsoberhaupt zugleich oberster Befehlshaber der norwegischen Streitkräfte ist, lässt er die Paradeuniform ausgerechnet heute im Schrank? Gut, in der Hauptstadt werden ein paar Salutschüsse abgefeuert. Aber ansonsten?

Bei Nicht-Norwegern, die einen Ehrenplatz vor dem königlichen Schloss in Oslo ergattert haben, um den Kinderzug aus nächster Nähe zu verfolgen, sinkt die Begeisterung beträchtlich, wenn ihnen dämmert: Das Ganze wird noch ein paar Stunden dauern, und schließlich erreicht die Laune ihren endgültigen Tiefpunkt, sobald sie einsehen, dass sie vor dem Ende nicht dort wegkommen. Aber eine solche Ehre sollte, ja muss sogar mit höflichen, besser noch begeisterten Danksagungen gewürdigt werden. Schließlich hat nicht jeder die Gelegenheit, etwas mitzuerleben, was so einzigartig, aber im Grunde vor allem anders ist.

Ist Außenstehenden eigentlich klar, wie tief das bei uns sitzt? Dass man hierfür Norweger sein muss? Nicht für die Feierlichkeiten an sich, die können Ausländer sich durchaus angucken. Aber verstehen sie, dass die echte Anteilnahme, das Dabeisein mit Haut und Haar und ganzem Herzen, allein den Einheimischen vorbehalten ist? Einer, der das gesehen hat, mit resignierter und dennoch respektvoller Klarsicht, war der Psychiater Leo Eitinger (1912-1996), einer unserer verständigsten Einwanderer. Er war nur knapp den Schrecken von Auschwitz entkommen und wusste mehr als die meisten über die Gefahren des Andersseins, wenn die Geschichte plötzlich die Krallen ausfährt und ihre Zähne zeigt.

»Weißt du«, sagte er einmal zu einem norwegischen Bürger, der auch nicht zwischen Bergen, Fjorden und Meer aufgewachsen war, aber Norwegisch sprach und nach vielen Jahren im Land gut integriert war: »Was wir auch tun, weder du noch ich waren 1814 in Eidsvoll dabei und haben die Flagge geschwungen«, eine Anspielung auf die Nationalversammlung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bei der Norwegen ein eigenes Grundgesetz bekam.

Die Norweger sind nicht gerade dafür bekannt, Mauern zu errichten. Doch unter gewissen Umständen kann auch ein Kinderumzug mit all seiner Fähnchen schwenkenden Begeisterung regelrecht ausgrenzend wirken.

AGURKTID [aˈgʉrktiːd]

(SAURE) GURKENZEIT

Der norwegische Sommer ist so kurz und unbeständig, dass man ihn nutzen muss, solange er währt. Selbst Norweger, die mit Poesie nichts am Hut haben, wissen im Grunde ihres Herzens: »Die Sommernacht dürfen wir nicht verschlafen«, wie es in Aslaug Låstad Lygres Gedicht Vi skal ikkje sova (»Wir dürfen nicht schlafen«) heißt. Aus diesem Grund macht das ganze Land alles dicht, wenn die Nächte kürzer werden und die Kälte zu verschwinden droht. Dieser Zustand geht auch wieder vorbei, aber alles zu seiner Zeit, und was bis jetzt nicht erledigt wurde, kann getrost bis zum Ende der großen Ferien warten. Die stehen nämlich auf der Liste der norwegischen Menschenrechte ganz oben.

Nichtsdestotrotz passiert in dieser allgemeinen Ruheperiode gerade so viel, dass sich die Zeitungen füllen lassen. Jeden Tag. Wenn auch nicht im gleichen Umfang wie sonst, denn die Politiker und anderen Skandalstifter des Landes haben ebenfalls frei.

So erklärt sich der Ausdruck agurktid, Gurkenzeit. Je weniger passiert, desto wichtiger werden die kleinen, alltäglichen Begebenheiten des Lebens. Wie in guten alten Zeiten oder als Erinnerung an die bäuerliche norwegische Gesellschaft halten dann außergewöhnliche Ereignisse aus der Landwirtschaft Einzug in sämtliche Nachrichtenmedien – selbst in urbanen Gegenden, die sich immer weiter ausbreiten. Eine Gurke ist aber nicht einfach eine Gurke. Sie hat eine Form, und ihre Idealform ist in einem wichtigen Dokument festgehalten, das von den Landwirtschaftsbürokraten in Brüssel für die ganze EU (samt Norwegen, denn alle EU-Verordnungen gelten auch für uns) aufgesetzt wurde: Eine Gurke darf nicht mehr als 15 Prozent Krümmung aufweisen. Jeder Redakteur – bzw. seine Sommervertretung, schließlich ist der Redakteur ebenfalls im Urlaub – weiß, dass eine krumm und schief gewachsene Gurke während der Sommerflaute als Spaltenfüller dient. Zum Spätsommer hin tun es auch seltsam aussehende Kartoffeln oder Möhren.

Was der Redakteur aber nicht weiß, und erst recht nicht seine Vertretung: Das Krumme-Gurken-Verbot stammt überhaupt nicht aus Brüssel. Streng genommen handelt es sich auch nicht um ein Verbot, sondern lediglich um eine Empfehlung, auf die die Brüsseler Bürokraten noch nicht mal von allein gekommen sind. Das Ganze ist so vernünftig, dass ein jeder EU-Gegner – und davon gibt es in Norwegen viele – wohl eine gewisse andere Quelle dahinter vermutet. Und das zu Recht. In Brüssel wurde ganz einfach eine dänische Landwirtschaftsverordnung von 1926 kopiert.

Nun wissen alle, die ein wenig mit der norwegischen Geschichte vertraut sind, dass die dänischen Bürokraten sich die wundersamsten Dinge ausgedacht haben, vor allem jene Einfaltspinsel, die während der dänisch-norwegischen Unionszeit von 1380 bis 1814 nach Norwegen entsandt wurden, um die Bevölkerung unter dem Joch des Imperialismus stöhnen zu lassen. Die Verordnung gegen krumme Gurken jedoch hatte eine durch und durch logische Erklärung und zudem einen volkswirtschaftlichen Nutzen. Füllt man eine Kiste Gurken ausschließlich mit schnurgeraden Exemplaren, passen viel mehr hinein. Der Produzent spart Verpackung, was der ganzen Gesellschaft, also Land und Leuten und Steuerzahlern, zugutekommt.

Dass die Dänen mit ihrem unübertroffenen satirischen Talent am lautesten lachten und sich über die Dummköpfe im Brüsseler EU-Viertel am meisten lustig machten, ist ein gutes Beispiel für den ewigen Rundgang der Zeitungsmeldungen und das Unterlassen der kritischen Frage:

Wo hat das Ganze eigentlich angefangen? Die Antwort: Auf jeden Fall in der Gurkenzeit.

Und dass die Geschichte über die Gurkenzeit nun so lang geworden ist, obwohl sie eigentlich von gar nichts handelt, ist ein gutes Beispiel für die besondere Eigenart der Sommerflaute. Spezifisch norwegisch ist sie im Grunde auch nicht. Wo immer es Zeitungen gibt, die in den Sommermonaten nicht ganz so viel zu tun haben, ist sie unter den verschiedensten Bezeichnungen vertreten – die Briten verwenden den Ausdruck The Silly Season, in Deutschland spricht man bekanntlich von der Saure-Gurken-Zeit.

BLØTKAKE [ˈbløːtkɑːkə]

NORWEGISCHER FESTTAGSKUCHEN

Das Wort bløtkake ist unübersetzbar. Nicht einmal Schweden und Dänen, die des Norwegischen mächtig sind, verstehen es. Greift man auf die effektivste Methode der Fremdsprachenvermittlung zurück und präsentiert dem geneigten Lerner ein Anschauungsobjekt, sagt der Schwede: »Det där är en tårta – Das ist doch eine Torte.« Und wer käme schon auf die Idee, einer Torte eine so irreführende Bezeichnung wie bløt kake, wörtlich übersetzt »nasser Kuchen«, zu geben? Wurde er etwa in Wasser getunkt?

Ein Däne würde sagen: »Ach so! Ein lagkage!« Ein Kuchen (kage) mit mehreren Schichten (lag). Was soll daran nass sein?

Vielleicht wird das Ganze etwas klarer, wenn wir uns der soziologischen Dimension zuwenden und die Funktion des Kuchens an norwegischen Arbeitsplätzen betrachten. Geburtstage, Produktionsrekorde, ein neuer Vertrag zugunsten der Firma, Beförderungen, Verabschiedungen, Pensionierungen – all das erfordert mindestens einen bløtkake.

Der Status des bløtkake als Festtagsspeise, ja mehr noch, als regelrechte Ehrerweisung, lässt sich wunderbar anhand einer Geschichte verdeutlichen, die ich einer Kollegin, der Journalistin Mona Levin, zu verdanken habe. Sie zeigt, dass es selbst älteren Semestern bisweilen zu viel der Ehre werden konnte. Der stattliche und wummernde Protagonist dieser Geschichte ist der finnische Basssänger Kim Borg, der sich mit Monas Vater, dem Pianisten Robert Levin, auf Norwegen-Tournee befand. Hätte es die sogenannten Reichskonzerte (Rikskonsertene) damals schon gegeben – eine vom norwegischen Kulturrat ab 1967 gestiftete Institution, die das ganze Land mit künstlerisch wertvoller Livemusik versorgt –, so wäre die Tournee sicherlich in deren Rahmen arrangiert worden. Doch die Geschichte trug sich vorher zu, das heißt, in den entlegenen Orten, in denen das Duo damals gastierte, waren Konzertmusiker noch eine ausgesprochene Seltenheit.

Komposita mit riks- sind im Norwegischen übrigens trotz ihrer Patina immer noch in Gebrauch und durchaus verbreitet. Natürlich haftet ihnen das Problem an, dass sie an das Dritte Reich erinnern und eine Zeit heraufbeschwören, in der Norwegen und Deutschland auf eher unschöne Weise miteinander zu tun hatten. Da es aber schon das umherreisende Reichstheater (Riksteatret) gab, ganz zu schweigen vom Norwegischen Reichsrundfunk (Norsk Rikskringkasting, NRK), schien es nur natürlich, dass der musikalische Ableger entsprechend Reichskonzerte getauft wurde.

Aber zurück zu unseren beiden Reisenden: In einer Zeit vor staatlich subventionierten Konzerttourneen stellte ihr Besuch verständlicherweise ein großes lokales Ereignis dar, und so waren Borg und Levin im Anschluss an die Konzerte jeweils beim Vorsitzenden des örtlichen Kulturvereins eingeladen, zusammen mit einem erlesenen Kreis musikliebender Ehrengäste. Der Speiseplan war nicht sehr abwechslungsreich, serviert wurden Kaffee und bløtkake, den die Hausherrin stets selbst gebacken hatte, und weder am Handwerk noch am Fettgehalt der Sahnecreme gab es großartig etwas auszusetzen. Unterm Strich war die Menge an bløtkake, die es Abend für Abend zu vertilgen galt, jedoch schier überwältigend. Die beiden Musiker waren nach ihren Auftritten immer sehr hungrig, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich an bløtkake satt zu essen. Noch dazu musste die Gastgeberin selbstverständlich mit uneingeschränktem Lob für den prächtigen Kuchen überschüttet werden.

Eines Abends aber war das Maß voll. Als Kim Borg, den Mund einmal mehr voller Sahnekuchen, die wohl etwas zu zwitschernde Frage gestellt bekam: »Ist es nicht furchtbar anstrengend, tagelang so herumzureisen und Konzerte zu geben, Herr Borg?«, ging es mit ihm durch.

Der Sänger schluckte das Schlimmste hinunter, spülte mit einem Schluck Kaffee nach, und dann kam es: »Doch, doch. Ohne Alkohol wäre das wohl auch nicht möglich.«

Das war zu einer Zeit und in einer Gegend, in der die DNT-Ideologie noch heiliggehalten wurde, und wir reden hier nicht etwa vom norwegischen Wanderverein Den Norske Turistforening, der Norwegern heute wohl als Erstes in den Sinn kommt, sondern von Det Norske Totalavholdsselskap, der norwegischen Totalabstinenzgesellschaft. Entsprechend fiel der Applaus für diesen Gesprächsbeitrag etwas spärlicher aus als für das vorangegangene Konzert. Die beiden Musiker entschuldigten sich damit, dass sie müde seien und am nächsten Tag ein straffes Programm hätten, und brachen auf.

Falls die beiden den Verdauungsschnaps nicht ohnehin schon griffbereit in der Tasche trugen, so stand er mit Sicherheit im Pensionszimmer bereit, wenn sie denn so weit kamen. Wir dürfen wohl annehmen, dass der urnorwegische bløtkake an diesem Abend so ausgiebig mit fremdländischen Zutaten – vor allem schottischen Ursprungs – durchtränkt wurde, das am Ende nicht mehr viel davon übrig war.

BLÅ SWIX [ˈbloː ˈsʋɪks]

Auf der mühsamen Suche nach dem besten Skiwachs wurde bereits viel ausprobiert. Damit ein Produkt dieses ehren- und zugleich verheißungsvolle Prädikat verdient, gilt es, zwei diametral entgegengesetzte Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen: wenig Reibung beim Gleiten bei möglichst guter Haftung – also so viel Reibung wie nur geht –, wenn die Skier stillstehen. Nachdem ursprünglich vor allem Teer verwendet wurde, experimentierte man im Laufe der Zeit unter anderem mit ausrangierten Grammophonplatten (Vinyl) in gekochtem Zustand. Aber auch das war noch verbesserungswürdig.

Das unerbittliche Streben nach Fortschritt in Kombination mit einem nahezu unbegrenzten Budget, wie man es aus der Glanzzeit der sowjetischen Raumfahrt kennt, brachte zu Beginn unseres dynamischen Jahrhunderts eine rollende Wachsstation in der Größe eines Langstrecken-Lkws mit zwei Etagen und Balkon hervor. Nach dem Fiasko bei den olympischen Winterspielen 2006 in Turin war das für die norwegische Skimannschaft eine deutliche Verbesserung. Die Medaillenernte war damals eher dürftig ausgefallen, was wohl nicht nur daran lag, dass die norwegische Wachsstation keine Fenster hatte. Ein bisschen aber schon. Die Konstrukteure und das Wachspersonal hatten nämlich vergessen – oder womöglich nie davon gehört –, was man Nachwuchsmeteorologen vor ihrem allerersten Fernsehauftritt immer wieder einbläut: »Nach einem Blick auf die Wetterfronten, die Hoch- und Tiefdruckgebiete, die lokalen Temperaturangaben, die Luftströme mit Windgeschwindigkeit und Windrichtung sollte man vor Beginn der Sendung unbedingt noch einen Blick aus dem Fenster werfen.« Ein entsprechender Rat wird gern auch Volkswirten erteilt, bevor sie ihrer nächsten Wirtschaftsprognose den letzten Schliff geben.

Im Sommer 2014 kündigte der norwegische Skizubehörhersteller Swix den Bau einer Wachsstation von solidem Ausmaß an: Zehntausend Quadratmeter Produktions- und Verkaufsfläche sollten entstehen. Ein Jahr später, am 21. August 2015, fand in Lillehammer die Eröffnung statt, und das Gebäude wurde nicht etwa prosaisch nach dem Bestseller der Firma Blå-Swix-Station getauft, sondern Blåswixbutikken Concept Store. Die reinste Poesie, verfeinert mit einer Prise sprachlicher Weltgewandtheit und wunderbar passend zur Jahreszeit. Mitte August rücken in Norwegen nämlich allmählich die kühlen Abende näher, die bereits für das erste Halskratzen sorgen. Von da an werden sie immer länger und erinnern uns daran, dass der leise rieselnde Schnee nicht mehr weit entfernt ist und – o Freude! – die Skisaison bald kommt.

Für alle, die ihre Skier auf nicht ganz so hohem Niveau wachsen, vielleicht sogar auf so niedrigem, dass sie nicht einmal über eine kleine Privatwachsstation in der Garage verfügen, geht nichts über das allseits beliebte Skiwachs Blå Swix. Ein Norweger, der nie davon gehört hat, ist kein echter Norweger.

Bei uns weiß jedes Kind, dass dieses Skiwachs wie gemacht für Skiwanderungen und klassischen Langlauf bei Minusgraden auf trockenem Schnee ist, kurzum, bei Bedingungen wie aus der Touristenbroschüre, bei denen nicht einmal Bürohengste aus den Skiwachschefetagen, die viel zu selten an die frische Luft kommen, irgendetwas falsch machen können. Die kleinen 45-Gramm-Döschen kosten 89 Kronen (umgerechnet ca. 9,50 Euro). Das macht einen Kilopreis von knapp 2000 Kronen (ca. 215 Euro). Jeder norwegische Skiläufer würde eher eine Stange Skiwachs fressen, als auch nur anzudeuten, dieser Preis sei überteuert.

Umsonst gibt es nur wenig im Leben, und niemand kann mit einem Goldregen über den norwegischen Langlaufloipen rechnen, ohne etwas dafür zu investieren. Wachs sonst?