Andreas Maier

Die Familie

Roman

Suhrkamp

Prolog im alten Hallenbad

 
 
 
 
 

In meiner Kindheit hatte noch das alte Jugendstilbad in der Haagstraße geöffnet. Es wurde von Schulen für den Sportunterricht genutzt.

Mein Bruder war im achten Schuljahr nach wie vor Nichtschwimmer, wie auch ein paar andere in seiner Klasse. In diesem Schuljahr marschierte die Klasse öfter, Mädchen wie Jungen, von der Augustinerschule zur Bismarckstraße, am Adenauerplatz vorbei und dann in die Umkleidekabinen des alten Hallenbades hinein. Dort wurde sich der Kleidung entledigt, die Badehosen bzw. Badeanzüge wurden übergestreift, und dann versammelte sich der ganze Trupp in dem sparsam mit Jugendstilaccessoires versehenen Baderaum. Er hatte sich dort erst einmal in Reih und Glied aufzustellen, um auf Vollständigkeit überprüft zu werden. Der Lehrer schrie: Sollstärke? Die Gruppe gab einstimmig zurück, wie viele Mitglieder die Klasse zählte. Der Lehrer rief: Iststärke? Die Gruppe schrie, wie viele tatsächlich an diesem Tag erschienen waren.

In diesem Schuljahr hatte die Klasse einen neuen Sportlehrer. Mein Bruder und seine nicht schwimmfähigen Kameraden gaben zu Beginn des Schuljahrs bei der ersten Aufstellung am Beckenrand des alten Bades ordnungsgemäß an: Nichtschwimmer.

Der Lehrer kommandierte die Handvoll Schwimmunkundige in den Nichtschwimmerbereich und wies sie an, sich dort aufzuhalten.

Mein Bruder und seine Kollegen setzten sich in ironischer Laune ins Wasser und planschten dort ein wenig herum, obgleich keine kleinen Kinder mehr (manche der schon mal Sitzengebliebenen gingen in den Pausenstunden bereits in die Schillerlinde und tranken Apfelwein). Irgendwann würden sie aufgerufen, und dann würde der mühsame Prozeß des Schwimmenlernens beginnen, Übungen, Anweisungen, vielleicht Schwimmflügel, Ringe …

Der Lehrer führte eine Kohorte im Schwimmerbereich zu Sprints, unterwies sie in der richtigen Weise des Brustschwimmens und legte besondere Aufmerksamkeit auf die, die kraulen oder gar Schmetterling konnten (meistens Jungen). Sie durften gegeneinander antreten.

Mein Bruder, damals dreizehn, und seine Kollegen saßen in ihren Badehosen im Nichtschwimmerbereich und spritzten sich gegenseitig naß, was ihnen unverhohlen Spaß machte. Die Verrichtungen im Schwimmerbereich und die dortigen Hochleistungsanstrengungen der Sportlichen kommentierten sie mit Spott. Nach einer Stunde saßen sie immer noch da, fanden alles sehr lustig – besonders das Desinteresse des Lehrers an ihnen, der vor allem herausfinden wollte, wer unter den Schwimmern (und Schwimmerinnen) leistungsstark war. Am Ende der Doppelstunde kam die Anweisung zum Abrücken, die Nichtschwimmer verließen ihren Planschbereich, entledigten sich ihres Badezeugs, stiegen unter die Brause, bekleideten sich und liefen mit den anderen zusammen am Adenauerplatz vorbei und durch die Bismarckstraße zurück zur Augustinerschule.

Der Club der Nichtschwimmer hatte die folgende Woche kein anderes Thema als die eigenartige Planschstunde, die sie erlebt hatten.

Eine Woche später erfolgte derselbe Zug zum Hallenbad, und die Gruppe, zu der mein Bruder gehörte, setzte sich wieder in den Kinderbereich. Dort saßen sie, unterhielten sich, legten sich mit dem Rücken auf die Fliesen, ließen das Wasser ihre Körper umspülen, erzeugten kleine Wellen und erlebten erneut völlig entspannte zwei Stunden. Niemandem war unangenehm, daß es – bislang – abermals in keiner Weise darum ging, durch den Lehrer Schwimmen beigebracht zu bekommen.

Dieser seltsame Schwimmunterricht war Gesprächsthema, wenn mein Bruder von der Schule nach Hause kam und davon berichtete. Er erzählte damals immer witzige Anekdoten. Der Lehrer erschien als groteske Person, die Gruppe der gleichsam infantil Herumplanschenden als unfreiwillige Partizipanten eines absurden Geschehens, das in den Ausführungen meines Bruders stellvertretend für überhaupt alle Schulerlebnisse stand.

Nach einigen Wochen soll sich die Nichtschwimmergruppe dann allerdings aus eigenem Antrieb von dem Planschbereich aus zu dem Lehrer hinbewegt haben, um ihn zu fragen, worum genau es in diesem Unterricht für sie denn nun eigentlich gehen soll.

Den Lehrer habe das nicht interessiert.

So sei das Halbjahr weiter auf dieselbe Weise vergangen. Vorne hätten die Champions ihre Sprints abgezogen oder Lagenschwimmen absolviert, im hinteren Bereich sei weiter geplanscht worden, und immer wieder sei an den Lehrer der Hinweis herangetragen worden, daß das, was hier passiere, für einige nicht weiterführe. Der Planschgruppe tat das in ihrer ironischen Betrachtung der eigenen Lage keinen Abbruch. Es war zwar eine Einübung in Unsinn, aber dafür sehr entspannt, stets umsäuselt von kleinen, selbsterzeugten Chlorwasserwellen, und alles das in morbider, schon ziemlich verfallener Jugendstilatmosphäre (das Hallenbad wurde drei Jahre danach für immer geschlossen).

Dann gab es Zeugnisse. Die Nichtschwimmer hatten an keinem Sprint, keiner Langstrecke und keinem Lagenschwimmen teilgenommen. Sie hatten keine Leistung erbracht. Allesamt bekamen sie eine 5.

Mein Vater, Rechtsanwalt und damals CDU-Bürgermeisterkandidat, war Elternsprecher in dieser Klasse, sein Vertreter, ein SPD-Kommunalpolitiker, kam aus Florstadt. Der Sohn des SPDlers hatte ebenso wie der Sohn des CDUlers im Planschbereich gesessen und war wie dieser mit einer 5 in Sport in die Ferien verabschiedet worden.

Was folgte, war ein Krieg mit allen juristischen Mitteln. Auf der einen Seite die große Koalition aus CDU und SPD bzw. Friedberg und Florstadt, auf der anderen Seite das Direktorium der Augustinerschule, zwischen den Fronten der Sportlehrer und die gesamte »Sollstärke« der Klasse.

Mein Vater und sein Stellvertreter gewannen den Krieg. Jeder Schülerin und jedem Schüler wurde die Sportnote aus dem Klassenzeugnis gestrichen. Alle Sprints, alle Langstrecken und alle Lagen waren für die, die sich dafür mit einer 1 prämiert sahen, vergeblich gewesen, denn jetzt stand statt der 1 nur noch ein Strich im Zeugnis, versehen mit dem Hinweis, daß eine Benotung für die Leistungen in diesem Halbjahr aus pädagogischen Gründen entfällt.

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