Raymond Queneau

Zazie in der Metro

Roman

Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Frank Heibert

SUHRKAMP

ό πλάσας ήϕάνισεν

Aristoteles

I

Waschtinkndiso, dachte Gabriel entnervt. Unglaublich, waschen die sich nie. In der Zeitung steht, nur jede neunte Pariser Wohnung hat ein Bad, mag ja sein, aber waschen kann man sich auch ohne. Die vor meiner Nase haben sich jedenfalls nicht besonders angestrengt. Andererseits ist das hier nicht die allerverdreckteste Auswahl von ganz Paris. Wieso auch, kein Grund. Die hat der Zufall zusammengebracht. Warum sollten die Leute, die an der Gare d’Austerlitz warten, übler riechen als die an der Gare de Lyon? Kein Grund, ehrlich mal. Aber puh, dieser Geruch.

Gabriel förderte ein malvenfarbenes Seidentüchlein aus dem Ärmel zutage und riegelte sich damit den Rüssel ab.

»Was stinkt hier bloß dermaßen?«, verkündete lautstark eine Tante.

Damit meinte sie nicht sich, so ichbezogen war sie nicht, sondern den Duft, den der Mussjöh da verströmte.

»Das, meine Gutste«, antwortete Gabriel mit der ihm eigenen Schlagfertigkeit, »ist Gorilla, ein Parfüm aus dem Hause Myves St. Fleurant.«

»Müsste verboten werden, die Welt dermaßen zu verpesten«, legte die Schachtel selbstgewiss nach.

»Wenn ich dich recht verstehe, meine Gutste, dann schlägt dein Naturduft deiner Meinung nach den der Rosen. Tja, da hast du recht, bloß anders, als du denkst.«

»Hast du das gehört?«, fragte die Tante einen Kleinen nebendran, wahrscheinlich den Typen, der sie legal besteigen durfte. »Hast du gehört, wie dieses fette Schwein mich hier beleidigt?«

Der Kleine beäugte Gabriels Format und sagte sich, aha, ein Muskelprotz, die sind ja gutmütig, die nutzen ihre Kraft nie aus, wär ja feige. Also riss er ordentlich das Maul auf:

»Hey Orang-Utan, du stinkst.«

Gabriel seufzte. Schon wieder Gewalt anwenden. Widerlich, so genötigt zu werden. Nichts Neues seit Neandertal. Aber was muss, das muss. Konnte er doch nix dafür, wenn immer die Schwächlinge allen auf die Eier gingen. Na gut, lassen wir dem Würstchen noch ne Chance.

Also er: »Sag das nochmal.«

Etwas verwundert, dass der Kleiderschrank überhaupt antwortete, ließ sich der Kleine ausreichend Zeit für die folgende ausgefeilte Replik:

»Sag was nochmal?«

Ziemlich stolz auf die Retourkutsche, der Kleine. Nur dass das Trumm nicht nachgab, es beugte sich vielmehr vor, um diesen einphasigen Sechssilber auszustoßen:

»Wasdegradgesachthas …«

Der Kleine bekam es mit der Angst. Es wurde wohl Zeit, höchste Zeit wurde es, sich einen verbalen Schutzschild zu schmieden. Der Erstbeste war ein Alexandriner:

»Dieses Du möchte ich mir verbeten haben.«

»Lusche.« Gabriel hielt es ganz schlicht.

Und hob den Arm, als wollte er seinem Gesprächspartner eine langen. Ohne Umschweife ging dieser ganz von allein zu Boden, zwischen den Beinen der Leute, und hätte am liebsten losgeweint. Doch zum Glück kommt hastenichgesehn der Zug eingefahren, das sorgt für Kulissenwechsel. Die duftende Menge richtet ihre tausend Augen auf die Parade der Ankommenden; ganz vorn im Laufschritt Geschäftsmänner, die Aktentasche in der Hand, sonst kein Gepäck, und ins Gesicht geschrieben, dass nur sie vom Reisen Ahnung haben.

Gabriel lässt den Blick in die Ferne schweifen; die beiden sind bestimmt ganz hinten, Frauen halt, immer ganz hinten; aber von wegen, taucht da eine Rotznase auf und haut ihn an:

»Chbin Zazie, und du bist mein Oheim Gabriel, wetten?«

»Ja, der bin ich«, erwidert Gabriel und legt ein gewisses Oho in seinen Ton. »Und jetzt fährst du mit deinem Oheim heim.«

Die Göre lacht sich weg. Gabriel nimmt sie mit höflichem Lächeln in die Arme, hebt sie an seine Lippen, küsst sie, sie küsst ihn, er setzt sie ab.

»Du riechst ja sowas von gut«, sagt das Kind.

»Gorilla von Myves St. Fleurant«, erklärt der Tarzan.

»Tust du mir davon was hinter die Ohren?«

»Das ist ein Herrenparfüm.«

»Du siehst, womit du es zu tun hast.« Endlich schafft sich Jeanne Grossestittes bei. »Du wolltest ja drauf aufpassen, bitte, da hast dus.«

»Läuft«, sagt Gabriel.

»Kann ich mich auf dich verlassen? Weil, verstehst du, ich will nicht, dass sich die ganze Familie an ihr vergreift.«

»Aber Mami, letztes Mal warst du doch grad noch rechtzeitig!«

»Wie auch immer«, sagt Jeanne Grossestittes, »das kommt mir nicht nochmal vor.«

»Sei ganz unbesorgt«, sagt Gabriel.

»Gut. Dann treffen wir uns übermorgen hier, der Zug geht um 6 Uhr 60

»Bahnsteig Abfahrt«, sagt Gabriel.

»Natürlisch«, sagt Jeanne Grossestittes, sie hat die Besatzung hautnah erlebt. »Ach übrigens, wie gehts deiner Frau?«

»Besten Dank. Du kommst uns nicht besuchen?«

»Schaff ich nicht.«

»So ist sie halt, wenn sie einen Kerl am Start hat«, sagt Zazie, »da zählt Familie garnix mehr.«

»Tschau, Liebes. Tschau, Gabri.«

Sie verdrückt sich.

Zazies Kommentar:

»Die ist verknallt.«

Gabriel zuckt die Achseln und sagt nichts. Er schnappt sich Zazies Köfferchen.

Jetzt sagt er was.

»Abmarsch«, sagt er.

Dann schießt er los, schubst alles, was ihm in den Weg kommt, nach links und rechts. Zazie trappelt hinterher.

Und schreit: »He Oheim, nehmwer die Metro?«

»Nö.«

»Wie, nö?«

Sie blieb stehen. Gabriel stoppt auch, dreht sich um, setzt das Köfferchen ab und erläutert:

»Ja eben: nö. Heut läuft nix. Streik.«

»Wie, Streik?«

»Ja eben: Streik. Heut schlummert dieses überaus pariserische Transportmittel namens Metro unter der Erde, weil die Männer mit den Knipsezangen ihre Arbeit eingestellt haben.«

»Diese Drecksäcke«, schreit Zazie, »diese Saftärsche. Und das mir!«

»Das tun sie nicht bloß dir an.« Vollkommen objektiv.

»Mir doch egal. Passiert ja trotzdem mir. Und ich hatte mich so irrsinnig drauf gefreut, mit der Metro rumzukutschen. Verdammter Mist, sone Kacke.«

»Bedien dich mal deiner Vernunft.« Zuweilen zeichneten sich Gabriels Äußerungen durch einen leicht kantischen Thomismus aus.

Sodann fügte er, auf die Ebene der Kosubjektivität wechselnd, hinzu:

»Außerdem sollten wir uns jetzt tummeln. Ich sag nur: Charles watet.«

»Ha! Den Witz kenn ich schon«, rief Zazie wütend, »aus den Memoiren des General Vermot

»Aber nein«, sagte Gabriel, »nein. Charles ist ein Kumpel, und er hat ne Taxe. Die er wir uns eben wegen dem Streik reserviert hat, äh, haben, die Taxe. Alles klar? Abmarsch.«

Mit der einen Hand schnappte er sich das Köfferchen wieder, mit der anderen zerrte er Zazie hinter sich her.

Tatsächlich wartete Charles, vertieft in ein Wochenblatt mit Chronik der blutenden Herzen. Er suchte, und zwar schon seit Jahren, eine gut Abgehangene, der er die fünfundvierzig Kirschen seines Frühlings verehren konnte. Aber die Jenigen, die sich so in dieser Gazette ausmärten, waren ihm immer zu sehr Zicke oder Gans. Verschlagen oder falsch. Im Balken ihres Lamentos erschnüffelte er den Splitter, und noch in dem zerquältesten Mauerblümchen entdeckte er die potenzielle Quertreiberin.

»Tachchen, Kleine.« Keinen Blick für Zazie, stattdessen sorgfältig das Druckwerk unter seinem Hinterteil verstaut.

Sie drauf: »Sowas von hässlich, diese Karre.«

»Steig ein«, Gabriel, »und sei nicht so ein Snob.«

»Snob? Leck mich!«

»Lustich, deine kleine Nichte.« Charles drückt auf den Nippel und wirft die Kiste an.

Mit leichter, aber starker Hand schickt Gabriel Zazie auf die Rückbank der Taxe und lässt sich dann neben ihr nieder.

Zazie protestiert.

»Mach dich nicht so breit«, kreischt sie wutentbrannt.

»Vielversprechend«, bemerkt Charles knapp und friedfertig.

Er fährt an.

Nachdem sie etwas Strecke gemacht haben, weist Gabriel mit großartiger Geste auf die Gegend.

»Ah! Paris«, verkündet er einladend, »was für eine schöne Stadt! Schau hin. Wenn das nicht schön ist …«

»Mir doch egal«, sagt Zazie, »ich wär lieber mit der Metro gefahren.«

»Die Metro!«, brüllt Gabriel, »die Metro!! Da isse doch!!!«

Er zeigt mit dem Finger auf irgendwas in der Luft.

Zazie runzelt die Stirn. Arkwönisch.

»Die Metro?«, wiederholt sie. »Die Metro«, redet sie verächtlich weiter, »die Metro, die ist unterirdisch, die Metro. Also wirklich.«

»Die da«, sagt Gabriel, »ist überirdisch.«

»Dann isses nich die Metro.«

»Cherkläsdir«, sagt Gabriel. »Manchmal kommt sie aus der Erde raus, und dann fährt sie später wieder drunter.«

»Quatsch.«

Gabriel fühlt sich machtlos (zuckt), dann, er möchte das Thema wechseln, zeigt er wieder auf etwas am Wegesrand.

»Und da!«, muht er, »schau mal!! Das Panthéon!!!«

»Was man sich alles anhören muss.« Charles dreht sich nicht mal um.

Er fährt langsam, weil die Kleine die Sehenswürdigkeiten mitkriegen und dabei was lernen soll.

»Ist das etwa nicht das Panthéon?«, fragt Gabriel.

Seine Frage hat einen gönnerhaften Unterton.

»Nein«, sagt Charles mit Nachdruck. »Nein, nein und nochmals nein, das ist nicht das Panthéon.«

»Und was soll das deiner Meinung nach sein?«

Der gönnerhafte Tonfall bekommt fast etwas Beleidigendes für den Gesprächspartner, der sich im Übrigen beeilt, seine Niederlage einzugestehen.

»Keine Ahnung«, sagt Charles.

»Na bitte. Siehst du.«

»Aber das Panthéon isses nicht.«

Weil der Charles, der lässt dann doch nicht locker.

»Fragen wir einfach einen Passanten«, schlägt Gabriel vor.

»Passanten«, erwidert Charles, »alles Idioten.«

»Wie recht du hast«, sagt Zazie gelassen.

Gabriel gibt nach. Er hat einen neuen Anlass zur Begeisterung entdeckt.

»Und das«, ruft er aus, »das da ist …«

Doch jetzt schneidet ihm eine Heurekage seines Schwagers das Wort ab.

»Ich habs«, brüllt der. »Das Ding, das wir da gerade gesehen haben, war natürlich nicht das Panthéon, sondern die Gare de Lyon.«

»Kann sein«, sagt Gabriel lässig, »aber das alles liegt jetzt hinter uns, reden wir nicht mehr davon. Das da hingegen, Kleine, guck dir diese Architektur an, ist das nicht toll, das ist der Invalidendom …«

»Bist du irgendwo gegengelaufen«, sagt Charles, »mit dem Invalidendom hat das da null zu tun.«

»Na, wenn das nicht der Invalidendom ist«, sagt Gabriel, »dann teil uns doch mit wasesis.«

»Keine Ahnung«, sagt Charles, »könnte höchstens die Kaserne von Reuilly sein.«

»Ihr beide«, sagt Zazie nachsichtig, »ihr seid mir zwei Witzpillen.«

»Zazie«, verkündet Gabriel mit majestätischer Miene, die er problemlos aus seinem Repertoire zieht, »wenn du gern den echten Invalidendom mit dem richtigen Grabmal des wahren Napoleon sehen willst, führe ich dich da hin.«

»Napoleon? Leck mich«, gibt Zazie zurück. »Dieser aufgeblasene Typ mit seinem Idiotenhut interessiert mich null.«

»Was interessiert dich denn?«

Zazie sagt nichts.

»Ja«, sagt Charles unerwartet freundlich, »was interessiert dich?«

»Die Metro.«

Gabriel sagt Aha, Charles sagt nichts. Dann nimmt Gabriel den Faden wieder auf und sagt noch einmal: Aha.

»Und wann ist Schluss mit diesem Streik?«, fragt Zazie und lässt ihren Satz ordentlich wild klingen.

»Weiß ich doch nicht«, sagt Gabriel. »Ich habs nicht mit der Politik.«

»Hier gehts nicht um Politik«, sagt Charles, »sondern ums Fressen.«

»Und Sie, Msjöh«, fragt ihn Zazie, »streiken Sie auch zuweilen?«

»Ja, Mademoisellbstverständlich, wenn der Tarif mal steigen soll.«

»Den Tarif sollte man Ihnen lieber runtersetzen, mit so ner Kiste, ekelhafter gehz garnich. Stammt wohl noch von 14/​18, das Ding?«

»Gleich sind wir da«, sagt Gabriel versöhnlich. »Die Eckkneipe.«

»Welche Ecke?«, fragt Charles ironisch.

»Bei mir, wo ich wohne, an der Ecke halt«, antwortet Gabriel treuherzig.

»Aber«, sagt Charles, »dann ist die das nicht.«

»Wie«, sagt Gabriel, »du willst behaupten, das wär sie gar nicht?«

»Och nee«, mault Zazie, »fangt ihr schon wieder an.«

»Die ist es nicht, nein«, sagt Charles zu Gabriel.

»Ach, stimmt ja«, sagt Gabriel, als sie an dem Laden vorbeifahren, »da war ich noch nie drin.«

»Sag mal, Oheim«, erkundigt sich Zazie, »wenn du so einen Müll redest, machst du das eksra oder passiert das einfach so?«

»Ich will dich nur zum Lachen bringen, Kind«, antwortet Gabriel.

»Lass mal«, sagt Charles zu Zazie, »das macht er nicht exetra.«

»Nich sehr schlau«, sagt Zazie.

»In Wahrheit«, sagt Charles, »macht er es mal exetra, mal nicht.«

»Die Wahrheit!«, ruft Gabriel aus (zuckt), »wie wenn du wüsstest wasdesis. Wie wenn irgendeiner auf der Welt wüsste wasdesis. Das is alles (zuckt) pseudo: Panthéon, Invalidendom, Kaserne von Reuilly, Laden an der Ecke, alles. Pseudo, jawohl.«

Und bedrückt hängt er dran:

»Puh, ein Elend ist das!«

»Sollen wir irnkwo anhalten, auf einen Apéro?«, fragt Charles.

»Hat was.«

»La Cave?«

»In Saint-Germain-des-Prés?« Zazie zappelt schon.

»Also wirklich, Mädchen«, sagt Gabriel, »was du dir wieder vorstellst. Das ist doch vollkommen out.«

»Falls du andeuten willst, dass ich keine Ahnung habe«, antwortet Zazie, »kann ich nur sagen, du bist ein alter Sack.«

»Hast du das gehört?«, sagt Gabriel.

»Was willze machen«, sagt Charles. »So ist die junge Generation.«

»Die junge Generation«, sagt Zazie, »die sch…«

»Schon verstanden«, sagt Gabriel, »Nur die Ruhe. Also in die Eckkneipe?«

»Die von der richtigen Ecke«, sagt Charles.

»Genau«, sagt Gabriel. »Und nachher kommst du zum Essen zu uns.«

»War das nicht so verabredet?«

»Doch.«

»Ja und?«

»Und ich bestätige.«

»Wenns verabredet war, muss es nicht bestätigt werden.«

»Dann sagen wir so, ich erinnere dich dran, falls du es vergessen haben solltest.«

»Habs aber nicht vergessen.«

»Nachher kommst du also zum Essen zu uns.«

»Wie jetzt, Scheiße«, sagt Zazie, »gips gleich was zu trinken oder was?«

Gabriel schraubt sich geschickt-geschmeidig aus der Taxe. Man setzt sich an einen Tisch auf dem Bürgersteig. Die Kellnerin schafft sich gemächlich bei. Und Zazie bringt gleich mal ihren Wunsch vor.

Also sie: »Eine Caco-Calo.«

Und die Antwort: »Gipsnich.«

»Na was«, ruft Zazie aus, »wo sinwer denn.«

Sie ist entrüstet.

»Ich«, sagt Charles, »nehm einen Beaujolais.«

»Ich«, sagt Gabriel, »eine Milch mit Grenadine. Und du?«, fragt er Zazie.

»Hab ich doch schon gesagt: ne Caco-Calo.«

»Gipsnich, hat sie gesagt.«

»Ich will aber ne Caco-Calo.«

»Kannst so viel wollen, wie du willst«, sagt Gabriel mit äußerster Geduld, »du siehst doch: Gipsnich.«

»Warum ham Sie keine?«, fragt Zazie die Kellnerin.

»Tja.« (zuckt)

»Und eine Halbe Radler«, schlägt Gabriel vor, »wär das nichts für dich, Zazie?«

»Was ich will, is ne Caco-Calo und sonznix.«

Da geraten sie alle ins Grübeln. Die Kellnerin kratzt sich am Schenkel.

Und sagt schließlich: »Nebenan gips welche. Beim Italiener.«

»Und der Beaujolais«, sagt Charles, »kommt der jetzt?«

Er wird geholt. Gabriel steht kommentarlos auf, verschwindet zügig und ist bald mit einer Flasche zurück, aus deren Hals zwei Strohhalme ragen. Die stellt er vor Zazie hin.

»Da hast du, Kleine«, sagt er großzügig.

Ohne ein Wort nimmt Zazie die Flasche und bläst die Schalmei.

»Na bitte, geht doch«, sagt Gabriel zu seinem Kumpel. »Kinder muss man eben verstehen.«

II

»Wir sind da«, sagt Gabriel.

Zazie mustert das Haus. Ihre Eindrücke teilt sie nicht mit.

»Na«, erkundigte sich Gabriel. »Wirz gehen?«

Zazie machte ein Zeichen, mit dem sie anscheinend ausdrücken wollte, dass sie sich ihr Urteil vorbehielt.

»Ich geh mal bei Turandot vorbei«, sagte Charles, »dem hab ich was zu sagen.«

»Verstanden«, sagte Gabriel.

»Was gipsn da zu verstehen?«, fragte Zazie.

Charles ging die fünf Stufen vom Bürgersteig zum Café-Restaurant La Cave hinunter, drückte die Tür auf und rückte vor zum hölzernen Ausschank (bis zur Besatzung ein Aus-Zink).

»Guten Tag, Mussjöh Charles«, sagte Mado Clainefousse, die gerade einen Kunden bediente.

»Guten Tag, Mado«, antwortete Charles, ohne sie anzusehen.

»Ist sie das?«, fragte Turandot.

»Treffer«, antwortete Charles.

»Größer als ich dachte.«

»Na und?«

»Das passt mir nicht. Hab ich schon zu Gabri gesagt, keine Geschichten in meinem Haus.«

»Komm, bring mirn Beaujolais.«

Turandot schwieg und bediente ihn mit grüblerischer Miene. Charles kippte seinen Beaujolais, wischte sich mit dem Handrücken den Schnäuzer ab und warf einen zerstreuten Blick nach draußen. Zu diesem Behufe musste man den Kopf heben und sah dann auch nur Füße, Knöchel, Hosensäume, manchmal, mit etwas Glück, einen ganzen Hund, einen Basset. In einem Käfig, der beim Klappfensterchen hing, hauste ein trauriger Papagei. Turandot füllte Charles’ Glas auf und nimmt sich selber einen kleinen Schluck. Mado Clainefousse stellte sich hinter den Tresen, neben den Chef, und bricht das Schweigen.

»Mussjöh Charles, Sie sindn Melancholiker«, sagt sie.

»Melancholiker? Leck mich«, erwidert Charles.

»Also bitte!«, rief Mado Clainefousse. »Höflich sind Sie heute aber gar nicht.«

»Ich find das lustich«, sagte Charles mit finsterer Miene. »So redet die Rotznase nämlich.«

»Moment mal«, sagte Turandot sehr unbehaglich.

»Is ganz einfach«, sagte Charles. »Die kann kein Wort sagen, ohne Leckmich dranzuhängen.«

»Und dann auch mit der entsprechenden Geste?«

»Noch nicht«, antwortete Charles tiefernst, »aber lange dauerts nicht mehr.«

»O nein«, stöhnte Turandot, »bloß nicht.«

Er packte seinen Kopf mit beiden Händen und erweckte den unsinnigen Anschein, als ob er ihn sich abzureißen unterfinge. Dann fuhr er folgendermaßen in seiner Rede fort:

»Verdammte Scheiße, ich will in meinem Haus keine kleine Schlampe, die solchen Schweinkram ablässt. Die wird uns das ganze Viertel versauen, das seh ich doch von hier aus. In acht Tagen …«

»Sie bleibt nur zwei, drei Tage«, sagte Charles.

»Zu viel!«, schrie Turandot. »Zwei drei Tage reichen der doch, um sämtlichen alten Hanseln, die mir hier die Ehre geben, an die Eier zu gehen. Ich will keine Geschichten, hörst du, ich will keine Geschichten.«

Der Papagei, der an einer seiner Krallen herumknabberte, senkte den Blick, unterbrach seine Toilette und schaltete sich ein:

»Du quatscht und quatscht«, sagte Laverdure, »sonst hast du nichts zu bieten.«

»Recht hat er«, Charles drauf. »Schließlich brauchst du deine Geschichten nicht mir zu erzählen.«

»Der kotzt mich an«, nun Gabriel liebevoll, »aber ich frag mich, warum hast du ihm erzählt, wie die Kleine rumpöbelt?«

»Ich sags halt, wies ist. Außerdem wirst du kaum verbergen können, dass deine Nichte irre schlecht erzogen ist. Sag selbst, hast du so geredet, als Kind?«

»Nein«, antwortet Gabriel, »aber ich war ja auch kein Mädchen.«

»Zu Tisch«, sagt sanft Marceline und stellt die Suppenschüssel hin. »Zazie«, ruft sie sanft, »zu Tisch.«

Sanft befüllt sie schöpfkellenweise die Teller.

»Aha«, stellt Gabriel befriedigt fest, »wir haben Consommé.«

»Nicht übertreiben«, sagt sanft Marceline.

Zazie kommt endlich auch dazu. Sie setzt sich mit leerem Blick hin und stellt beleidigt fest, dass sie Hunger hat.

Nach der Bouillon gab es Blutwurst mit überbackenen Speckkartoffeln, erst danach Leberpastete (die Gabriel aus dem Cabaret mitbrachte, er konnte nicht anders, ständig drängte sich einem welche auf, trau, klau, wem), und schließlich eine zuckrige Süßspeise sowie tassenweise ausgeschenkten Kaffee, Kaffee nämlich weiell: Charles und Gabriel mussten beide nachts schuften gehen. Charles zog nach der erwarteten Überraschung einer Grenadine mit Kirsch sofort ab, Gabriels Job fing nicht vor elf an. Er machte die Beine unterm Tisch lang und noch ein Stückchen länger und lächelte Zazie zu, die stocksteif auf ihrem Stuhl saß.

»Na, Kleine«, so nebenbei, »und jetzt gehen wir in die Heia?«

»Wen meinst du mit ›wir‹?«, fragte sie.

»Na dich natürlich!« Gabriel tappte prompt in die Falle. »Wie viel Uhr gehst du da immer schlafen?«

»Hier und da sind ja wohl zwei verschiedene Paar Schuh.«

»Schon«, sagte Gabriel verständnisvoll.

»Weil wenn ich hier abgestellt werde, dann soll es ja wohl nicht so sein wie da. Oder?«

»Ja.«

»Sagst du nur einfach so Ja oder denkst du das wirklich?«

Gabriel wandte sich zur lächelnden Marceline um: »Siehst du, wie eine Rotznase in dem Alter schon diskutieren kann? Da fragt man sich, wozu man sie noch zur Schule schicken muss.«

»Also ich«, verkündete Zazie, »ich will zur Schule gehen, bis ich fünfundsechzig bin.«

»Bis du fünfundsechzig bist?«, wiederholte Gabriel ein Spürchen überrascht.

»Ja«, sagte Zazie, »ich will Lehrerin werden.«

»Das ist keineswegs ein schlechter Beruf«, sagte sanft Marceline. »Und Rente kriegste auch noch.«

Letzteres fügte sie ganz automatisch hinzu, denn sie kannte sich gut aus mit dem Französischen.

»Rente? Leck mich«, sagte Zazie. »Ich will doch nicht wegen der Rente Lehrerin werden.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Gabriel, »war ja klar.«

»Aha, warum also?«, fragte Zazie.

»Erklärs uns mal.«

»Von selber fällt dir nix dazu ein?«

»Hat schon was drauf, die Jugend von heute«, sagte Gabriel zu Marceline. Und zu Zazie:

»Also? Warum willstn du Lehrerin werden?«

»Um den Kleinen einzuheizen«, antwortete Zazie. »Denen, die in zehn Jahren in meinem Alter sind, in zwanzig Jahren, in fünfzig Jahren, in hundert Jahren, in tausend Jahren, es wird immer Blagen geben, die man fertigmachen kann.«

»Na Mensch«, sagte Gabriel.

»Ich werde sowas von fies zu ihnen sein. Ich lass sie das Parkett ablecken. Ich lass sie den Tafelschwamm fressen. Ich steck ihnen ihren Zirkel hinten rein. Und geb ihnen Stiefeltritte in den Arsch. Weil ich nämlich Stiefel tragen werde. Im Winter. So hohe (zeigt). Mit großen Sporen, dann kann ich ihnen den Pöter spicken.«

»Weißt du«, sagte Gabriel gelassen, »wenn man den Zeitungen glauben kann, orientiert sich die moderne Erziehung gar nicht in diese Richtung. Eher im Gegenteil. Da neigt man eher zu Sanftheit, Verständnis, Freundlichkeit. Nicht wahr, Marceline, so steht es in der Zeitung?«

»Ja«, antwortete sanft Marceline. »Aber sag mal, Zazie, bist du in der Schule misshandelt worden?«

»Das haben sie besser gelassen.«

»Übrigens«, sagte Gabriel, »in zwanzig Jahren wird es keine Lehrerinnen mehr geben: Die werden von Kino, Fernsehen, Elektronik und lauter so Zeug ersetzt. Das stand auch neulich in der Zeitung. Nicht wahr, Marceline?«

»Ja«, antwortete sanft Marceline.

Zazie erwog diese Zukunft einen Moment lang.

»Dann«, erklärte sie, »werd ich eben Astronautin.«

»Na bitte«, sagte Gabriel zustimmenderweise. »Bitte. Man muss mit der Zeit gehen.«

»Ja«, fuhr Zazie fort, »ich werd Astronautin, da kann ich den kleinen grünen Männchen einheizen.«

Gabriel schlug sich begeistert auf die Schenkel:

»Die Kleine kommt auf Ideen.«

Er war hin und weg.

»Sie sollte aber trotzdem mal schlafen gehen«, sagte sanft Marceline. »Bist du nicht müde?«

»Nein«, gähnte Zazie.

»Die Kleine ist müde«, wiederholte sanft Marceline, an Gabriel gerichtet, »sie sollte schlafen gehen.«

»Du hast recht«, sagte Gabriel und fing an, einen gebieterischen Satz auszubrüten, möglichst ohne Raum für Widerspruch.

Bevor er dazu kam, ihn zu formulieren, fragte Zazie, ob sie eine Mattscheibe hätten.

»Nein«, sagte Gabriel und fügte verlogen hinzu: »Ich ziehe das Filmtheater vor.«

»Dann könntest du mich ja ins Filmtheater einladen.«

»Es ist zu spät«, sagte Gabriel. »Außerdem hab ich keine Zeit, ich fang um elf mit der Arbeit an.«

»Es geht auch ohne dich«, sagte Zazie. »Meine Tante und ich gehen einfach zu zweit alleine.«

»Das würde mir nicht gefallen«, sagte Gabriel langsam und grimmig.

Er sah Zazie direkt in die Augen und fügte scharf hinzu:

»Marceline geht niemals ohne mich aus.«

Er fuhr fort:

»Das erklär ich dir nicht, Kleine, das würd zu lang dauern.«

Zazie wandte den Blick ab und gähnte.

»Ich bin müde«, sagte sie, »ich geh jetzt schlafen.«

Sie stand auf. Gabriel hielt ihr die Wange hin. Sie gab ihm ein Küsschen.

»Deine Haut ist glatt«, stellte sie fest.

Marceline begleitet sie aufs Zimmer, und Gabriel holt ein hübsches Nagelnecessaire aus Schweinsleder mit seinen Initialen drauf. Er macht es sich bequem, schenkt sich ein großes Glas Grenadine ein, mit etwas Wasser abgemildert, und beginnt mit der Maniküre; das liebte er, darin war er äußerst geschickt und zog sich selbst jeder Nagelpflegekraft vor. Er trällerte einen obszönen Refrain und ging dann, als das Loblied auf die drei Goldschmiede gesungen war, zum Pfeifen über, nicht zu laut, um die Kleine nicht zu wecken, ein paar Militärsignale aus den alten Zeiten, etwa den Zapfenstreich, den Fahnenappell, das Lied vom Leutnant La-La-Loch usw.

Marceline kehrt zurück.

»Sie ist schnell eingeschlafen«, sagt sie sanft.

Sie setzt sich und schenkt sich ein Glas Kirsch ein.

»Ein kleiner Engel«, kommentiert Gabriel nüchtern.

Er bewundert den Nagel, den er gerade fertig hat, den vom kleinen Finger, und geht zum Ringfinger über.

»Was sollen wir denn den lieben langen Tag über mit ihr anfangen?«, fragt sanft Marceline.

»Das ist kein so großes Problem«, sagt Gabriel. »Erst mal nehme ich sie auf den Eiffelturm mit, ganz nach oben. Morgen Nachmittag.«

»Aber morgen Vormittag?«, fragt sanft Marceline.

Gabriel erbleichte.

Und sagte: »Auf keinen Fall, auf gar keinen Fall darf sie mich wecken.«

»Siehst du«, sagte sanft Marceline. »Ein Problem.«

Gabriel zeigte sich zunehmend panisch.

»So Kinder, die stehen morgens früh auf. Sie wird mir den Schlaf verderben … die Erholung … Du kennst mich. Ich muss mich unbedingt erholen. Meine zehn Stunden Schlaf müssen unbedingt sein. Für die Gesundheit.«

Er sieht Marceline an.

»Nicht dran gedacht?«

Marceline senkte den Blick.

»Ich wollte dich nicht an deinen Pflichten hindern«, sagte sie sanft.

»Ich danke dir«, sagte Gabriel tiefernst. »Aber was zum Kuckuck sollen wir anstellen, damit ich sie morgens nicht höre.«

Sie bedachten das.

»Wir«, Gabriels Vorschlag, »könnten ihr ein Schlafmittel geben, damit sie mindestens bis mittags schläft, oder noch besser, bis zu ihrem Nachmittagskuchen. Gibt anscheinend klasse Zäpfchen mit dieser Wirkung.«

»Klopf klopf klopf.« Hinter der Tür tut Turandot das Nämliche diskret auf dem Holz derselben.

»Herein«, sagt Gabriel.

Turandot tritt ein, er hat Laverdure dabei. Ungefragt setzt er sich und stellt den Käfig auf den Tisch. Laverdure wirft bemerkenswert begehrliche Blicke auf die Grenadine. Marceline gießt ihm einen Schluck in seinen Trinknapf. Turandot lehnt das Angebot ab (zuckt). Gabriel macht sich nach Vollendung des Mittelfingers über den Zeigefinger her. All das geschafft und noch nichts gesagt.

Laverdure hat seine Grenadine weggeschlabbert, wischt sich den Schnabel an seiner Sitzstange ab und ergreift mit folgenden Worten das Wort: »Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten.«

»Quatschen? Leck mich!«, erwidert Turandot beleidigt.

Gabriel unterbricht die Renovierungsarbeiten und mustert den Besucher scharf.

Und sagt: »Sag das nochmal, was du gesagt hast.«

»Ich hab gesagt«, sagt Turandot, »quatschen? Leck mich!, hab ich gesagt.«

»Und was willst du damit andeuten? Wenn ich so sagen darf.«

»Dass das Blag hier ist, passt mir nicht. Das will ich andeuten.«

»Ob dir das passt, ja?, oder ob. es. dir. nicht. passt., ja, das ist mir egal.«

»Entschuldige mal. Ich vermiete dir hier ohne Kinder, und jetzt hast du plötzlich eins, ohne meine Erlaubnis.«

»Ha, deine Erlaubnis. Weißt du, wo ich mir die hinstecke?«

»Schon klar, und als Nächstes redest du so wie deine Nichte, eine Schande ist das.«

»Du bist ja unintelligenter, als die Polizei erlaubt, weißt du überhaupt, was das heißt, ›unintelligent‹, du Vollidiot?«

»Na bitte«, sagt Turandot, »schon gehz los.«

»Du quatscht«, sagt Laverdure, »du quatscht, sonst hast du nichts zu bieten.«

»Was geht los?«, fragt Gabriel eindeutig drohend.

»Du fängst an, dich in abstoßender Weise auszudrücken.«

»Weil er mich langsam nervt«, sagt Gabriel zu Marceline.

»Reg dich nicht auf«, sagt sanft Marceline.

»Ich will keine kleine Schlampe im Haus haben«, sagt Turandot mit pathetischem Unterton.

»Fick dich«, brüllt Gabriel, »fick dich, aber echt.«

La Cave

»Treffer«, sagte Turandot.

»Wird da auch getanzt, in euerm Keller?«

»Das nun nicht«, sagte Turandot.

»Jämmerlich«, sagte Zazie.

»Mach dir um ihn keine Sorgen«, sagte Gabriel, »der kommt gut über die Runden.«

»Aber in SängSchermängdehPreh«, sagte Zazie, »da könnt er absahnen, steht in jeder Zeitung.«

»Wie freundlich von dir, dich um meine Angelegenheiten zu kümmern«, sagte Turandot gönnerhaft.

»Freundlich? Leck mich«, gab Zazie zurück.

Turandot stößt ein triumphierendes Miau aus.

»Ha ha«, sagt er zu Gabriel, »jetzt kannst du es nicht mehr abstreiten, ihr Leckmich hab ich genau gehört.«

»Red doch keinen Schweinkram«, sagt Gabriel.

»Das war doch nicht ich«, sagt Turandot, »sondern sie.«

»Der petzt«, sagt Zazie. »Das ist gemein.«

»Schluss jetzt«, sagt Gabriel. »Ich muss mal langsam los.«

»Nachtwächter, das ist bestimmt nicht besonders lustich«, sagt Zazie.

»Arbeiten ist nie besonders lustich«, sagt Gabriel. »Geh jetzt schlafen.«

Turandot hebt den Käfig auf und sagt:

»Wir sprechen uns noch.«

Und fügt mit spitzen Lippen hinzu:

»Sprechen? Leck mich.«

»Ist der doof«, sagt sanft Marceline.

»Besser gehz nich«, sagt Gabriel.

»Na dann gute Nacht«, sagt Turandot unverändert freundlich, »ich habe einen angenehmen Abend verbracht, ich bereue keine Minute.«

»Du quatscht und quatscht«, sagt Laverdure, »sonst hast du nichts zu bieten.«

»Süß ist der.« Zazie betrachtet das Tier.

»Geh jetzt schlafen«, sagt Gabriel.

Zazie nimmt die eine Tür, die Freunde der Nacht eine andere.

Gabriel wartet ab, bis sich alles beruhigt hat, bevor er seinerseits aufbricht. Lautlos, wie es sich für einen guten Mieter ziemt, geht er die Treppe hinunter.

Aber Marceline hat etwas gesehen, auf einer Kommode, sie nimmt es, stürzt zur Tür hinaus, beugt sich übers Geländer und ruft sanft ins Treppenhaus:

»Gabriel, Gabriel.«

»Was denn? Was ist los?«

»Du hast deinen Lippenstift vergessen.«