Mario Vargas Llosa

Der Ruf der Horde

Eine intellektuelle Autobiografie

Aus dem Spanischen von Thomas Brovot

Suhrkamp

Für Gerardo Bongiovanni,
den Förderer der liberalen Ideen und treuen Freund.

Inhalt

Der Ruf der Horde

Adam Smith . 1723-1790

Theorie der ethischen Gefühle (1759)

Die Arbeit an Der Wohlstand der Nationen

Der Wohlstand der Nationen

Adam Smiths letzte Jahre

José Ortega y Gasset . 1883-1955

Unabhängigkeitsstreben und Niedergang

Die Entmenschlichung der Kunst

Der Aufstand der Massen

Ortega y Gasset und die Republik

Die Höflichkeit des Philosophen

Ortega und der Bürgerkrieg

Friedrich August von Hayek . 1899-1992

Hayek und Keynes

Die verhängnisvolle Anmaßung

Der Weg zur Knechtschaft

Die Verfassung der Freiheit

»Warum ich kein Konservativer bin«

Karl Popper . 1902-1994

Ein Leben im Jahrhundert

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Popper und Wittgenstein

Die verdächtige Wahrheit

Die geschlossene Gesellschaft und die Welt 3

Historizismus und Fiktion

Reformismus oder die Technik der kleinen Schritte

Die Tyrannei der Sprache

Die Stimme Gottes

Raymond Aron . 1905-1983

Das Opium der Intellektuellen

Die unauffindbare Revolution

Raymond Aron und Jean-Paul Sartre

Isaiah Berlin . 1909-1997

Der diskrete Philosoph

Der Mann, der zu viel wusste

Die widersprüchlichen Wahrheiten

Die Erfahrung in Washington

Die Nacht mit der Achmatowa

Die zwei Freiheiten

Im goldenen Käfig

Der Igel und der Fuchs

Helden unserer Zeit

Der Magus aus dem Norden

Weise, diskret und liberal

Jean-François Revel . 1924-2006

Wozu Philosophen?

Sozialist und Liberaler

Die totalitäre Versuchung

Kein Jesus und kein Marx

So enden die Demokratien

Die Herrschaft der Lüge

Terrorismus und Demokratie

Der Dieb im leeren Haus

Danksagung

Der Ruf der Horde

Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, ein Buch wie das vorliegende zu schreiben, hätte ich nicht vor mehr als zwanzig Jahren Edmund Wilsons Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof gelesen. Dieses faszinierende Werk erzählt die Geschichte der Entstehung der sozialistischen Ideen von dem Moment an, als der französische Historiker Jules Michelet in einer Fußnote auf Giambattista Vico stieß und, neugierig geworden, Italienisch zu lernen begann, bis zu Lenins Ankunft am Finnischen Bahnhof in Sankt Petersburg am 16. April 1917, wo er sich an die Spitze der Russischen Revolution stellte. Die Lektüre brachte mich auf die Idee zu einem Buch, das für den Liberalismus sein sollte, was der amerikanische Literaturkritiker für den Sozialismus vorgelegt hatte; zu einem Buch, das, beginnend mit der Geburt von Adam Smith 1723 im schottischen Hafenstädtchen Kirkcaldy, die Entwicklung der liberalen Ideen nachzeichnet und ihre bedeutendsten Vertreter porträtiert, jeweils im Rahmen der historischen und gesellschaftlichen Ereignisse, die zur Verbreitung ihrer Ideen in der Welt führten. An mein Vorbild reiche ich bei weitem nicht heran, aber das ist der Ursprung von Der Ruf der Horde.

Es mag zunächst nicht so aussehen, aber es ist ein autobiografisches Buch. Es beschreibt meinen eigenen intellektuellen und politischen Werdegang, die Wegstrecke, die mich von meiner Jugend, geprägt vom Marxismus und von Sartres Existenzialismus, zum Liberalismus meiner späteren Jahre führte, wozu auch eine Neubewertung der Demokratie gehörte; die Lektüre von Schriftstellern wie Albert Camus, George Orwell und Arthur Koestler war mir dabei hilfreich. Auch über manche politischen Erfahrungen habe ich mich auf den Liberalismus zubewegt, vor allem aber waren es die Ideen der sieben Denker, um die es hier gehen soll: Adam Smith, José Ortega y Gasset, Friedrich von Hayek, Karl Popper, Isaiah Berlin, Raymond Aron und Jean-François Revel.

Die Politik entdeckte ich als Zwölfjähriger, im Oktober 1948, als in Peru General Manuel Apolinario Odría mit einem Militärputsch den Präsidenten José Luis Bustamante y Rivero stürzte, einen Verwandten meiner Familie mütterlicherseits. Während der acht Jahre unter Odría muss in mir der Hass auf Diktatoren jeder Couleur gewachsen sein, eine der wenigen ehernen Konstanten in meiner politischen Haltung. Die eigentliche gesellschaftliche Problematik jedoch – dass Peru nämlich ein Land voller Ungerechtigkeiten war, in dem eine privilegierte Minderheit die übergroße Mehrheit nach Belieben ausbeutete – kam mir erst 1952 zu Bewusstsein, als ich in meinem letzten Schuljahr die spanische Ausgabe von Jan Valtins Tagebuch der Hölle las. Deshalb wollte ich auch nicht auf die Universidad Católica gehen, wie es meine Familie gerne gesehen hätte – im damaligen Peru war sie die Hochschule für Kinder aus besserem Hause –, und ich bewarb mich an der San Marcos, einer öffentlichen, volksnahen und der Militärdiktatur fernstehenden Universität, wo ich, dessen war ich mir sicher, in die Kommunistische Partei eintreten konnte. Als ich 1953 dann mit dem Literatur- und Jurastudium an der San Marcos begann, hatte die Repression unter Odría fast vollständig mit den Kommunisten aufgeräumt, das Führungspersonal wurde eingesperrt, umgebracht oder ins Exil gejagt. Mit der Gruppe Cahuide, in der ich mich ein Jahr lang engagierte, versuchte die Partei sich neu zu formieren. 

Dort erhielt ich auch meinen ersten Marxismus-Unterricht, in heimlichen Lesezirkeln, in denen wir José Carlos Mariátegui, Georges Politzer, Marx, Engels, Lenin lasen und heftig über den sozialistischen Realismus diskutierten, über den linken Radikalismus auch, die »Kinderkrankheit im Kommunismus«. Meine große Bewunderung für Sartre, den ich andächtig las, schützte mich vor allzu Dogmatischem – wir peruanischen Kommunisten dieser Jahre waren, wie Salvador Garmendia es nannte, »wenige, aber ausgesprochen sektiererisch« –, und so verfocht ich in meiner Zelle die These, wonach ich an den historischen Materialismus und den Klassenkampf glaubte, nicht aber an den dialektischen Materialismus. Anlass für meinen Genossen Félix Arias Schreiber, mich bei einer dieser Diskussionen als »Untermenschen« zu bezeichnen.

Ende 1954 verließ ich die Gruppe Cahuide, blieb aber, denke ich, weiter Sozialist, zumindest was meine Lektüren betraf, und mit dem Kampf Fidel Castros und seiner »Bärtigen« in der Sierra Maestra und dem Sieg der Kubanischen Revolution in den letzten Tagen des Jahres 1958 erhielt diese Einstellung neuen Schwung. Auf meine Generation – nicht nur in Lateinamerika – hatten die Ereignisse in Kuba entscheidenden Einfluss, es war eine ideologische Zäsur. Viele Menschen sahen, so wie ich, in dem castristischen Unternehmen nicht allein ein heroisches und edelmütiges Abenteuer idealistischer Kämpfer, die mit der korrupten Diktatur Batistas Schluss machen wollten, sondern auch eine Form des Sozialismus, in dem Kritik und Vielfalt erlaubt wären und selbst Andersdenkende ihren Platz hätten. Viele von uns glaubten das, weshalb die Kubanische Revolution in den ersten Jahren auch weltweit eine solche Unterstützung fand.

Als 1962 die Kubakrise ausbrach, war ich als Reporter für den französischen Sender RTF in Mexiko, um über eine von Frankreich organisierte Ausstellung im Chapultepec-Park zu berichten. Also schickte man mich nach Havanna, ich saß im letzten Flugzeug der Cubana, das vor der Blockade noch von Mexiko aus fliegen konnte. In Kuba befürchtete man eine Landung der Marines, und Castro hatte die allgemeine Mobilmachung ausgerufen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Am Malecón wurden die kleinen, bocachicas genannten Flugabwehrkanonen bedient von Jugendlichen, fast noch Kinder, die, ohne einen Schuss abzugeben, unter den Tiefflügen der amerikanischen F-86 ausharrten; Radio und Fernsehen gaben Anweisungen, was die Bevölkerung zu tun hatte, sollte es mit den Bombardierungen losgehen. Das alles erinnerte mich an die aufgeladene, begeisterte Atmosphäre eines freien und hoffnungsvollen Volkes, wie Orwell es in Mein Katalonien beschrieb; zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs hatte er sich in Barcelona als Freiwilliger dem Kampf gegen die Putschisten angeschlossen. Ich war zutiefst ergriffen, das alles schien mir dem Ideal eines freiheitlichen Sozialismus zu entsprechen, und ich stellte mich in eine lange Schlange, um Blut zu spenden. Dank dem Kubaner Ambrosio Fornet, in Madrid mein Kommilitone, und der Peruanerin Hilda Gadea, die in Guatemala, als Jacobo Árbenz noch Präsident war, Che Guevara kennengelernt hatte – den sie dann in Mexiko heiratete, wo sie mit ihm eine Tochter bekam –, lernte ich zahlreiche kubanische Schriftsteller kennen, die mit der Casa de las Américas in Verbindung standen, auch mit der Leiterin Haydée Santamaría hatte ich eine kurze Begegnung. Als ich ein paar Wochen später wieder abreiste, sangen die jungen Leute auf den Straßen von Havanna »Nikita, mariquita, lo que se da no se quita« – »Nikita, du Schwuchtel, geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen« –, weil Chruschtschow, der sowjetische Parteichef, sich Kennedys Ultimatum gebeugt und die Raketen von der Insel abgezogen hatte. Erst später sollte bekannt werden, dass John F. Kennedy in Geheimverhandlungen offenbar Chruschtschow versprochen hatte, im Gegenzug auf einen Einmarsch in Kuba zu verzichten und die in der Türkei stationierten Jupiter-Raketen abzuziehen.

Meine Identifizierung mit der Kubanischen Revolution reichte bis weit in die Sechzigerjahre, eine Zeit, in der ich als Mitglied eines internationalen Redaktionsbeirats der Casa de las Américas fünfmal nach Kuba flog und die Revolution sowohl in Frankreich, wo ich lebte, als auch in Lateinamerika, wohin ich oft reiste, mit Manifesten, Artikeln und bei öffentlichen Auftritten verteidigte. In diesen Jahren nahm ich meine marxistischen Lektüren wieder auf, und ich las nicht nur die Klassiker, sondern auch Autoren, die sich mit der Kommunistischen Partei identifizierten oder ihr nahestanden, wie Georg Lukács, Antonio Gramsci, Lucien Goldmann, Frantz Fanon, Régis Debray oder Che Guevara, selbst den ideologischen Hardliner Louis Althusser, Professor an der École normale supérieure, der später verrückt werden sollte und seine Frau erdrosselte. Allerdings kaufte ich mir in meinen Pariser Jahren, daran erinnere ich mich noch gut, auch Woche für Woche heimlich die von der Linken meistgehasste Zeitung, den Figaro, um den Artikel von Raymond Aron zu lesen, dessen schneidende Analysen des Zeitgeschehens mich so verstörten wie faszinierten.

Ende der Sechzigerjahre brachten mich verschiedene Erfahrungen vom Marxismus ab. Dazu gehörte die Einrichtung der UMAP in Kuba, ein Euphemismus, denn hinter der Fassade der Militärischen Einheiten zur Unterstützung der Produktion verbarg sich nichts anderes als Konzentrationslager, in die man gleichermaßen Konterrevolutionäre, Homosexuelle und gewöhnliche Kriminelle sperrte. Auch meine Reise in die UdSSR 1968 als Gast einer Puschkin-Veranstaltung hinterließ einen bitteren Beigeschmack. Dort wurde mir klar, dass ich als Russe in diesem Land ein Dissident gewesen wäre, ein Paria also, oder ich wäre im Gulag elend verreckt. Für mich war es eine traumatische Erfahrung. Denn Sartre, Simone de Beauvoir, Merleau-Ponty und Les Temps Modernes hatten mich davon überzeugt, dass die UdSSR bei allem, was dort schieflief, für den Fortschritt und die Zukunft stand, es war das Land, in dem es, wie Paul Éluard in einem Gedicht schrieb, das ich auswendig kannte, weder Nutten noch Diebe oder Pfaffen gab. Nur war die Armut nicht zu übersehen, die vielen Betrunkenen auf den Straßen, die Apathie allenthalben. Wo immer ich hinkam, war die kollektive Klaustrophobie mit Händen zu greifen, eben weil es keine Informationen gab über das, was im Land selbst und im Rest der Welt geschah. Beim Geld im Portemonnaie mochten die Klassenunterschiede verschwunden sein, aber man musste sich nur umschauen, und es war klar, wie groß die Ungleichheiten in der UdSSR waren, alles war eine Frage der Macht. Einmal fragte ich einen überraschend gesprächigen Russen: »Wer hat hier die meisten Privilegien?«, und er antwortete: »Die unterwürfigen Schriftsteller. Sie haben eine Datscha, da verbringen sie die Ferien, und sie können ins Ausland reisen, das stellt sie weit über das gemeine Volk. Was will man mehr!« Konnte ich ein solches Gesellschaftsmodell weiter verteidigen, wo ich nun wusste, dass ich selbst niemals so hätte leben können? Nicht weniger enttäuscht war ich von Sartre, dem Vordenker, als ich eines Tages in Le Monde ein Interview las, das Madeleine Chapsal mit ihm geführt hatte. Darin erklärte er, er verstehe gut, dass die afrikanischen Schriftsteller das Schreiben aufgäben, um zuerst die Revolution zu machen und ein Land aufzubauen, in dem Literatur möglich sei. So wie er auch sagte, angesichts eines verhungernden Kindes vermöge sein Roman Der Ekel nichts auszurichten (»La Nausée ne fait pas le poids«). Für mich war das ein Dolchstoß in den Rücken. Wie konnte er so etwas behaupten? Hatte er uns nicht eingeredet, Schreiben sei eine Form der Aktion, schreibend würde man Einfluss nehmen auf die Historie? Und auf einmal war die Literatur ein Luxus, den sich nur die Länder erlauben konnten, die den Sozialismus erreicht hatten. Damals las ich noch einmal Camus und musste ihm recht geben. Ich begriff, dass in der polemischen Auseinandersetzung mit Sartre zu den Konzentrationslagern in der UdSSR er, Camus, das Richtige gesagt hatte. Denn wo die Moral sich aus der Politik verabschiedet, beginnt das Morden und der Terror, diese Erkenntnis hätte wahrer nicht sein können. Die ganze Entwicklung findet sich widergespiegelt in einem kleinen Sammelband mit meinen Artikeln aus den Siebzigerjahren über die beiden Denker, erschienen 1981 in Puerto Rico (Entre Sartre y Camus).

Mein Bruch mit Kuba, in gewisser Weise auch mit dem Sozialismus, war die Folge des seinerzeit weithin beachteten (und heute kaum noch von jemandem erinnerten) Falls Padilla. Heberto Padilla, Dichter und Aktivist der Kubanischen Revolution – er brachte es bis zum Gesandten des Handelsministeriums –, kritisierte 1970 hier und da die Kulturpolitik des Regimes. Zunächst wurde er von der offiziellen Presse massiv attackiert, dann eingesperrt, die aberwitzige Anschuldigung lautete, er sei ein Agent des CIA. Empört verfassten wir, fünf Freunde, die ihn kannten – Juan und Luis Goytisolo, Hans Magnus Enzensberger, José María Castellet und ich –, in meiner Wohnung in Barcelona ein Schreiben, um gegen diese Ungeheuerlichkeit zu protestieren. Viele Schriftsteller in der ganzen Welt schlossen sich an, darunter Sartre, Simone de Beauvoir, Susan Sontag, Alberto Moravia und Carlos Fuentes. Fidel Castro antwortete persönlich. Er beschuldigte uns, dem Imperialismus zu dienen, und stellte klar, dass wir nie wieder Kuba betreten würden, »auf unbestimmte und unbegrenzte Zeit« (für alle Ewigkeit also).

Trotz der beleidigenden Kampagne, der ich mich mit meinem Protest ausgesetzt sah, fiel eine große Last von mir ab: Ich musste gegenüber dem, was in Kuba passierte, keine Zustimmung mehr heucheln. Doch brauchte ich noch ein paar Jahre, um mit dem Sozialismus ganz zu brechen und die Demokratie wirklich wertzuschätzen. Es war eine Zeit der Ungewissheit und der kritischen Überprüfung, in der ich nach und nach begriff, dass die »formalen Freiheiten« der sogenannten bürgerlichen Demokratie keine bloße Fassade waren, hinter der die Ausbeutung der Armen durch die Reichen fröhlich weiterging. Sie markierten vielmehr die Grenze zwischen dem, was Menschenrechte, Meinungsfreiheit, politische Vielfalt garantierte, und einem autoritären und repressiven System; einem System, das im Namen der einzigen, von der Kommunistischen Partei und ihren Hierarchen repräsentierten Wahrheit jede Form von Kritik zum Schweigen bringen konnte, dogmatische Parolen durchsetzte und Dissidenten in Lager sperrte, gar verschwinden ließ. Mit all ihren Unvollkommenheiten, und das waren viele, vermochte die Demokratie zumindest qua Gesetz die Willkür einzuhegen, sie erlaubte freie Wahlen und von der Macht unabhängige Parteien und Gewerkschaften.

Meine Entscheidung für den Liberalismus war ein jahrelanger, vor allem intellektueller Prozess. Geholfen hat mir dabei, dass ich seit Ende der Sechzigerjahre in London wohnte, wo ich an der Universität lehrte und auch die elf Regierungsjahre von Margaret Thatcher unmittelbar miterlebte. Sie gehörte der Konservativen Partei an, die Überzeugungen aber, die sie leiteten, waren zutiefst liberal, ihr Instinkt war es ohnehin, in beidem war sie Ronald Reagan recht ähnlich. Das England, in dem sie 1979 zur Premierministerin aufstieg, war ein Land im Niedergang, die Reformen der Labour Party (wie auch die der Tories) hatten ihm zunehmend die Luft abgeschnürt. Etatismus und Kollektivismus fraßen sich in den Alltag, auch wenn man die bürgerlichen Freiheiten wie Wahlen und das Recht auf freie Meinungsäußerung respektierte. Doch an allen Ecken und Enden wucherte der Staat, Industrien waren verstaatlicht worden, und auch die Wohnungspolitik bewirkte lediglich, dass die Bürger immer abhängiger wurden vom Wohlwollen des Staates. Diese Spielart des demokratischen Sozialismus hatte das Land der industriellen Revolution aller Kraft beraubt, und nun dümpelte es im Mittelmaß dahin.

Margaret Thatchers Regierungszeit (1979-1990) kam einer Revolution gleich, einer Revolution im Rahmen absoluter Rechtsstaatlichkeit. Staatsbetriebe wurden privatisiert, und die britischen Unternehmen erhielten keine finanziellen Unterstützungen mehr, womit sie, wenn sie auf einem freien Markt bestehen wollten, gezwungen waren, sich zu modernisieren. Auch die Sozialwohnungen, die die Regierungen bisher Menschen mit geringem Einkommen zur Verfügung stellten – um ihre Wählerschaft bei Laune zu halten –, wurden an ihre Bewohner verkauft, eine Politik, die Großbritannien zu einem Land der Eigentümer machen sollte. Die Grenzen öffneten sich für die internationale Konkurrenz, und die veralteten Industrien, der Kohlebergbau zum Beispiel, wurden zu Grabe getragen, damit sich das Land erneuern und modernisieren konnte.

All diese Wirtschaftsreformen führten natürlich zu Streiks und trieben die Menschen auf die Straße, der Streik der Bergarbeiter etwa dauerte ein ganzes Jahr. Dabei zeigte Margaret Thatcher einen Mut und eine Überzeugung, wie Großbritannien es seit den Zeiten Winston Churchills nicht erlebt hatte. Zu diesen Reformen, die das Land innerhalb weniger Jahre zum dynamischsten Europas machten, gehörte aber auch die Verteidigung der demokratischen Kultur und die Bekräftigung der moralischen und materiellen Überlegenheit der liberalen Demokratie über den autoritären, korrupten und wirtschaftlich ruinierten Sozialismus, was schließlich auf die ganze Welt ausstrahlte. Hinzu kam, dass Thatchers Politik zusammenfiel mit der Politik, die zur selben Zeit Ronald Reagan in den USA betrieb. Endlich erschienen an der Spitze der westlichen Demokratien Führungsfiguren ohne Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem Kommunismus, und wo immer sie sich zu Wort meldeten, erinnerten sie angesichts von Gewaltherrschaft und dem wirtschaftlichen Scheitern der kommunistischen Länder an die großen Errungenschaften bei den Menschenrechten, der Chancengleichheit, der Achtung des Individuums und seiner Ideen. Während Ronald Reagan, ein außergewöhnlicher Verbreiter der liberalen Theorien, diese wohl nur in groben Zügen kannte, war »Maggie« Thatcher hier präziser, ideologischer auch. Sie hatte keine Bedenken, sich mit Friedrich von Hayek zu beraten, und sie las Karl Popper, der für sie der größte zeitgenössische Denker der Freiheit war. Ich habe sie damals beide gelesen, und seither sind Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde und Hayeks Der Weg zur Knechtschaft meine Leib-und-Magen-Lektüre.

In ökonomischen und politischen Fragen waren Ronald Reagan und Margaret Thatcher eindeutig liberal eingestellt, in vielen gesellschaftlichen und moralischen Fragen aber vertraten sie konservative, gar reaktionäre Positionen – niemals hätten sie die gleichgeschlechtliche Ehe, die Abtreibung, die Legalisierung von Drogen oder die Sterbehilfe akzeptiert, für mich legitime Forderungen und Bereiche, die der Reform bedurften –, und in diesen Punkten war ich selbstverständlich anderer Meinung als sie. Aber unterm Strich bin ich fest davon überzeugt, dass beide der Kultur der Freiheit einen großen Dienst erwiesen haben. Mir jedenfalls halfen sie, zu einem Liberalen zu werden. 

Dank dem Historiker Hugh Thomas, einem alten Freund, hatte ich das Glück, Frau Thatcher persönlich kennenzulernen. Thomas, Berater der britischen Regierung zu Spanien und Lateinamerika, hatte bei sich zu Hause an der Ladbroke Grove ein Abendessen mit Intellektuellen arrangiert, um die Premierministerin mit den Tigern zu konfrontieren (die Linke war natürlich die erbittertste Feindin von Thatchers Revolution). Man setzte sie neben Isaiah Berlin, dem sie sich den ganzen Abend mit größtem Respekt zuwandte. Am Tisch saßen die Schriftsteller V. S. Naipaul und Anthony Powell, die Dichter Al Alvarez, Stephen Spender und Philip Larkin, der Literaturkritiker und Erzähler V. S. Pritchett, der Dramatiker Tom Stoppard, der Historiker J. H. Plumb aus Cambridge, Anthony Quinton, Kanzler des Trinity College (Oxford), und noch jemand, an den ich mich nicht erinnere. Mich fragte sie, wo ich wohnte, und als ich sagte, am Montpelier Walk, betonte sie, dass ich ein Nachbar von Arthur Koestler sei, ihn hatte sie zweifellos gelesen. Das Tischgespräch war für sie eine harte Prüfung, und weder das Feingefühl noch die britische Höflichkeit der anwesenden Intellektuellen konnte deren Kampfeslust verbergen. Der Hausherr, Hugh Thomas, eröffnete das Feuer und fragte Frau Thatcher, ob die Meinung der Historiker sie interessiere und in Regierungsfragen zu etwas nützlich sei. Sie antwortete auf die Fragen in aller Klarheit, ohne sich je einschüchtern zu lassen und ohne jede Pose, meist mit großer Bestimmtheit, manchmal räumte sie aber auch ein, dass sie sich unsicher sei. Als sie nach dem Essen gegangen war, resümierte Isaiah Berlin sehr schön, was die meisten Gäste wohl genauso sahen: »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.« Sehr wohl aber, dachte ich, einen Grund, stolz zu sein auf eine Regierende von solch einem Charakter, hoch gebildet und mit festen Überzeugungen. In den nächsten Tag sollte Margaret Thatcher nach Berlin reisen und zum ersten Mal die Mauer der Schande besuchen. Sie hielt dort eine ihrer bedeutendsten Reden gegen die autoritären Regime und für die Demokratie.

Auch Ronald Reagan habe ich persönlich kennengelernt, bei einem Abendessen in größerer Gesellschaft im Weißen Haus, zu dem mich Selwa Roosevelt eingeladen hatte, damals die Protokollchefin. Sie stellte mich dem Präsidenten vor, und bei dem sehr kurzen Gespräch konnte ich ihn nur fragen, warum er, wo die USA Schriftsteller wie Faulkner, Hemingway oder Dos Passos hätten, als seinen Lieblingsautor immer Louis L’Amour nannte. »Na ja«, sagte er, »er hat sehr schön beschrieben, was so typisch für uns ist, das Leben der Cowboys im Wilden Westen.« In dem Punkt konnte ich ihm weniger folgen.

Beide, Thatcher und Reagan, waren große Politiker, die bedeutendsten ihrer Zeit, und beide trugen auf entscheidende Weise zum Zusammenbruch und Verschwinden der UdSSR bei, dem größten Feind, den die demokratische Kultur je gekannt hat. Dabei hatten sie nichts Charismatisches à la Hitler, Mussolini, Perón oder Fidel Castro, Führerfiguren, die in ihren Reden vor allem an das »Stammesdenken« appellieren. So nennt Karl Popper den Irrationalismus des primitiven Menschen, der in den tiefsten Tiefen aller zivilisierten Menschen nistet. Denn die Sehnsucht nach dieser traditionellen Welt – der Stammesgesellschaft – haben wir nie ganz überwunden, jener Welt, als der Mensch noch untrennbarer Teil der Gemeinschaft war, dem allmächtigen Hexer oder Häuptling untergeben, der für ihn alle Entscheidungen traf, einer Gemeinschaft, in der er sich sicher fühlen konnte und befreit war von Verantwortlichkeiten, aufgegangen in der Gruppe wie das Tier in der Herde oder der Mensch in der Clique, dem Haufen Fans, gewiegt inmitten derer, die dieselbe Sprache sprachen, dieselben Götter verehrten und dieselben Bräuche praktizierten, dabei den Anderen hassend, weil er nicht so war wie man selbst und man ihn verantwortlich machen konnte für alle Katastrophen, die über die Gemeinschaft kommen mochten. Der »Stammesgeist«, Quell des Nationalismus, hat neben dem religiösen Fanatismus die schlimmsten Gräuel in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht. In zivilisierten Ländern wie Großbritannien war der Ruf der Stammesgesellschaft, der Horde, vor allem in den großen Spektakeln zu vernehmen, den Fußballspielen oder den Open-Air-Konzerten, wie sie in den Siebzigerjahren die Beatles und die Rolling Stones gaben und bei denen das Individuum von der Masse verschluckt wurde, es war eine vorübergehende Flucht aus der Fron des Alltags, so gesund wie kathartisch. In manchen Ländern, und das nicht nur in der Dritten Welt, war dieser »Ruf«, von der uns die demokratische und liberale Kultur – letztlich die Vernunft – befreit hatte, immer wieder von neuem ertönt, und dahinter standen ebenjene unsäglichen charismatischen Führer, die es immer wieder schaffen, dass die Bürger zur belehnten Masse eines Diktators werden. Genau das ist der Boden, auf dem der Nationalismus gedeiht, und schon in jungen Jahren habe ich ihn verabscheut. Und weil ich ahnte, dass er einhergeht mit der Negierung der Kultur, der Demokratie und jeder Rationalität, war ich in meinen Jugendjahren auch ein Linker und ein Kommunist. In den Jahren aber, von denen ich hier spreche, stand nichts so sehr für eine Rückkehr zur »Stammesgesellschaft« wie der Kommunismus, denn er negierte den Menschen als souveränes und verantwortliches Individuum und verwies ihn auf seine Rolle als Teil einer Masse, noch dazu unter dem Diktat eines Führers, eines religiösen Gurus mit heiligem Wort gewissermaßen, unwiderleglich wie ein Axiom, was den schlimmsten Formen von Demagogie und Chauvinismus neuen Auftrieb gab.

In diesen Jahren las ich wieder und wieder die Denker, um die es hier gehen soll. Viele andere natürlich auch, sie hätten genauso dabei sein können, Ludwig von Mises etwa oder Milton Friedman, der Argentinier Juan Bautista Alberdi und der Venezolaner Carlos Rangel, Letztere außergewöhnliche Beispiele für einen echten Liberalismus auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Auch reiste ich damals nach Edinburgh, um am Grab von Adam Smith Blumen abzulegen, und nach Kirkcaldy, weil ich das Haus besuchen wollte, in dem er Der Wohlstand der Nationen geschrieben hatte und wo, wie ich feststellte, nichts geblieben war als eine Gedenktafel an einer schäbigen Wand.

Es waren die Jahre, in denen sich meine politischen Überzeugungen herausbildeten. Überzeugungen, die ich seither in Büchern und Artikeln verteidige und die 1987 dazu führten, dass ich in Peru gegen die Verstaatlichung des Bankenwesens protestierte, die Präsident Alan García in seiner ersten Regierungszeit (1985-1990) durchzusetzen versuchte; dass ich die Freiheitsbewegung Movimiento Libertad mitbegründete und mich 1990 für das Bündnis Frente Democrático (Demokratische Front) mit einem Programm um das Präsidentenamt bewarb, das sich vornahm, die peruanische Gesellschaft radikal zu reformieren und in eine liberale Demokratie zu überführen. Nebenbei gesagt: Meine Freunde und ich wurden zwar an den Urnen besiegt, doch viele der Ideen, für die wir in dieser fast drei Jahre andauernden Kampagne gekämpft hatten und von denen hier die Rede sein soll, sind keineswegs untergegangen. Sie haben sich ihren Weg gebahnt und sind heute in Peru Teil der politischen Agenda.

Konservatismus und Liberalismus sind zweierlei Dinge, wie Hayek in einer berühmten Schrift klarstellte. Was nicht heißen soll, dass es zwischen Liberalen und Konservativen keine Übereinstimmungen oder gemeinsamen Werte gäbe, nicht anders als zwischen Sozialdemokraten und Liberalen. Man erinnere sich nur an die große wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation Neuseelands in den Jahren 1984 bis 1993, begonnen von einer Labour-Regierung mit ihrem Finanzminister Roger Douglas und erfolgreich weitergeführt von Ruth Richardson, Finanzministerin in einem konservativen Kabinett. Deshalb ist unter Liberalismus auch nicht eine weitere Ideologie zu verstehen, einer dieser weltlichen Glaubensakte, die für Irrationales und dogmatische Wahrheiten ebenso anfällig sind wie die Religionen, sämtliche Religionen, die primitiven magisch-religiösen und auch die modernen. Unter Liberalen gibt es oft mehr Meinungsverschiedenheiten als Übereinstimmungen, ein anschauliches Beispiel dafür sind die in diesem Buch Porträtierten. Der Liberalismus ist eine Position, die keine Antworten auf alles hat, wie es der Marxismus für sich in Anspruch nimmt, er lässt Abweichung und Kritik zu, Grundlage ist ein kleines, aber unverkennbares Bündel an Überzeugungen. Etwa dass die Freiheit der höchste Wert ist und dass sie weder teilbar ist noch in Teilen zu haben; dass sie eine einzige ist und in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in allen Bereichen zum Ausdruck kommt, dem wirtschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen. Weil sie genau das nicht verstanden haben, sind alle Regime gescheitert, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren allein auf die wirtschaftliche Freiheit setzten, es waren despotische Regime, meist Militärdiktaturen. In ihrer Ignoranz glaubten sie, Marktpolitik könne unter einer repressiven, diktatorischen Regierung erfolgreich sein. Andererseits sind in Lateinamerika aber auch viele demokratische Versuche gescheitert, die die politischen Freiheiten achteten und an die ökonomische Freiheit – den freien Markt – nicht glaubten. Der aber bringt nun mal materielle Entwicklung und Fortschritt.

Liberale sind undogmatisch. Sie wissen, dass die Wirklichkeit komplex ist und dass politische Ideen und Programme sich, sollen sie Erfolg haben, anpassen müssen; dass man die Wirklichkeit nicht starren Konzepten unterordnen darf, sie wären sonst zum Scheitern verurteilt, politische Gewalt wäre die Folge. Natürlich wohnt auch dem Liberalismus eine »Kinderkrankheit« inne, es ist das Eifernde mancher Ökonomen, die wie verzaubert sind vom freien Markt als Allheilmittel für die Lösung sämtlicher gesellschaftlichen Probleme. Gerade ihnen sollte man das Beispiel von Adam Smith ins Gedächtnis rufen, diesem Klassiker des Liberalismus, der sich dafür aussprach, unter bestimmten Umständen Privilegien aufrechtzuerhalten, Unterstützungen und Kontrollen etwa, wenn ihre Abschaffung unmittelbar mehr Nachteile als Vorteile brächte. Diese Toleranz, die Smith gegenüber seinen Gegnern an den Tag legte, ist der vielleicht bewunderungswürdigste Zug der liberalen Lehre: anzuerkennen, dass man womöglich im Irrtum ist und andere recht haben. Eine liberale Regierung muss sich gegenüber der gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit flexibel zeigen und darf nicht glauben, alle Gesellschaften ließen sich in ein einziges theoretisches Schema pressen, es wäre nur kontraproduktiv, Misserfolg und Enttäuschung folgten auf dem Fuße.

Liberale sind keine Anarchisten. Wir wollen den Staat nicht abschaffen, im Gegenteil, wir wollen einen starken und effizienten Staat, was nicht gleichbedeutend ist mit einem sich breitmachenden Staat, der meint, Dinge tun zu müssen, die die Zivilgesellschaft in einem System des freien Wettbewerbs besser kann. Der Staat soll die Freiheit garantieren, öffentliche Ordnung, die Einhaltung des Gesetzes, Chancengleichheit.

Gleichheit vor dem Gesetz und Chancengleichheit bedeuten nicht Einkommensgleichheit, keinem Liberalen käme das je in den Sinn. Es ließe sich auch nur durchsetzen mit einer autoritären Regierung, in einem oppressiven System, das alle Bürger ökonomisch »gleichmacht«. Und schon wäre Schluss mit den verschiedenen individuellen Fähigkeiten, mit Fantasie und Kreativität, mit Konzentration, Sorgfalt, Ehrgeiz, mit Arbeitsmoral und Führungsqualität. Es käme dem Verschwinden des Individuums gleich, seinem Aufgehen in der Stammesgesellschaft.

Nimmt man ein bestimmtes, vergleichbares Level als Ausgangspunkt, ist nichts gerechter, als dass sich die Einkünfte je nach den Beiträgen des Einzelnen zum Nutzen des gesellschaftlichen Ganzen unterscheiden. Es wäre töricht zu ignorieren, dass es unter den Menschen nun mal intelligentere und dümmere gibt, fleißigere und faulere, eifrigere und trägere, solche, die erfinderisch sind oder bloß routiniert et cetera. Und schlicht ungerecht wäre es, wenn im Namen der »Gleichheit« alle denselben Lohn erhielten, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Qualifikationen und Verdienste. Alle Gesellschaften, die das versucht haben, haben die individuelle Initiative und die Kreativität erstickt und den einzelnen Menschen in einer grauen Masse verschwinden lassen.

Natürlich steht außer Frage, dass in so ungleichen Gesellschaften wie in den Ländern der Dritten Welt die Kinder wohlhabender Familien unendlich größere Chancen auf Erfolg im Leben haben als die Kinder armer Familien. Gerade die »Chancengleichheit« aber ist ein zutiefst liberales Prinzip, auch wenn manche Cliquen dogmatischer, intoleranter und oftmals rassistischer Ökonomen, die die Bezeichnung liberal missbrauchen – in Peru gibt es sie zuhauf, sämtlich aus dem Dunstkreis Fujimoris –, nichts davon wissen möchten.

Daher liegt Liberalen auch so viel an einem erstklassigen Bildungssystem, das alle jungen Menschen erreicht und sicherstellt, dass jede Generation einen gemeinsamen Ausgangspunkt hat, der spätere Einkommensunterschiede legitimiert: je nach Talent und Anstrengung, je nach dem Dienst, den der Einzelne der Gemeinschaft erweist. Gerade im Bildungsbereich – Schule, Berufsausbildung, Studium – schaffen Privilegien die größte Ungerechtigkeit. Denn während die einen durch eine gute Ausbildung begünstigt werden, sind andere zu einer rudimentären, oberflächlichen verdammt, einer Ausbildung, die so eben zum Überleben reicht, ihnen aber kaum eine Zukunft ermöglicht. Utopisch ist ein solches System keineswegs. Frankreich etwa hat es in der Vergangenheit mit einem öffentlichen und kostenlosen, der ganzen Gesellschaft zugänglichen Erziehungswesen geschafft, das in der Regel auch noch ein höheres Niveau aufwies als die Privatschulen. Erst die Bildungskrise dort hat zu einem Rückschritt geführt, nicht aber in Skandinavien, in der Schweiz oder in asiatischen Demokratien wie in Japan oder Singapur, wo man eine solche Chancengleichheit erreicht hat, ohne dass es sich negativ auf die gelebte Demokratie oder den ökonomischen Wohlstand ausgewirkt hätte, ganz im Gegenteil.

Chancengleichheit in der Bildung heißt nicht, dass Privatschulen zugunsten der öffentlichen abgeschafft werden sollten. Für den Fortschritt ist es unerlässlich, dass es beide gibt und sie miteinander konkurrieren – das Bessere ist nun mal der Feind des Guten. Im Übrigen stammt der Gedanke des Wettbewerbs unter Bildungsstätten von einem liberalen Wirtschaftswissenschaftler, Milton Friedman. Die von ihm ins Spiel gebrachten »Bildungsgutscheine« haben in den Ländern, die sich der Idee annahmen, zu hervorragenden Ergebnissen geführt, in Schweden etwa, wo den Eltern der Schulkinder eine sehr aktive Rolle bei der Verbesserung des Schulsystems zugestanden wird. Die Bildungsgutscheine ermöglichen den Eltern eine Wahlfreiheit zwischen staatlichen und privaten Schulen, und so wird eine breitere staatliche Förderung in ebenjene Schulen gelenkt, die aufgrund ihrer Qualität am meisten nachgefragt werden.

Nicht vergessen darf man, dass ein Bildungswesen, das einen hohen Standard halten will, bei all den technologischen und wissenschaftlichen Neuerungen immer teurer wird; was auch bedeutet, dass die Zivilgesellschaft dafür ebenso viel Verantwortung trägt wie der Staat. Kinder vermögender Familien von den Kosten für ihre Ausbildung zu befreien ist genauso ungerecht, wie einem jungen Menschen, der das Talent und die Arbeitsmoral mitbringt, aus wirtschaftlichen Gründen den Zugang zu den besten Einrichtungen zu verwehren. Zur Herstellung von Chancengleichheit bedarf es in der Bildung also neben solchen Gutscheinen eines Systems von Stipendien und Beihilfen.

Ein schlanker Staat ist im Allgemeinen effizienter als ein großer – für Liberale eine der Überzeugungen, an denen sich am wenigsten rütteln lässt. Je größer der Staat wird, je mehr Befugnisse er sich anmaßt, desto geringer ist der Spielraum der Freiheit für seine Bürger. Dezentralisierung der Macht ist ein liberales Prinzip, nur so kann die Gesellschaft als Ganzes die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Institutionen wirksam kontrollieren. Verteidigung, Justiz und öffentliche Ordnung sind hier auszunehmen, denn dort gilt das Primat des Staates (nicht in jedem Fall das Monopol); bei allen übrigen wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten wird idealerweise, im Rahmen eines freien Wettbewerbs, die größtmögliche zivilgesellschaftliche Partizipation gefördert.

Im Laufe der Geschichte haben die politischen Gegner sich auf den Liberalismus eingeschossen wie auf keine andere Lehre, haben ihn verachtet und verunglimpft, zuerst die Konservativen – man erinnere sich an die entsprechenden päpstlichen Enzykliken und selbst jüngste Erklärungen der katholischen Kirche, trotz so vieler liberaler Gläubiger –, dann die Sozialisten und Kommunisten, die den »Neoliberalismus« als die Speerspitze des Imperialismus dargestellt haben, als die unbarmherzigste Form des Kolonialismus und des Kapitalismus. Die historische Wahrheit straft solche Diffamierungen Lügen. Denn seit ihren Anfängen steht die liberale Lehre für die am weitesten entwickelte Form der demokratischen Kultur, und in den freien Gesellschaften hat sie auch die größten Fortschritte gebracht: bei den Menschenrechten, der Meinungsfreiheit, den Rechten sexueller, religiöser und politischer Minderheiten, dem Umweltschutz und der Bürgerpartizipation im öffentlichen Leben. Sie ist es, mit anderen Worten, die uns wie keine andere geschützt hat vor dem ewigen »Ruf der Horde«. Es bleibt eine notwendige Aufgabe, und mit diesem Buch möchte ich mein Scherflein dazu beitragen.

Madrid, August 2017