Aus dem Amerikanischen

von Christian Veit Eschenfelder

und Anja Heidböhmer

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Nightmare Alley

erschien 1946 im Verlag Rinehart & Company.

Copyright © 1946 by William Lindsay Gresham

Copyright renewed © 1974 by Renee Gresham

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Renee Gresham

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-714-1

www.Festa-Verlag.de

Inhalt


Impressum

Inhalt

KARTE I

Der Narr

KARTE II

Der Magier

KARTE III

Die Hohepriesterin

KARTE IV

Die Welt

KARTE V

Die Herrscherin

KARTE VI

Das Gericht

KARTE VII

Der Herrscher

KARTE VIII

Die Sonne

KARTE IX

Der Hierophant

KARTE X

Der Mond

KARTE XI

Die Liebenden

KARTE XII

Der Stern

KARTE XIII

Der Wagen

KARTE XIV

Der Turm

KARTE XV

Die Gerechtigkeit

KARTE XVI

Der Teufel

KARTE XVII

Der Eremit

KARTE XVIII

Die Zeit

KARTE XIX

Das Schicksalsrad

KARTE XX

Der Tod

KARTE XXI

Die Kraft

KARTE XXII

Der Gehängte

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Für Joy Davidman

Madame Sosostris, die berühmte Hellseherin, / hatte eine böse Erkältung, aber dennoch / ist sie als weiseste Frau in Europa bekannt,/ mit einem Packen böser Spielkarten. Hier, sagte sie, / ist Ihre Karte, der ertrunkene phönizische Seemann. / (Was einst seine Augen waren, sind nun Perlen. Schau!) / Hier ist Belladonna, die Dame vom Felsen, / die Dame der Gelegenheiten. / Hier ist der Mann mit den drei Stäben und hier das Glücksrad, / und hier ist der einäugige Kaufmann, und diese Karte, / die leer ist, bedeutet etwas, das er auf seinem Rücken trägt, / was mir zu sehen verboten ist. Ich finde nicht / den gehängten Mann. Fürchte den Tod im Wasser …

– Das wüste Land

(Übersetzung von Karl Heinz Göller)

Die Sibylle hab ich in Cumae mit meinen eigenen Augen in einer Flasche hängen sehen. Und als die Jungen sie fragten »Sibylle, was willst du?«, antwortete sie »Sterben will ich.«

– Satyrikon

KARTE I

Der Narr

der im bunten Kostüm mit geschlossenen Augen in Richtung Abgrund am Ende der Welt schlendert.

Stan Carlisle stand ein gutes Stück hinter dem Eingang des Zelts im Licht einer nackten Glühbirne und beobachtete den Geek.1

Dieser Geek war ein dürrer Mann in langer schokoladenbrauner Unterwäsche. Seine schwarze Perücke sah wie ein Mopp aus und die braune Theaterschminke auf dem ausgemergelten Gesicht war durch die Hitze verschmiert und rund um den Mund verwischt.

Er lehnte an der Wand des Geheges. Rings um ihn lagen einige wenige – lächerlich wenige – locker zusammengerollte, misslaunige Schlangen, die sich in der heißen Sommernacht und dem grellen Licht unwohl fühlten. Eine kleine, dünne Königskobra versuchte, die Wand des Geheges nach oben zu kriechen, kam jedoch nicht weit und fiel zurück.

Stan mochte Schlangen. Er ekelte sich nicht vor ihnen, sondern konnte ihre Abscheu davor nachempfinden, mit einer Spezies wie dem Menschen eingepfercht zu sein.

Draußen näherte sich der Redner dem Höhepunkt seiner Ansprache. Stan wandte den ordentlich gekämmten blonden Kopf Richtung Eingang.

»… woher er stammt? Das weiß Gott allein. Gefunden wurde er auf einer unbewohnten Insel, 800 Kilometer vor der Küste Floridas. Herrschaften, in diesem Käfig wird sich gleich eines der unerklärlichen Mysterien des Universums abspielen. Ist er ein Mensch oder ist er eine Bestie? Sie erleben ihn in seinem natürlichen Lebensraum zwischen den giftigsten Reptilien dieser Welt. Sehen Sie, er ist so zärtlich zu diesen Schlangen wie eine Mutter zu ihrem Kind. Er isst und trinkt nicht, sondern ernährt sich ausschließlich von der Atmosphäre, die ihn umgibt. Und wir werden ihn noch ein weiteres Mal füttern! Diese Attraktion wird Sie etwas zusätzlich kosten, aber es wird kein Dollar sein, kein Vierteldollar, sondern nur ein schlankes 10-Cent-Stück, zehn 1-Cent-Stücke, zwei 5-Cent-Stücke, der zehnte Teil eines Dollars. Hereinspaziert, flink, flott und flugs!«

Stan schlenderte in den hinteren Bereich des Zelts.

Der Geek kroch unter einen Jutesack und wurde fündig. Man konnte das Quietschen hören, als ein Korken gezogen wurde, dann ein paar rasselnde Schluckgeräusche und ein Keuchen.

Die ›Einfaltspinsel‹ drängten herein – junge Leute mit Strohhut auf dem Kopf und Mantel auf dem Arm, hier und da eine fette Frau mit Knopfaugen.

Wieso hat diese Sorte Frau eigentlich immer Knopfaugen?, fragte sich Stan.

Die magere Frau mit dem kraftlosen kleinen Mädchen, dem versprochen worden war, es dürfe alles sehen, was die Schau zu bieten hatte. Und der Trunkenbold …

Es war wie bei einem Kaleidoskop – das Muster immer ein anderes, die Einzelteile stets die gleichen.

Clem Hoately, Besitzer der Ten-o-One-Schau und ihr Hauptredner, arbeitete sich durch die Menge. Er zog eine kleine, mit Wasser gefüllte Flasche aus der Tasche, nahm einen Schluck, um sich die Kehle anzufeuchten, und spuckte ihn danach auf den Boden. Dann stieg er auf die Stufe. Er sprach plötzlich leise und im Plauderton, was das Publikum zu ernüchtern schien.

»Herrschaften, ich muss Sie darum bitten, nicht zu vergessen, dass Ihnen diese Schau ausschließlich im Interesse der Wissenschaft und der Bildung dargeboten wird. Diese Kreatur, die Sie vor sich sehen …«

Eine Frau senkte den Blick, erblickte zum ersten Mal die kleine Königskobra, die noch immer verzweifelt versuchte, aus der Grube zu kriechen, und holte schrill durch die Zähne pfeifend Luft.

»… diese Kreatur ist von den führenden Wissenschaftlern Europas und Amerikas untersucht und als Mensch deklariert worden. Will sagen, er hat zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf und einen Leib wie ein Mensch. Aber unter diesem Haarschopf befindet sich das Hirn einer Bestie. Sehen Sie, wie er sich unter den Reptilien des Dschungels heimischer fühlt als unter uns Menschen.«

Der Geek hatte eine schwarze Schlange aufgehoben, packte sie mit der Hand knapp hinter dem Kopf, sodass sie nicht nach ihm schnappen konnte, und wog sie vor sich hin murmelnd in den Armen wie einen Säugling.

Der Redner wartete, während das Publikum den Geek neugierig anstarrte.

»Sie mögen sich fragen, wie er es schafft, bei all den giftigen Schlangen unverletzt zu bleiben. Nun, Herrschaften, das Gift der Schlangen hat keinerlei Wirkung auf ihn. Würde er jedoch seine Zähne in meine Hand schlagen, könnte mich nichts auf Gottes grüner Erde vor dem Tod bewahren.«

Der Geek knurrte und blinzelte töricht in das Licht der Glühbirne über sich.

Stan fiel der Glanz eines Goldzahns in einem Mundwinkel auf.

»Aber, Herrschaften, als ich Ihnen erzählt habe, dass diese Kreatur mehr Bestie als Mensch ist, wollte ich Sie damit nicht auffordern, sich nur auf mein Wort zu verlassen. Stan …« Er wandte sich an den jungen Mann, dessen strahlend blaue Augen keine Spur von Überraschung zeigten. »Stan, lass uns ihn noch einmal füttern. Nur für unser Publikum. Reich mir den Korb.«

Stanton Carlisle langte nach unten, griff den Henkel eines kleinen, zugedeckten Korbs und hob ihn so hoch, dass die Zuschauer ihn sehen konnten. Sie wichen zurück, schubsten und drängten sich aneinander. Clem Hoately, der Redner, lachte ein wenig müde.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Herrschaften, darin ist nichts, was Sie noch nicht gesehen haben. Im Gegenteil, ich denke, Sie alle wissen, was das ist.«

Er zog eine etwa halb ausgewachsene, gackernde Leghorn-Henne aus dem Korb und hielt sie hoch, damit sie jeder sehen konnte. Mit einer Handbewegung sorgte er für Ruhe.

Die Hälse reckten sich nach unten.

Der Geek hatte sich nach vorn auf alle viere gebeugt, den leeren Mund weit aufgesperrt. Plötzlich warf der Redner die Henne in den Käfig, Federn wirbelten durch die Luft.

Der Geek näherte sich dem Tier und schüttelte den schwarzen Baumwollmopp seiner Perücke. Er griff nach dem Huhn, doch das spreizte zur Selbstverteidigung hektisch die kurzen, dicken Flügel und wich zur Seite aus. Er krabbelte hinterher.

Zum ersten Mal zeigte das farbverschmierte Gesicht des Geeks eine Regung. Die blutunterlaufenen Augen waren nahezu geschlossen. Stan konnte erkennen, wie seine Lippen lautlos Worte formten. »Verdammtes Viech!«

Der junge Mann trat gemächlich aus der angespannten, nach unten starrenden Menge und ging steif in Richtung Eingang, die Hände in den Taschen. Hinter ihm war panisches Gackern und Schnattern zu hören und das kollektive Luftholen des Publikums.

Der Trunkenbold drosch mit dem schmutzigen Strohhut auf das Geländer ein.

»Schnapp dir’s olle Huhn, Junge! Schnapp’s dir!«

Dann schrie eine Frau und begann, hektisch auf und ab zu springen; die Zuschauer stöhnten unartikuliert, pressten die Körper dichter an die Bretterwand des Geheges und stellten sich auf die Zehenspitzen. Das Gackern war abrupt verstummt, man hörte Zähneklappern und einen angestrengten Grunzlaut.

Stan schob die Hände noch tiefer in die Taschen. Er schlug die Klappe am Zelteingang zur Seite und ging zurück in den Ring der Ten-o-One-Schau, durchquerte ihn bis zum Tor und warf einen Blick in den Mittelweg des Jahrmarkts. Aus einer Tasche zog er ein schimmerndes 50-Cent-Stück, griff mit der anderen Hand danach und die Münze verschwand. Mit einem heimlichen innerlichen Lächeln voller Zufriedenheit und Triumph tastete er am Saum seiner Flanellhosen entlang und ließ die Münze wieder erscheinen.

In der Sommernacht kamen die blinkenden Lichter des Riesenrads kaum zur Geltung und die Musik der Dampforgel klang, als wären ihre Hauptleitungen verstopft.

»Allmächtiger, heiß hier, nich’ wahr, Junge?«

Clem Hoately, der Hauptredner, stand neben Stan und wischte mit einem Taschentuch den Schweiß vom Band seines Panamahuts.

»Stan, Junge, wärst du so gut und würdest mir eine Flasche Limonade vom Getränkestand holen? Hier sind zehn Cent. Hol dir auch was.«

Als Stan mit den kalten Getränken zurückkehrte, verneigte sich Hoately dankbar.

»Jesus, mein Hals ist wund wie ein Bullenarsch zur Mückenzeit.«

Stan nippte an seiner Flasche.

»Mr. Hoately?«

»Ja, was?«

»Wie kriegt man jemanden dazu, den Geek zu spielen? Oder ist der hier der einzige, den es gibt? Ich meine, wird man so geboren? Mit dem Bedürfnis, Hühnern den Kopf abzubeißen?«

Clem schloss langsam ein Auge.

»Lass es dir gesagt sein, Junge. Bei den Schaustellern werden keine Fragen gestellt. Dann muss man sich auch keine Lügen anhören.«

»In Ordnung. Aber sind Sie zufällig auf den Kerl gestoßen, als er das … na, hinter einer Scheune oder so gemacht hat, und haben Sie das dann zur Nummer entwickelt?«

Clem schob den Hut nach oben.

»Ich mag dich, Junge. Sehr sogar. Und nur deshalb werde ich dir etwas Gutes tun. Und zwar werde ich dir meinen Stiefel nicht in den Arsch schieben, verstanden? Das ist das Gute.«

Stan grinste. Seine kalten hellblauen Augen hingen am Gesicht des älteren Mannes. Plötzlich senkte Hoately die Stimme.

»Nur weil ich dein Kumpel bin, erzähle ich dir jetzt keinen Scheiß. Du willst wissen, wo die Geeks herkommen? Na gut, hör zu … du findest sie nicht. Du machst sie dazu.«

Das ließ er zwar erst einmal auf sich wirken, aber Stanton Carlisle verzog keine Miene.

»Gut. Aber wie?«

Hoately packte den Jungen am Kragen und zog ihn zu sich. »Hör zu, Jungchen, soll ich dir eine verdammte Karte malen? Du suchst dir einen Kerl, und der ist kein Geek, sondern ein Trinker. So ’n Idiot, der sich am Tag eine ganze Flasche reinzieht. Also sagst du so was wie: ›Ich hab Arbeit für dich. Auf Zeit. Wir brauchen einen neuen Geek. Und bis wir den haben, ziehst du dir die Geek-Klamotten an und tust so, als ob.‹ Du sagst ihm: ›Du musst eigentlich nichts machen. Du hast eine Rasierklinge in der Hand und wenn du das Huhn packst, schlitzt du ihm damit den Hals auf und tust so, als würdest du sein Blut trinken.‹ Gleiches gilt für Ratten. Die Leute kennen es nicht anders.« Hoately ließ den Blick die Gasse entlangschweifen und musterte abschätzend das Publikum. Dann wandte er sich erneut Stan zu. »Das macht er eine Woche und du achtest drauf, dass er regelmäßig seine Flasche kriegt und einen Platz, wo er seinen Rausch ausschlafen kann. Das gefällt ihm. Denkt, er hätte den Himmel auf Erden gefunden. Nach einer Woche sprichst du dann mit ihm, du sagst: ›Nun, ich muss mir einen richtigen Geek suchen. Du kannst gehen.‹ Er kriegt dann Panik, weil einem richtigen Säufer nichts mehr Angst einjagt als das Risiko, auf dem Trockenen zu sitzen und weiße Mäuse zu sehen. Er sagt: ›Was ist los? Mach ich nicht alles richtig?‹ Dann sagst du: ›Beschissen machst du alles. Du kannst dem Publikum nichts vormachen. Gib deine Klamotten ab. Du kannst gehen.‹ Dann drehst du dich um und gehst weg. Er rennt dir hinterher, bettelt dich an, will noch eine Chance und du sagst: ›In Ordnung. Aber nach heute Nacht bist du raus.‹ Aber du gibst ihm seine Flasche.

Am Abend ziehst du deine Rede durch, trägst richtig fett auf. Und während du noch redest, denkt er ans Ausnüchtern, Schütteln und Zittern. Du redest weiter und gibst ihm Zeit zum Nachdenken. Dann schmeißt du das Huhn in den Käfig. Und er … er wird den Geek spielen.«

Die Zuschauer verließen gerade die Schau, blass, apathisch, schweigend. Alle, bis auf den Trunkenbold.

Stan beobachtete die Leute mit einem seltsam süßen, verträumten Lächeln im Gesicht, dem Lächeln eines Gefangenen, der eine Nagelfeile in einem Kuchen gefunden hat.


1 »Geek« war früher in Amerika die Bezeichnung für einen »wilden Mann«, der auf Jahrmärkten auftrat. Anm. d. Übersetzers.