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Impressum und Copyright

1.

Es gibt einen Ort, an dem Hartmann jetzt ist. Es muss einen Ort geben, an dem Hartmann jetzt ist. Irgendwo muss dieser Ort existieren, vielleicht hat er eine Tür, vielleicht ist er nicht weit entfernt. Aber wahrscheinlich ist das nicht, denn jetzt, als Jakob auf den Parkplatz tritt und der Sommer eigentlich enden müsste und draußen auf den Weiden die Kühe sterben, und man nichts dagegen tun kann, und die letzten Eichhörnchen von den Ästen fallen, jetzt weiß Jakob, dass es hier nirgendwo einen Ort gibt, der nah wäre und an den Hartmann gehen könnte. Nicht hier, nicht in der kleinen Stadt im Tal, nicht in dem Dorf hinter dem Wald.
Es ist der letzte Tag. Jakob muss das immer aufs Neue wiederholen: dass es vorbei ist, dass die Luft abkühlen und er den Staub nicht mehr in dünnen Rollen von seiner verschwitzten Stirn reiben wird. Wolken werden ziehen und Wind wehen. Aber der Parkplatz dehnt sich, wie es mit allen Parkplätzen in den letzten Wochen geschah, und selbstverständlich ist er nahezu leer, bis auf einige verlassene Autos, die in der Sonne blitzen und ihm davon erzählen, dass es in dieser Ortschaft noch Bewohner gibt.
In ein paar Wochen wird das alles anders sein, denkt Jakob und muss doch auch daran denken, über wie viele solcher Plätze er zuletzt gegangen ist, Plätze, die keinen Punkt bieten, an dem sein Blick hängenbleiben könnte, Räume mit Funktion, sorgsam geplante Abschnitte. Und bei jedem Schritt weiß er auch, dass die Fabrik da ist. Er denkt sich, dass jeder einen Ort braucht, an den er hingehört, und der Gedanke erscheint ihm abgestanden, aber was, fragt er sich, soll man auf diesem Weg schon denken, der über den Parkplatz zur Bushaltestelle führt. Dieser Weg ist ein sinnloser Rückweg, weil Hartmann nicht mehr da ist. Jakob hat ihn verpasst.
Und Jakob wartet auf den Bus und kann noch einmal alles neu zusammensetzen, um für sich zu beantworten, was mit Hartmann geschehen ist. Das sollte nicht schwer sein. Er muss sich nur an die zerkratzte Glasscheibe des Haltestellenhäuschens lehnen und den ­Geruch einatmen, Grünschnitt und Benzin, dann ist alles wieder da.

Impressum und Copyright

SCHELLENMANN

1. Auflage

Verbrecher Verlag 2018

www.verbrecherei.de

Satz und Ebook: Christian Walter

Der Verlag dankt Kyra Becht, Max Dornenmann und Chandra Esser.

ISBN Print: 978-3-95732-374-3

ISBN Epub: 9783957323880

ISBN Mobipocket: 9783957323897

Philipp Böhm

SCHELLENMANN

Roman

5.

Hartmann sieht nicht aus wie jemand, der sich schlägt. Er sah immer ein paar Jahre älter aus, bis er von seiner großen Reise zurückkehrte. Davor war er immer älter, nicht nur an Jahren, die er auf der Welt verbracht hatte, er war auch älter, weil er mehr wusste über die Welt und ihre Bewohner. Deshalb wusste er auch, wie man sich schlägt: Hartmann zielte immer auf die richtige Stelle am Kopf, weil er wusste, dass es auf ein Ergebnis ankam, nicht auf eine Geste.
Jakob sieht ihn zwischen den Betrunkenen in weißen Bettlaken, die weiße Zipfelmützen auf ihren glänzenden, harten Haaren tragen, zwischen den Kotzenden, die sich an Straßenlaternen lehnen und im gelben Licht ausharren, wo sich ihre Gesichtszüge glätten und sie wieder ruhig werden können. Er weiß nicht, ab wann man jemanden wirklich kennt, aber als er Hartmann das erste Mal zuschlagen sieht, meint er zu wissen, was das für ein Mensch ist und warum er sein Freund werden will. Doch er sieht nicht aus wie jemand, der sich schlägt.
Wenn er einen Fremden sieht, zieht er die Stirn über der kreisrunden Brille zusammen. Es wirkt immer so, als würde er sein Gegenüber mustern, es sieht immer ein wenig abschätzig aus, später wird Jakob erfahren, dass es einen ganz anderen Grund hat, der viel weniger greifbar und viel fragiler ist.
Er war immer etwas älter. Zuerst war er eine ferne Figur: eine Gestalt auf dem Schulhof, die in einer Gruppe im Raucherbereich steht, ein Opeth-Bandshirt unter einem Kapuzenpullover mit Reißverschluss, ein Wesen, das fliegen kann oder wenigstens flattern.
Dann war er nah: jemand, der ihn vor dem Reihenhaus mit dem Auto seiner Oma abholte, der ihm nachts auf der letzten Bank vor den Weiden »Death of a Clown« und »Paranoid« auf seinem Discman vorspielt und ihm erklärt, warum diese Musik wichtig ist: für ihn, für sie beide, für alle.
Dazwischen liegen Jakobs Reise mit Valanice in »King’s Quest 7« und die vielen Schalen Fleischsalat, die er an seinem Schreibtisch aß, in den er mit dem alten Taschenmesser Gesichter hineinritzte. Dazwischen liegt die Umkleidekabine.
Aber Jakob kann ihn nicht beschreiben, nicht so, wie er den Geschmack des Automatenkaffees beschreiben könnte, seine wässrige Bitterkeit, und auch nicht so, wie er den Bahnhof beschreiben könnte, der nur ein Gleis hat, auf dem Fahrplan allerdings für jeden Zug einen Vermerk, wo er abfährt: eine sehr lange Liste von Einsen. Was er beschreiben kann, ist, wie Hartmann sich für ihn geschlagen hat.
Jakob hat ihm dreimal dabei zugesehen, wie er sich schlug, und jedes Mal war es schön. Er ließ es so aussehen, als sei es eine ganz gewöhnliche Sache, nicht einmal die Brille nahm er ab. Nur an seinen Händen sah man die Anspannung und die Konzentration.
Es ist Jakob, der sich die Sorgen macht. Jeder weiß, wie klein die Stadt im Tal ist und dass man sich auf jeden Fall wiedersieht. Das heißt, man sieht auch den wieder, den man einmal geschlagen hat. Jakob muss an das sommerliche Dorffest denken, auf dem ohne Vorwarnung ein breiter Typ mit Ziegenbart in die Menge hineinfuhr und mit weit ausholendem Hammerschlag einen anderen niederstreckte, der von oben an zusammenklappte. Erst schlugen seine Arme kurz aus, dann knickten seine Beine weg. Der junge Mann mit dem Ziegenbart sah ihn kurz an, dann fluchte er, weil es der Falsche gewesen war, dann warf er seine Arme in den Himmel und ging wieder. So einfach war das. Und Jakob wurde den Gedanken nicht los, dass auch Hartmann einmal so niedergestreckt werden würde, Hartmann jedoch wird nicht niedergestreckt, und sie fahren danach durch den Wald, weil Hartmann schon einen Führerschein hat, weil er tatsächlich älter ist und nicht nur so wirkt, als wäre er älter, und er sieht nicht so aus, als machte er sich große Sorgen in dieser Nacht. Er fährt noch nicht das kleine blaue Auto, das kommt erst später, er fährt das Auto seiner Großmutter, bei der er wohnt.
Immer fahren sie durch den Wald, der Wald ist nie weit entfernt, und rechts fällt das Land ab, und soweit sie sehen können, sind da nur noch Weiden und Zäune. Jakob sehnt sich danach, dass endlich die Zeit vorbeigeht, in der Dinge geschehen, und die Zeit beginnt, in der alles seine Regelmäßigkeit hat und man sich dieselben Filme noch einmal ausleiht, und Hartmann erzählt. Es sind niemals Geschichten aus der kleinen Stadt im Tal oder aus den Dörfern, die noch nicht eingemeindet wurden, es sind immer kleine Stücke von anderswo, erzählt ohne Fernweh, nur herausgenommen aus einem zufälligen Raum und auf das Nötigste reduziert: In Texas gibt es einen zum Tode Verurteilten, der zu fett für den Galgen ist und deshalb nicht hingerichtet werden kann. Also investiert er sein gesamtes Geld in Süßigkeiten, um sein Gewicht zu halten. Und als die Mafia Las Vegas beherrschte, durfte dort niemand umgebracht werden, weil das schlecht fürs Geschäft war. Also ging man dorthin, wenn die Zeichen schlecht standen und das Unausweichliche bevorstand, für eine Woche oder einen Monat. Man könnte dort auch alt werden, solange man die Stadtgrenze nie wieder passiert. Oder: Stalins einziger tauglicher General überlebte nur, weil er auch mal die Fassung verlor und Stalin anschrie, und der war sich deshalb sicher, dass sein General ihm nie etwas verheimlichen könnte. Der Unvorsichtigste überlebte und Schweine haben einen Orgasmus von bis zu einer Stunde, doch dafür können sie den Himmel nicht sehen.
Seine Stimme gerät dabei ins Schnarren und seine Worte bilden einen kaum wahrnehmbaren Rhythmus mit Betonungen an den ­falschen Stellen und ohne erkennbaren Höhepunkt oder Pointen. Später wird Jakob solche Geschichten für ihn sammeln, um etwas zu haben, was er ihm berichten kann, weil ja auch sonst nichts passiert und weil Hartmann daraufhin schweigen wird. Es sind etwa vier oder fünf Geschichten, die Hartmann ihm erzählt, dann fragt er ihn nach der nächsten Kurve, hinter der der Wald endet und sie die Lichter der Aussiedlerhöfe auf der anderen Seite schon den Hof des Schlossers erkennen können, der Jakob das Marihuana-Rauchen beigebracht hat und ein bisschen ein Nazi ist: »Brauchst du eigentlich einen Job? Ich habe da was gefunden.«
Und Jakob fragt: »Was für ein Job?«
»Unten in der Fabrik«, sagt Hartmann. »Du weißt schon: die Fabrik unten am Bach.« Er wartet ab, bis sie an den Höfen vorbeigefahren sind, sagt dann: »Du kannst erst einmal mich vertreten, wenn ich unterwegs bin. Und wenn es klappt, kannst du auch danach noch bleiben.«
»Die große Reise«, sagt Jakob. »Weißt du inzwischen wenigstens, wohin es gehen wird?«
»Die Welt ist groß«, sagt Hartmann und zuckt mit den Schultern. »Ich kann doch unmöglich sagen, wohin ich reisen werde. Das wäre doch falsch.« Während er das sagt, lächelt er nicht. Bei Hartmann ist es schwer zu sagen, was er wirklich ernst meint. Vielleicht nichts, vielleicht alles. Er sagt oft Sätze, die niemand mehr sagt und ist dabei bemüht, sich möglichst altmodisch auszudrücken. Er benutzt Worte wie »Dummkopf« oder »verflucht« und bleibt ernst dabei. So wie Hartmann spricht niemand, den Jakob kennt.
»Na schön«, sagt Jakob, »und der Zeitplan? Ich meine, wann kommst du zurück?«
Hartmann antwortet nicht. Offiziell hat der Sommer noch nicht begonnen und niemand rechnet damit, dass ab diesem Tag kein Regen mehr fallen wird. Dann fallen die ersten Eichhörnchen. Später sagen alle, dass es mit den Eichhörnchen angefangen hat. Aber es musste erst mehr geschehen, bis überhaupt jemand darauf kam, dass etwas nicht stimmte.

4.

Ist der Schützenverein da, ist es einfach, Walter aus dem Weg zu gehen. Sonst ist das schwieriger. Er schleicht durch die Gänge, kommt mit einem Mal hinter einer mit Kisten beladenen Karre hervor und fragt, was man hier mache. Immer hat er die Augen ein klein wenig zusammengekniffen, als könne er so besser beurteilen, ob ihn einer belügt oder ob sich einer vor der Arbeit drückt. Seine größte Angst ist es wahrscheinlich, ausgenutzt zu werden. Er wiederholt gerne einen Satz: »Das kannst du vielleicht mit jemand anders machen, aber nicht mit mir.« Walters große Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat, ist es, einer zu sein, mit dem man es nicht machen kann, und es gelingt ihm. Warzenmüller bleibt hier. Er ist der einzige, der das wirklich will.
Denn sonst gilt: Niemand bleibt hier. Niemand wird länger als ein paar Monate hier arbeiten, auch diejenigen nicht, die schon seit zehn Jahren angestellt sind. Sie erzählen Jakob ihre Pläne tagsüber in den Pausen und nachts, während sie die Maschine beobachten, die Stoff frisst, und dabei nicht die ganze Zeit so tun müssen, als wären sie besonders betriebsam. Alle wollen sich selbstständig machen: Gregor möchte eine Werkstatt eröffnen, Serge plant, Handys zu repa­rieren und dann zu verkaufen, Philipp will ein Restaurant gründen und rezitiert während der langen Nachtschichten mit träger Stimme Rezepte, um nicht einzuschlafen.
Die Geschichten werden in regelmäßigen Abständen wiederholt, und auch wenn alle wissen, was der andere sagen wird, hören sie einander zu. Es ist wie eine stille Übereinkunft, eine Geste des Respekts. An den richtigen Stellen wird genickt und zugestimmt. Niemand bleibt hier. Ihre müden Gesichter sind wie in Trance verfallen, in ihren Blicken liegt eine seltene Zärtlichkeit, während sie den Automatenkaffee in den dunkelbraunen Plastikbechern schwenken, schwarz, weil alles andere ungenießbar ist.
Der größte Anfängerfehler ist es, sich für die Gemüsebrühe zu entscheiden.
Jakob spricht von keinen Plänen, Jakob stopft die Fetzen in den Häcksler. Und während er gegen die Schwere kämpft, die sich anfühlt, als wäre da nasse Watte in seinen Schädel gestopft, legt sich der Staub über alles, über Rost und Metall, Glas und Gummi, Menschen und Plastik. Winzig kleine Reste der Produktion, in den Raum gewirbelt, werden sich seinen Körper aneignen. Er atmet sie ein, er atmet sie aus. Niemand trägt eine Atemmaske. Abends kann er den Staub aus den Winkeln seiner Augen reiben. In den hellen Flächen, die das Sommerlicht durch die Fenster in den Raum wirft, kann man ihn tanzen sehen, ein trockener Schneesturm, ein Schauer der Überbleibsel, träge und doch nie im Stillstand, schimmernde Punkte.
Ein Hochglanzflyer wird an den Saum des Bachs gespült: »Alle Frauen zwischen 22 Uhr und Mitternacht ein Glas Sekt gratis«. Jakob fragt sich, ob der Wasserstand sinkt, und hält Ausschau nach weiteren Eichhörnchen. Seit Tagen war keine Wolke mehr zu sehen, die heiße Luft drückt auf seine Augen, Staub sammelt sich auch in den Wimpern. Andauernd muss er blinzeln. Serge lässt seine kräftige Hand auf Jakobs Schulter sinken und führt ihn auf die andere Seite des Parkplatzes. Dem Tag fehlen jede Melodie und jedes Geräusch. Serge deutet auf sein Auto, das schwarz und bedeutend glänzt, grinst und ruft: »Turbodiesel.« Jakob antwortet nicht, er denkt an Hartmanns Auto und an Hartmanns hektische Fingerbewegungen, seine Hände, die sich an das Lenkrad klammern, so dass die Knöchel weiß anlaufen. Daran, wie Freddie Mercury singt, mit dem sie beide eigentlich nichts anfangen können. Jakob besitzt kein Auto und das seines Vaters darf er nicht mehr fahren, seit er zwei Wochen nach seiner praktischen Prüfung eine Schramme hineinfuhr, die beinahe einen halben Meter lang war. Es ist eigentlich besser so, Autofahren hat er noch nie gemocht. Serge ruft noch einmal: »Turbodiesel.« Jakob sagt: »Ja, sehe ich.« Serge schüttelt müde den Kopf und beide gehen wieder hinein.
Serge hat lose Schneidezähne. Hin und wieder zeigt er den anderen gern, wie sie wackeln, wenn er mit dem Daumen von hinten dagegen drückt.
Jakob denkt sich, dass er anders durch die Fabrik läuft als durch andere Räume, nur kann er nicht sagen, auf welche Weise. Er ist erstaunt, wie wenig Nahrung er benötigt und wie wenig Schlaf. Und dann ist er erstaunt, dass es ihm gefällt. Er ist wirklich hier, der Tag zerteilt sich in Abschnitte. Es ist auszuhalten. Es ist ein Platz, und solange er in der Fabrik ist, blickt er nicht über die Schulter und kann auch keine Schellen hören.
Don’t stop me now.
Spricht Warzenmüller mit ihm, zuckt ein Muskel nervös in seiner Wange. Jakob achtet nicht darauf, er achtet auf die Warzen. Warzenmüller steht neben ihm, er gestikuliert mit seinem Zeigefinger vor Jakobs Gesicht herum und sagt irgendetwas, was nicht zu verstehen ist, weil die Maschinen zu viel Lärm machen. Dann brüllt er: »Wer hat dir aufgetragen, am Häcksler zu arbeiten?«
Es dauert eine Weile, bis Jakob den Satz versteht und zurückbrüllt: »Waren das nicht Sie?«
Nur Hartmann schweigt. Hartmann steht gebeugt über den Stoffbahnen und schweigt, erzählt keine weitere Geschichte. Hartmann steht vor Jakobs Tür, der nicht glauben kann, dass er bereits zurückgekehrt ist, und schweigt.
»Du bist wieder da«, sagt Jakob endlich in der Fabrik.
»Ja«, sagt Hartmann. »Erst war ich fort und jetzt bin ich wieder da.« Er breitet die Arme aus: »Wie Jesus eigentlich.«
»Wolltest du nicht länger wegbleiben?«
»Es lief nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt habe«, sagt Hartmann und es ist das erste Mal, dass er Jakobs Blick ausweicht. »Es lief nicht ganz gut. Vielleicht ist es besser, dass ich wieder hier bin. Vielleicht ist das richtig.«
Jakob blinzelt gegen das Licht. Es ist noch Zeit, er muss nicht jetzt sofort nachfragen. Er hat noch einen Tag oder eine Woche Zeit, um zu fragen. Er geht wieder an den Häcksler, weil sich dann seine Hände wieder beruhigen.
Bei der Produktion entstehen Massen von kleinsten Stofffetzen. Sie werden in einen schmalen hohen Raum geblasen, der in der Mitte ein kreisrundes Loch hat. Von Zeit zu Zeit muss sich jemand dort einschließen und die Fetzenberge in das Loch harken. An einem späten Nachmittag steht die Tür des Raums offen und Jakob wirft einen Blick hinein. Da steht Warzenmüller vor dem Loch und reibt seine Hände aneinander ohne Unterlass. Es sieht so aus, als versuche er hartnäckigen Schmutz von den Handinnenflächen abzureiben. Er hat die Zähne gebleckt und blinzelt in einem fort. Jakob sieht nur einen kurzen Moment zu, dann geht er leise wieder an seinen Arbeitsplatz zurück, froh über die drei gigantischen Stoffsäcke, die er noch auszuleeren hat.

2.

»Wovor hast du Angst, Jakob?«
»Ich weiß es nicht. Aber manchmal möchte ich überhaupt nicht mehr nach draußen gehen. Es ist, als ob an jeder Ecke etwas Schreckliches passieren könnte. Gleich vor der Haustür oder im Bus oder bei den Fahrradständern vor der Schule, wenn es gerade hell wird.«
»Versuch, dich zu konzentrieren. Das ist nicht so schwer. Schließ deine Augen und sag mir den ersten Ort, der dir einfällt.«
Jakob ist sechzehn Jahre alt und hat die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Hartmanns hagere Vogelgestalt sitzt neben ihm im Licht des endenden Tages. Hartmann passt auf, er ist da, er sieht Dinge, er weiß Bescheid und ist älter als alle anderen. Hartmann hat ihn in der Umkleidekabine gefunden. Hartmann ist noch hier und hört zu. Also schließt Jakob die Augen und atmet schwer. Er muss nicht nachdenken. Er weiß die Antwort, er braucht nur eine Weile, bis er sie aussprechen kann.
»Der Wald.«
»Was noch?«
»Die Weiden hinter dem Haus. Man kann dort alles sehen. Menschen, wenn sie noch sehr weit entfernt sind. Autos, wenn sie die Landstraße entlangfahren. Und ich muss immer daran denken, dass sie mich genauso sehen können, dass mich jeder dort schon von weitem sehen kann, dass es unmöglich ist, sich dort zu verstecken.«
»Was ist mit dem Dorfplatz? Dem Parkplatz am Bahnhof?«
»Die auch. Aber da ist immer zuerst der Wald.«
»Was ist mit dem Wald?«
»Ich habe das Gefühl, er kommt mit jedem Tag näher. Als ob die Bäume sich bewegen. Einmal habe ich diese Geschichte gehört, dass Menschen früher immer wieder Bäume gefällt haben, nicht um Brennholz oder Baumaterial zu bekommen, sondern, damit der Wald nicht zu nah an die Dörfer heranwächst.«
»In ein paar Jahren kannst du von hier verschwinden, Jakob.«
»Ich weiß.«
»Was wirst du bis dahin machen? In Angst leben? Dich in deinem Zimmer verkriechen? Die Angst, Jakob, wächst, wenn du nicht hinsiehst. Sie ist wie ein Kind, das immer gerade dann wächst, wenn man nicht aufpasst. Und plötzlich ist es groß und macht, was ihm gefällt. Jakob, wir müssen zu diesen Orten gehen. Ich kann mit dir dorthin gehen, wenn du möchtest, aber ich werde dich nicht zwingen. Du musst es wollen.«
»Hartmann«, sagt Jakob und er fühlt sich wie ein sehr kleines Kind dabei, »er kommt jetzt manchmal bis unter mein Fenster.«
Jakob ist sechzehn Jahre alt und lauscht der Stille nach diesem Satz, beinahe sicher, gleich Schellen zu hören, Schellen vor der Tür oder draußen auf der Straße, kleine Schellen, die aneinanderschlagen. Aber Hartmann ist da.

3.

Manchmal schäumt das Wasser. Zweimal hat Jakob ein totes Eichhörnchen im Bach schwimmen sehen, seinen weißen Bauch der Sonne entgegengestreckt, und fragte sich, ob er gerade Zeuge des großen Eichhörnchensterbens wird. Das Wasser ist nicht tief, aber der Bach treibt die Dinge unaufhaltsam hinab, nur manchmal bleibt ­etwas an den Wurzeln der Bäume hängen, so dass Jakob regelmäßig seine Liste überprüfen kann. Alles, was den Bach entlangtreibt, versucht er sich zu merken: zusammengeknüllte Burger-Tüten, Bierflaschen, Umsonstzeitungen, Flip-Flops, Eierkartons. Und dann die Eichhörnchen. Er fragt sich, ob er der einzige ist, dem sie auffallen, doch traut sich nicht, jemandem davon zu erzählen. Vielleicht geschieht alles zufällig, aber vielleicht geht es auch jetzt, hier mit ihnen zu Ende. Jakob ist neunzehn Jahre alt und Listen hat er schon immer gemacht.
Die Sonne des Nachmittags scheint auf den schmalen und langen Hinterhof mit den Bänken, wo man seine Pausen verbringen kann, wenn man nicht drinnen bleiben möchte, um dort neben dem Getränkeautomaten in den Gewerkschaftszeitungen herumzublättern, die niemanden interessieren.
Da sitzen von links nach rechts: Gregor, Serge, Roland und Philipp. Alle haben ihre Beine auf dieselbe Art ausgestreckt, als wäre das die einzige Möglichkeit, auf dieser Bank zu entspannen, die etwas zu kurz ist für vier Menschen. Serge hat gerade eine Packung Schokoküsse aufgerissen und verteilt sie reihum. Er betrachtet seinen einen Moment lang, dann schiebt er ihn sich komplett in den Mund und schließt die Augen.
Jakob hat den Bach lange genug beobachtet, er will zurück in die staubige Halle. Er geht an den Vieren vorbei und nickt ihnen stumm zu, da sagt Serge etwas, das wegen seines vollen Munds nicht zu verstehen ist. Jakob bleibt stehen. Serge schluckt angestrengt.
»Hier, nimm einen«, sagt er schließlich.
»Nein, Danke.«
»Zucker ist der Stoff, den du zum Denken brauchst, Junge«, sagt Serge, »nimm einen, du wirst es brauchen.« Er lächelt ganz leicht: »Wir müssen hier alle konzentriert sein.«
Jetzt lächeln ihn alle vier an, und Serge nickt ihm aufmunternd und mit einem leicht verschwörerischen Augenzwinkern zu. Gemächlich beugt er sich nach vorne und sagt leise: »Das bleibt alles unser Geheimnis. Mach dir keine Sorgen.«
Serge bemerkt das Buch, das Jakob unter dem Arm trägt. »Was liest du da?«
»Krieg der Welten«, antwortet Jakob.
»Du kannst hier lesen, was du willst, weißt du. Nur die Bibel ist verboten.«
Die anderen nicken einstimmig. Jakob lacht kurz auf, doch Serge bleibt ernst und hält ihm das dunkelbraune Objekt feierlich hin, wie ein Pfarrer den Kelch beim Abendmahl.
»Bibel lesen ist verboten. Das ist die einzige Regel. Aber darauf musst du achten, es ist sehr wichtig.«
Es ist der vierzehnte Tag. Jakob wohnt noch in seinem alten ­Zimmer und schläft in dem Bett, in dem er seit fünf Jahren schläft. ­Hartmann holt Jakob früh ab. Er fährt ihn, weil Jakob kein Auto ­besitzt. Sie frieren morgens und fragen sich abwechselnd, ob das etwas mit der Müdigkeit zu tun hat. Leicht zitternd und die Arme um seinen Körper geschlungen sitzt Jakob in Hartmanns kleinem blauen Auto und singt die Songs mit.
Hartmanns neues Auto hat nur einen Kassettenspieler und Hartmann besitzt nur eine Kassette. Sie singen: »Don’t stop me now. Cause I’m having a good time.« Das ist ihr morgendliches Ritual, aber Hartmann wollte nie wirklich erzählen, ob er eine good time auf seiner Reise hatte. Er war einfach wieder da: Wochenlange Stille und dann der plötzliche Anruf, ohne Erklärung, warum er einige Wochen früher in die kleine Stadt kam. Er war einfach da und gab sich alle Mühe, so zu tun, als hätte die Reise nie stattgefunden, nahm den Job wieder auf und sagte Jakob, er würde ihn ab jetzt zur Arbeit fahren, damit er nicht mehr den Bus nehmen muss. So einfach war das. Er winkte ab, lächelte und wechselte das Thema, und Jakob wusste nicht einmal, wo er genau gewesen war.
Jakob weiß nur, dass Hartmann ein anderer geworden ist. Sein Haar ist anders, seine Kleidung ist anders, selbst seine Stimme hat sich verändert. Sein Haar ist kürzer, seine Stimme vorsichtiger geworden. Hartmann spricht jetzt wie einer, der Angst davor hat, zu laut zu sprechen, der befürchtet, die falschen Leute könnten die falschen Sätze hören. Nur morgens auf dem Weg zur Arbeit wird er laut, und da kann Jakob sehen, wie er für diese zwanzig Minuten etwas verliert, das er mit sich trägt, das allerdings sofort zurückkommt, wenn er auf dem Parkplatz die Autotür zuschlägt.
Im Morgengrauen sieht Jakob ihn dort, wo maximal sieben Autos stehen, wie er die Umgebung belauert, ein verschüchtertes Tier, das mit einem Mal und ohne Absicht aus dem Wald herausgetreten ist und sich auf einem Feld wiederfindet, das es nicht überblicken kann. Noch sieht er ihn, aber dann schüttet er schon einen riesigen Sack mit Stoffresten auf den Boden und fängt an, die kleineren Stücke in den ruckelnden Häcksler zu stopfen. Das ist seine Aufgabe: Es sind Stoffreste von ganz unterschiedlicher Größe, die langen schmalen Streifen kann man entwirren, das Ende in den Häcksler stopfen und dann dabei zusehen, wie die Maschine langsam alles gierig in sich hinein­frisst.
Don’t stop me now.
Hier arbeitet er, seit Herr Volkert ihm eine kurze Führung gab und übertrieben laut und meckernd lachte, nachdem er Jakob gesagt hatte, er könne in seinem Alter schon Schichtarbeit machen. Es ist eine ganz eigene Kunst, an den falschen Stellen im Gespräch zu ­lachen, und Herr Volkert beherrscht sie wie kein zweiter.
Gregor warnt ihn vor seinem Blick, vor Volkerts berühmtem Hunde­blick: »Er steht dann vor dir und fragt dich, ob du an diesem Samstag die Nachtschicht übernehmen kannst, und dabei schaut er dich so an wie ein Welpe oder irgendein kleiner Hund. Und dann kannst du nicht mehr Nein sagen.«
Volkert hat ein großes rundes Kindergesicht, Jakob glaubt Gregor jedes Wort. Die einzige Möglichkeit sich dagegen zu wehren, sei, ihm bei Gesprächen nie ins Gesicht zu blicken. Jakob hält sich an den Rat und fährt gut damit. Gregor erklärt ihm außerdem, warum Volkert schwul sein muss. Es liege an seinen Hosen, die zu kurz seien. Er fände das nicht schlimm oder irgendetwas, er wolle es nur festgestellt haben.
Jakob weiß nicht, was in der Fabrik eigentlich produziert wird. Durch die größeren Maschinen laufen lange Stoffbahnen. Kleine Nadeln fahren auf sie hinab in einem schnellen hämmernden Rhythmus, der bis in die Nacht hinein das Gebäude ausfüllt. Sie laufen und laufen und Jakob lässt einen Sack nach dem anderen auf den Boden fallen. Stopft man zu viele Fetzen in den Häcksler, knallt es erst und dann geht er aus. Es ist, als ob sich der alte Kasten verschluckt. Manchmal macht Jakob das mit Absicht, bleibt lange stehen und sieht dabei zu, wie der Häcksler langsam verreckt.
Lange Zeit dachte er, dass solche Orte nicht mehr existieren. Aber alles ist noch hier. Die Karten werden nicht mehr gestempelt, sondern gescannt, und wenn Serge nach einer langen Nachtschicht keine Lust mehr hat, macht er sich an der Anlage zu schaffen, damit man schon eine Stunde oder zwei früher abhauen kann.
Sobald sie die Fabrik betreten, verliert er Hartmann aus den Augen. Hartmann kümmert sich darum, dass die Stoffbahnen gerade in die Maschine hineinlaufen, und Jakob steht am Häcksler. An seinem fünften Tag setzt er sich nach der Mittagspause auf die Bank im Hinterhof und schläft ein. Es ist Gregor, der ihn nach einer Stunde weckt. Er steht vor ihm in einem weißen Unterhemd, und so kann Jakob sehen, dass er die behaartesten Schultern hat, die er jemals an einem Menschen gesehen hat. Verschlafen stammelt er eine Entschuldigung, aber Gregor schüttelt nur den Kopf.
»Nicht einschlafen«, sagt er und geht schon wieder weg. »Keine gute Idee. Pass auf, dass dich der Meister nicht dabei sieht.«
Sie sprechen andauernd über ihn, in den Pausen und wenn sie sich zufällig in den Gängen treffen. Der Meister heißt Walter Müller, aber alle nennen ihn Warzenmüller, wenn er nicht hinhört, was vermutlich nicht nett ist. Doch es ist unmöglich, nicht andauernd auf diese zwei Hügel an seinem Kinn zu blicken, wenn man mit ihm spricht. Warzenmüller ist ein kleiner knubbeliger Mann mit schneidender Stimme und wahrscheinlich der einzige, der hierbleiben möchte. Wenn er nicht arbeitet, ist er bei Vereinsfeiern und Sitzungen, bestätigt den ersten Vorsitzenden des Schützenvereins oder organisiert eine Tombola. Er möchte, dass man ihn Walter nennt und trotzdem siezt. Auch wenn er einmal nicht da ist, anwesend ist er trotzdem, überall, an jedem Tag und in jeder Nacht.
Am sechzehnten Tag organisiert er den Ausnahmezustand: Er holt die ganzen Jungs aus dem Verein zum Arbeiten in die Fabrik, was wohl eine Art Gefälligkeit darstellt, auf die er sehr stolz ist. Auf einmal sind die Hallen voll von Jungs mit beigefarbenen Hosen und glattgezogenen Haaren, die bis in den Nacken hinein glänzen. Sie rennen diensteifrig und flink durch die Hallen, sprechen sich gegenseitig mit Nachnamen an, reparieren die Nadelbretter der Maschinen und wischen sogar den Gemeinschaftsraum, in dem nie jemand sitzt. Und Walter blüht richtig auf, schlägt auf Schultern, brüllt lachend irgendwelche Befehle quer durch den Raum. Sein Gesicht glänzt dabei, er ist wirklich sehr glücklich.

6.

Die Fabrik ist immer erst zu hören, dann zu sehen. Läuft die Maschine, ist sie auch zu hören, das Geräusch erfüllt die schmale Straße, die zu ihr führt, insbesondere in diesem Sommer, in dem das Tor immer offen steht. An beiden Seiten stehen Bäume, die prächtig wachsen und erst später ihre Blätter verlieren werden.
Die Fabrik ist nicht hoch, sie streckt sich flach entlang des Bachs am Rand der kleinen Stadt. Sie ist nicht sehr schmutzig, wenigstens nicht an der Fassade. Nur in den Innenräumen sind immer wieder kleine Häufchen in den Ecken zu finden, so oft Warzenmüller dort auch durchkehren lässt: Häufchen von kleinen Stoffresten und dunklem Staub, Haaren und Zigarettenstummeln. Die Häufchen sind immer da.
Wer in der Fabrik arbeitet, betritt sie durch das breite Rolltor, das für die Transporter geöffnet wird. Durch das Tor kommt man gleich in die große Halle, in das Herz der Fabrik, wo die Maschine steht. Egal, wer durch das Tor kommt, egal, wie oft derjenige schon durch dieses Tor gegangen ist: Vor der Maschine bleibt jeder kurz stehen, um sie einen Moment lang zu mustern, ihre Oberfläche aus zerkratztem blauen Metall, ihre Seitenflügel, die kleine Eisentreppe, das Fließband und die Stoffbahnen. Niemand rechnet damit, dass sie so groß ist. Manchmal wirkt es auf Jakob so, als wäre dieser Raum der Fabrik zu groß für die äußeren Ausmaße des Gebäudes, als wäre in ihrem Inneren zu viel Raum. Der Raum wirkt falsch, allerdings nur beim ersten Eintreten. Danach stellt sich Gewöhnung ein, wer jedoch während der Schichten stehenbleibt und um sich blickt, schüttelt hin und wieder den Kopf. Jakob hat das schon oft sehen können und hat selbst den Kopf geschüttelt, besonders nachts, wenn es ruhiger wird. Vielleicht liegt es an der schlechten Luft oder an der Beleuchtung. Oder es handelt sich um eine optische Täuschung und der Raum, in dem die Maschine steht, ist von ganz normaler Größe. Es muss eine ganz gewöhnliche Erklärung geben, Jakob findet sie aber nicht. Er bleibt stehen und blinzelt. Um die Kanten der Maschine schwirrt eine Korona aus Staub, sie leuchtet im Licht der Deckenstrahler.

8.

Hartmann hat ihn empfohlen und das reichte aus. Es ist schwer zu sagen, wer von den anderen ihn wirklich kennt und wer lediglich weiß, dass er dazugehört, wie es die Leute mit derselben Sicherheit wissen, mit der sie wissen, dass Jakob nicht dazugehört. Hartmann muss nicht viel sagen. Hartmann kann schweigen und es wird ihm nicht übel ausgelegt. Und jetzt arbeitet er, nimmt jede Schicht an, früh, spät, nachts.
Später wird Jakob sagen, er hätte es an der Müdigkeit sehen sollen, die Hartmann abends vor seinem verschmierten Gesicht herträgt, und an der Hektik, mit der er morgens, wenn es noch nicht so heiß ist, durch das Fabriktor eilt, als gelte es, so schnell wie möglich anzufangen. Jakob hört auf, nach der Reise zu fragen. Jakob singt lauter. Aber wenn er singt, muss er immer wieder nach links auf den Fahrersitz des kleinen blauen Autos blicken, um sich sicher zu sein, dass Hartmann auch mitsingt.
Es ist der achtzehnte Tag. Folgt man dem Bachlauf und den dahintreibenden Knäueln, Prospekten und Eichhörnchen, kommt man erst an zwei Lagerhallen vorbei, einer mit eingeworfenen Fenstern und einer mit der verblassten Schmiererei »Klaus, deine Liebe ist wie ein Messer im Herz«, über die sich Jakob jedes Mal freut, wenn er daran entlang läuft, erblickt dann links die verlassene Tanzschule und jenseits des Bachs den Asphaltplatz, auf dem vor Jahren der Rummel stattfand und immer noch ein Karussell vor sich hin rostet, ehe er schließlich die kleine Brücke erreicht, wo junge Mütter neben ihren Kinderwägen sehr lange und sehr dünne Zigaretten rauchen und dabei die Wägen immer einen halben Meter vor und wieder ­zurück schieben. Es ist zu heiß, um wirklich einen Spaziergang zu machen.
Jakob und Hartmann sind auf dem Weg, um Burger für die Belegschaft zu kaufen. Ihre Schritte sind hektisch, wegen des Automatenkaffees, von dem sie an diesem Morgen zu viel getrunken haben, und Jakob fühlt sich seltsam leicht im Kopf, wie nach der ersten Zigarette des Morgens. Sie haben zum ersten Mal seit Tagen wirklich Zeit. Er denkt sich, dass Hartmann jetzt erzählen wird.
In der Fabrik hat er die ganze Zeit das Gefühl, es gäbe keine Welt außerhalb der Mauern, hier draußen weiß er, dass es tatsächlich so ist. Alles ist still, alles ist erlahmt oder hat sich in kühlere Räume zurückgezogen, wo Schatten sind und die eigene Haut nicht so deutlich zu spüren ist. Über seinem Kreuz rinnt der Schweiß die Wirbelsäule hinab, seine Finger und Zehen prickeln, so dass er sie immer wieder streckt und zurückzieht, und Hartmann zieht ihn mit einem Ruck zur Seite zwischen zwei Bäume, die am Ufer stehen. Er hebt den Finger an die Lippen, was Jakob als eine Geste erscheint, die niemand mehr machen sollte, und deutet vorsichtig zu den rauchenden Müttern hinüber.
»Was ist?«, fragt Jakob, der nicht davon überzeugt ist, dass die Mütter sie zwischen den Bäumen nicht sehen können.
»Sei leise«, sagt Hartmann nicht sehr leise und lächelt tatsächlich, »vielleicht können wir sehen, wie sie sich schminken.«
Während er das sagt, sieht er aus wie einer, der nie gewachsen ist, der immer noch zur Schule geht. Jakob hat ihn nur selten so gesehen.
»Warum sollten sie sich jetzt schminken?«
Hartmann starrt eine Weile auf die Brücke und die rollenden Kinder­wägen.
»Als der Flieger abhob…«, beginnt er und bricht wieder ab. »Als der Flieger abhob, dachte ich, dass er abstürzen würde. Eigentlich wusste ich das. In dem Moment war ich absolut davon überzeugt. Alles andere, jede andere Möglichkeit erschien mir einfach unmöglich. Also saß ich da und ich hatte nicht den Mut, wieder aufzustehen und das Flugzeug zu verlassen.«
Hartmann starrt weiter die Mütter an. Er gibt sich große Mühe, den Blick auf ihnen liegen zu lassen.
»Habe ich dir mal die Geschichte von dem Typen erzählt, der zum Tode verurteilt wurde?«
»Meinst du den Fetten, der um sein Leben frisst?«
Hartmann schüttelt den Kopf. »Es gab diesen Typen, der zum Tode verurteilt wurde und dann auf dem Weg zum Galgen oder zum Schafott um ein Blatt Papier bittet. Und alle denken, es ist ein Abschiedsbrief oder ein kurzes Testament. Aber tatsächlich möchte er nur einen Gedanken aufschreiben, der ihm auf dem Weg gekommen ist, irgendwas, das ihm in diesem Moment einfällt. Und ich dachte, ich hätte in dem Moment, als ich sicher war, dass wir gleich abstürzen würden, überhaupt nichts aufschreiben können. Ich habe einfach an nichts gedacht. Und das war okay.«
Beide schweigen sehr lange.
»Und dann?«
»Neben mir saß eine Frau. Sie hat sich die ganze Zeit geschminkt, und zwar mit voller Konzentration. Sie hatte einen kleinen Handspiegel dabei und hat auf nichts anderes geachtet. Und als ich dachte, sie wäre fertig, fing sie an, kleine Details zu korrigieren. Die Augenbrauen nochmal nachziehen und den Lippenstift überprüfen. Es war so, als würde sie das bis in alle Ewigkeit weitermachen können, sich immer wieder aufs Neue schminken. Nichts anderes.«
»Und dann?«
»Dann bin ich eingeschlafen«, sagt Hartmann, schüttelt den Kopf und lacht leise. »Das war irgendwie auch nicht richtig.«
Jakob möchte im Schatten der Bäume noch einmal »Und dann?« fragen, aber er weiß, dass der Moment vorbei ist. Und die Burger müssen ja auch noch geholt werden.

10.

Anne-Marie steigt mit sorgfältigen Schritten die alte Holztreppe der Schule empor, achtet auf jede Bewegung, weil sie weiß, dass alle von dem Schaf wissen, dass jeder sie beobachtet und auf kleine sachte Zeichen des Schmerzes lauert. Aber die gibt sie ihnen nicht, sie ist an­gespannt, bleibt aber ruhig. Und sie stolpert nicht, bis ganz zum Schluss stolpert sie nicht. Beinahe geht alles gut.
Was alle wissen: Anne-Marie wohnt auf dem Hof. Anne-Marie steht früh auf und ist immer müde. Anne-Marie hat ein Schaf zu Weihnachten geschenkt bekommen, ein kleines Schaf, das sie Anton getauft hat. Niemand weiß, was sich ihre Eltern dabei gedacht haben, ob sie einen Plan zur Erziehung des Mädchens hatten. Niemand fragt danach. Alle denken, dass es ein gutes Geschenk war. Anton lebt und wird in Arme geschlossen. Anton trippelt hinaus auf die Weide, seine Augen so müde wie die Augen seiner Herrin, die heute schweigt und nichts preisgibt. Er geht jeden Tag auf die Weide, sie jeden Tag in die Schule und nachmittags zu ihm, um ihre Finger auf seine filzige Wolle zu legen. Anne-Marie stolpert nicht, Anton stolpert. Er ist nicht geschickt, die Weide abschüssig und irgendwo ein Loch im Boden, von langgestreckten Halmen bedeckt. Sein rechtes Vorderbein bricht.
Weil es ihr Schaf und nicht irgendein Schaf ist, wird es zum Tierarzt gebracht und das Bein gerichtet. Das erzählt sie noch in aufgeregten schrillen Worten, den Kopf nach vorne gestreckt in den großen Pausen, die Augen weit offen. Sie ist nicht mehr müde. Es kommen hoffnungsvolle Tage. Dann bricht das Fieber aus und Anne-Marie spricht nach einiger Zeit nicht mehr über Anton. Freundinnen schließen sie in die Arme, darum bemüht, etwas darzustellen, das tröstet und beruhigt.