Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Mit einem Vorwort von Norbert Lammert

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über

Norbert Lammert war zwölf Jahre Präsident des Deutschen Bundestages, dem er von 1980 bis 2017 angehörte. In den Regierungen von Helmut Kohl amtierte er als Parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, für Wirtschaft und schließlich für Verkehr sowie als Koordinator der Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrt.

2003 erhielt Lammert einen Lehrauftrag für Politikwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, die ihn 2008 zum Honorarprofessor ernannte. Seine zahlreichen Publikationen befassen sich mit gesellschafts-, wirtschafts- und kulturpolitischen Themen.

Seit Januar 2018 ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Über das Buch

Das Grundgesetz ist die Basis des freiheitlichen und demokratischen Deutschlands. Seine »Väter« und »Mütter« haben es aus der Erfahrung eines mörderischen Unrechtregimes heraus geschaffen, es ist eine der kostbarsten Errungenschaften der deutsche Geschichte.

 

Norbert Lammert würdigt die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland: »Unser siebzig Jahre altes, siebzig Jahre junges Grundgesetz stiftet genau das, was wir alle in Deutschland brauchen: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft.«

 

 

 

Über die Reihe

 

Klassiker neu gelesen: In der Reihe dtv bibliothek erscheinen Werke und Werkauswahlbände von bedeutenden Autorinnen und Autoren, die zu ihrer Zeit und bis in die Gegenwart Maßstäbe gesetzt, viele Leserinnen und Leser bewegt und Einfluss auf das Denken der Menschen genommen haben. Die Bücher sind sorgfältig ediert und ausgestattet. Aktuelle Begleitworte erleichtern den ungezwungenen Zugang zu diesen klassischen Werken der Weltliteratur und des Weltwissens.

Impressum

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2017 (BGBl. I S. 2347) geändert worden ist.

Quelle: Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz, juris GmbH, www.gesetze-im-internet.de, 2018

Die amtliche Fassung eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung enthält nach geltendem Recht nur die Papierausgabe des Bundesgesetzblattes, das vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz herausgegeben wird und über die Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, bezogen werden kann.

 

 

 

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eBook-Herstellung im Verlag

 

eBook ISBN 978-3-423-43560-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28174-4

 

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ISBN (epub) 9783423435604

Vorwort

Bundesgesetzblatt Nr. 1, 23.05.1949 (ullstein bild – ullstein bild)

Am 1. Juli 1948 erteilten die Westalliierten den elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen den Auftrag, bis zum 1. September 1948 eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Deren Maßgabe lautete, »eine demokratische Verfassung« auszuarbeiten, »die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtige zerrissene deutsche Einheit schließlich wiederherzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.«

Als diese Verfassunggebende Versammlung mit 65 stimmberechtigten, von den Landtagen der elf westdeutschen Länder gewählten Mitglieder des Parlamentarischen Rates – 61 Männer und vier Frauen – an jenem 1. September 1948 in Bonn zusammentrat, um dem nicht souveränen, unter der Kontrolle der alliierten Besatzungsmächte stehenden westlichen Teil Deutschlands eine gemeinsame vorläufige Verfassung zu geben, wurde in einer damals kaum vorhersehbaren, nachhaltigen Weise das Fundament der Bundesrepublik Deutschland gelegt, deren 70. Geburtstag wir im Jahr 2019 begehen können.

»Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und mit dem festen Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll.« So hat der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, in seiner Eröffnungsansprache des Parlamentarischen Rates die Erwartungen an die Arbeit dieses Gremiums formuliert. Heute wissen wir, dass mit der Konstituierung des Parlamentarischen Rates gleich drei präjudizierende Entscheidungen verbunden waren: für einen Standort, für eine Persönlichkeit und für ein Konzept. Die Entscheidungen für Bonn als Standort, für Konrad Adenauer als Präsidenten des Parlamentarischen Rates und späteren ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sowie für die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes haben die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt. Das Grundgesetz hat eine in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellose Überzeugungskraft entwickelt, in deren Rahmen schließlich die Wiederherstellung der deutschen Einheit möglich geworden ist.

Das Grundgesetz ist das wichtigste Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses und die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland in seiner Geschichte je hatte. Mag der Text im Ganzen auch nicht populär sein, als Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland genießt er heute das Vertrauen der Bevölkerung und besitzt weltweit hohe Anerkennung.

Mit siebzig Jahren ist das Grundgesetz inzwischen länger gültig als die Bismarck’sche Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Verfassung von 1919 zusammengenommen. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Verfassungen war das Grundgesetz bekanntlich nur als vorläufige Lösung gedacht, als es am 8. Mai 1949 – auf den Tag genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht – nach nur neunmonatiger Beratungszeit vom Parlamentarischen Rat beschlossen wurde.

Das Grundgesetz ist keine völlige Neuschöpfung, sondern steht durchaus in verfassungsgeschichtlicher Kontinuität. So wie die Erfahrungen der Weimarer Zeit in das Grundgesetz eingeflossen sind, so gibt es auch Anknüpfungen an die Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849. Zugleich ist das Grundgesetz aber auch ein Beispiel dafür, wie sich ein Land mit einer modernen Verfassung eine demokratische Zukunftsperspektive eröffnen kann.

Heute, seit dem Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990, ist dieses Grundgesetz die unbestrittene Grundlage der politischen Verfassung unseres wiedervereinten Landes im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Längst gilt es als eine der großen Verfassungen der Welt. Es bietet weltweit jungen Demokratien Orientierung und inspiriert andere Staaten, wenn diese sich eine demokratische Verfassung geben, immer wieder bis in einzelne Formulierungen hinein. Es gibt nur wenige Texte, bei denen die Diskrepanz zwischen dem bescheidenen Anspruch und der tatsächlichen Wirkung so ausgeprägt ist wie bei unserer Verfassung, die noch nicht einmal so heißen durfte.

Dass unsere Verfassung »Grundgesetz« heißt – und eben nicht »Verfassung« –, ist nicht nur Ausdruck der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Begriff sollte den offenen, provisorischen Charakter der Bestimmungen betonen, an deren Formulierung mitzuwirken Vertretern der sowjetischen Besatzungszone damals versagt war. Darum wurde in einem eigenen Artikel 146 ausdrücklich festgelegt, dass dieses Provisorium seine Gültigkeit verliert, sobald eine vom gesamten deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung vorliegt.

Das Grundgesetz gehört zu den besonderen Glücksfällen der deutschen Geschichte, zu dem wir uns alle nur dankbar gratulieren können. Ein wesentlicher Grund für das Ansehen und die hohe Akzeptanz des Grundgesetzes ist ganz gewiss die bemerkenswerte Fähigkeit zur Bewältigung auch veränderter Aufgabenstellungen und neuer Herausforderungen. Es hat sich in den vergangenen siebzig Jahren den gesellschaftlichen wie den politischen Veränderungen gewachsen gezeigt – auch und gerade bei der friedlichen Wiedervereinigung unseres Landes vor bald dreißig Jahren.

Die denkwürdige Entscheidung der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR, »dem Geltungsbereich des Grundgesetzes« und dadurch der Bundesrepublik Deutschland beizutreten, damit einen existierenden Staat aufzulösen und die staatliche Einheit Deutschlands wiederherzustellen, ist ein historisch beispielloser Vorgang, der die Bindungskraft dieser Verfassung eindrucksvoll belegt.

Der Ursprungstext hat im Laufe der Jahre manche Veränderungen und Ergänzungen erfahren. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes – Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Helene Wessel, um nur wenige, herausragende Persönlichkeiten des Parlamentarischen Rates zu nennen – konnten sich 1948/49 noch nicht vorstellen, dass wir nur wenige Jahre später eine Bundeswehr brauchen und Mitglied eines nordatlantischen Verteidigungsbündnisses werden würden. Noch weniger absehbar war, dass Deutschland Teil einer Europäischen Gemeinschaft werden könnte, die sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern als eine politische Union, in der nationale Souveränitätsrechte zunehmend auf diese Gemeinschaft übertragen werden. Das eine wie das andere bedurfte der verfassungsmäßigen Legitimation.

Dabei besteht durchaus auch Anlass, selbstkritisch darüber nachzudenken, ob uns all die Änderungen und Ergänzungen der letzten Jahrzehnte in ähnlicher Weise gelungen sind wie der Verfassungstext von 1949. Das Grundgesetz hat heute nahezu den doppelten Umfang im Vergleich zum Ursprungstext. Es ist damit deutlich länger, aber nicht unbedingt deutlich besser geworden als der schlanke Text von vor siebzig Jahren.

62-mal ist das Grundgesetz seit 1949 ergänzt oder geändert worden. Das ist bei siebzig Jahren im Durchschnitt weniger als einmal pro Jahr. Aber es ist immerhin fast doppelt so häufig wie die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika in 200 Jahren. Mehr als 100 Grundgesetzartikel wurden umgeschrieben oder erweitert, hinzugefügt oder aufgehoben. Für jede einzelne dieser Änderungen oder Ergänzungen hat es Gründe gegeben, mal mehr und mal weniger zwingende. Aber dass dem Verfassungsgesetzgeber jede einzelne dieser Änderungen gleich gut gelungen sei, wird man wohl kaum behaupten wollen.

Dass wir inzwischen manche zweitrangige Frage in der Verfassung geregelt haben, manchmal mit erschreckender Präzision, während zum Beispiel die herausragende Frage der Grundsätze unseres Wahlsystems, dem das Parlament und über den Deutschen Bundestag die Bundesregierung ihre demokratische Legitimation verdanken, noch immer keinen Verfassungsrang hat, gehört zu den im wörtlichen Sinne »fragwürdigen« Aspekten unseres Grundgesetzes.

Ungeachtet dessen ist die Entwicklung des Grundgesetzes erstaunlich – und war keineswegs abzusehen, als der Parlamentarische Rat es verabschiedete, und schon gar nicht selbstverständlich. Immerhin äußerten im März 1949 vierzig Prozent der Deutschen, ihnen sei die zukünftige westdeutsche Verfassung gleichgültig. Und auch noch fünf Jahre nach seiner Verkündung kannten mehr als die Hälfte der Deutschen das Grundgesetz nicht einmal. Zeitungen wie die ›Deutsche Rundschau‹ schrieben ebenso irritiert wie besorgt: »Heute ist Deutschland etwas sehr Unglückliches. Es ist so komisch und so tragisch wie das Deutschland von Weimar: eine Demokratie ohne Demokraten.«

Dass es ganz anders gekommen ist, hat neben vielen weiteren Gründen, zu denen vor allem das von den meisten Menschen so empfundene »Wirtschaftswunder« zählt, auch mit dem Grundgesetz selbst zu tun. Es steht für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte, die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger in einer pluralistisch und repräsentativ verfassten parlamentarischen Demokratie und die Verhinderung einer verselbstständigten Staatsgewalt. Einer der herausragenden Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, sagte damals: »Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.«

Der ausdrückliche Wunsch nach einer selbstbewussten und »abwehrbereiten« Demokratie begründete sich aus der Doppelerfahrung des Scheiterns von Weimar und der nationalsozialistischen Diktatur. Wesentliche Teile des Grundgesetzes sind deshalb – durch die »Ewigkeitsklausel« in Artikel 79 (3) – gegenüber jeder substanziellen Veränderung geschützt. Die Grundrechte, die nach der Weimarer Reichsverfassung nur »nach Maßgabe der Gesetze« galten, sind im Grundgesetz unmittelbar geltendes, gerichtlich durchsetzbares Recht und damit verbindliche Orientierung für die Gesetzgebung.

Auch die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts, das heute als »Hüter der Verfassung« in allen Umfragen das höchste Vertrauen bei den Bundesbürgern genießt, gehört zu den glücklichen Initiativen des Parlamentarischen Rates und seiner damaligen Beratungen Anfang September 1948.

Das Grundgesetz begründet ein für unsere Demokratie durchaus produktives Machtverhältnis zwischen den Verfassungsorganen, ausbalanciert vom Bundesverfassungsgericht, für das es in der deutschen Rechtsgeschichte kein Vorbild gibt und das zweifellos zu den beispielhaften Innovationen des Grundgesetzes zählt. Die Verfassungsrichter zeigen der gestaltenden Politik ihre verfassungsrechtlichen Grenzen auf. Sie können Regierungen wie Parlamente notfalls korrigieren und demokratisch getroffene Entscheidungen bei festgestellter Verfassungswidrigkeit aufheben. So wie sich auf Seiten des Gesetzgebers Politik und Recht in besonderer Weise miteinander verbinden, handelt auch das Bundesverfassungsgericht dabei keineswegs rein juristisch, jedenfalls nicht »unpolitisch«. Die obersten Richter in Deutschland agieren vielmehr in einem Spannungsfeld, das manche Wissenschaftler wie Publizisten als »Politisierung der Verfassungsjustiz« und »Verrechtlichung der Politik« beschreiben. Die Vorstellung, Urteile aus Karlsruhe seien ausschließlich juristisch begründet und nicht auch politisch gedacht, ist jedenfalls ein bestenfalls gut gemeintes Missverständnis. Schließlich zeigt sich die Weisheit vieler Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gerade im Bewusstsein für politische Implikationen, in der klugen Balance von juristischer und politischer Abwägung.

Auch deshalb ist das Verhältnis zwischen der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt ein besonders sensibles, und es ist nicht selten auch reibungsvoll. Denn einerseits gibt es die ständige Versuchung des Gesetzgebers, im Regelungseifer die Verfassung zu strapazieren und ihre Grenzen auszutesten, andererseits bisweilen aber auch die Neigung des Verfassungsgerichts, den Gesetzgeber herauszufordern, indem es die geltende Verfassung durch schöpferische Auslegung weiterentwickelt – in den Worten der früheren Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff: »In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten.«

Deutschland ist im Jahre Siebzig des Grundgesetzes ein anderes Land als 1949. In den vergangenen Jahrzehnten ist Deutschland ethnisch, kulturell und religiös vielfältiger geworden. Heute leben hier etwa 18,5 Millionen Menschen mit einer persönlichen oder familiären Einwanderungsgeschichte. Das sind mehr als ein Fünftel der Bevölkerung – und der Anteil insbesondere unter den Jüngeren steigt kontinuierlich.

Der französische Historiker Ernest Renan hat erläutert, eine Nation sei geprägt vom Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit und von dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft. Unser siebzig Jahre altes, siebzig Jahre junges Grundgesetz stiftet als unangefochtene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes genau das, was wir alle in Deutschland brauchen – woher wir auch kommen, welchen Glauben wir auch haben, welche Sprache wir auch sprechen: ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft.

Ein wesentlicher Grund für die Funktionalität wie die Reputation des Grundgesetzes ist gewiss seine Anpassungsfähigkeit an veränderte Verfassungswirklichkeiten, ohne sich dabei in seinem Wesensgehalt verändert zu haben. Konrad Adenauer soll noch in der Schlussberatung des Parlamentarischen Rates neue Anträge und Änderungswünsche mit dem Argument erfolgreich gestoppt haben, der Parlamentarische Rat solle »nur das Grundgesetz und nicht die Zehn Gebote« beschließen. Dieser Pragmatismus, diese – in den Worten Theodor Heuss’ – »heilige Nüchternheit« half, auch die verfassungsrechtlichen Herausforderungen in den vergangenen sieben Jahrzehnten zu bewältigen, von der Wehrverfassung in den Fünfzigern über die Notstandsgesetzgebung in den Sechzigern, die Einbeziehung der europäischen Integration in den folgenden Jahrzehnten bis zur Föderalismusreform unserer Tage als umfangreichste Verfassungsänderung seit 1949.

Eine besondere Herausforderung stellt heute mehr denn je das Projekt der Einheit Europas dar. Die Europäische Union hat immer mehr Kompetenzen bekommen. Mit der Abtretung von Souveränitätsansprüchen an die Europäische Union sind Zuständigkeiten von nationalen Parlamenten auf die Organe der Gemeinschaft verlagert worden. Dieser Machtzuwachs der Europäischen Union musste durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments kompensiert werden.

Es gehört zu den vertrauten Reflexen, bei der Suche nach vermeintlich verpassten Chancen der Deutschen Einheit immer wieder auf Artikel 146 GG zu verweisen. Dabei wird insbesondere mit Blick auf die Verfassungsberatungen am Runden Tisch in der DDR kritisiert, dass die Wiedervereinigung nicht zu einer neuen, nun gesamtdeutschen Verfassung geführt hat. Aus guten Gründen entschied sich aber die überwältigende Mehrheit der erstmals frei gewählten Volkskammer der DDR 1990 dafür, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes auf dem sogenannten »Königsweg« des Artikels 23 GG beizutreten. In der Verfassungspraxis hatte sich das Grundgesetz als so erfolgreich erwiesen, dass das Bedürfnis nach einer neuen Verfassung bei Weitem nicht so groß war wie das Verlangen nach Kontinuität. Zumal der Prozess einer Verfassungsneuschöpfung in jenen turbulenten Wochen und Monaten allzu zeitraubend und kompliziert gewesen wäre.